Hofer, Sibylle, Richter zwischen den Fronten - Die Urteile des Berner Prozesses um die «Protokolle der Weisen von Zion» 1933-1937. Helbing Lichtenhahn, Basel 2011. 216 S., 5 Abb.Besprochen von Werner Augustinovic.
Bei den „Protokollen der Weisen von Zion“ handelt es sich um den wohl bekanntesten antisemitischen Text überhaupt; seine genauen Ursprünge konnten bis dato nicht restlos geklärt werden, weshalb sich Antisemiten jeder Couleur immer noch gerne des Pamphlets bedienen und trotz konträrer Sachlage dessen vorgebliche Authentizität weiterhin reklamieren. Tatsache ist, dass die nachgewiesenermaßen aus fiktiven Quellen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kompilierte, wohl auf russische Veranlassung in Frankreich verfasste und seit 1905 als Teil der weite Verbreitung erlangenden, mystischen Auslassungen des Sergej Alexandrowitsch Nilus popularisierte Schrift bald von Judengegnern in aller Welt – in Deutschland von Theodor Fritsch und Alfred Rosenberg, in den USA vom Automobilmagnaten Henry Ford – aufgegriffen und propagandistisch verwertet wurde. Ihr Inhalt gibt vor, „Protokolle“ von „Tagungen“ einer angeblichen jüdischen Geheimorganisation zu dokumentieren und damit deren rücksichtslose Pläne zur Unterjochung der Völker und zur Erringung der Weltherrschaft offenzulegen.
Um die Haltlosigkeit dieser Verschwörungstheorie im Umfeld erstarkender nationalsozialistischer Tendenzen auch in der Schweiz öffentlich zu erweisen, erstatteten der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die Israelitische Kultusgemeinde Bern Strafanzeige wegen Verbreitung dieser und weiterer antisemitischer Hetzschriften, worauf es zur Anklage gegen fünf Beschuldigte kam. Das Verfahren erster Instanz vor dem Einzelrichter (1933-1935) endete mit der Verurteilung zweier Angeklagter; im Appellationsverfahren vor der ersten Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern (1935-1937) wurde jedoch in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils auf Freispruch entschieden.
Diese scheinbar widersprüchlichen Entscheidungen haben in der historischen Fachwelt – so zuletzt von Wolfgang Benz – eine einhellige Bewertung erfahren: Während der Spruch des Einzelrichters als Sieg der Vernunft mit Lob bedacht wird, stößt das als „formaljuristisch“ klassifizierte und kritisierte Urteil der Kammer durchwegs auf Unverständnis. Hier hakt Sibylle Hofer, Ordinaria für Rechtsgeschichte und Privatrecht am Institut für Rechtsgeschichte der Universität Bern, Vorsteherin des Instituts und neben Wilhelm Brauneder (Wien) und Diethelm Klippel (Bayreuth) Fachherausgeberin für den Bereich Recht und Verfassung der Enzyklopädie der Neuzeit, ein, indem sie beide Verfahren der bisher fehlenden juristischen Analyse unterzieht und den Berner Prozess grundsätzlich als ein „bezeichnendes Beispiel für die Schwierigkeiten, die sich ergeben können, wenn ein politisches Problem zum Gegenstand eines Gerichtsverfahrens gemacht wird“, erkennt (S. 31).
In der Folge zeigt die Verfasserin, dass eine durch die jeweilige Zielrichtung bestimmte, unterschiedliche Auslegung der dem Verfahren zugrunde liegenden Strafnorm, der Artikel 15 und 16 des im Kanton Bern 1916 erlassenen „Gesetz(es) über das Lichtspielwesen und Massnahmen gegen die Schundliteratur“ (LSchG), für die abweichenden Urteile verantwortlich zeichnet. Der in erster Instanz urteilende Gerichtspräsident Walter Meyer (1885-1941) hatte „von Anfang an“ das klare Ziel, „durch den Prozess nachzuweisen, dass die Schrift nicht das (echte) Dokument einer jüdischen Besprechung darstelle und ausserdem ein Plagiat sei“, wodurch „Judenverfolgungen ihre vermeintliche Legitimation entzogen werden“ sollte (S. 36). Dieser auf Grundlage der Expertisen dreier Sachverständiger geführte Nachweis einer Fälschung rechtfertigte für den Richter in weiter Auslegung der Norm eine Subsumption der „Protokolle“ unter den Begriff der Schundliteratur i. S. von Art. 14 LSchG und in Verbindung mit dem Schuldvorwurf der Fahrlässigkeit die Verurteilung der Angeklagten.
Andere Gesichtspunkte waren für das Appellationsgericht maßgebend, das sich nach eingehender historischer wie rechtsvergleichender Prüfung für eine enge Gesetzesinterpretation entschied und die „Protokolle“ als „Schundliteratur - im ästhetischen, literarischen, aber nicht im rechtlichen Sinne“ einstufte (S. 61). Wie aus der Urteilsbegründung hervorgeht, hatten die Mitglieder der Kammer „nicht die vordergründige Konsequenz des Prozessergebnisses, sondern die weiterreichenden Konsequenzen im Hinblick auf zentrale freiheitliche Prinzipien“ (S. 77f.) im Auge: In bewusster Abgrenzung zur Demontierung des Rechts im nationalsozialistischen Deutschland (u. a. Orientierung am „gesunden Volksempfinden“, Aufhebung des Analogieverbots im Strafrecht, Beseitigung der Pressefreiheit …) setzten sie mit den streng „formaljuristischen“, aus politischer Sicht unbefriedigend erscheinenden Freisprüchen ein deutliches Zeichen für die Rechtsstaatlichkeit. Mit Hilfe der Regelungen über die Verfahrenskosten und durch deren restriktive Handhabung verliehen die Richter auf Umwegen ihrer grundsätzlichen Missbilligung Ausdruck.
Sibylle Hofers Analyse erweitert somit zum einen den Horizont rechtsgeschichtlichen Wissens, rückt aber darüber hinaus einmal mehr das zentrale Problem der Verantwortung des an das Recht gebundenen Richters im Widerstreit mit politischen Erwartungshaltungen ins Licht, wie es uns aktuell in Deutschland auch in den Diskussionen um die Unsicherheiten eines gesetzlichen Verbots der rechtsextremen NPD begegnet. Darüber hinaus kann sie zeigen, dass es in der historischen Forschung eines interdisziplinären Austausches unter Beiziehung der Fachwissenschaften bedarf, um juristische Vorgänge historisch korrekt einordnen und vorschnelle, unzutreffende Schlussfolgerungen vermeiden zu können. Das in zwei Abschnitte gegliederte, zur Lektüre empfohlene Bändchen bietet im ersten Teil politische und juristische Hintergründe des Verfahrens und erläutert und analysiert dessen Ablauf und Inhalt; der zweite Teil enthält auf knapp 200 Druckseiten eine knapp kommentierte Edition der beiden Urteile.
Kapfenberg Werner Augustinovic