Eherecht
1811-2011. Historische Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen, hg. v. Kohl,
Gerald/Olechowski, Thomas/Staudigl-Ciechowicz, Kamila/Täubel-Weinreich, Doris
(= BRGÖ Jahrgang 2 Band 2012/1). Verlag der österreichischen Akademie der
Wissenschaften. Wien 2012. 232 S. Besprochen von Werner Schubert.
Der Sammelband über das österreichische Eherecht zwischen 1811 und 2011 vereinigt die Vorträge, die auf der gleichnamigen Tagung, ausgerichtet von der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Wiener Akademie, der Universität Wien, der Wiener Rechtsgeschichtlichen Gesellschaft und der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter am 16. und 17.6.2011 gehalten worden sind. Schwerpunkte sind das Eheschließungs-, Ehescheidungs- und Namensrecht. Stefan Schima stellt die Dreiteilung des Eherechts (für Katholiken, Akatholiken und Juden) dar (S. 13ff.), das hinsichtlich des Scheidungsrechts erst durch das Ehegesetz von 1938 abgelöst wurde. Der Beitrag Herbert Kalbs: „Das Eherecht in der Republik Österreich 1918-1978)“ behandelt im Schwerpunkt das „Ehechaos“ in der ersten Republik (ungarisches Eherecht im Burgenland mit der Möglichkeit der Ehescheidung auch von katholischen Ehepartnern. Dispensehe), das Ehekonkordatsrecht und das Ehegesetz vor und nach 1945 (S. 27ff.). Die Streichungen im Eherecht waren in Deutschland umfangreicher als in Österreich – der Scheidungsgrund der „Verweigerung der Fortpflanzung“ wurde erst 1999 aufgehoben (S. 38). Da nach dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch die Wiederverheiratung von Katholiken, deren Ehe dem Bande nach nicht aufgehoben werden konnte (lediglich Scheidung von Tisch und Bett), nicht zulässig war, wichen diese durch einen Wechsel des Wohnsitzes und oft auch der Staatsbürgerschaft auf eine erneute Eheschließung im Ausland aus. Hierüber berichtet Christian Neschwara in seinem lesenswerten Beitrag: „Eherecht und ‚Scheinmigration’ im 19. Jahrhundert: Siebenbürgische und ungarische, deutsche und Coburger Ehen“ (S. 101ff.). Bereits um 1880 bestanden mehrere Hundert solcher Ehen (S. 109), deren Gültigkeit erst 1907/1924 vom Wiener Obersten Gerichtshof anerkannt wurde (S. 110ff.). Um „Ehe, Staatsangehörigkeit und Migration – Österreich 1918-1938“ (S. 118ff.) geht es im Beitrag Ilse Reiter-Zatloukals. Die meisten europäischen Staaten – so auch Österreich – standen auf dem Boden der einheitlichen Staatsbürgerschaft der Ehegatten, so dass bei Heirat mit einem Ausländer eine Österreicherin ihre österreichische Staatsangehörigkeit verlor (Auflockerung dieses Prinzips in der Zwischenkriegszeit, jedoch nicht in Österreich). Von Bedeutung waren insbesondere Fragen der Scheidung und Wiederverheiratung nach dem ABGB im Migrationskontext (S. 125ff.) und Fragen der Ehescheidung und Wiederverheiratung von nach Deutschland geflüchteten, teils ausgebürgerten Nationalsozialisten (S. 128ff.; zur Änderung des deutschen Rechts im Jahre 1935 vgl. S. 130f.).
Maria Wirth setzt sich ausführlich mit der österreichischen Scheidungsrechtsrefom von 1978 und deren Vorgeschichte auseinander (S. 194ff.). Diese Reform führte jedoch nicht wie in Deutschland zur Abschaffung des Verschuldensprinzips, sondern lediglich zu einer Reform des § 55 EheG und zur Einführung der einvernehmlichen Scheidung nach § 55 a EheG, die eine Vereinbarung über die Scheidungsfolgen voraussetzte. 1999 wurden die absoluten Ehescheidungstatbestände zugunsten einer Generalklausel für alle auf Verschulden beruhenden Scheidungsgründe abgeschafft. Über die Praxis der Handhabung des Verschuldenstatbestandes nach § 49 EheG berichten Doris Täubel-Weinreich („Ehebruch, Zanksucht, mangelhafte Haushaltsführung … Scheidungsgründe im Wandel der Zeit“, S. 206ff.; im Wesentlichen für die Zeit bis 1979) und Norbert Marschall („Das Verschuldensprinzip im heutigen österreichischen Ehescheidungsrecht“; zu § 49 EheG n. F. von 1999). Aus dem Beitrag Marschalls ergibt sich, dass die große Mehrzahl der Ehescheidungen einvernehmlich nach § 55 a EheG erfolgt (2009: 87,3% der Ehescheidungen). Abschließend kommt Marschall zu dem Ergebnis, dass das Verschuldensprinzip neben dem Zerrüttungsprinzip „weiterhin elementarer Bestandteil des österreichischen Scheidungsrechts“ bleiben sollte (S. 229). Einen Einblick in die Praxis des Scheidungsrechts nach dem ABGB bringt Monika Niedermayr in ihrem Beitrag: „Eherechtliche Entscheidungen in der Judikatur der Obersten Justizstelle“ (S. 149 ff.) für Tirol und Vorarlberg anhand der letztinstanzlichen Urteile der Wiener Obersten Justizstelle. Rechtshistorisches Neuland erschließt Gerald Kohl in seinem Beitrag: „Das Eherecht in der populären Rechtsliteratur“ (S. 161 ff.), welch letztere hinsichtlich des Ehe- und Familienrechts sehr umfangreich ist (Quellennachweise S. 173-175). Aufschlussreich ist der Beitrag Dieter Schwabs über die rechtshistorische Entwicklung des Ehenamens (S. 57ff.), ein Begriff, den der deutsche Gesetzgeber erstmals 1957 verwandte (S. 62). Die Durchsetzung der formalen Gleichberechtigung im deutschen Namensrecht bereitete dem Gesetzgeber erhebliche Schwierigkeiten, so dass sich fragt, ob die rechtliche Regelung des Ehenamens – einen solchen gibt es in den romanischen Rechten nicht (S. 59f.) – noch sinnvoll ist (S. 68). Etwas weniger kompliziert dürfte das österreichische Namensrecht sein, wie dem Beitrag Astrid Deixler-Hübners: „Aktuelle Probleme des Namensrechts“ (S. 70ff.) zu entnehmen ist. Die Entwicklung des Ehegattenunterhalts ist Gegenstand der Abhandlung Constanze Fischer-Czermaks (S. 179ff.). Eine subsidiäre Unterhaltspflicht der Ehefrau gegenüber dem bedürftigen Ehemann war erst seit 1924 anerkannt; erst ein Gesetz von 1975 gestaltete erstmals die Unterhaltspflicht der Ehegatten als wechselseitige Verpflichtung aus. Erst ab 1999 ist der Unterhalt grundsätzlich in Geld zu leisten. Der überlebende Ehegatte hatte bis 1978 keinen Pflichtteilsanspruch, wohl aber einen Anspruch auf „mangelnden anständigen“ Unterhalt (§ 786 ABGB) gegen die Erben. Der Unterhaltsanspruch des schuldlos geschiedenen Ehegatten ergab sich zunächst aus § 1264 ABGB, seit 1938 aus § 66 EheG. Nach dem Eherechtsänderungsgesetz von 1999 steht einem geschiedenen Ehegatten ein Unterhaltsanspruch zu, „soweit und solange ihm wegen der Pflege und Erziehung eines gemeinsamen Kindes keine Berufstätigkeit zugemutet werden kann“, was bis zum 5. Lebensjahr des Kindes vermutet wurde (S. 191).
Eine kritische Würdigung des „Eingetragenen Partnerschaftsgesetzes“ von 2009 bringt der Beitrag Bea Verschraegens (S. 89ff.), die zum Schluss von „verpassten Möglichkeiten“ spricht (S. 99). Ein „optionales Modell für transnationale Partnerschaften“ entwirft Nina Dethloff in ihrem Beitrag über „Die Europäische Ehe“ (S. 138ff.). In diesem Zusammenhang weist sie auf den 2010 vereinbarten deutsch-österreichischen Wahlgüterstand hin (S. 140). Stärker sozialhistorisch und sozialwissenschaftlich ausgerichtet sind die Beiträge von Melanie Goisauf/Rossalina Latcheva: „Zwangsverheiratung im sozialwissenschaftlichen und öffentlich-politischen Diskurs“ (S. 81 ff.) und Ulrike Zartlers: „Das Familienbild des ABGB und die Lebenssituation von Scheidungs- und Nachscheidungsfamilien“ (S. 44ff.). Im letzten Beitrag werden insbesondere statistische Erhebungen ausgewertet, die zeigen, dass das Konzept der Ehe- und Haushaltszentrierung im ABGB empirisch überholt ist (S. 52f.). Eine angemessene rechtliche Normierung des Familienrechts erfordere, so Zartler, eine stärkere Berücksichtigung „familiendynamischer Prozesse“ (S. 52).
Der Sammelband ist auch für den deutschen Rechtshistoriker von großem Interesse, da die deutsche und österreichische Rechtsordnung für das moderne Ehescheidungsrecht mit dem Ehegesetz von 1938 denselben Ausgangspunkt haben. Besonders aufschlussreich wäre ein Rechtsvergleich der Judikatur zur Zerrüttungsscheidung nach § 55 EheG für die Zeit nach 1945. In Österreich war es nach 1945 zu einer „völligen Umkehr in der Auslegung“ des § 55 EheG gekommen (S. 97; zur deutschen Entwicklung vgl. Meike Hetzke, Die höchstrichterliche Rechtsprechung von 1948-1951 zum Scheidungsgrund des § 48 EheG 1946 wegen unheilbarer Zerrüttung, 2000). Nicht ausdrücklich behandelt wird in den Referaten das Ehenichtigkeits- und Eheanfechtungsrecht (Problem des Irrtums und der arglistigen Täuschung). Auch für das Verfahren in Eherechtssachen, das im deutschen Recht eine wichtige Rolle spielt, fehlt ein eigener Beitrag. Insgesamt vermittelt der Sammelband einen umfassenden Überblick über die Geschichte und heutige Praxis des österreichischen Eherechts, zu dem weitere Studien insbesondere für die Zeit zwischen 1938 und 1978 lohnenswert wären.
Kiel |
Werner Schubert |