Blatman, Daniel, Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, aus dem Hebräischen von Lemke, Markus. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011. 860 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Todesmarsch ist in der Konfliktforschung und Gewaltforschung der erzwungene Marsch von Menschen, bei dem der Tod der Marschierenden billigend in Kauf oder sogar gewollt wird. Als geschichtliche Beispiele solchen unmenschlichen Vorgehens werden beispielsweise angesehen der Todesmarsch von Indianern (1838), von Armeniern (1915), von amerikanischen und philippinischen Soldaten (1942), von Konzentrationslagerhäftlingen (1944/1945), von Deutschen aus den Ostgebieten (1945), von Wehrmachtverbündeten (1945) oder von Palästinensern. Sie sind trotz erheblicher Unterschiede in der Dimension und der Grausamkeit schreckliche Kriegsverbrechen.
Daniel Blatman arbeitet am Avraham Harman Institute of Contemporary Jewry der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er erwarb dort 1992 unter Betreuung Yehuda Bauers den Grad PhD. Zu seinen wichtigsten Werken zählen eine 1996 in Jerusalem vorgelegte Untersuchung über die jüdische Arbeiterbewegung (BUND) in Polen zwischen 1939 und 1949 und eine 2002 ebenfalls in Jerusalem veröffentlichte Studie über die jüdische Untergrundpresse im Warschauer Getto.
In der knappen Einleitung seines neuen, auf Anregung Yehuda Bauers in langen Jahren auf breiter Quellengrundlage erarbeiteten gewichtigen Buches beginnt der Verfasser mit dem nüchternen Hinweis, dass im Januar 1945 laut zeitgenössischen Aufzeichnungen noch etwa 714000 Menschen im Netz der Konzentrationslager inhaftiert waren. Ihnen widmet sich das Werk ausführlich dadurch, dass es in seinem ersten, den Zusammenbruch des Systems beschreibenden Teil nacheinander die Konzentrationslager zwischen 1933 und 1944, die Evakuierungen im Sommer und Herbst 1944, den Rückzug, Zusammenbruch und die Liquidierung in Auschwitz, Groß-Rosen und Stutthof, das bürokratische Wirrwarr, das hemmungslose Morden auf den Todesrouten und das lebende Krematorium darstellt und in seinem zweiten Teil die kriminellen Gemeinschaften vorführt und dabei fragt, ob die Mörder nur normale Bürger in anormalen Situationen gewesen sein können. Am Ende seines langen beschwerlichen Weges in die Abgründe des von den Nationalsozialisten verkörperten Bösen hat er eine bedrückend Landkarte von Polen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine bis vor die Haustüre der Gesellschaft vorgelegt, welche die Täter hervorgebracht hatte.
Innsbruck Gerhard Köbler