Elliger, Lars, Das Massaker von Oradour. Die deutsche Rezeption des Prozesses in Bordeaux
1953. Bachelor + Master Publishing/Diplomica, Hamburg
2012. 54 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Die Zerstörung
des Dorfes Oradour-sur-Glane unweit von Limoges und
die Ermordung seiner nahezu gesamten Bevölkerung - 642 Menschen, etwa zu
gleichen Teilen Männer, Frauen und Kinder - durch Soldaten der 3. Kompanie
(SS-Hauptsturmführer Otto Kahn) des I. Bataillons (SS-Sturmbannführer Adolf
Diekmann) des Panzergrenadier-Regiments „Der Führer“ (SS-Standartenführer
Sylvester Stadler) der 2. SS-Panzer-Division „Das Reich“ (SS-Brigadeführer
Heinz Lammerding) am 10. Juni 1944 gilt gemeinhin als das zahlenmäßig größte
Massaker des Zweiten Weltkriegs auf westeuropäischem Boden. Mehr als acht Jahre
später, 1953, war das Verbrechen in Bordeaux Gegenstand eines Prozesses gegen
21 Angeklagte (und weitere 43 in Abwesenheit), wobei gegen die Anwesenden zwei
Todesurteile und 18 Freiheitsstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren bei einem
Freispruch ausgesprochen wurden; bereits 1958 befanden sich allerdings
ausnahmslos alle Verurteilten wieder auf freiem Fuß.
In seiner
schmalen, von der Universität Kassel als Staatsexamensarbeit angenommenen
Studie beschäftigt sich Lars Elliger zunächst mit den
bis heute nicht wirklich geklärten Motiven für die Bluttat und mit dem Ablauf
dieses Ereignisses, danach mit dem französischen Strafverfahren gegen die
(wenigen noch greifbaren) Tatverdächtigen. Im Zuge der Darstellung des
Prozesses, seiner normativen Voraussetzungen und seiner Entwicklung wird der Primat
des Politischen vor juristischen Gesichtspunkten herausgestrichen. Die 1948
durch die französische Nationalversammlung eigens verabschiedete, sogenannte Lex Oradour
schuf die Rechtsgrundlage für eine
Kollektivschuld bei von Gruppen verübten Kriegsverbrechen und wies die
Beweislast den Angeklagten zu, womit nicht nur das Rückwirkungsverbot, sondern
auch das Prinzip der Unschuldsvermutung durchbrochen wurde. Mit Rücksicht auf
den Umstand, dass sich unter den vor Gericht stehenden Angeklagten 14 Franzosen
aus dem Elsass, die in der Waffen-SS gedient hatten, befanden, wurde im
Hinblick auf die Befindlichkeit jenes unruhigen Landesteils, in dem die französische
Staatsführung ein Erstarken der Autonomiebewegung zu verhindern trachtete, nicht
nur die Lex Oradour
noch während des Prozesses revidiert und gänzlich entschärft, sondern auch kaum
eine Woche nach der Urteilsverkündung mit einem Sondergesetz eine Amnestie „für
alle französischen Staatsbürger, die im Zweiten Weltkrieg zum deutschen
Wehrdienst eingezogen wurden und auf Befehl ihrer deutschen Vorgesetzten
Kriegsverbrechen verübt hatten“, verfügt (S. 28f.).
Dieses Vorgehen,
„die politische Einheit Frankreichs zu Lasten einer gerechten Bestrafung von
Mittätern eines Massenmordes, die nun mit zweierlei Maß hinsichtlich der
Nationalität der Täter gemessen wurde, sicherzustellen“ (S. 29), führte zum
einen bei den Überlebenden und Hinterbliebenen der Opfer des Massakers zu einem
Schock und zu heftigen Protesten, zum anderen wurde die Angelegenheit aber auch
in der bundesdeutschen Presse rege aufgegriffen. Auf 13 Seiten behandelt der
Verfasser im letzten Kapitel dieses - sein eigentliches - Thema, wobei er in
der Hauptsache zehn namhafte Blätter für den Untersuchungszeitraum Januar bis
März 1953 heranzieht. Grundsatzkritik an der Lex Oradour, dann Beifall für ihre
weitgehende Annullierung, die immer wiederkehrende Sorge um eine
Benachteiligung der deutschen Angeklagten gegenüber den elsässischen
Tatbeteiligten und Appelle an eine europäische Solidarität im Zeichen der deutsch-französischen
Konvergenz auf wirtschaftlichem Gebiet, damit verbunden die vehemente Forderung
nach einer Ausweitung der Amnestie auch auf die deutschen Angeklagten, daneben
aber auch wiederholtes Lob für die faire Verhandlungsführung des Gerichtspräsidenten
Nussy Saint-Saëns und für
die (milden) Urteile, waren - bei allen Nuancen – zentraler Tenor der
Kommentatoren.
Am Ende der
Lektüre bleibt beim Rezensenten der Eindruck einer bemühten, mit kleineren
Unzulänglichkeiten behafteten (so hat es den Dienstgrad
„SS-Untersturmbannführer“, S. 15, niemals gegeben – ein Flüchtigkeitsfehler
oder doch Mangel an historischem Basiswissen?) und im Umfang bescheidenen
akademischen Arbeit, die unser Wissen durch das verdienstvolle Zusammentragen
der unterschiedlichen Pressestimmen zwar etwas bereichert, aber - wie es bei
Untersuchungen auf dieser Ebene üblich ist - weitgehend im Deskriptiven
verharrt und auf komplexe Fragestellungen ebenso wie auf die analytische
Durchdringung in einem weiter gefassten historischen und juristischen
Bezugsrahmen verzichtet.
Kapfenberg Werner Augustinovic