Gedächtnisschrift für Theo
Mayer-Maly - zum 80. Geburtstag, hg. v. Harrer,
Friedrich/Honsell, Heinrich/Mader, Peter. Springer, Wien 2011. IX, 677 S.
Dieses Buch ist dem Andenken an
Theo Mayer-Maly gewidmet (16. 8. 1931-6. 12. 2007), den österreichischen
Juristen, dessen Werk Beiträge zum römischen Recht, der Rechtsphilosophie, dem
Bürgerlichen Recht, dem Wirtschafts- sowie dem Arbeits- und Sozialversicherungsrecht
umfasst. Der Band enthält 37 wissenschaftliche Aufsätze in alphabetischer
Reihenfolge der überwiegend österreichischen, aber auch schweizerischen, italienischen,
deutschen und niederländischen Autoren. Vorangestellt ist ein biographischer
Aufsatz Wolfgang Zöllners (S. 1ff.). Den Abschluss bilden ein kurzer Beitrag
Friedrich Harrers: „Mayer-Maly und die Ironie“ (S. 609) sowie ein
„Scherzvortrag“ Mayer-Malys selbst: „Ius civile dormientibus scriptum est“ (S.
611ff.). Abgerundet wird der Band durch ein umfangreiches „Schriftenverzeichnis
von Theo Mayer-Maly“ (S. 625ff.) und ein Autorenverzeichnis (S. 675ff.).
Die Bandbreite der Themen, die Mayer-Maly
in seinen Publikationen behandelt hat, kommt auch in den Beiträgen zum Ausdruck,
die seinem Andenken gewidmet sind. Angesichts der großen Zahl von Aufsätzen ist
es hier nicht möglich, alle gleichermaßen gründlich und detailliert zu würdigen.
Deshalb soll zunächst nur ein summarischer Überblick gegeben werden, geordnet
nach Sachgebieten. Anschließend werden einige rechtshistorische Aufsätze näher
beleuchtet.
Einige Beiträge sind Themen aus
dem Völkerrecht und Europarecht gewidmet. Michael Geistlinger untersucht die
„Präjudizien im Völkerrecht“ (S. 159ff.); dabei behandelt er ausführlich ein
vom Internationalen Gerichtshof gesprochenes Urteil im Fall „Zellstofffabriken
am Fluss Uruguay (Argentinien gegen Uruguay)“ vom 20. 4. 2010. Karl Korineks
Aufsatz hat den Titel: „Der Schutz der Menschenwürde im Verfassungsrecht und im
internationalen Recht“ (S. 257ff.). Ernst A. Kramer untersucht „Methodologische
Probleme des ‚autonomen Nachvollzugs’ von EU-Richtlinien durch die Schweiz“ (S.
269ff.). Carla Masi Doria behandelt „Immunità degli Stati dalla giurisdizione;
ius gentium, aequitas: un percorso argomentativo à rebours” (S. 327ff.). Franz
Matscher widmet sich der Maxime De minimis non curat praetor (S. 333ff.), die
dem römischen Recht entstammt und die, wie der Autor zeigt, auch heute noch
beachtet wird, nicht nur im österreichischen Recht, sondern auch im Rahmen der
Europäischen Menschenrechtskonvention.
In mehreren Beiträgen werden zivilrechtliche
Themen behandelt. So widmet sich Peter Apathy der „Rechtsstellung des debitor
cessus bei der Sicherungsabtretung“ (S. 19ff.). Hans-Peter Benöhr äußert sich
zur Frage: „Schutz dem Ausgebeuteten oder Strafe dem Ausbeuter? – Für eine
Korrektur des § 138 Abs. 1 BGB de lege lata und des § 138 Abs. 2 BGB de lege
ferenda“ (S. 83ff.). Zu einem verwandten Thema nimmt Horst Dreier Stellung:
„Die ‚guten Sitten’ zwischen Normativität und Faktizität“ (S. 141ff.), ein
Thema, das allerdings nicht nur im Zivilrecht, sondern auch im Strafrecht und
im öffentlichen Recht von Bedeutung ist. Auch Michael Grubers Aufsatz lässt
sich sowohl dem Zivilrecht als auch dem Verfassungsrecht zuordnen: „Der
grundrechtliche Schutz des Erbrechts“ (S. 207ff.). Georg Klingenbergs Beitrag
trägt den Titel: „Der ‚Angeber’ beim Schatzfund“ (S. 237ff.). Martin Schermaier geht der Frage nach: „Was
schuldet der Schuldner? Die ‚Pflicht zur Anstrengung’ im modernisierten
Schuldrecht“ (S. 409ff.). Mit den zivilrechtlichen Themen verwandt ist ein
Beitrag aus dem Handelsrecht: Friedrich Harrer: „Theo Mayer-Maly als
Handelsrechtler“ (S. 213ff.).
Einige Themen aus dem Arbeitsrecht
werden untersucht: Martin Binder: „Modifikationen des zivilen
Schadenersatzrechts im Rahmen von Arbeitsverhältnissen“ (S. 113ff.); Peter
Goller: „Theo Mayer-Malys Auseinandersetzung mit der sozialistischen Arbeitsrechtswissenschaft“
(S. 187ff.); Reinhard Richardi: „Theo Mayer-Maly und das kirchliche
Arbeitsrecht“ (S. 395ff.); Theodor Tomandl: „Zwei Probleme der Arbeitskräfteüberlassung“
(S. 475ff.) und Wolfgang Zöllner: „Bemerkungen zu Mayer-Malys Österreichischem
Arbeitsrecht von 1970“ (S. 599ff.).
Die umfangreichste Gruppe von
Beiträgen umfasst rechtshistorische, überwiegend romanistische Aufsätze. Heinz
Barta behandelt: „Die Entstehung der Rechtsgeschichte“ (S. 35ff.) „aus dem Schoß
der griechischen Philosophie“ (S. 50). Walter Berka untersucht
„Grundrechtsgeschichte im Vorgriff auf eine Grundrechtsdogmatik: Anmerkungen zu
einer der ersten wissenschaftlichen Arbeiten von Theo Mayer-Maly“ (S. 101ff.). Heinrich
Honsells Aufsatz trägt den Titel: „Lebendiges Römisches Recht“ (S: 225ff.).
Detlef Liebs analysiert den „Prozess Jesu – Ergänzungen zu Mayer-Maly 2003“ (S.
309ff.). Franz-Stefan Meissel untersucht „Vertragspraxis und
Privatrechtsdogmatik – Zum Umgang der römischen Juristen mit Vertragsklauseln
am Beispiel der societas“ (S. 347ff.). Werner Ogris widmet sich „Goethe in der
Bergwerkskommission Sachsen-Weimar-Eisenachs“ (S. 363ff.). J. Michael Rainer
behandelt „Das Römische Recht als Erkenntnisquelle zu Puchtas Lehre vom
Gewohnheitsrecht“ (S. 377ff.). Fritz Sturms Aufsatz trägt den Titel: „Deutsche
Staatsangehörigkeit für Kinder der Schande“ (S. 461ff.). Andreas Wacke geht auf
den römischen Zivilprozess ein: „Res iudicata pro veritate accipitur? Die Ziele
des römischen Zivilprozesses zwischen Verhandlungsmaxime und Untersuchungsgrundsatz“
(S. 489ff.). Ebenfalls ein Thema zum römischen Recht behandelt Wolfgang Waldstein:
„Evidenz und Intuition bei den Römischen Juristen“ (S. 545ff.). Gunter Wesener
äußert sich „Zur Bedeutung des Usus modernus pandectarum für das östereichische
ABGB“ (S. 571ff.). Schließlich geht Laurens Winkel auf den „Rechtsirrtum im
Völkerrecht bei Hugo Grotius“ ein (S. 593 ff.).
Eine Reihe von Beiträgen lässt
sich keinem der bisher angeführten Sachbereiche eindeutig zuordnen: Ludwig
Adamovich: „Der kranke Staat“ (S. 7ff.), wobei der Autor als Krankheitssymptom
die „Demontage des Staates“ (S. 7ff.) ausmacht und als eines der „Instrumente
der Demontage“ (S. 10ff.) den Populismus bezeichnet, der von politischen
Parteien und ihren Netzwerken sowie den Massenmedien betrieben werde. Okko
Behrends Beitrag hat den Titel: „Kants Taube und der luftleere Raum der reinen
praktischen Vernunft“ (S. 53ff.). Heinz Krejci behandelt: „Lokalpatriotismus
und Steckdosenhorizont gegen Stromversorgungssicherheit – Energierechtsszenen
aus Österreich“ (S. 279 ff.). Luigi Labruna untersucht: „’Semper professor’ –
L’art 135, 2º comma, della Costituzione e il professore universitario“ (S. 299ff.);
Karsten Schmidt: „Intellektuelle Moden in Recht und Rechtswissenschaft – Ein
Versuch über den Zeitgeist –“ (S. 423ff.); Kurt Schmoller: Gesichtsverschleierung
im Strafprozess“ (S. 439ff.). Wilhelm H. Wacker: „Komplexität und Vereinfachung
im Steuerrecht“ (S. 525ff.) und schließlich Robert Walter: Das österreichische
Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst – Ein phaleristisches Essay“ (S. 557ff.),
wobei hinzugefügt werden sollte, dass die Phaleristik eine historische
Hilfswissenschaft ist, die sich mit den Orden oder Ehrenzeichen beschäftigt.
Im Folgenden werden drei
Beiträge romanistischen Inhalts näher beleuchtet. Diese Auswahl ist nicht
allein dadurch gerechtfertigt, dass die romanistischen Beiträge einen nicht
geringen Teil des gesamten Bandes ausmachen, sondern auch dadurch begründet,
dass Mayer-Malys besondere Aufmerksamkeit dem römischen Recht gegolten hat. Die
Herausgeber stellen dazu im Vorwort fest: „Die Einheit der Rechtsordnung unter
der Fahne des römischen Rechts, der viva vox iuris civilis, war seine
Lebensaufgabe“ (S. IX). Besprochen werden die Beiträge Meissels, Honsells und
Waldsteins.
Der Titel des Aufsatzes
Franz-Stefan Meissels: „Vertragspraxis und Privatrechtsdogmatik – Zum Umgang
der römischen Juristen mit Vertragsklauseln am Beispiel der societas“ (S. 347ff.)
bezeichnet sehr genau das Thema seines Beitrages: Es geht um das Verhältnis von
Theorie und Praxis bei den klassischen Juristen. Gefragt wird, ob die Juristen
sich in ihren Schriften überwiegend auf den Rechtsalltag beziehen, oder ob ihre
Darlegungen eher theoretischer Natur sind. Diese Fragestellung ist im
Zusammenhang mit der in der Romanistik seit einiger Zeit zu verzeichnenden
Tendenz zu verstehen, die Rechtspraxis im Imperium Romanum in den Vordergrund
zu stellen. Nicht allein die im Corpus Iuris überlieferten Quellen, auch literarische,
epigraphische und papyrologische Zeugnisse der alltäglichen Rechtspraxis werden
verstärkt untersucht. Darüber hinaus wird die Ansicht vorgetragen, die
Schriften der Juristen seien eher praxisfern gewesen; sie hätten den
Rechtsalltag kaum beeinflusst. Demgegenüber vertritt Meissel die Auffassung,
dass eine enge Beziehung zwischen der Rechtspraxis und den Schriften der
Juristen bestanden habe. Um dies zu belegen, wendet er sich zunächst der Frage
zu, ob die von den Juristen behandelten Fälle dem wirklichen Leben entstammen
oder hypothetische Schulfälle sind. Er zeigt nicht nur, dass zahlreiche Fälle
Sammlungen von Gutachten (responsa) entnommen sind und damit auf reale Fälle
zurückgehen, sondern auch, dass häufig mehrere Juristen nacheinander gleiche
Fälle behandeln, wobei die Darstellung der Fälle immer abstrakter wird, so dass
am Ende scheinbar konstruierte Fälle mitgeteilt werden, die jedoch auf reale
Fälle zurückgehen. Weitere Belege für die These, wonach die römischen Juristen
praxisnah geschrieben haben, entnimmt der Autor dem Recht der Gesellschaft
(societas). Hier kann er zeigen, dass die Juristen in der Praxis vorkommende Vertragsklauseln
nicht nur interpretieren, sondern auch daraufhin kontrollieren, ob sie mit
grundlegenden Prinzipien, insbesondere der bona fides, vereinbar sind.
Wenn Meissel konstatiert, im
Hinblick auf das Verhältnis von Theorie und Praxis sei ein „Paradigmenwechsel“
(S. 348) in der Romanistik festzustellen, so wird dies durch eine neue Untersuchung
Éva Jakabs: „Risikomanagement bei Weinkauf“ (München 2009) bestätigt. Die
Autorin betont, das gelebte römische Recht sei nicht allein in den Schriften der
Juristen enthalten gewesen. Konkrete vertragliche Abreden und die dabei
benutzten Formulare hätten vielmehr bestimmt, was zwischen den Parteien
gegolten habe. Die Vertragspraxis sei zudem nicht eigentlich römisch, sondern
im gesamten Mittelmeerraum einheitlich gewesen.[1]
Meissel gelingt der Nachweis, dass die Juristen sich häufig auf die
Rechtspraxis beziehen, nicht nur in der Weise, dass sie reale Fälle entscheiden,
sondern auch, indem sie Wertmaßstäbe entwickeln, mit denen sie in der Praxis
benutzte Vertragsklauseln kontrollieren und notfalls auch als unwirksam
bewerten. Um definitiv beurteilen zu können, wie „Theorie“ und „Praxis“ in den
Schriften der Juristen verteilt sind, bedarf es freilich umfassenderer
Untersuchungen, als sie in einem knappen Beitrag möglich sind. Bei solchen
Untersuchungen sollte nicht das Motiv maßgeblich sein, möglichst viel
Praxisnähe auszumachen, um so den Wert der Juristenschriften in unseren Augen zu
erhöhen. Es wäre vielmehr auch nach rein theoretischen Erwägungen zu suchen und
zu fragen, welche Bedeutung solchen Darlegungen zukommt, zum Beispiel für die
Kohärenz des römischen Rechts. Deutlich zu machen wäre auch, dass selbst Entscheidungen
und Regeln der klassischen Juristen, die zu ihrer Zeit möglicherweise rein theoretischer
Natur waren, durch Aufnahme in das Corpus Iuris Justinians im Mittelalter und
in der Neuzeit große praktische Bedeutung erlangt haben können.
Die Abhandlung Heinrich Honsells:
„Lebendiges Römisches Recht“ (S. 225ff.) ist der Bedeutung des römischen Rechts
in Gegenwart und Zukunft gewidmet. In Deutschland hat das auf dem römischen
Recht fußende gemeine Recht seinen Status als geltendes Recht verloren, seit
das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft getreten ist (1. 1. 1900). Das römische
Recht wird überwiegend nur noch als rein historisches Phänomen erforscht,
während sich die Zivilrechtswissenschaft auf das BGB beschränkt - und dies, obwohl
das Gesetzbuch zu großen Teilen unverständlich ist, wenn nicht seine
historische Grundlage, und das heißt vornehmlich: das römische Recht, in die
Betrachtung einbezogen wird. Honsell bemüht sich, dieser „partiellen Blindheit“
(S. 235) entgegenzuwirken. Zunächst stellt er „Das römisch-gemeine Recht als
Basis der modernen Zivilrechtskodifikationen“ dar (S. 227ff.), wobei er vor allem
das BGB im Auge hat. Eindrucksvolle Beispiele für die aktuelle Bedeutung des
römischen Rechts lassen sich unter das Stichwort „unzulässige
Verallgemeinerung“ stellen: Entscheidungen klassischer Juristen, die auf
spezifische Fälle bezogen waren, wurden später, vom Mittelalter bis ins 19.
Jahrhundert hinein, als konkreter Ausdruck allgemeiner Regeln verstanden. So wurden
auch Regeln formuliert, die auf falschen Verallgemeinerungen beruhen, gleichwohl
aber Eingang ins BGB gefunden haben. Die Garantiehaftung des Vermieters für
anfängliche Mängel der Mietsache (im Aufsatz Honsells: § 538 BGB, heute: § 536a
BGB) geht auf eine Entscheidung Ulpians (D. 19,2,19,1) zurück, wonach ein
Kellermeister, der Fässer zur Weinlagerung vermietet hat, für ausgelaufenen
Wein auch dann haftet, wenn er die mangelnde Dichtheit der Fässer bei
Vertragsschluss nicht gekannt hat. Die römischen Juristen haben eine solche Garantiehaftung
des Vermieters nicht in jedem Mietverhältnis angenommen, sondern in anderen
Fällen ein Verschulden des Vermieters, also schuldhafte Unkenntnis,
vorausgesetzt. Als weitere Beispiele für die aktuelle Bedeutung des römischen
Rechts führt der Autor die Vorschriften des BGB zur ungerechtfertigen
Bereicherung und zur Ersitzung an. Im folgenden Abschnitt behandelt Honsell „Die
Wiederkehr von Rechtsfiguren“ (S. 232ff.) und greift damit ein Thema auf, das
bereits Mayer-Maly erörtert hat (JZ 1971, S. 1ff.). Ein von Honsell angeführtes
Beispiel ist § 139 BGB, wonach die Teilnichtigkeit eines Vertrages zur
Totalnichtigkeit führt, sofern nicht anzunehmen ist, dass der Vertrag auch ohne
den nichtigen Teil abgeschlossen worden wäre. Die Verfasser des BGB hatten sich
damit bewusst gegen das römische Recht entschieden (Ulpian: utile per inutile
non vitiatur; D. 45,1,1,5). Die Regelung des BGB hat sich als unzweckmäßig
erwiesen. Die deutsche Rechtsprechung nimmt meistens Restgültigkeit an und
kehrt damit zum römischen Recht zurück. Abschließend geht Honsell der Frage
nach, ob das römische Recht mit „seiner unerreichten Dogmatik“ (S. 234) weiterhin
„das Schattendasein eines von wenigen beherrschten Arkanwissens“ führen wird
(S. 235), oder ob es gelingt, das Interesse der Zivilrechtswissenschaft an
ihren eigenen Grundlagen zu wecken. Seine Antwort fällig eher pessimistisch aus.
Im Hinblick auf diesen Beitrag
drängen sich einige Fragen auf. So ist unklar, ob ausreichend sichere Kenntnis
vom klassischen römischen Recht vorhanden ist, um die von den antiken Juristen entwickelten
Lösungen im Hinblick auf das geltende Recht oder rechtspolitisch auswerten zu
können. Diese Unsicherheit hat mehrere Gründe. Im Unterschied zum Corpus Iuris
Justinians, das die Basis des gemeinen Rechts bildete, ist das klassische
römische Recht nicht vollständig, sondern nur zu einem sehr geringen Teil, hauptsächlich
in den Digesten, überliefert, was die Erforschung dieses Rechts erschwert.
Hinzu kommt, dass die im Corpus Iuris überlieferten klassischen Texte durch
Interpolationen entstellt sein können. Diese Möglichkeit wird heute zwar
geringer eingeschätzt als am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, ist aber nicht auszuschließen. Überhaupt sind zahlreiche Fragmente
der klassischen Juristen in ihrer Bedeutung umstritten, selbst im Hinblick auf elementare
Fragen. So ist unklar, wie die überlieferten Entscheidungen zur Haftung des
Vermieters zu interpretieren sind. Umstritten ist, ob der Vermieter eines
Weinfasses Ulpian zufolge bei Unkenntnis des Mangels schlechthin haftet, wie
Honsell annimmt, oder nur bei schuldhafter Unkenntnis.[2]
Wenn die Interpreten des BGB bereit sein sollten, die Lösungen des römischen
Rechts zu berücksichtigen, werden sie sich nicht damit zufrieden geben, über
romanistische Kontroversen informiert zu werden, sondern sichere Auskunft erwarten.
Weiter fragt sich, welchen Rang rechtshistorische Informationen bei der
Auslegung der Vorschriften des BGB haben sollen. Wie müsste die zivilrechtliche
Methodenlehre im Hinblick auf eine historische Interpretation des BGB
umgestaltet werden? Fragen dieser Art sollen deutlich machen, in welchem Maße dieser
Aufsatz zu weiteren Fragen anregt.
Wolfgang Waldstein untersucht
„Evidenz und Intuition bei den Römischen Juristen“ (S. 545ff.). Zunächst nimmt
er „Zum Verhältnis von Evidenz und Intuition“ Stellung und schließt sich dabei
Mayer-Maly an, der seinerseits Kaser folgt: „Wenn Kaser … von der unmittelbaren
Berufung auf Sachgerechtigkeit als charakteristischer Vorgehensweise der
römischen Juristen spricht, so ist diese auf Sachgefühl und Erfahrung
aufbauende Intuition als Erscheinungsform der mittelbaren, das heißt:
voraussetzungsabhängigen, Evidenz anzusehen.“[3]
Im Unterschied zu Kaser sieht Waldstein die Intuition nicht als gefühlsmäßige
Erkenntnis, die im Gegensatz zu Induktion und Deduktion als rationaler
Erkenntnis steht, sondern als „Grundlage der menschlichen Rationalität und die
Voraussetzung für wissenschaftliche Erkenntnis“ (S. 549). Als Beispiel für die
Bedeutung der Intuition bei den römischen Juristen behandelt Waldstein einen
von Celsus Sohn entschiedenen, bei Ulpian überlieferten Fall (D. 12,4,3,7): Ein
Sklave wird testamentarisch unter der Bedingung freigelassen, dass er dem Erben
10 zahlt. In einem späteren Testament wird die Bedingung nicht mehr genannt. Ohne
dies zu wissen, zahlt der Sklave dem Erben 10. Später verlangt er vom Erben 10
zurück. Celsus Vater verneint einen Rückforderungsanspruch. Celsus Sohn meint
dagegen aus Gründen der natürlichen Gerechtigkeit (naturali aequitate motus),
er könne 10 zurückverlangen. Ulpian fügt hinzu, diese Auffassung sei richtiger.
Waldstein kommentiert diese Entscheidung, hier zeige sich ein Wandel vom
„starren alten römischen Recht“, dem noch der ältere Celsus gefolgt sei, zu
„anderen Maßstäben der Gerechtigkeit“ (S. 553) beim jüngeren Celsus. Waldstein
fügt hinzu, „Die römischen Juristen haben seit dem 2. nachchristlichen
Jahrhundert dazu beigetragen, dass in der Entwicklung des römischen Rechts die
‚natürliche Gerechtigkeit’ immer mehr zur Geltung gekommen ist.“ (S. 553)
Wenn Waldstein von „Evidenz“
und „Intuition“ spricht, bezieht er sich auf das Naturrecht: Der Jurist erkennt
demnach intuitiv die evident „gerechte“ Entscheidung. Hier sind jedoch Zweifel
anzumelden, die sich an der von ihm vertretenen Interpretation der Entscheidung
von Celsus Sohn verdeutlichen lassen. Es könnte sein, dass Celsus zu seiner
Entscheidung nicht intuitiv gekommen ist, sondern auf Grund von juristischen
Erwägungen, die er bloß nicht mitteilt. Folgt man Fritz Schwarz, so ließ der
ältere Celsus das spätere Testament lediglich als Bestätigung der testamentarischen
Freilassung gelten und kam so zu einer Aufrechterhaltung der Bedingung, während
der jüngere Celsus meinte, das neuere Testament enthalte deren Widerrruf.[4]
Nach der von Schwarz vertretenen Interpretation handelt sich also um ein
Auslegungsproblem. Celsus Sohn fügt vielleicht bloß noch hinzu, dieses Ergebnis
sei nur recht und billig. Die Wendung naturali aequitate motus ist dann kein
zentrales Element der Begründung, sondern eine zusätzliche Kennzeichnung des
Ergebnisses, die vielleicht sogar von Ulpian stammt, der die vom jüngeren
Celsus getroffene Entscheidung zustimmend kommentiert. Wenn die klassischen Juristen
ihre Entscheidungen häufig überhaupt nicht oder nur sehr knapp begründen,
bedeutet dies nicht, dass sie zu ihren Entscheidung rein intuitiv gekommen
sind. Es besteht die Gefahr, ein romantisch verklärtes Bild der Juristen zu
zeichnen. Fraglich ist zudem, welche Bedeutung philosophische, hier:
naturrechtliche Lehren für die Juristen hatten. So ist unklar, ob der Terminus
naturalis aequitas belegt, dass Celsus Sohn ein Anhänger naturrechtlichen
Denkens war. Möglich ist, dass er sich lediglich einer gehobenen, gebildeten
Sprache bediente oder dass er punktuell einen naturrechtlichen, vielleicht dem
Zeitgeist entsprechenden Terminus verwendete, ohne dass er Anhänger einer
naturrechtlichen Lehre war.
Zusammenfassend lässt sich
feststellen, dass der Band ein eindrucksvolles Zeugnis des Andenkens an Theo
Mayer-Maly bildet – nicht nur, was die Zahl und die Vielfalt der Aufsätze
angeht, die der Bandbreite von Mayer-Malys eigenen Interessen gerecht werden,
sondern auch im Hinblick auf die Qualität der Beiträge. Hervorzuheben ist
ferner, dass die Autoren häufig auf Mayer-Malys Werk Bezug nehmen, und dies
nicht nur in den Beiträgen, die ihrem Titel zufolge Aspekten seines Werkes
gewidmet sind. Auch werden mehrfach eindrucksvolle persönliche Erinnerungen an
den Verstorbenen mitgeteilt. Das „Schriftenverzeichnis von Theo Mayer-Maly“
ist, was die bibliographischen Angaben betrifft, etwas knapp geraten. So hätten
die Abkürzungen von Zeitschriftentiteln aufgelöst werden sollen; auch fehlt bei
den Monographien und Lehrbüchern die Umfangsangabe. Dies sind aber nur kleine Schönheitsfehler,
die den erfreulichen Gesamteindruck des Bandes nicht beeinträchtigen.
Heidelberg Hans-Michael
Empell
[1] Vgl. auch die Rezensionen von Wolfgang Ernst in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Rom. Abt. 128 (2011), S. 605 ff.; Jan Dirk Harke in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 79 (2011), S. 561 f.
[2] Vgl. die von Honsell, S. 228 Anm. 11 angeführten Abhandlungen: Krampe, Christoph: Die Garantiehaftung des Vermieters für Sachmängel. (1980), S. 22ff; Luig, Klaus: Zur Vorgeschichte der verschuldensunabhängigen Haftung des Vermieters für anfängliche Mängel nach § 538 BGB, in: Festschrift für Heinz Hübner zum 70. Geburtstag am 7. November 1984 (1984), S. 128ff.
[3] Daube
noster. Essays in legal
history for David Daube (1974), S. 230.
[4] Schwarz, Fritz: Die Grundlage der condictio im klassischen römischen Recht (1952), S. 253 f.