Akten der Reichskanzlei. Regierung Hitler 1933–1945. Band 6 1939, bearb. v. Hartmannsgruber, Friedrich. Oldenbourg, München 2012. LXX, 966 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Mit dem hier anzuzeigenden Band legt Friedrich Hartmannsgruber den fünften von ihm bearbeiteten Band der Akten der Reichskanzlei – Regierung Hitler 1933-1945 von 1939 vor. Bd. I der Reihe (1933/1934) hatte noch Karl-Heinz Minuth 1983 herausgegeben. Anders als die Akten der Reichskanzlei für die Weimarer Zeit kann sich die Edition für die Zeit ab 1933 nicht mehr durchgehend auf die Protokolle der Kabinettssitzungen stützen, die seit 1939 völlig ausblieben. Wichtigste Grundlage der Dokumentation sind die archivalische Überlieferung der Akten der Reichskanzlei und der an der Rechtssetzung beteiligten Reichsministerien und obersten Reichsbehörden im Bundesarchiv Berlin. Wiedergegeben werden vor allem Niederschriften von Ressortbesprechungen, Gesetzesbegründungen, interministerielle Schriftwechsel sowie Aktenvermerke der Reichskanzlei. Ziel der Edition ist es, die „Entscheidungsprozesse im Vorfeld der Gesetzgebung“ zu erhellen (S. VIII). Hierzu zählen „auch für das Selbstverständnis des NS-Staates wichtige Gesetzesprojekte, die aber wegen Ressortdifferenzen oder mit Rücksicht auf die Volksstimmung nicht verabschiedet wurden, oder die man während des Krieges für die Zeit nach dem ‚Endsieg’ aufschob“ (S. VIII). Mit Rücksicht auf die „Akten zur deutschen auswärtigen Politik“ (Serien C, D und E) wurde auf eine Wiedergabe von Aktenstücken aus dem inneren Dienstbetrieb des Auswärtigen Amtes verzichtet (S. IX). Ebenfalls nicht dokumentiert werden die internen ministeriellen Vorgänge, wie beim Justizministerium der Verkehr z. B. mit den Generalstaatsanwälten und OLG-Präsidenten.

 

Wenn auch das Kabinett nicht an den zum Krieg führenden Weichenstellungen Hitlers beteiligt war, so spiegeln die Akten der Reichskanzlei und der Ministerialbürokratie gleichwohl „Kriegskurs des Regimes und seine willfährige technische Umsetzung in allen Facetten und auf allen Politikfeldern“ (S. XV). Die Einleitung zeigt die Schwerpunkte der Regierungstätigkeit für das Jahr 1939 unter folgenden Gesichtspunkten auf: eingegliederte und angegliederte Gebiete, Umsiedlung, Besatzungspolitik/innere Verfassung, Rechtsentwicklung/Wirtschaftspolitik und Finanzpolitik sowie Arbeitsordnung und Sozialpolitik. Von der Sicht des Privatrechtshistorikers sind von Bedeutung der Entwurf zu einem Gesetz über Erbfolge und Pflichtteilsrecht, der 1940 intensiv weiterverfolgt, jedoch nicht mehr verabschiedet wurde (S. 153ff.). Das Gleiche gilt für das Projekt eines gesetzlichen Eheverbots Deutscher mit Ausländern (S. 81ff., 458ff.), dessen Erlass 1940 zurückgestellt wurde. Einschränkend war das Gesetz über die Vermittlung der Annahme an Kindes Statt vom 19. 4. 1939, das die kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen von der Adoptionsvermittlung ausschloss (S. 120ff.). Auf Anordnung Hitlers sollte § 1779 Abs. 2 Satz 2 BGB, nach dem bei der Auswahl des Vormundes auf die religiöse Bekenntnis des Mündels Rücksicht zu nehmen war, dahin abgeändert werden, dass der Vormund „insbesondere Gewähr für die Erziehung des Mündels im Geiste nationalsozialistischer Weltanschauung“ bieten sollte (S. 781f.). Ebenfalls gegen die Kirche richtete sich der Entwurf des Reichsinnenministeriums zu einem Gesetz über das Friedhofswesen, das sich gegen die kirchlichen Friedhöfe richtete, das jedoch 1940 „aus Stimmungsgründen“ bis zum Kriegsende verschoben wurde (S. XXXVI, 282ff.). Nicht näher dokumentiert ist das nicht unwichtige Verschollenheitsgesetz vom 4. 7. 1939 (vgl. S. 849; Quellen bei W. Schubert, Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus, 1939, S. 342ff.). Ausführlich dokumentiert ist das Gesetz über Pflichtversicherung von Kraftfahrzeughaltern vom 7. 11. 1939 (S. 333ff., 676f.; hierzu Frank Barner, Die Einführung der Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter, Frankfurt am Main 1991; W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht, Bd. 13 [2002], S. 195 ff.; Bd. 18 [2009], S. 531ff.). S. 159 f. bringt Hartmannsgruber die Begründung zur Kabinettsvorlage des Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden (S. 159ff.; Gesetz vom 30. 4. 1939). Ein Vermerk aus dem Reichsjustizministerium behandelt die Judengesetzgebung auf dem Gebiet des Vollstreckungsrechts (S. 2ff.). Wie schon in den Vorjahren blieben auch 1939 die Bemühungen des Reichsarbeitsministeriums erfolglos, ein Gesetz über die Arbeitnehmererfindungen zu erlassen. Aus dem strafrechtlichen Bereich werden dokumentiert das endgültige Scheitern der Strafrechtsreform im Dezember 1939 (S. 774), die Volksschädlingsverordnung (S. 542ff.), das Gesetz über das Verbot des Abhörens ausländischer Sender, gegen das sich vor allem der Reichsjustizminister Gürtner wandte (S. 527ff.) sowie die Sonderstrafgerichtsbarkeit für die SS und die Polizei (S. 415ff., 517ff., 574f.). Aufgrund von Urteilsrügen Hitlers ergingen die Novelle zum allgemeinen und Wehrmachtsstrafverfahren vom 16. 9. 1939 (S. 432ff., 501ff.; Einführung des außerordentlichen Einspruchs; hierzu auch W. Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, III 2,3 1993, S. 609f.), die Verordnung vom 4. 10. 1939 gegen frühreife Schwerverbrecher (S. 559f., 675f.) und die Verordnung vom 5. 12. 1939 gegen Gewaltverbrecher (S. 627ff).

 

Die zum Teil mit Recht umfangreichen Verweise in den Anmerkungen auf die einschlägigen Akten des Bundesarchivs und die wichtigsten Quellen- und Sekundärliteratur wie auch das umfangreiche Personen- und Sachregister erschließen das Werk in umfassender Weise. Die von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und dem Bundesarchiv betreute Edition ist inzwischen zu einem unverzichtbaren Arbeitsinstrument auch für den Rechtshistoriker geworden, der sich mit der Gesetzgebung der NS-Zeit und ihrer Projekte befasst. Es ist zu wünschen, dass die weiteren Bände in nicht allzu ferner Zeit erscheinen.

 

Kiel

Werner Schubert