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|0002|
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|0007 : [I]|
Syſtem
des
heutigen Römiſchen Rechts
von
Friedrich Carl von Savigny.
Zweyter Band.
Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.
Berlin.
Bei Veit und Comp.
1840.
|0008 : [II]|
|0009 : [III]|
Inhalt des zweyten Bandes.
Zweytes Buch. Die Rechtsverhältniſſe.
Zweytes Kapitel. Die Perſonen als Träger der Rechts-
verhältniſſe.
Seite.
§. 60. Natürliche Rechtsfähigkeit und deren poſitive Mo-
dificationen 1
§. 61. Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. I. Anfang 4
§. 62. Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. I. An-
fang. (Fortſetzung.) 12
§. 63. Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. II. Ende 17
§. 64. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung 23
|0010 : IV|
Inhalt des zweyten Bandes.
Seite.
§. 65. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit 30
§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der
Civität 38
§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Abhängig-
keit von Familiengewalt 49
§. 68. Dreyfache capitis deminutio 60
§. 69. Wirkungen der capitis deminutio 69
§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.) 79
§. 71. Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähig-
keit und capitis deminutio 90
§. 72. Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähig-
keit und capitis deminutio. (Fortſetzung.) 104
§. 73. Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähig-
keit und capitis deminutio. (Fortſetzung.) 121
§. 74. Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähig-
keit und capitis deminutio. (Fortſetzung.) 134
§. 75. Heutige Anwendbarkeit der Lehre von der Rechts-
fähigkeit und der capitis deminutio 148
§. 76. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Infamie.
Einleitung 170
§. 77. Einzelne Fälle der Infamie 173
§. 78. Juriſtiſche Bedeutung der Infamie 186
§. 79. Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.) 195
§. 80. Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.) 201
§. 81. Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.) 209
|0011 : V|
Inhalt des zweyten Bandes.
Seite.
§. 82. Nebenwirkungen der Infamie 215
§. 83. Heutige Anwendbarkeit der Lehre von der Infamie 224
§. 84. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Religion 231
§. 85. Juriſtiſche Perſonen. Begriff 235
§. 86. Juriſtiſche Perſonen. Arten 242
§. 87. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte 246
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung) 253
§. 89. Juriſtiſche Perſonen. Entſtehung und Untergang 275
§. 90. Juriſtiſche Perſonen. Rechte 281
§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.) 285
§. 92. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.) 294
§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.) 299
§. 94. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.) 310
§. 95. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.) 317
§. 96. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung 324
§. 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.) 329
§. 98. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.) 339
§. 99. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.) 345
§. 100. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.) 352
§. 101. Juriſtiſche Perſonen. Fiscus 360
§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften 363
§. 103. Verſchiedenheiten in der Verknüpfung der Rechts-
verhältniſſe mit den Perſonen 374
|0012 : VI|
Inhalt des zweyten Bandes.
Seite.
Beylage III. Die Vitalität eines Kindes, als Bedingung
ſeiner Rechtsfähigkeit 385
Beylage IV. Über die Wirkſamkeit der von Römiſchen Skla-
ven contrahirten Obligationen 418
Beylage V. Über die Schuldenfähigkeit einer filiafamilias 430
Beylage VI. Status und Capitis deminutio 443
Beylage VII. Über einige zweifelhafte Punkte in der Lehre
von der Infamie 516
|0013|
|0014|
|0015 : [1]|
Zweytes Kapitel.
Die Perſonen als Träger der Rechtsverhältniſſe.
§. 60.
Natürliche Rechtsfähigkeit und deren poſitive
Modificationen.
Jedes Rechtsverhältniß beſteht in der Beziehung einer
Perſon zu einer andern Perſon. Der erſte Beſtandtheil
deſſelben, der einer genaueren Betrachtung bedarf, iſt die
Natur der Perſonen, deren gegenſeitige Beziehung jenes
Verhältniß zu bilden fähig iſt. Hier iſt alſo die Frage
zu beantworten: Wer kann Träger oder Subject eines
Rechtsverhältniſſes ſeyn? Dieſe Frage betrifft das moͤg-
liche Haben der Rechte, oder die Rechtsfähigkeit,
nicht das mögliche Erwerben derſelben, oder die Hand-
lungsfähigkeit, welche erſt in einem folgenden Ab-
ſchnitt betrachtet werden wird (§ 106).
In dem Rechtsverhältniß aber ſteht eine beſtimmte
Perſon in Beziehung bald zu einer gleichfalls beſtimmten
einzelnen Perſon, bald unbeſtimmt zu allen anderen Men-
ſchen (§ 58). Die gegenwärtige Unterſuchung kann ihrer
II. 1
|0016 : 2|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Aufgabe nach nur die beſtimmten Perſonen in den Rechts-
verhältniſſen betreffen, da zu dem blos negativen Verhält-
niß, in welchem Alle einem Einzelnen, z. B. einem Ei-
genthümer, gegenüber ſtehen, ein Jeder als fähig anzu-
ſehen iſt.
Alles Recht iſt vorhanden um der ſittlichen, jedem ein-
zelnen Menſchen inwohnenden Freyheit willen (§ 4. 9.
52) (a). Darum muß der urſprüngliche Begriff der Per-
ſon oder des Rechtsſubjects zuſammen fallen mit dem Be-
griff des Menſchen, und dieſe urſprüngliche Identität bei-
der Begriffe läßt ſich in folgender Formel ausdrücken:
Jeder einzelne Menſch, und nur der einzelne Menſch, iſt
rechtsfähig.
Indeſſen kann dieſer urſprüngliche Begriff der Perſon
durch das poſitive Recht zweyerley, in der aufgeſtellten
Formel bereits angedeutete, Modificationen empfangen,
einſchränkende und ausdehnende. Es kann nämlich erſtens
manchen einzelnen Menſchen die Rechtsfähigkeit ganz oder
theilweiſe verſagt werden. Es kann zweytens die Rechts-
fähigkeit auf irgend Etwas außer dem einzelnen Menſchen
übertragen, alſo eine juriſtiſche Perſon künſtlich gebil-
det werden.
Der gegenwärtige Abſchnitt ſoll nun zuerſt die Grän-
zen der in ihrem urſprünglichen oder natürlichen Begriff
(a) L. 2 de statu hom. (1.5.):
„Cum igitur hominum causa
omne jus constitutum sit; pri-
mo de personarum statu .. di-
cemus.”
|0017 : 3|
§. 60. Natürliche Rechtsfähigkeit.
aufgefaßten Perſon feſtſtellen, dann aber die zwiefachen
Modificationen angeben, wodurch in unſrem poſitiven
Recht dieſer natürliche Begriff umgebildet worden iſt.
Zum Schluß iſt noch die verſchiedene Weiſe zu er-
wähnen, in welcher das einzelne Rechtsverhältniß mit be-
ſtimmten Perſonen verknüpft werden kann.
1*
|0018 : 4|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 61.
Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. I. Anfang.
Der Anfang der natürlichen Rechtsfähigkeit iſt bedingt
durch die Geburt, das heißt durch die vollſtändige Tren-
nung eines lebenden Menſchen von der Mutter.
Dieſe wird von uns gegenwärtig betrachtet in ihrer
wichtigſten Beziehung, nämlich als Bedingung anfangen-
der Rechtsfähigkeit für den gebornen Menſchen ſelbſt. Die
bedeutendſten Anwendungen, wodurch ſich dieſer Anfang
im Privatrecht augenblicklich wirkſam zeigt, auch wenn
das Leben gleich nachher wieder aufhört, ſind dieſe: 1) das
frühere Teſtament des Vaters, worin dieſes Kind nicht
berückſichtigt iſt, wird durch die Geburt vernichtet; 2) die
Inteſtaterbſchaft des vor der Geburt verſtorbenen Vaters
wird dem Kinde im Augenblick der Geburt erworben. Um
dieſer beiden Wirkungen willen iſt es beſonders wichtig,
die wirkliche, vollſtändige Geburt von der blos ſcheinba-
ren genau zu unterſcheiden. Andere juriſtiſche Ereigniſſe
werden für den Neugebornen nicht leicht in dieſen erſten
Augenblicken ſeines Daſeyns eintreten, ſondern erſt in ir-
gend einer ſpäteren Zeit, worin ohnehin an dem wahren
menſchlichen Daſeyn jenes Gebornen nicht mehr gezweifelt
werden kann. — Aber nicht blos für die eigene Rechts-
fähigkeit des Gebornen war im früheren Römiſchen Recht
jene genaue Unterſcheidung wahrer und ſcheinbarer Ge-
|0019 : 5|
§. 61. Anfang der Rechtsfähigkeit.
burt von Wichtigkeit, ſondern auch im Intereſſe der Mut-
ter, welcher manche wichtige Vortheile durch die Geburt
von Kindern entſtehen konnten, und zwar auf zweyerley
Weiſe: bald indem ſie dadurch Begünſtigungen erlangte
in Vergleichung mit ſonſt geltenden allgemeinen Rechtsre-
geln (a), bald indem ſie von einer Zurückſetzung gegen all-
gemeine Rechtsregeln befreyt wurde. Das erſte kann man
Belohnungen der Kinderzeugung nennen, das zweyte aber
Befreyung von Strafen für den Mangel an Kindern. Bey-
ſpiele der Belohnungen für die Mutter ſind dieſe. Erſt-
lich die hereditas im Vermögen der Kinder nach dem Sc.
Tertullianum: dieſe war eine Begünſtigung gegen die bis
dahin beſtehende Inteſtaterbfolge, und die Mutter ſollte
dieſes Vorrecht nur genießen, wenn ſie drey Kinder (eine
Freygelaſſene Vier) geboren hatte (b). Zweytens der Er-
werb der Civität für jede Latina, die drey Kinder gebo-
ren hatte (c). Endlich die Befreyung von der Tutel, un-
ter welcher ſonſt alle Frauen ihres Geſchlechts wegen ſte-
hen ſollten (d). — Als Befreyung von einer Strafe wurde
(a) Hier kommt alſo der Be-
griff von jus singulare zur An-
wendung (§ 16).
(b) § 2. 4 J. de Sc. Tertull.
(3. 3.). Paulus IV. 9. § 1.
(c) Ulpian. III. § 1, nach ei-
nem Senatusconſult.
(d) Gajus I. § 194. 195. Ul-
pian. XXIX. § 3. — Viele Fälle
ſolcher Belohnungen und Straf-
befreyungen gehören nicht hier-
her, indem ſie vorausſetzen, daß
das Kind noch lebe, oder doch
längere Zeit gelebt habe, in wel-
chen Fällen gar nicht das Bedürf-
niß der Unterſcheidung wahrer und
ſcheinbarer Geburten vorkommt.
Vgl. pr. J. de excus. (1. 25.).
Ulpian. III. § 3. XV. XVI. § 1.
Daher erſcheint bey dem Vater
dieſe Frage nur in ſeltenen An-
wendungen, und hat alſo gar nicht
dieſelbe Wichtigkeit wie bey der
Mutter. Eine ſolche Anwendung
|0020 : 6|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
angeſehen die wichtige Regel, nach welcher Frauen durch
die Geburt von Drey oder Vier Kindern (Drey bey Frey-
gebornen, Vier bey Freygelaſſenen) das Recht zur Er-
werbung von Teſtamentserbſchaften erlangten; die dadurch
aufgehobene Unfähigkeit war Strafe, da vor der Lex Julia,
nach allgemeinen Rechtsregeln, die Fähigkeit der Frauen
von dieſer Seite her keiner Einſchränkung unterworfen ge-
weſen war. — Man möchte glauben, der Begriff der wah-
ren Geburt wäre überall derſelbe, ohne Unterſcheidung
dieſer daran geknüpften Wirkungen. So iſt es aber in
der That nicht; vielmehr wurde es bey der Befreyung
von Strafen damit weniger genau genommen, als bey
den Belohnungen, und bey der eigenen Rechtsfähigkeit des
Kindes: ohne Zweifel, weil jene Strafen überhaupt etwas
Gehäſſiges hatten, weshalb man ſie einzuſchränken ſuchte,
ſoweit es die Worte der Geſetze nur immer zuließen.
Erſt nach dieſer Vorbereitung iſt es moͤglich, den oben
aufgeſtellten Begriff wahrer Geburt in ſeine Elemente zu
zerlegen. Es gehört dazu: 1) Trennung von der Mut-
ter, 2) vollſtändige Trennung, 3) Leben des Gebor-
nen nach der vollſtändigen Trennung, 4) menſchliche
Natur deſſelben.
1) Das Kind muß von der Mutter getrennt ſeyn,
alſo außerhalb derſelben exiſtirt haben. Die zu dieſer
Trennung angewendeten Mittel ſind gleichgültig; daher iſt
auch auf den Vater findet ſich bey
Ulpian. XV. „et quandoque li-
beros habuerint, ejusdem par-
tis proprietatem.”
|0021 : 7|
§. 61. Anfang der Rechtsfähigkeit.
eine künſtliche, gewaltſam bewirkte Geburt von der na-
türlichen juriſtiſch nicht unterſchieden (e). Sogar hatte
deshalb ein Geſetz der alten Könige ausdrücklich vorge-
ſchrieben, daß nach dem Tod einer ſchwangeren Frau der
Leichnam geöffnet werden ſollte, um wo möglich das Le-
ben des Kindes zu retten (f).
(e) Für das Recht des ſo ge-
bornen Kindes iſt das ganz un-
zweifelhaft. L. 12 pr. de liberis
(28. 2.). „Quod dicitur filium
natum rumpere testamentum,
natum accipe etsi exsecto ven-
tre editus sit: nam et hic rum-
pit testamentum, scilicet si na-
scatur in potestate.” L. 6 pr.
de inoff. (5. 2.). L. 1 § 5 ad
Sc. Tertull. (38. 17.). — Aber
wird dieſes Kind auch zum Vor-
theil der Mutter angerechnet?
Ulpian bejaht die Frage. L. 141
de V. S. (50. 16.). „Etiam ea
mulier, cum moreretur, credi-
tur filium habere, quae exciso
utero edere possit.” Paulus
verneint ſie. L. 132 § 1 de V.
S.. „Falsum est eam peperisse,
cui mortuae filius exsectus est.”
Wahrſcheinlich ſprach Ulpian von
der Anwendung von Strafen, z. B.
wenn die Mutter zweyer Kinder
eine Teſtamentserbſchaft antrat,
und nach ihrem Tode wurde das
dritte Kind durch Öffnung des
Leichnams zur Welt gebracht, ſo
galt ſie als Mutter dreyer Kin-
der, und ihre Antretung war nun
gültig. Paulus dagegen ſprach
von einem Fall der Belohnung,
z. B. die Latina, die bey ihrem
Tode erſt zwey Kinder hatte, ſollte
nicht durch das nach ihrem Tod
geborne in die Lage kommen, als
hätte ſie durch drey Kinder die
Civität erworben; ſie ſollte alſo
keine Erben hinterlaſſen können.
Gezwungener, aber doch nicht
völlig verwerflich, ſcheint mir die
Combination der L. 141 cit. mit
L. 51 § 1 de leg. 2 (31 un.) und
L. 61 de cond. (35. 1.). — Vgl.
überhaupt Schulting, notae ad
Digesta, in L. 141 cit. — Bey
der Erklärung der hier angeführ-
ten und ähnlicher Pandektenſtel-
len hat man ungebührliches Ge-
wicht auf den Umſtand gelegt, daß
dieſelben aus einem Commentar
über die Lex Julia herrührten,
und deshalb ſtets annehmen wol-
len, ſie müßten von einem in die-
ſem Volksſchluß erwähnten Fall
reden, den man dann auszumit-
teln ſuchte. Das iſt aus zwey
Gründen verwerflich; erſtens, weil
unſre Kenntniß von dem Inhalt
der Lex Julia ſehr mangelhaft
iſt, zweytens weil der alte Com-
mentator ſehr wohl neben einer
Regel der Lex Julia auch andere,
verwandte Fälle erörtern konnte.
(f) L. 2 de mortuo infer.
(11. 8.).
|0022 : 8|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
2) Dieſe Trennung muß eine vollſtändige ſeyn (g).
3) Das ſo geborne Weſen muß nach der Trennung
gelebt haben (h). Wenn alſo während einer langwieri-
gen Geburt das Kind Zeichen des Lebens giebt, aber ſtirbt
bevor es ganz außer der Mutter exiſtirte, ſo hat es nie-
mals Rechtsfähigkeit gehabt. Noch weniger hat es ſolche
haben können, wenn es ſchon vor dem Anfang der Ge-
burt todt war, ſey es nun zu früh geboren (abortus) (i),
oder zwar ausgetragen, aber im Mutterleibe geſtorben (k).
— Durch welches Zeichen das Leben außer Zweifel ge-
ſetzt werden kann, iſt gleichgültig. Früher behaupteten
manche Rechtslehrer, das Kind müſſe nothwendig ge-
ſchrieen haben, allein Juſtinian hat dieſe Meynung aus-
drücklich verworfen (l). Eben ſo iſt die Dauer des Le-
(g) L. 3 C. de posthumis (6.
29.) „perfecte natus … ad or-
bem totus processit.”
(h) L. 3 C. de posthumis (6.
29.) „vivus .. natus est.” —
Paulus IV. 9 § 1 „vivos pa-
riant.” In dieſer letzten Stelle
iſt nicht von der Rechtsfähigkeit
des Kindes die Rede, ſondern von
einer Belohnung der Mutter.
(i) L. 2 C. de posthumis (6.
29.). „Uxoris abortu testamen-
tum mariti non solvi.”
(k) L. 129 de V. S. (50. 16.).
„Qui mortui nascuntur, neque
nati, neque procreati videntur:
quia nunquam liberi appellari
potuerunt.” Dieſer Satz iſt ſicher
wahr für die eigene Rechtsfähig-
keit des Kindes: eben ſo auch
für die Belohnungen der Mut-
ter, z. B. das Erbrecht nach dem
Sc. Tertullianum (Paulus IV. 9
§ 1); von welchem dieſer Fälle
der Juriſt reden wollte, läßt ſich
nicht beſtimmen, da die Überſchrift
der Stelle (Paulus lib. 1. ad L.
Jul. et Pap.) hierüber nicht ſicher
entſcheiden kann (Note e). Da-
gegen iſt der Satz ſicher nicht an-
genommen worden bey den Stra-
fen der Kinderloſigkeit, welches
aber erſt unten, bey dem Erfor-
derniß der menſchlichen Natur des
Kindes, klar gemacht werden kann
(Note s).
(l) L. 3 C. de posthumis (6. 29.).
|0023 : 9|
§. 61. Anfang der Rechtsfähigkeit.
bens gleichgültig, ſo daß auch dasjenige Kind Rechtsfä-
higkeit erlangt hat, welches augenblicklich nach der Ge-
burt verſtorben iſt (m).
4) Endlich muß das ſo geborne lebende Weſen, um
rechtsfähig zu ſeyn, menſchliche Natur haben, welche
nur aus der menſchlichen Geſtalt erkannt werden kann;
die Römer drücken das ſo aus: es muß kein monstrum
oder prodigium ſeyn. Dieſes Erforderniß gilt für des
Kindes Rechtsfähigkeit und für die Belohnungen, nicht für
die Abwendung der Strafen: durch dieſe Unterſcheidung
ſind die ſcheinbaren Widerſprüche in unſren Rechtsquellen
aufzulöſen. — Für die Rechtsfähigkeit wird dieſe Regel
ganz klar ausgeſprochen (n), und eben ſo für einen der
wichtigſten Fälle der Belohnungen, das Sc. Tertullia-
num (o); es wird jedoch hinzugefügt, daß bloße Abwei-
chungen von der regelmäßigen Menſchengeſtalt kein Hin-
derniß ſind, z. B. Glieder zu viel, oder Glieder zu we-
nig (p). Die wirkliche Gränze der Menſchengeſtalt wird
bey dieſer Veranlaſſung nicht angegeben, ſie kann aber
(m) L. 3 C. de posthumis (6
29.) „lieet illice postquam in
terra cecidit, vel in manibus
obstetricis decessit.” L. 2 C. eod.
(n) L. 3 C. de posthumis (6.
29.) „ad nullum declinans mon-
strum vel prodigium.”
(o) Paulus IV. 9 § 3. L. 14
de statu hom. (1. 5.) aus Pau-
lus lib. 4 sentent. Dieſe Stelle
iſt alſo mit jener identiſch; in die
Pandekten aufgenommen, kann ſie
aber ihren urſprünglichen prakti-
ſchen Sinn nicht beybehalten ha-
ben, vielmehr iſt ſie im Sinn des
Juſtinianiſchen Rechts nunmehr
von der Rechtsfähigkeit des Kin-
des zu verſtehen.
(p) Glieder zu viel. Paulus IV.
9 § 3. L 14 de statu hom. (1.
5). — Glieder zu wenig. L. 12.
§ 1 de liberis (28. 2.) „si non
integrum animal editum sit, cum
spiritu tamen, an adhuc testa-
|0024 : 10|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
nach der Analogie einer anderwärts vorkommenden Be-
ſtimmung darin geſetzt werden, daß der Kopf menſchliche
Bildung an ſich tragen muß (q). — Dagegen wurde bey
der Abwendung der Strafen eine der Mutter günſtigere
Auslegung angenommen: auch eine monſtroͤſe Geburt ſolle
hier angerechnet werden, weil dabey die Mutter unſchul-
dig ſey (r). Nach dieſem Grunde, und nach der Ähnlich-
keit der Fälle ſelbſt, iſt nicht zu zweifeln, daß auch todt-
geborne Kinder zur Abwendung der Strafen mitgerechnet
werden durften (s).
Dieſe vier Bedingungen der natürlichen Rechtsfähig-
keit ſind die einzigen, welche nach unſrem poſitiven Recht
behauptet werden können. Allerdings haben unſre Rechts-
lehrer häufig noch eine fünfte hinzugefügt, die Lebens-
mentum rumpat? Et hoc ta-
men rumpit.” — Der Ausdruck
Ostentum umfaßt ſowohl dieſe
Fälle, als den Fall des monstrum.
L. 38 de V. S. (50. 16.).
(q) L. 44 pr. de relig. (11. 7.).
„Cum in diversis locis sepul-
tum est, uterque quidem locus
religiosus non fit, quia una se-
pultura plura sepulchra efficere
non potest: mihi autem vide-
tur, illum religiosum esse, ubi,
quod est principale, conditum
est, id est caput, cujus imago
fit, unde cognoscimur.”
(r) L. 135 de V. S. (50. 16.).
(Ulpian. lib. 4 ad L. Jul. et
Pap.) „… Et magis est, ut haec
quoque parentibus prosint: nec
enim est quod eis imputetur,
quae, qualiter potuerunt, sta-
tutis obtemperaverunt, neque
id, quod fataliter accessit, ma-
tri damnum injungere debet.”
Bey dem Wort prosint iſt alſo
hinzu zu denken: ad legum poe-
nas evitandas. Dieſe höchſt na-
türliche Auflöſung des ſcheinba-
ren Widerſpruchs iſt ſchon längſt
anerkannt. Eckhard hermeneut.
§ 199 ibique Walch.
(s) S. o. Note k. — Eben ſo
wurden zur Abwendung der Stra-
fen auch Drillinge zugelaſſen (L. 137
de V. S. Paulus lib. 2 ad L. Jul.
et Pap.), anſtatt daß das Sc. Ter-
tullianum nur ſolchen Müttern
zu gut kam, die zu drey verſchie-
denen Zeiten Kinder geboren hat-
ten. Paulus IV. 9 § 1. 2. 8.
|0025 : 11|
§. 61. Anfang der Rechtsfähigkeit.
fähigkeit oder Vitalität. Sie wollen damit ſagen,
daß ein lebendig, aber früher als gewöhnlich, geborenes
Kind keine Rechtsfähigkeit habe, wenn es gleich nach der
Geburt ſterbe, und wenn die Urſache des Todes in dem
unreifen Zuſtand liege, der eine längere Fortſetzung des
Lebens unmöglich gemacht habe. Allein dieſe Behauptung
hat keinen Grund, und es muß vielmehr jedem lebendig
gebornen Kinde die vollſtaͤndige Rechtsfähigkeit zugeſchrie-
ben werden, ohne Rückſicht auf den vielleicht ſehr bald
nachfolgenden Tod, und auf die Urſachen dieſes ſchleuni-
gen Todes (t).
(t) Dieſe Streitfrage iſt ausführlich behandelt in der Beylage III.
|0026 : 12|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 62.
Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. I. Anfang.
(Fortſetzung).
Der natürliche Anfang der Rechtsfähigkeit iſt beſtimmt
worden auf den Zeitpunkt der vollendeten Geburt. Die-
ſem aber geht vorher ein nicht unbeträchtlicher Zeitraum,
in welchem das Kind auch ſchon Leben hat, aber kein
ſelbſtändiges, ſondern ein abhängiges, mit dem Leben der
Mutter eng verbundenes. Welches iſt die wahre juriſti-
ſche Betrachtungsweiſe für dieſes vorbereitende Leben?
Mehrere Stellen des Römiſchen Rechts ſagen ganz
beſtimmt, in dieſem Zuſtand ſey das Kind noch nicht
Menſch, es habe kein Daſeyn für ſich, ſondern ſey nur
als Theil des mütterlichen Leibes zu betrachten (a). An-
dere Stellen dagegen ſetzen ein ſolches Kind dem ſchon
gebornen gleich (b). Die genauere Beſtimmung dieſes letz-
ten Satzes wird zugleich den Schein eines Widerſpruches
entfernen, der durch den Ausdruck beider erwähnten Re-
geln entſteht.
(a) L. 9 § 1 ad L. Falc. (35.
2.) „.. partus nondum editus
homo non recte fuisse dicitur.”
— L. 1 § 1 de inspic. ventre
(25. 4): „.. partus enim, an-
tequam edatur, mulieris portio
est, vel viscerum.”
(b) L. 26 de statu hom. (1.5.).
„Qui in utero sunt, in toto
pene jure civili intelliguntur in
rerum natura esse.” — L. 231
de V. S. (50. 16.): „Quod dici-
mus, eum, qui nasci speratur,
pro superstite esse, tunc verum
est, cum de ipsius jure quae-
ritur: aliis autem non prodest
nisi natus.” — Die Neueren drü-
cken das ſo aus: Nasciturus ha-
betur pro nato.
|0027 : 13|
§. 62. Anfang der Rechtsfähigkeit. (Fortſetzung.)
Die erſte Regel drückt eigentlich das wahre Verhält-
niß der Gegenwart aus: die zweyte enthält eine bloße
Fiction, und dieſe iſt nur in ganz einzelnen, beſchränkten
Rechtsbeziehungen anwendbar. Wenn alſo die allgemeine
Frage wegen der Rechtsfähigkeit eines ungebornen Kin-
des aufgeworfen wird, ſo iſt dieſe entſchieden zu vernei-
nen, indem daſſelbe weder Eigenthum, noch Forderungen,
noch Schulden haben kann; da es alſo keine Perſon iſt,
die einer Vertretung empfänglich und bedürftig wäre, ſo
kann es auch keinen Tutor haben, und nicht Pupill ge-
nannt werden (c). — Die Fiction dagegen bezieht ſich vor-
ſorgend auf das bevorſtehende wirkliche Leben des Kin-
des, und zwar auf zweyerley Weiſe: theils durch Anſtal-
ten, wodurch dieſes Leben ſchon gegenwärtig vor der Ver-
nichtung geſchützt werde; theils durch Anweiſung von Rech-
ten, in welche das Kind gleich bey ſeiner Geburt eintreten
könne. Überall alſo beſchränkt ſich dieſe Fiction auf den
eigenen Vortheil des Kindes, und kein Anderer darf die-
ſelbe für ſich benutzen (d).
Die Anſtalten zum Schutz des Lebens ſind theils cri-
minalrechtlich, theils polizeylich. — Criminalſtrafen wer-
(c) L. 161 de V. S. (50. 16.).
„Non est pupillus qui in utero
est.” — L. 20 pr. de tutor. et
curat. (26. 5.). „Ventri tutor a
magistratibus populi Romani
dari non potest, curator potest:
nam de curatore constituendo
edicto comprehensum est.”
(d) L. 231 de V. S. (Note b).
— L. 7 de statu hom. (1. 5.).
„Qui in utero est, perinde ac
si in rebus humanis esset, cu-
stoditur, quoties de commodis
ipsius partus agitur: quamquam
alii, antequam nascatur, nequa-
quam prosit.” — Wenn alſo eine
Frau zwey Kinder hatte, dann
wieder ſchwanger wurde, und nun
|0028 : 14|
Büch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
den gedroht ſowohl der Mutter des Kindes, welche deſſen
Leben vor der Geburt zerſtört (e), als dem Fremden, der
dazu mitwirkt (f). — Zu den polizeylichen Anſtalten für
die Lebenserhaltung gehört das königliche Geſetz, welches,
bey dem Tode einer ſchwangeren Frau, die Öffnung des
Leichnams zur Rettung des Kindes vorſchreibt (g): ferner
die ſpäteren Vorſchriften, nach welchen die Hinrichtung
und ſelbſt die Folter einer ſchwangeren Frau bis nach der
Niederkunft verſchoben werden ſollen (h).
Wichtiger für unſren Zweck iſt die privatrechtliche Vor-
ſorge für den künftigen Menſchen, wodurch ihm Rechte
auf die Zeit ſeiner Geburt gleichſam aufbewahrt wer-
den (i). Dieſe Vorſorge bezieht ſich theils auf deſſen Stan-
desverhältniſſe, theils auf die Erbfolge. — Der Stand
eines in rechter Ehe erzeugten Kindes richtet ſich nach der
Zeit der Erzeugung, ſo daß der ihm damals vorbeſtimmte
Stand durch Veränderungen, die ſich in der Perſon des
Vaters oder der Mutter während der Schwangerſchaft
ereignen, nicht gefährdet werden kann (k). Wenn daher
in dieſer Zwiſchenzeit die Mutter ihre Freyheit oder Civi-
ein Kind verlor, ſo konnte ſie daſ-
ſelbe nicht ex Sc. Tertulliano
beerben, was ſie gekonnt hätte,
wenn ſie das ungeborne hätte
mitrechnen dürfen.
(e) L. 4 de extr. crim. (47.
11.). — L. 8 ad L. Corn. de si-
car. (48. 8.). — L. 39 de poe-
nis (48. 19.).
(f) L. 38 § 5 de poenis (48. 19.)
(g) L. 2 de mortuo inferen-
do (11. 8.).
(h) L. 18 de statu hom. (1.
5.). — L. 3 de poenis (48. 19.).
(i) L. 3 si pars (5. 4.). „An-
tiqui libero ventri ita prospexe-
runt, ut in tempus nascendi
omnia ei jura integra reser-
varent.”
(k) Gajus I. § 89—91.
|0029 : 15|
§. 62. Anfang der Rechtsfähigkeit. (Fortſetzung.)
tät verlor, ſo wurde darum nicht minder das Kind als
Römiſcher Bürger und in der Gewalt ſeines Vaters ge-
boren (l). Eben ſo hatte der von einem Senator in rech-
ter Ehe erzeugte Sohn alle Rechte, die den Kindern der
Senatoren geſetzlich angewieſen waren, ſelbſt wenn der
Vater vor der Geburt ſtarb oder ſeiner Würde entſetzt
wurde (m). — Dagegen ſollte der Stand der nicht in rech-
ter Ehe erzeugten Kinder nach der Zeit der Geburt be-
ſtimmt werden (n), ſo daß ſich dabey jener Grundſatz der
Aufbewahrung von Rechten nicht wirkſam zeigen konnte.
Jedoch hatte man ſchon frühe zur Begünſtigung der Kin-
der die Regel angenommen, daß überall derjenige Zeit-
punkt zur Beurtheilung ihrer Standesverhältniſſe ausge-
wählt werden ſollte, der ihnen am meiſten Vortheil brächte:
ſey es die Zeit der Zeugung oder der Geburt, oder ſelbſt
irgend ein mittlerer Zeitpunkt (o).
Vorzüglich wichtig zeigt ſich jener Grundſatz im Erb-
recht. Wird während der Schwangerſchaft eine Erbſchaft
eröffnet, die dem Kinde, wenn es ſchon geboren wäre,
zufallen würde, ſo wird ihm ſein Erbrecht bis zur Zeit
der Geburt aufbewahrt, und kann nun in ſeinem Namen
geltend gemacht werden (p). Dieſe wichtige Regel gilt
(l) L. 18. 26 de statu hom.
(1. 5.).
(m) L. 7 § 1 de senatoribus
(1. 9.).
(n) Gajus l. c.
(o) pr. J. de ingenuis (1. 4.).
— So z. B. wenn die Mutter
zur Zeit der Geburt Sklavin war,
zur Zeit der Erzeugung aber, oder
auch nur in der Zwiſchenzeit, frey,
ſo war das Kind freygeboren.
(p) L. 26 de statu hom. (1.
5.). — L. 3 si pars (5. 4.). —
L. 7 pr. de reb. dub. (34. 5.). —
L. 36 de solut. (46. 3.). — Eben
ſo wurde das Patronatrecht des
|0030 : 16|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſowohl für das Civilrecht, als für das prätoriſche Recht,
ja der Prätor hat für dieſen Fall ſogar eine eigenthüm-
liche bonorum possessio ventris nomine eingeführt, wo-
durch der Mutter, zu ihrer und mittelbar zu des Kindes
Erhaltung, einſtweilen der Genuß der Erbſchaft angewie-
ſen werden kann (q). — Da es nun aber ungewiß iſt, ob
Ein Kind oder mehrere Kinder geboren werden, ſo wird
einſtweilen angenommen, es könnten wohl Drey zur Welt
kommen: dieſes betrifft jedoch nur die vorläufige Behand-
lung der bereits Gebornen, nicht die Rechtsfaͤhigkeit der
Ungebornen: wird alſo durch die nachfolgende Geburt eine
kleinere oder groͤßere Zahl von Kindern, als die einſtwei-
len vermuthete, zur Welt gebracht, ſo verliert jene Ver-
muthung ihre Kraft, und es wird nun die Erbfolge nach
dem wirklichen Erfolg beurtheilt (r).
Zur Wahrung dieſer dem Kinde aufbewahrten Rechte
wird ihm ein beſonderer Curator ernannt, da ein Tutor,
wie oben bemerkt, nicht eintreten kann (s).
verſtorbenen Vaters behandelt, das
nicht eigentlich Erbſchaft, jedoch der
Erbſchaft ähnlich war. L. 26 cit.
(q) Tit. Dig. de ventre in
poss. mittendo et curatore ejus
(37. 9.).
(r) L. 3. 4 si pars (5. 4.).
L. 7 pr. de reb. dub. (34. 5.).
L. 36 de solut. (46. 3.). — Auf
jene billige Regel ſtellte ſich die
Römiſche Praxis feſt, nachdem
man lange geſchwankt hatte, zum
Theil irre gemacht durch manche
fabelhafte Erzählungen. Am mei-
ſten Aufſehen machte die Nieder-
kunft einer Frau mit Fünf Kin-
dern unter Hadrians Regierung:
deswegen blieb man am längſten
zweifelhaft zwiſchen der Vermu-
thung von Drillingen oder Fünf-
lingen.
(s) L. 20 de tutor. et cur.
(Note c). — Tit. Dig. de ven-
tre in poss. (Note q).
|0031 : 17|
§. 63. Ende der Rechtsfähigkeit.
§. 63.
Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. II. Ende.
Der Tod, als die Gränze der natürlichen Rechtsfä-
higkeit, iſt ein ſo einfaches Naturereigniß, daß derſelbe
nicht, ſo wie die Geburt, eine genauere Feſtſtellung ſei-
ner Elemente nöthig macht. Nur allein die Schwierig-
keit des Beweiſes hat hierin einige poſitive Rechtsregeln
veranlaßt.
In größter Ausdehnung pflegt dieſe Schwierigkeit ein-
zutreten in Folge blutiger Kriege, und die Geſetze einzel-
ner Länder haben darüber in neueren Zeiten ausführliche
Regeln aufgeſtellt. Das Römiſche Recht enthält darüber
keine Beſtimmungen, und auch eine ergänzende Gewohn-
heit iſt für dieſen beſondern Fall in unſrem gemeinen
Recht nicht hinzugetreten.
Auch außer dieſem Fall aber, alſo ohne Unterſchied
des Friedens und des Krieges, kann die Frage eintreten,
ob ein Verſchollener, das heißt ein ſolcher, von deſſen Le-
ben in ſeinem letzten bekannten Wohnort ſeit langer Zeit
keine Nachricht eingegangen iſt, noch am Leben ſey. Auch
in dieſer allgemeineren Geſtalt kommt die Frage im Rö-
miſchen Recht nicht vor, allein hierüber hat ſich in der
II. 2
|0032 : 18|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
That ein Gewohnheitsrecht gebildet, welches man ſeit meh-
reren Jahrhunderten als allgemein anerkannt betrachten
darf. Es wird nämlich der Tod des Verſchollenen ver-
muthet, wenn ſeit der erweislichen Geburt deſſelben Sie-
benzig Jahre verfloſſen ſind, zu welcher Vermuthung die
Stelle der Pſalmen (XC. 10): Unſer Leben währet
Siebenzig Jahr, Veranlaſſung gegeben hat (a). War
der Verſchollene ſchon Siebenzig Jahre alt zur Zeit ſei-
ner Entfernung, ſo pflegt man Fünf Jahre nach der Ent-
fernung den Tod anzunehmen (b). Dieſes iſt die natür-
liche und conſequente Anwendung jener Regel, indem nun
die Entſtehung einer Vermuthung überhaupt, und der Zeit-
punkt auf den dieſe Vermuthung hinweiſt, ganz zuſammen
fallen. Manche haben ohne Grund Beides dergeſtalt tren-
nen wollen, daß der Tod zwar erſt zu vermuthen ſey nach
Ablauf des Siebenzigſten Lebensjahres, daß aber bey dem
Eintritt dieſer Bedingung angenommen werde, der Ver-
ſchollene ſey nicht erſt jetzt verſtorben, ſondern ſchon im
Augenblick ſeiner Entfernung, oder (wie Andere wollen)
zu der Zeit, als für ſein Vermögen ein Curator ernannt
wurde (c). Umgekehrt wollen Andere den Tod annehmen,
(a) Lauterbach V. 3 § 24.
Leyser Spec. 96. Glück B. 7
§ 562. B. 33 § 1397 c. Hof-
acker T. 2 § 1682. Heiſe und
Cropp juriſtiſche Abhandlungen
B. 2 Num. IV. (S. 118). — Bey
dieſen Schriftſtellern finden ſich
viele Andere aus verſchiedenen
Zeiten angeführt.
(b) Glück a. a. O.
(c) Glück a. a. O., Heiſe
und Cropp a. a. O. — Die Frage
kommt hauptſächlich vor bey der
|0033 : 19|
§. 63. Ende der Rechtsfähigkeit.
nicht mit dem Ablauf der Siebenzig Jahre ſeit der er-
weislichen Geburt, ſondern erſt wenn ein rechtskräftiges
Erkenntniß die Todeserklärung ausgeſprochen hat. Sie
berufen ſich darauf, daß die übliche Edictalladung außer-
dem nicht blos zwecklos, ſondern ſelbſt abſurd ſeyn würde.
Allein dieſe Ladung iſt dazu beſtimmt, wo möglich die
Präſumtion durch erlangte Gewißheit entbehrlich zu ma-
chen. Gelingt dieſes, ſo entſcheidet die alsdann erkannte
Wahrheit; mislingt es, ſo muß die volle Wirkung der
Präſumtion eintreten. Das richterliche Erkenntniß iſt blos
declaratoriſch, und kann das Rechtsverhältniß ſelbſt nicht
ändern; es ſetzt außer Zweifel, ſowohl den Ablauf der
Siebenzig Jahre, als die Erfolgloſigkeit der Edictalla-
dung. Es wäre aber ganz willkührlich und grundlos,
wenn durch zufällige, oder ſogar durch abſichtliche, Ver-
zögerung der Todeserklärung andere Erben herbeygeführt
werden könnten, als die welche bey Ablauf der Siebenzig
Jahre den nächſten Anſpruch hatten (d). — Dieſe allgemei-
nere Vermuthung iſt denn nach gemeinem Recht die einzige
Beerbung des Verſchollenen. Da-
bey wird die hier angenommene
Meynung als Successio ex nunc
bezeichnet, die entgegengeſetzte als
Successio ex tunc.
(d) Für die hier vertheidigte
Meynung vgl. Glück und Heiſe
a. a. O.; ferner Mittermaier
deutſches Privatrecht § 448 ed. 5.
Für die entgegengeſetzte Meynung
Eichhorn deutſches Privatrecht
§ 327 ed. 4, Vangerow Pan-
dekten I. S. 57. — Das Preußi-
ſche A. L. R. II. 18 § 835 ſieht
zwar auf die Zeit des Erkennt-
niſſes, jedoch nur wenn vor 70 Jah-
ren der Tod angenommen werden
ſoll, denn von dieſem Alter an
iſt keine Todeserklärung nöthig.
L. R. I. 1. § 38.
2*
|0034 : 20|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Aushülfe auch für den beſonderen, oben erwähnten, Fall
des Krieges.
Nur Ein hierher gehörender beſonderer Fall iſt im Rö-
miſchen Recht beachtet worden. Wenn es von zwey Men-
ſchen gewiß iſt, nicht nur daß ſie verſtorben ſind, ſondern
auch daß ihr Tod an einem und demſelben beſtimmten
Tage eingetreten iſt, ſo kann es noch immer ungewiß,
und dennoch (beſonders für die Erbfolge) zu wiſſen wichtig
ſeyn, wie dieſe beiden Todesfälle der Zeit nach zu einan-
der ſtehen. Es ſind nämlich dabey die drey Fälle denk-
bar: daß der Eine vor dem Andern, oder nach dem An-
dern, oder gleichzeitig mit dem Andern, verſtorben ſey.
Wenn nun in einem ſolchen Fall keines dieſer drey Zeit-
verhältniſſe erwieſen werden kann, und wenn zugleich eine
äußere, gewaltſame Urſache (Schlacht, Schiffbruch, Ein-
ſturz eines Hauſes) den Tod beider Perſonen herbeygeführt
hat, ſo ſtellt das Römiſche Recht folgende Vermuthungen
auf, welche die Stelle eines Beweiſes vertreten ſollen:
1) Im Allgemeinen wird angenommen, Beide ſeyen in
einem und demſelben Augenblick umgekommen (e).
2) Eine Ausnahme gilt für den gemeinſchaftlichen ge-
waltſamen Tod eines Kindes mit ſeinem Vater oder mit
ſeiner Mutter. War das Kind unmündig, ſo wird deſſen
(e) L. 9 pr. § 3. L. 16. 17.
18 de reb. dub. (34. 5.). — L. 34
ad Sc. Trebell (36. 1.). — L. 32
§ 14 de don. int. vir. (24. 1.). —
L. 26 de mortis causa don. (39.6.).
|0035 : 21|
§. 63. Ende der Rechtsfähigkeit.
früherer Tod, war es mündig, ſo wird deſſen ſpäterer
Tod vermuthet, ſo daß in allen Fällen dieſer Art die
Vermuthung des gleichzeitigen Todes ausgeſchloſſen iſt (f).
3) Dieſe Ausnahme aber iſt wiederum durch zwey ſpe-
ciellere Ausnahmen beſchränkt.
a) Wenn ein Freygelaſſener gemeinſchaftlich mit ſei-
nem Sohne umkommt, ſo tritt die allgemeinere Regel ein,
das heißt es wird gleichzeitiger Tod vermuthet, ſo daß
nicht etwa das Überleben des Sohnes, ſelbſt wenn er
mündig wäre, angenommen werden ſoll. Der Grund liegt
in einer Begünſtigung des Patrons, deſſen Erbanſprüche
durch den erweislich überlebenden Sohn beſchränkt wer-
den würden (g).
b) Ganz daſſelbe iſt vorgeſchrieben für den Fall, da
ein Teſtator ſeinem Erben ein Fideicommiß auferlegt un-
ter der Bedingung „si sine liberis decesserit.” Wenn die-
ſer Erbe mit ſeinem einzigen Sohn durch Schiffbruch um-
kommt, ſo wird gleichzeitiger Tod allgemein vermuthet,
alſo auch wenn der Sohn mündig war; daraus wird ge-
folgert, daß der Sohn den Vater nicht überlebte, folglich
das Fideicommiß ſchlechthin ausgezahlt werden muß, weil
(f) L. 9 § 1. 4 de reb. dub.
(34. 5) vom Vater. — L. 22. 23
eod. L. 26 pr. de pactis dotal.
(23. 4.) von der Mutter. — In
L. 9 § 1 cit. iſt die Rede vom Tod
im Kriege, woraus von ſelbſt
folgt, daß der Sohn als mündig
gedacht ſeyn muß.
(g) L. 9 § 2 de reb. dub. (34.
5) „… hoc enim reverentia pa-
tronatus suggerente dicimus.”
Hier wird alſo das Singuläre die-
ſer Beſtimmung ausdrücklich an-
erkannt.
|0036 : 22|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
deſſen Bedingung (der Tod ohne überlebende Kinder) in
Folge jener Vermuthung wirklich eingetreten iſt (h).
(h) L. 17 § 7 ad Sc. Treb.
(36. 1.). — Ausführlich und mit
vielem Scharfſinn wird dieſe ganze
Frage behandelt von Mühlen-
bruch, Archiv B. 4 Num. 27 (vgl.
doctrina Pand. § 185). Er weicht
von der hier gegebenen Darſtel-
lung darin ab, daß er annimmt,
die Vermuthung des früheren To-
des der Unmündigen gründe ſich
auf ihre im Allgemeinen größere
Mortalität; daher gelte ſie auch
im Verhältniß zu anderen Per-
ſonen als zu den Eltern, und auch
außer dem Fall des gewaltſamen,
durch gemeinſames Unglück her-
beygeführten Todes. — Hier wird
alſo angenommen, die beiden ex-
ceptionellen Vermuthungen (für
Mündige und Unmündige) ſeyen
ganz ungleichartig, und aus ganz
verſchiedenen Gründen abgeleitet.
Allein eine unbefangene Betrach-
tung der Quellen muß uns ge-
rade umgekehrt überzeugen, daß
beide Vermuthungen als ganz
gleichartig gedacht, beſonders aber
daß ſie nur auf Fälle der ange-
gebenen Art (Tod der Eltern und
Kinder, bey gemeinſamem Un-
glück) bezogen werden. Vgl. Van-
gerow Pandekten I. S. 58.
|0037 : 23|
§. 64. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung.
§. 64.
Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung.
Es ſind nunmehr die Fälle anzugeben, worin die na-
türliche, allen einzelnen Menſchen zukommende Rechtsfä-
higkeit durch unſer poſitives Recht eingeſchränkt worden
iſt. Solche Einſchränkungen haben die Bedeutung, daß
gewiſſe Menſchen entweder zu allen, oder doch zu man-
chen Rechten unfähig ſeyn ſollen. Um für dieſe verſchie-
denen Abſtufungen einen gemeinſamen Ausdruck zu gewin-
nen, wollen wir einen ſolchen Zuſtand als verminderte
Rechtsfähigkeit bezeichnen, worunter alſo auch die
gänzlich vernichtete mit begriffen iſt.
Das Roͤmiſche Recht kennt drey verſchiedene Gründe
verminderter Rechtsfähigkeit: Unfreyheit, Mangel der Ci-
vität, und Abhängigkeit von eines Andern Familiengewalt.
Darauf beziehen ſich alſo folgende drey Eintheilungen aller
Menſchen:
1) Liberi, Servi; mit der Untereintheilung der Liberi
in Ingenui und Libertini.
2) Cives, Latini, Peregrini.
3) Sui juris, alieni juris.
Das Eigenthümliche aber dieſer drey Eintheilungen der
Menſchen beſteht nicht etwa in ihrer allgemeinen, alle an-
deren Unterſchiede übertreffenden Wichtigkeit, ſondern darin,
daß durch ſie der verſchiedene Grad der Rechtsfähig-
|0038 : 24|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
keit jedes einzelnen Menſchen beſtimmt wird; in dieſer
Beziehung ſtehen ſie ganz allein, und kein anderer Unter-
ſchied kann mit ihnen verglichen werden.
Dieſe Lehre hat ihren Urſprung in der älteſten Zeit
des Römiſchen Rechts, und wenngleich auch ſie im Lauf
der Jahrhunderte manche Umbildung erfahren hat, ſo hat
ſie ſich dennoch in ihren Grundzügen dergeſtalt erhalten,
daß wir ſie ſelbſt in das neueſte Recht nach allen Seiten
hin verwebt finden. Auch für uns iſt eine genaue Ein-
ſicht in dieſelbe wichtig, ja unentbehrlich. Nicht als ob
noch Vieles aus derſelben unmittelbar angewendet werden
könnte, ſondern aus Zwey anderen, in einander greifen-
den, Gründen. Die Quellen des Römiſchen Rechts ſind
nämlich durchaus nur Demjenigen verſtändlich, der ſich
jene Lehre in ihrer vollſtändigen Ausbildung ſo angeeignet
hat, daß ihm bey jeder Stelle des Römiſchen Rechts die
Beziehungen derſelben auf jene alte Lehre (wo ſolche vor-
kommen) von ſelbſt vorſchweben. Auch drängt ſich uns
dieſe Überzeugung ſo ungeſucht auf, daß ſelbſt diejenigen
unter den neueren Juriſten, welche das geſchichtliche Recht
gering ſchätzen, und nur das praktiſche ihrer Bemühungen
werth achten, es dennoch nicht laſſen können, die erwähnte
Lehre und die damit zuſammenhängende Kunſtſprache ihren
Darſtellungen einzumiſchen. An ihnen aber rächt ſich ihre
Einſeitigkeit, indem ihnen das, was ſie gründlich zu er-
forſchen verſchmähten, nun zu einer Quelle zahlloſer Irr-
thümer wird. Solche Irrthümer, entſprungen aus der
|0039 : 25|
§. 64. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung.
uͤbel verſtandenen Lehre von der Rechtsfähigkeit, ſind in
den neueren Rechtsſyſtemen verbreiteter und befeſtigter, als
man glauben ſollte; ja ſie ſind ſelbſt bis in neuere Ge-
ſetzgebungen eingedrungen. Wie anders koͤnnen wir uns
nun von der Herrſchaft dieſer verwirrenden Irrthümer
befreyen, als indem wir eigene, gründliche Forſchung an
die Stelle der zu wenig geprüften Überlieferungen ſetzen?
Hierin alſo liegt der zweyte Grund, der uns eine genaue
Feſtſtellung jener alten Lehre des Römiſchen Rechts un-
entbehrlich macht.
Um den eben erwähnten unkritiſchen Einflüſſen zu ent-
gehen, will ich einſtweilen von der bisher üblichen Be-
handlung dieſes Gegenſtandes ganz abſehen, auch ſogar
alle Kunſtausdrücke, ächte oder unächte, vermeiden, und
zunächſt die reinen Rechtsregeln aufſtellen, wie wir ſie in
unſren Quellen angegeben finden; dann erſt wird es mög-
lich ſeyn, auch die Kunſtausdrücke kritiſch feſtzuſtellen. Die
Neueren bezeichnen ſehr allgemein die oben angegebenen
drey Unterſchiede der Menſchen mit den Kunſtausdrücken
status libertatis, civitatis, familiae; was daran wahr oder
falſch iſt, wird ſich erſt klar machen laſſen, nachdem die
Begriffe und Rechtsregeln ſelbſt außer Zweifel geſetzt ſeyn
werden. Ferner ſteht mit jenen drey Unterſchieden in un-
verkennbarer Beziehung eine dreyfache Capitis deminutio,
die von den alten Juriſten in ſo vielen Stellen ganz gleich-
förmig erwähnt wird, daß wir darin uralte Rechtsbe-
griffe und Kunſtausdrücke nicht bezweifeln dürfen. Aber
|0040 : 26|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
welches die eigentliche Beziehung iſt zwiſchen jenen drey
Gründen verminderter Rechtsfähigkeit und der dreyfachen
Capitis deminutio, das wird ſich erſt in Folge einer Un-
terſuchung darthun laſſen, die zu den ſchwierigſten im Ge-
biete des geſchichtlichen Rechts gehört.
Die Rechtsregeln, womit wir uns hier beſchäftigen,
betreffen die verſchiedenen Stufen der Rechtsfähigkeit. Um
dieſen Gegenſtand der aufzuſtellenden Regeln klar überſe-
hen zu laſſen, iſt es nöthig, gleich im Eingang an zwey
ſchon oben abgehandelte Stücke zu erinnern. Das eine iſt
der Gegenſatz zwiſchen jus civile und jus gentium (§ 22);
die Verminderung der Rechtsfähigkeit kann ſich bald auf
das erſte allein (als auf das vornehmere und wichtigere),
bald auf beide zugleich beziehen. — Ferner kann ſowohl
die Rechtsfähigkeit ſelbſt, als die Verminderung derſelben,
auf jede der oben aufgeſtellten Klaſſen von Rechtsverhält-
niſſen (§ 53—57) Beziehung haben, wodurch dieſelbe, wie
es ſcheint, in ſchwer zu überſehende Einzelnheiten hinein-
gezogen werden müßte. Allein es haben ſich im Römi-
ſchen Recht von ſehr alter Zeit her zwey Hauptbegriffe
gebildet, die durch die Kunſtausdrücke Connubium und
Commercium bezeichnet werden, und wodurch die Über-
ſicht der Rechtsfähigkeit in ihren verſchiedenen Stufen ſehr
erleichtert wird. Connubium heißt zunächſt die Fähig-
keit zu einer Römiſch gültigen Ehe, ſowohl abſolut, für
eine einzelne Perſon an ſich betrachtet, als relativ, für
das wechſelſeitige Verhältniß zweyer Perſonen zu einan-
|0041 : 27|
§. 64. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung.
der (a). Da aber von einer ſolchen Ehe die Möglichkeit
der väterlichen Gewalt, von dieſer wieder die Roͤmiſche
Verwandtſchaft, und endlich von dieſer die alte Inteſtat-
erbfolge abhängt, ſo iſt es einleuchtend, welche Wichtig-
keit jenem Kunſtausdruck zugeſchrieben werden muß, in-
dem dadurch, daß einer Perſon Connubium beygelegt oder
abgeſprochen wird, der Umfang ihrer Rechtsfähigkeit gro-
ßentheils bezeichnet iſt. — Auf ähnliche Weiſe heißt Com-
mercium zunächſt nur die Fähigkeit zu kaufen oder zu
verkaufen, jedoch ſo, daß dieſer Kunſtausdruck nicht auf
den gewöhnlichen Kauf des täglichen Verkehrs bezogen
wird, ſondern auf den ſymboliſchen Kauf, der den Namen
der Mancipation führt (b). Da aber dieſe nur Be-
deutung hat als die älteſte und üblichſte Veräußerungs-
form des Römiſchen Eigenthums, ſo iſt eigentlich die Fä-
higkeit zu dieſer vollſtändigſten Art des Eigenthums da-
durch bezeichnet: alſo auch die Fähigkeit zu der in jure
cessio, der Uſucapion, und der ſtrengen Vindication. In
fernerer Entwicklung aber umfaßt jener Kunſtausdruck zu-
gleich die Fähigkeit zu Servituten (welche, eben ſo, wie
das Eigenthum, juris quiritium ſind): ferner die Fähig-
keit zu manchen Arten der Obligationen (c): endlich aber,
und ganz vorzüglich, die testamentifactio, das heißt die
Grundbedingung für die Fähigkeit, ein Teſtament oder ei-
nen Codicill zu errichten, zum Erben, Legatar oder Fidei-
(a) Ulpian. Tit. 5 § 3, vergl.
§ 4. 5. 6. 8.
(b) Ulpian. Tit. 19 § 4. 5.
(c) Gajus III. § 93. 94.
|0042 : 28|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
commiſſar ernannt zu werden, und Zeuge bey einem letz-
ten Willen zu ſeyn (d). — So umfaſſen alſo jene beiden
Kunſtausdrücke den größten und wichtigſten Theil der
Rechtsfähigkeit überhaupt (e). Jedoch dürfen alle dieſe
Sätze nur unter einer wichtigen Einſchränkung aufgefaßt
werden. Die Fähigkeit, welche einer Perſon durch die
Anwendung jener Ausdrücke beygelegt oder abgeſprochen
werden ſoll, bezieht ſich nur auf die dem jus civile an-
gehörenden Rechtsinſtitute, ſo daß ſie für das Gebiet des
jus gentium keine Bedeutung haben. Wird daher einer
Perſon das Connubium abgeſprochen, ſo kann die Fähig-
keit zu einer Ehe und Verwandtſchaft nach jus gentium
ſehr wohl daneben beſtehen; eben ſo, wie Derjenige, wel-
cher das Commercium entbehrt, darum nicht minder zu
einem Eigenthum nach jus gentium fähig ſeyn kann (f).
(d) Ulpian. Tit. 20 § 8. 14
Tit. 22 § 1. 2. Tit, 25 § 4. 6.
— Gajus II. § 285. — L. 3. 8.
9. 11. 13. 19 qui test. (28. 1.). —
L. 6 § 3. L. 8 § 2 de j. codic.
(29. 7.). — L. 49 § 1 de her.
inst. (28. 5.). — § 24 J. de le-
gatis (2. 20.). — L 18 pr. qui
test. (28. 1.). § 6 J. de test. ord.
(2. 10.).
(e) Im Allgemeinen kann man
ſagen, das Connubium entſpreche
der Fähigkeit in der Familie, das
Commercium der Fähigkeit im
Vermögen. Nur iſt dabey wohl
zu bedenken, daß diejenigen Theile
der künſtlichen Familienverhält-
niſſe, welche ſich an ein Vermö-
gensverhältniß als Folgen deſſel-
ben anſchließen (§ 57), hierin die
Natur des Vermögens, nicht der
Familie, theilen. So z. B. hatte
der Latinus Commercium ohne
Connubium (§ 66): dennoch war
er fähig zur Herrſchaft über Skla-
ven und über ein Mancipium,
zum Patronat, zur teſtamentari-
ſchen und Dativtutel, ſo wie zu
der Gewalt über Colonen.
(f) Die praktiſche Anwendung
hat ſich bey den einzelnen Klaſſen
der Rechtsverhältniſſe, ſo wie es
das Bedürfniß mit ſich führte,
ganz verſchieden entwickelt. Bey
|0043 : 29|
§. 64. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung.
dem Eigenthum erhielt ſich der
formelle Grundſatz, daß nur ge-
wiſſe Stände (cives und Latini)
des Römiſchen Eigenthums fähig
ſeyen, bis auf Juſtinian, der ihn
aufhob: allein die Wichtigkeit des
Unterſchieds zwiſchen Römiſchem
und natürlichem Eigenthum hatte
längſt aufgehört. In den Obli-
gationen war man durch das Be-
dürfniß eines ausgedehnten Ver-
kehrs ſchon ſehr frühe genöthigt,
alle Stände zuzulaſſen, ſo daß
ſich hier die alte Strenge nur
noch im Andenken erhielt theils
in einem geringen Überreſt von
Fällen (Note c), theils in einer
bloßen Formalität des Prozeſſes
(Gajus IV. § 37). Am reinſten
erhielt ſich die alte Strenge bey
den Teſtamenten, weil da die
Freyheit des Verkehrs keine Um-
bildung der alten Regeln nöthig
machte, ſo daß hier der ſtrenge
Grundſatz auch noch im Juſti-
nianiſchen Recht unverändert feſt-
gehalten wird (Note d).
|0044 : 30|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 65.
Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit.
Alle Menſchen, ſagen die Römer, ſind entweder frey
oder unfrey (aut liberi aut servi); dieſe Eintheilung kommt
hier nur nach ihrem vorzüglich wichtigen Einfluß auf die
Rechtsfähigkeit in Betracht (a).
Dem Sklaven nämlich wird eine allgemeine Rechts-
unfähigkeit zugeſchrieben, und zwar nicht blos für die In-
ſtitute des eigentlichen Civilrechts, ſondern auch für die
des prätoriſchen, und die des jus gentium (b). In dieſer
(a) Allerdings bietet das Skla-
venrecht auch noch mehrere an-
dere wichtige Seiten dar, die je-
doch in dem gegenwärtigen Werk,
nach deſſen Plan, keine Stelle
finden können. Dahin gehört we-
niger das, was bey anderen Rech-
ten ſo wichtig iſt, die genaue Be-
ſtimmung des Inhalts und Um-
fangs des Rechtsverhältniſſes:
denn das ganz uneingeſchränkte
Recht des Herrn macht hierin jede
ſpecielle Beſtimmung überflüſſig.
Dagegen war es wichtig, die Ent-
ſtehungsart des Verhältniſſes ge-
nau zu beſtimmen, und darüber
ſind hier nur folgende Haupt-
ſätze anzugeben. Die regelmä-
ßige Entſtehung iſt die durch Ge-
burt: jedes Kind wird frey oder
als Sklave geboren, je nachdem
die Mutter eine Freye oder Skla-
vin iſt. Der Freye aber kann
ferner Sklave werden: erſtlich
durch Gefangennehmung in ei-
nem wahren Kriege; zweytens in
einigen Fällen zur Strafe. Da-
gegen iſt es unmöglich durch freyen
Willen, alſo durch Vertrag.
(b) L. 20 § 7 qui testam. (28.
1.). „Servus quoque merito ad
solemnia adhiberi non potest,
cum juris civilis communionem
non habeat in totum, ne Prae-
toris quidem edicti.” — L. 32
de R. J. (50 17.). „Quod atti-
net ad jus civile, servi pro nul-
lis habentur: non tamen et jure
naturali, quia quod ad jus na-
turale attinet, omnes homines
aequales sunt.” Zur Erklärung
des jus naturale in dieſer letzten
(von Ulpian herrührenden) Stelle
iſt die Beylage II. zu vergleichen.
— In beiden Stellen iſt vom jus
gentium nicht ausdrücklich die
|0045 : 31|
§. 65. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit.
letzten Beziehung alſo fehlte dem Sklaven nicht etwa blos
das Connubium und das Commercium, ſondern es war
ihm die Möglichkeit jeder Ehe und Verwandtſchaft über-
haupt verſagt (c), ſo wie die Möglichkeit des Eigenthums
jeder Art, des natürlichen nicht minder wie des ſtreng
Römiſchen. Da nun außerdem die potestas des Herrn
über den Sklaven die Wirkung hat, daß der Sklave dem
Rede, indeſſen laſſen die im Text
angeführten unbeſtrittenen An-
wendungen keinen Zweifel, daß
ſich auch darauf die Unfähigkeit
erſtreckte. Um aber Misverſtänd-
niſſen vorzubeugen, will ich dar-
über noch Folgendes bemerken.
Die Römer ſchreiben einſtimmig
die Entſtehung der Sklaverey über-
haupt dem jus gentium zu (L. 4
de just. et jure. L. 1 § 1 de
his qui sui. Gajus I. § 52); die
Repräſentation des Herrn durch
den Sklaven ſetzen ſie wahrſchein-
lich nicht in das jus gentium, ſon-
dern in das jus civile (Recht des
Beſitzes § 7. S. 82 der 6. Ausg.);
wohin ſie die Rechtsunfähigkeit
an ſich ſetzen, darüber fehlt jedes
Zeugniß, indeſſen ſcheint es mir
natürlicher anzunehmen, daß auch
dieſe, eben ſo wie die Repräſen-
tation, aus dem jus civile ab-
geleitet wurde, beſonders da noch
ſo manche ganz poſitive Modifi-
cationen derſelben unten vorkom-
men werden. War nun dieſes
wirklich die herrſchende Anſicht, ſo
darf es darum doch nicht als In-
conſequenz getadelt werden, wenn
dieſe durch das jus civile begrün-
dete Unfähigkeit auch auf die Ge-
meinſchaft des jus gentium hem-
mend einwirkte, ſo daß z. B. der
Sklave nicht einmal einer natür-
lichen Verwandtſchaft fähig war.
Die Annahme dieſes Verhältniſ-
ſes wird vielmehr theils durch die
allgemeine Natur des jus gen-
tium gerechtfertigt (§ 22), theils
durch unzweifelhafte Analogien be-
ſtätigt, indem z. B. eine gegen
die Verbotsgeſetze des jus civile
geſchloſſene Ehe gar nicht als Ehe
betrachtet wird, nicht einmal als
eine nach jus gentium wirkſame
(§ 12 J. de nuptiis 1. 10.).
(c) L. 1 § 2 unde cogn. (38.
8.). „.. nec enim facile ulla
servilis videtur esse cognatio.”
— L. 10 § 5 de gradibus (38.
10.) „ad Leges serviles cogna-
tiones non pertinent” (vorher
war geſagt worden, der gemei-
ne, nichtjuriſtiſche Sprachgebrauch
nehme auch bey Sklaven Ver-
wandtſchaften an). — Erſt Juſti-
nian hat dieſe Unfähigkeit in ih-
ren Wirkungen auf die nach der
Freylaſſung eintretende Erbfolge
modificirt. § 10 J. de grad. cogn.
(3. 6.).
|0046 : 32|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Herrn Vermögen jeder Art zu erwerben fähig und ge-
zwungen iſt, ſo liegt es ſehr nahe, die Rechtsunfähigkeit
des Sklaven als eine bloße Folge dieſer unfreywilligen
Repräſentation des Herrn anzuſehen, folglich aus der po-
testas abzuleiten. Auch laſſen ſich in der That viele An-
wendungen der Rechtsunfähigkeit auf dieſe Weiſe befrie-
digend erklären; denn wenn der Sklave durch Mancipa-
tion oder Stipulation ſeinem Herrn Rechte erwarb, ſo
konnte er dadurch nicht ſelbſt Eigenthümer oder Creditor
werden. Dennoch iſt dieſe Ableitung im Ganzen zu ver-
werfen, indem die Rechtsunfähigkeit viel weiter geht, als
jene Repräſentation, folglich eine ganz ſelbſtändige Natur
hat, wie ſich von zwey Seiten her unwiderſprechlich dar-
thun läßt. Denn erſtens bezieht ſich die Repräſentation
nur auf den Erwerb von Vermögensrechten, der Sklave
würde alſo dadurch nicht gehindert ſeyn, eine Ehe zu füh-
ren, und Verwandte zu haben, wozu er jedoch ganz un-
fähig iſt. Zweytens gab es herrenloſe Sklaven, die alſo
unter keiner potestas ſtanden, und keinen Menſchen durch
erwerbende Handlungen repräſentirten, und dennoch ganz
eben ſo rechtsunfähig waren, als alle anderen (d). —
Nach dem Sprachgebrauch der neueren Juriſten möchte
man erwarten, daß den Sklaven, wegen dieſer allgemei-
nen Rechtloſigkeit, auch die Benennung persona gänzlich
(d) Über die dahin gehörenden
Fälle ſ. o. § 55 Note a. Die
Rechtsunfähigkeit der herrenloſen
Sklaven iſt beſonders deutlich an-
erkannt in L. 36 de stip. serv.
(45. 3.).
|0047 : 33|
§. 65. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit.
verſagt werden würde, ſo daß dieſer Ausdruck als die be-
ſondere Bezeichnung des rechtsfähigen Menſchen anzu-
ſehen wäre. Allein die Römer gebrauchen gewöhnlich den
erwähnten Ausdruck für jeden einzelnen Menſchen ohne
Unterſchied, namentlich auch für die Sklaven (e).
Es ſind nun noch die wenigen Ausnahmen anzugeben,
wodurch die Rechtloſigkeit der Sklaven beſchränkt war (f).
— Die wichtigſte derſelben beſtand in einem theils ſtraf-
rechtlichen, theils polizeylichen Schutz der Sklaven gegen
unmenſchliche Behandlung. Ein ſolcher Schutz war dem
älteren Rechte voͤllig fremd. Als aber durch die großen
Eroberungskriege die Zahl der Sklaven über alles Maaß
hinaus ſtieg, wurde man durch blutige Erfahrung inne,
wie gefährlich eine ganz ſchonungsloſe Behandlung dieſer
durch ihre Menge mächtigen Menſchenklaſſe ſey. So kam
man allmälig dazu, als feſte Regel aufzuſtellen, daß ein
(e) L. 215 de V. S. (50. 16.)
„.. in persona servi domini-
um.” — L. 22 pr. de R. J. (50.
17.). „In personam servilem
nulla cadit obligatio.” — L. 6
§ 2 de usufr. (7. 1.). — Gajus I.
§ 120. 121. 123. 139. — Erſt in
ſpäterer Zeit wird dieſe Bezeich-
nung den Sklaven ausdrücklich ab-
geſprochen. So z. B. Nov. Theod.
Tit. 17. „Servos .. quasi nec
personam habentes.” Vergl.
Schilling Inſtitutionen B. 2
§ 24 Note g.
(f) Unter dieſe Ausnahmen ge-
hört nicht die Fähigkeit der Skla-
ven, eine Mancipation zu em-
pfangen, zu ſtipuliren, in einem
Teſtament zu Erben oder Lega-
taren ernannt zu werden; denn
ſie waren hierin nur Inſtrumente
für den Erwerb ihres Herrn, ſo
daß dieſe Fähigkeit die Recht-
loſigkeit der Sklaven um gar
Nichts vermindert. — Anders ver-
hält es ſich mit der den Staats-
ſklaven ertheilten Vergünſtigung,
über die Hälfte ihres Peculiums
zu teſtiren (Ulpian. XX. § 16);
das war eine wirkliche Anomalie,
wodurch dieſe Klaſſe der Sklaven
dem Zuſtand der Freyen naher
gebracht werden ſollte.
II. 3
|0048 : 34|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
grauſamer Herr nicht nur gezwungen werden koͤnne, den
mishandelten Sklaven zu verkaufen, ſondern auch criminell
zu beſtrafen ſey. Insbeſondere wurde die Tödtung ſelbſt
des eigenen Sklaven, wenn dazu ein hinreichender Grund
fehlte, der Tödtung eines freyen Menſchen gleich beſtraft (g).
Streng genommen lag in dieſen Einſchränkungen der ſonſt
gränzenloſen Herrengewalt kein dem Sklaven verliehenes
Recht, aber es wirkte auf die Verbeſſerung des Zuſtandes
der Sklaven eben ſo vortheilhaft, wie wenn es ein ſolches
Recht geweſen wäre.
Im Privatrecht finden ſich folgende Ausnahmen. Die
aus dem Sklavenſtand herrührende Verwandtſchaft ſollte,
bey nachher erworbener Freyheit, in der einzigen Bezie-
hung auf die Eheverbote beachtet werden (h), während
eine Erbfolge darauf niemals gegründet werden konnte
(Note c). Der Grund lag ohne Zweifel darin, daß die
Verwandtſchaft bey den Eheverboten als ein rein menſch-
liches, nicht juriſtiſches, Verhältniß gedacht wird. — Die
Unfähigkeit zum Eigenthum und anderen dinglichen Rech-
ten war durch keine bekannte Ausnahme beſchränkt. —
Ganz anders verhielt es ſich aber bey den Obligationen;
(g) Gajus I. § 53. — § 2 J. de
his qui sui (1. 8.). — L. 1 § 2.
L. 2 de his qui sui (1. 6.). — L. 1.
§ 8 de off. praef. urbi (1. 12.).
— L. 1 § 2 ad L. Corn. de sic.
(48. 8.). — L. un. C. de emend.
servor. (9. 14.) — Coll. LL. Mos.
et Rom. Tit. 3 § 2. 3. 4. — Vgl.
Zimmern Rechtsgeſchichte I.
§ 180, wo ſich noch mehrere Stel-
len geſammelt finden. — Unter
daſſelbe Princip fällt auch die Re-
gel der L. 15 § 35 de injur.
(47. 10.).
(h) L. 8 L. 14 § 2. 3 de ritu
nupt. (23. 2.) § 10 J. de nupt.
(1. 10.).
|0049 : 35|
§. 65. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit.
denn da die Geſchäfte des täglichen Verkehrs großentheils
von Sklaven beſorgt wurden, die dabey oft ſelbſtändig
auftraten, ſo kam man ſehr natürlich darauf, die Strenge
des alten Grundſatzes in dieſer Hinſicht einzuſchränken.
Dabey iſt jedoch zuerſt eine Gränze der Möglichkeit ſol-
cher Modificationen zu erwägen. Während des Sklaven-
ſtandes war eine civilis obligatio für den Sklaven ganz
unmoͤglich, weil derſelbe niemals, weder als Kläger, noch
als Beklagter, vor Gericht ſtehen konnte: eine naturalis
obligatio war ſchon jetzt an ſich nicht unmöglich. Nach
der Freylaſſung waren civiles und naturales obligationes
für den Sklaven denkbar, als Nachwirkungen der noch
im Sklavenſtand vorgenommenen Handlungen. Die wirk-
lichen Regeln aber waren folgende:
I. Forderungen erwerben konnte der Sklave in der
Regel gar nicht, weil er Alles dem Herrn erwerben mußte
und wirklich erwarb, ſo daß für ihn ſelbſt kein möglicher
Fall übrig blieb, in welchem er hätte Gläubiger werden
koͤnnen. Dieſer Grund aber führte conſequenterweiſe auf
die Ausnahme, wenn der Herr ſelbſt Schuldner ſeines
Sklaven werden wollte: nun entſtand in Wahrheit eine
obligatio, aber dieſe war nur naturalis. Folgerecht müſ-
ſen wir daſſelbe für die Fälle annehmen, wenn der Sklave
herrenlos war.
II. Schulden konnte der Sklave haben ohne Rück-
ſicht auf das bey den Forderungen erwähnte Hinderniß,
weil er ſeinem Herrn zwar unbedingt Rechte erwerben,
3*
|0050 : 36|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
aber in der Regel keine Verbindlichkeiten auflegen konnte.
Daher konnte der Sklave durch ſeine Verträge ſowohl
gegen den Herrn, als gegen einen Fremden, Schuldner
werden, aber dieſe obligatio war nur naturalis, und blieb
es auch nach der Freylaſſung. Anders war es mit den
Delicten des Sklaven: waren dieſe gegen den eigenen
Herrn begangen, ſo wirkten ſie weniger als die Verträge,
nämlich gar keine Obligation: war dadurch ein Fremder
verletzt worden, ſo wirkten ſie mehr als die Verträge,
indem die daraus entſtandene Obligation nach der Frey-
laſſung ſogar eingeklagt werden konnte (i).
Die Römer theilten die Freyen ferner ein in Freyge-
borne und Freygelaſſene, ingenui et libertini, und es fragt
ſich, ob dieſe an ſich wichtige Untereintheilung gerade auch
für die Rechtsfähigkeit Bedeutung hatte. Eine ſolche Be-
deutung muß nun allerdings behauptet werden, wiewohl
nur eine untergeordnete. Denn in den Hauptpunkten frey-
lich war auch für den Freygelaſſenen das allgemeine Bür-
gerverhältniß entſcheidend: er hatte alſo oder entbehrte das
Connubium und das Commercium, je nachdem er civis,
latinus oder peregrinus war, ohne Rückſicht auf ſeine Li-
bertinität, und er ſtand alſo inſofern mit dem Freygebor-
(i) Die Hauptſtellen für die hier
aufgeſtellten Regeln ſind L. 7
§ 18 de pactis (2. 14.). L. 14
de O. et A. (14. 7.). L. 64. L. 13
pr. de cond. indeb. (12. 6.). L. 1
§ 18 depositi (16. 3.). L. 19 § 4
de don. (39. 5.). Die Römer
hatten dieſen Gegenſtand mit gro-
ßer Feinheit behandelt. Eine wei-
tere Ausführung der oben auf-
geſtellten Sätze, und eine Erklä-
rung der ſchwierigſten Stellen, fin-
det ſich in der Beylage IV.
|0051 : 37|
§. 65. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit.
nen auf gleicher Linie der Rechtsfähigkeit. Dennoch war
dieſe Gleichheit durch folgende nicht unwichtige Modifica-
tionen eingeſchränkt. Der civis libertinus hatte zwar al-
lerdings Connubium, das heißt die Fähigkeit eine gültige
Civilehe zu ſchließen, aber er war in der Wahl des Ehe-
gatten beſchränkt (k). Der latinus libertinus (Latinus Ju-
nianus genannt) hatte allerdings Commercium, das heißt
die Fähigkeit zum Römiſchen Eigenthum und insbeſondere
zur Mancipation, aber die wichtigſten Vortheile dieſer Fä-
higkeit waren ihm wieder einzeln durch poſitives Geſetz
entzogen. Eben ſo hatte der peregrinus libertinus (dedi-
ticiorum numero) zwar im Allgemeinen die Fähigkeit zu
den im jus gentium enthaltenen Rechtsverhältniſſen, aber
im Einzelnen, und beſonders in Beziehung auf die Erb-
folge, war er gegen den freygebornen Peregrinen unge-
mein zurückgeſetzt (l).
(k) Solche Beſchränkungen be-
ſtanden im älteren Recht, obgleich
wir die Gränzen derſelben nicht
genau kennen. So wurde ein-
mal einer einzelnen Freygelaſſe-
nen, in einer Zeit worin noch
alle libertini die Civität hatten,
die gentis enuptio als ein per-
ſönliches Privilegium gegeben. Li-
vius XXXIX. 9. — Die Lex Ju-
lia verbot die Ehen der Freyge-
laſſenen beider Geſchlechter mit
den Senatoren und deren Nach-
kommen. Ulpian. XIII. 1. L. 44.
pr. de ritu nupt. (23. 2.). Vgl.
Beylage VII. Num. II.
(l) Die wichtigſten Beſchrän-
kungen der Rechtsfähigkeit in die-
ſen beiden letzten Klaſſen laſſen
ſich aus folgenden Stellen über-
ſehen: Ulpian. XI. 16. XXI. 14.
XXII. 3. Gajus III. § 55—76.
|0052 : 38|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 66.
Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel
der Civität.
Auf das Verhältniß der Einzelnen zum Staat grün-
deten ſich zwey Eintheilungen der Menſchen, welche ver-
ſchiedenen Zeitaltern angehören: beide von großem Ein-
fluß auf die Rechtsfähigkeit.
Die ältere Eintheilung lautete ſo: alle Menſchen ſind
entweder Cives oder Peregrini; ſie hatte für die Rechts-
fähigkeit dieſe Bedeutung: die cives haben Connubium und
Commercium, die Peregrinen entbehren Beides. So ge-
faßt, iſt der Begriff ganz negativ, und er umfaßt dann
auch die ganz rechtloſen Menſchen, namentlich die Skla-
ven, und die Bürger eines Volkes, mit welchem das Rö-
miſche Volk nicht im Verhältniß einer friedlichen Aner-
kennung ſteht (a). Man kann ihm aber auch eine poſitive
Beymiſchung geben, wodurch er allerdings für die Anwen-
dung größere Brauchbarkeit erhält. Dann heißen Pere-
grinen alle Diejenigen, welche im jus civile unfähig, im
jus gentium fähig zu Rechten ſind, und bey welchen dieſe
(a) Alſo nicht blos nach einer
in völkerrechtlicher Form ausge-
ſprochenen Kriegserklärung (ju-
stum bellum), ſondern auch wenn
es zwiſchen beiden Völkern noch
niemals zu irgend einer Anerken-
nung gekommen war. L. 5 § 2
de captivis (49. 15.) Daher er-
klärt es ſich, daß in der älteſten
Sprache hostis zugleich den Feind
und den Fremdling bezeichnete.
Cicero de officiis I. Cap. 12.
Varro de lingua lat. lib. 5 § 3.
|0053 : 39|
§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der Civität.
beſchränktere Rechtsfähigkeit auch in den Römiſchen Ge-
richten anerkannt wird (b). Dahin gehören dann nur noch
folgende Klaſſen:
1) Vor Caracalla die Einwohner faſt aller Provinzen,
alſo die große Mehrzahl der Einwohner des Römiſchen
Reichs überhaupt.
2) Die Bürger aller fremden Staaten, welche mit
den Römern in einem Verhältniß friedlicher Anerkennung
ſtanden.
3) Die Römer, welche in Folge einer Strafe (z. B.
der Deportation) die Civität verloren hatten (c).
4) Die Freygelaſſenen, welche, wegen der beſonderen
Umſtände bey ihrer Freylaſſung, keinen höheren Stand
erhalten durften (dediticiorum numero) (d).
Die Peregrinität der zwey erſten Klaſſen beruhte auf
(b) Den Beweis dieſes Satzes
ſiehe in der folgenden Note.
(c) L. 17 § 1 de poenis (48.
19.). „Item quidam ἀπόλιδες
sunt, hoc est sine civitate: ut
sunt in opus publicum perpe-
tuo dati, et in insulam depor-
tati: ut ea quidem, quae juris
civilis sunt, non habeant, quae
vero juris gentium sunt, ha-
beant.” Dieſes Letzte wird hier
zunächſt nur von den Deportir-
ten und anderen der Civität zur
Strafe Beraubten behauptet: es
iſt aber offenbar nicht etwas die-
ſen Eigenthümliches, ſondern viel-
mehr der allgemeine juriſtiſche
Character aller nicht ganz recht-
loſen Peregrinen überhaupt, wel-
cher hier nur in Anwendung auf
die durch Strafurtheil zu Pere-
grinen Gemachten erwähnt wird,
weil von dieſen allein die Rede
war. Vgl. auch L. 1 § 2 de leg.
3 (32 un.).
(d) Ulpian. XX. 14 „.. is qui
dediticiorum numero est, te-
stamentum facere non potest
… quoniam nec quasi civis Ro-
manus testari potest, cum sit
peregrinus, nec quasi peregri-
nus, quoniam nullius certae ci-
vitatis sciens (leg. civitatis ci-
vis est), ut adversus leges ci-
vitatis suae testetur.”
|0054 : 40|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ihrem allgemeinen Bürgerverhältniß (zu ihrer Provinzial-
gemeine, oder zu ihrem Staate), mithin auf einer ſtaats-
rechtlichen Regel: die der zwey letzten auf einer anomali-
ſchen Zurückſetzung Einzelner, die daher auch nicht Mit-
glieder irgend einer Bürgergemeine waren (Note c. d).
Darum war bey jenen die Peregrinität nicht herabwürdi-
gend, wohl aber bey dieſen (e).
Die Rechtsfähigkeit der Peregrinen im jus gentium
zeigte ſich in allen Arten der Rechtsverhältniſſe. Ihre
Ehe war ein wahres matrimonium (f), nur nicht justum.
Ihr Eigenthum wurde als natürliches Eigenthum (in bo-
nis) anerkannt und geſchützt (g). Ganz beſonders wirkſam
aber zeigte ſich ihre Rechtsfähigkeit in den Obligationen,
ja ſie hatten nicht blos, wie man erwarten könnte, na-
(e) Dieſe zwey Klaſſen waren
alſo unter den Peregrinen un-
gefähr das, was die servi sine
domino unter den Unfreyen wa-
ren, nämlich einzeln ſtehend, au-
ßer dem größeren Zuſammenhang
des ganzen Rechtsinſtituts.
(f) Dieſes zeigt ſich in vielen
Anwendungen, beſonders in der
Beziehung der Regel: Pater est
quem nuptiae (nicht justae nup-
tiae) demonstrant auch auf ſol-
che Ehen. So z. B. geſtattete
ein Senatusconſult dem Pere-
grinen, der doch kein Connubium
hatte (Ulp. V. 4), wenn er aus
Irrthum über den Stand eine
Römiſche Bürgerin heurathete,
durch ein ehelich erzeugtes Kind
die Civität zu erwerben (Ulp. VII.
4. Gajus I. § 68); in dieſer Vor-
ſchrift wurde unläugbar die Ehe
des Peregrinen als wirkliche Ehe,
und das Kind als ſein wirkliches
Kind angeſehen, welches letzte ja
gar nicht möglich wäre ohne die
Anwendung der oben angeführ-
ten Regel. Hier waren alſo ge-
radezu Römiſche Obrigkeiten ge-
ſetzlich angewieſen, die Rechtsfä-
higkeit anzuerkennen, die der Pe-
regrinus nach dem jus gentium
hatte.
(g) Dieſes folgt daraus, daß
man ihnen die actio furti und
legis Aquiliae geſtattete (Gajus
IV. 37), die ja ohne ein Recht
an der geſtohlenen oder beſchä-
digten Sache nicht möglich waren.
|0055 : 41|
§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der Civität.
turales obligationes, ſondern auch civiles, das heißt durch
Klagrecht geſchützte. Wahrſcheinlich war es das gerade
bey den Obligationen beſonders fühlbare Bedürfniß des
lebendigen Verkehrs mit befreundeten Nachbarvölkern, wo-
durch die Entwicklung dieſer Rechtsregeln veranlaßt wurde.
Der Ubergang zu dieſem ſtärkeren Grade der Rechtsfähig-
keit wurde dadurch vermittelt, daß man bey den Peregri-
nen die Civität fingirte, und ſo ihre Klagen als actiones
fictitiae den Klagen der Römiſchen Bürger anſchloß (h).
Die neuere Eintheilung beſteht aus folgenden drey
Gliedern: Alle Menſchen ſind entweder Cives, oder La-
tini, oder Peregrini; ſie ſetzt alſo eine dritte Klaſſe in die
Mitte zwiſchen die beiden Klaſſen der älteren Eintheilung.
Die praktiſche Bedeutung derſelben für die Rechtsfähig-
keit war folgende. Der Zuſtand der Cives und der Pe-
regrinen war unverändert, wie in der älteren Eintheilung,
geblieben. Die Latinen aber ſollten eine halbe Civität
haben, Commercium ohne Connubium. Durch die Theil-
nahme am Commercium ſollten ſie der erſten Klaſſe ver-
wandt ſeyn, durch den Mangel des Connubium der zwey-
ten. Dieſes Alles jedoch mit Vorbehalt von Privilegien,
wodurch einzelne Mitglieder der zweyten oder dritten Klaſſe
eine höhere Fähigkeit erhalten konnten, als ihnen nach der
Regel ihrer Klaſſe zukam (i). Die Bedeutung dieſer Pri-
(h) Gajus IV. § 37.
(i) Ulpian. V. § 4. „Connu-
bium habent cives Romani cum
civibus Romanis: cum Latinis
autem et peregrinis ita, si con-
cessum sit.” — Ulpian. XIX.
§ 4. „Mancipatio locum habet
inter cives Romanos, et Lati-
|0056 : 42|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
vilegien hat etwas Räthſelhaftes. Gewoͤhnlich denkt man
ſie als Begünſtigung ſolcher einzelnen Perſonen, die man
dadurch ehren oder belohnen wollte. Allein wenn dieſes
die Abſicht war, warum wählte man nicht das viel ein-
fachere Mittel, dem Begünſtigten das Recht und den Na-
men einer höheren Klaſſe ſelbſt zu verleihen? Gab man
ihm die Civität, womit ohnehin die Kaiſer gar nicht ſpar-
ſam verfuhren, ſo hatte er ja alle jene Rechte von ſelbſt,
ohne Privilegium. Der Unterſchied war allerdings darin
bedeutend, daß das connubium und commercium conces-
sum gewiß nur individuell war, anſtatt daß die Civität
ſtets auf die ſpäter erzeugten Kinder übergieng; aber wel-
chen Grund hatte man, den Nachkommen den Genuß die-
ſer dem Vater ertheilten Gunſt zu verſagen? — Bey dem
Connubium kennen wir den Zuſammenhang genau. Wer
ſich im Dienſt des Römiſchen Staats in einer Provinz
aufhielt, ſollte daſelbſt, ſo lange das Dienſtverhältniß
dauerte, keine Ehe ſchließen dürfen (k). Dieſes traf auch
die Römiſchen Bürger, die daſelbſt als Soldaten in Gar-
niſon ſtanden. Wenn aber dieſe irgend eine Bekanntſchaft
angeknüpft hatten, die nach dem Abſchied zu einer Ehe
führen ſollte, ſo pflegte man im Abſchied dem Soldaten
das Connubium mit einer peregrina (oder auch mit meh-
reren, für nachfolgende Ehen) zu geben, damit ſeine Ehe
nos colonarios, Latinosque Ju-
nianos, eosque peregrinos, qui-
bus commercium datum est.”
Vgl. Ulpian. XI. § 16. XX. § 8.
14. XXII. § 1—3. Gajus I. § 56.
(k) L. 38. 63. 65 de ritu nupt.
(23. 2.). L. 6 C. de nupt. (5. 4.).
|0057 : 43|
§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der Civität.
eine vollgültige ſeyn könnte. Hier war es in der That
nicht auf Begünſtigung der Frau abgeſehen, und das er-
theilte Connubium genügte dem Zweck vollkommen: ja es
war ſogar oft unmoͤglich, der Frau die Civität zu erthei-
len, da dieſe zur Zeit des Abſchieds noch eine unbe-
ſtimmte Perſon ſeyn konnte (l). — Dieſe Erklärung paßt
nun freylich nur auf das connubium, nicht auf das com-
mercium concessum. Von dieſem iſt eine ſpecielle Erklä-
rung nicht bekannt; es wäre jedoch wohl moͤglich, daß
man ſich dieſe Conceſſion als eine nothwendige Folge des
connubium concessum gedacht hätte, ohne ſie beſonders
auszudrücken; dann würde ſie ſich gleichfalls auf den eben
erklärten Fall bezogen haben, um dem Soldaten die Ver-
träge zu erleichtern, die er etwa mit der Frau oder dem Va-
ter derſelben über das Vermoͤgen zu ſchließen veranlaßt war.
(l) Gajus I. § 57. „Unde et
veteranis quibusdam concedi so-
let principalibus constitutioni-
bus connubium cum his Lati-
nis peregrinisve, quas primas
post missionem uxores duxe-
rint, et qui ex eo matrimonio
nascuntur, et cives Romani, et
in potestate parentum fiunt.”
— Dieſes Rechtsinſtitut, welches
durch die von Caracalla allgemein
gemachte Civität ſeinen Nutzen
gänzlich verlor, hat ſich für uns
in lebendiger Anſchauung erhal-
ten durch eine bedeutende Anzahl
noch vorhandener Originalabſchie-
de, die auf kleinen Tafeln von
Bronze eingegraben ſind. Vgl.
die treffliche Abhandlung von
Haubold und Platzmann
(Haubold opuscula Vol. 2 p. 783
—896), worin dieſelben anſchau-
lich mitgetheilt werden. — Daß
nach Ulpian (Note i) ſolche Con-
ceſſionen nicht blos für Peregri-
nen, ſondern auch für Latinen
ertheilt wurden, bezog ſich auf
die in Spanien einquartierten Le-
gionen; denn ganz Spanien hatte
durch Veſpaſian die Latinität er-
halten (Plinius hist. nat. III. 4),
und wir wiſſen nicht, daß hierin
vor der allgemeinen Civität von
Caracalla etwas geändert wor-
den wäre.
|0058 : 44|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Über die Zeit und Art der Einführung dieſer Mittel-
ſtufe, wodurch die neuere Eintheilung an die Stelle der
älteren getreten iſt, fehlt es an unmittelbaren Zeugniſſen,
und daher findet ſich hierüber bey den Neueren keine über-
einſtimmende, meiſt überhaupt keine beſtimmte Meynung.
In dem langen Zeitraum von Roms Anfang bis zur ent-
ſchiedenen Herrſchaft über Italien waren die Rechtsver-
hältniſſe zwiſchen Rom und den Italieniſchen Staaten eben
ſo mannichfaltig, als abwechslend: namentlich war der
Rechtszuſtand, welchen Rom den Bürgern der Latiniſchen
Nation einräumte, bald hoͤher, bald geringer, wie es in
jeder Zeit das wechſelnde Kriegsglück mit ſich brachte. Es
gab alſo damals mancherley Mittelſtufen zwiſchen der Ci-
vität und dem Stand der Peregrinen, die aber weder auf
einen gemeinſamen Grundſatz zurückgeführt werden konn-
ten, noch eine feſte Dauer hatten. Bald nach dem Bun-
desgenoſſenkriege verſchwanden dieſe Unterſchiede in ganz
Italien nach dem alten Sinn dieſes Namens (das heißt
mit Ausſchluß der Lombardey, welche Gallia cisalpina
hieß), indem zuerſt der Latiniſchen Nation, dann den übri-
gen Italienern, die Civität ertheilt wurde. Von jetzt an
bezeichnete alſo der Name der Latinen nur noch den Volks-
ſtamm, nicht mehr ein beſonderes Recht. Zu derſelben
Zeit aber wurde für die noͤrdliche Hälfte der Lombardey
(Gallia transpadana) eine neue Organiſation nach einem
ganz neuen Rechtsverhältniß nöthig gefunden, während
die ſüdliche Hälfte (cispadana) die Civität erhielt. Man
|0059 : 45|
§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der Civität.
gab den transpadaniſchen Städten, ohne neue Colonen
dahin zu ſchicken, das Recht Latiniſcher Colonien, aber in
einem anderen und beſchränkteren Sinn, als welchen das
alte Recht dieſes Namens gehabt hatte; ihre Bürger ſoll-
ten mit den Römern Commercium haben ohne Connubium:
wer in ſeiner Vaterſtadt eine Magiſtratur bekleidete, er-
warb dadurch die Römiſche Civität. Hier hatte alſo der
Name Latinus eine rein juriſtiſche Bedeutung erhalten,
ohne alle Beziehung auf Volksſtamm und Wohnſitz, und
das iſt die Latinität, die von den klaſſiſchen Juriſten als
Mittelſtufe, oder als zweyter Stand der freyen Einwoh-
ner des Reichs überhaupt, bezeichnet wird, und deren letzte
Spuren erſt Juſtinian aufgehoben hat (m). Zwar hörte
die urſprüngliche Anwendung dieſes Rechts auf die Trans-
padaner bald auf, indem dieſelben die Civität erhielten:
allein man behielt den Namen und das Rechtsverhältniß
bey, um es anderwärts anzuwenden. So wurde dieſe
(m) Die Hauptſtellen ſind:
Asconius in Cicer. in Pisonem
init. und Gajus I. § 79. 96. III.
§ 56, welche zu dieſer ſehr ſcharf-
ſinnigen Herleitung der Latinität
benutzt worden ſind von Nie-
buhr Röm. Geſchichte B. 2 S. 88
— 93. Vollſtändiger ausgeführt
iſt dieſe geſchichtliche Herleitung
in meiner Abhandlung über die
Tafel zu Heraklea, Zeitſchrift für
geſchichtl. Rechtswiſſenſchaft B. 9
S. 312 — 321. — Ächte Namen
für jenes Rechtsverhältniß ſind
Latium, jus Latii, Latinitas;
Gajus nennt es minus Latium,
im Gegenſatz des vortheilhafteren
Rechts, welches die alten Latinen
gehabt hatten. — Die älteſten ſiche-
ren Erwähnungen der Latini und
der Latinitas im juriſtiſchen, nicht
ethnographiſchen, Sinn, finden
ſich bey Cicero (ad Att. XIV. 12)
und in der Lex Junia Norba-
na; allein dieſe letzte giebt kein
ſicheres chronologiſches Datum,
da die Meynungen der Neueren
über ihr Zeitalter um ein volles
Jahrhundert aus einander gehen.
|0060 : 46|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Latinität von Veſpaſian an ganz Spanien gegeben (Note l),
welches ohne Zweifel die ausgedehnteſte und bleibendſte
Anwendung überhaupt war: weit früher aber wurde die-
ſes Rechtsverhältniß auf diejenigen Freygelaſſenen ange-
wendet, deren Freylaſſung aus verſchiedenen Gründen
keine volle Wirkung haben konnte (n).
Die Natur der drey Stände der Römiſchen Reichsge-
noſſen iſt hier blos nach ihren privatrechtlichen Eigenſchaf-
ten beſtimmt worden, ohne Rückſicht auf das Staatsrecht,
welches zur Zeit der freyen Republik die Theilnahme an
der Volksverſammlung und die Fähigkeit zu Römiſchen
Magiſtraturen (suffragium et honores), dem Civis bey-
legte, dem Latinen und Peregrinen aber verſagte. Dieſe
Rechte waren nun ohne Zweifel die vornehmſten unter
allen, und das Streben nach ihnen war hauptſächlich die
Veranlaſſung des blutigen Bundesgenoſſenkrieges. Hier-
nach ſcheint es, daß dieſe Rechte vorzüglich dem Begriff
der Civität zum Grunde gelegt werden müßten. Dennoch
(n) Es ſind dieſes die Latini
Juniani, welchen aber die wich-
tigſten einzelnen Beſtandtheile der
regelmäßigen Rechtsfähigkeit der
Latinen durch beſondere Beſtim-
mungen derſelben Lex Junia, die
ſie zu Latinen erhob, wieder ent-
zogen waren. Dennoch war es
kein leeres Spiel, daß man ſie
Latinen nannte, denn jene ano-
maliſche Einſchränkungen ihres
Rechts betrafen blos ihre Per-
ſon: ihre Nachkommen genoſſen
die regelmäßige Rechtsfähigkeit
der Latinen unbeſchränkt. — Die
Latini Juniani und ihre Nach-
kommen waren nun wieder un-
ter den Latinen etwas Ähnliches
wie unter den Unfreyen die servi
sine domino, und unter den Pe-
regrinen die Deportirten und die
Dediticiorum numero (Note e).
|0061 : 47|
§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der Civität.
würde dieſes fehlerhaft ſeyn, und zwar ſowohl für die
Zeit der Republik, als für die Kaiſerzeit. Für die erſte:
denn es gab damals ausnahmsweiſe auch cives non optimo
jure, das heißt sine suffragio, folglich war der Begriff
der Civität überhaupt unabhängig von dem Beſitz je-
ner Rechte. Für die Kaiſerzeit: denn in dieſer verloren
jene Rechte bald den hohen Werth, den ſie früher gehabt
hatten. Dagegen war die privatrechtliche Fähigkeit für
die drey Stände zu allen Zeiten dieſelbe, und ihr Werth
blieb unvermindert auch bey der gänzlich veränderten
Staatsverfaſſung: nicht zu gedenken, daß auch in der re-
publikaniſchen Zeit der Beſitz der politiſchen Rechte doch
höchſtens dazu dienen konnte, den erſten Stand von den
beiden anderen, nicht aber dieſe unter ſich, zu unterſchei-
den. — War es nun aber lediglich das privatrechtliche
Verhältniß, woran die allgemeine, durchgreifende Unter-
ſcheidung der drey Stände angeknüpft wurde, ſo muß die-
ſes auch genau ſo aufgefaßt werden, wie es hier geſche-
hen iſt, als eine verſchiedene Fähigkeit der Einzelnen, in
gewiſſe Rechtsverhältniſſe einzutreten. Manche nämlich
haben den privatrechtlichen Vorzug der Civität in eine
ganz irrige Verbindung gebracht mit der großen Vortreff-
lichkeit des Römiſchen Rechts, und daher angenommen,
das Beſtreben der Bundesgenoſſen vor dem Italiſchen
Kriege ſey eigentlich auf den Vortheil gerichtet geweſen,
nach dieſem trefflichen Rechte zu leben. Dieſes würden
ihnen die Roͤmer nie verwehrt haben, denen es ja nur
|0062 : 48|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
erwünſcht ſeyn konnte, wenn ſich ihnen die Unterthanen
in Sitte und Recht annäherten, und dadurch ſelbſt ihre
Herrſchaft befeſtigten. Nicht darum alſo war es den
Italienern zu thun, in ihren Städten die Roͤmiſchen For-
men der Ehe, der Mancipation, der Teſtamente einzu-
führen: was ſie forderten, war freylich zunächſt die Theil-
nahme an den ſchon erwähnten politiſchen Rechten: da-
neben aber auch die Möglichkeit, mit Römiſchen Familien
in Verwandtſchaft zu kommen, von Römern durch Man-
cipation oder Teſtamente Vermögen zu erwerben, und ſo
durch mannichfaltige Rechtsverhältniſſe Antheil zu nehmen
an dem Glanz und Reichthum, in deren Beſitz die Roͤmer
durch den ſteten Fortſchritt ihres Staats zur Weltherr-
ſchaft immer vollſtändiger gelangen mußten.
|0063 : 49|
§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.
§. 67.
Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Abhängigkeit
von Familiengewalt.
Alle Menſchen, ſagen die Römer, ſind entweder sui
juris, oder alieni juris; wir können dieſe Eintheilung
durch die Ausdrücke: Unabhängige, Abhängige be-
zeichnen.
Die Gewalt aber über andere Menſchen, worauf ſich
der Begriff dieſer Abhängigkeit bezieht, kam bey den Rö-
mern in ganz verſchiedenen Rechtsverhältniſſen vor, und
jedes derſelben war durch Benennung und Rechte von den
anderen verſchieden. Solcher Verhältniſſe gab es wörtlich
drey, in der That aber vier. Die drey uralte Namen
dieſer Verhältniſſe, die überall ganz gleichförmig, und auch
ſtets in unveränderter Ordnung, angegeben werden, ſind:
Potestas, Manus, Mancipium; die Potestas aber umfaßt
zwey ganz verſchiedene Verhältniſſe: patria und dominica
potestas. Alle dieſe Verhältniſſe ſollen hier in ihrem Ein-
fluß auf die Rechtsfähigkeit dargeſtellt werden, zu wel-
chem Zweck es räthlich iſt, die eben erwähnte Ordnung
zu verlaſſen.
Die dominica Potestas, oder Abhängigkeit des Skla-
ven von ſeinem Herrn, kann hier deswegen gar nicht in
Betracht kommen, weil der Sklave an ſich ſelbſt, auch
der herrenloſe, eine ſehr beſtimmte und ausgedehnte Rechts-
II. 4
|0064 : 50|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
unfähigkeit hat, in welcher die aus der perſönlichen Ab-
hängigkeit von einem beſtimmten Herrn entſpringende faſt
gänzlich aufgeht (§ 65).
Die Manus, als die ſtrenge Form der Ehe, erzeugte
gleichfalls keine eigenthümliche Art beſchränkter Rechtsfä-
higkeit; denn da die Ehefrau, welche in dieſer Art der
Gewalt ſtand, juriſtiſch als Tochter des Mannes betrach-
tet wurde, ſo fiel ihr Rechtszuſtand mit dem einer filia-
familias gaͤnzlich zuſammen (a).
Das Mancipium endlich wurde nach der Analogie der
dominica, nicht der patria potestas behandelt (b). Daher
dürfen wir annehmen, daß die damit verbundene Rechts-
unfähigkeit, wenigſtens im Vermögen, dieſelbe war wie
bey den Sklaven, folglich ſtrenger und weiter gehend als
(a) Gajus II. § 159. „Idem
juris est in uxoris persona quae
in manu est, quia filiae loco
est.” Cf. I. § 114. 118. II. § 139.
III. § 14. — Allerdings gab es
nun zweyerley in manum con-
ventio, matrimonii causa und
fiduciae causa (Gajus I. § 114),
und der Rechtszuſtand einer Toch-
ter war nach den angeführten
Stellen nur mit der erſten Art
verknüpft. Es bleibt alſo immer
noch die Frage übrig, wie die
Rechtsfähigkeit einer Frau bey
der in manum conventio fidu-
ciae causa beſchaffen war. Dar-
über haben wir keine Nachricht;
es iſt aber zu vermuthen, daß
in dieſer Hinſicht beide Arten nicht
verſchieden von einander waren.
Wichtig war dieſe Frage ohne-
hin nicht, da die coemtio fidu-
ciae causa durchaus keinen dau-
ernden Zuſtand begründete, ſon-
dern nur als eine ganz vorüber-
gehende Formalität angewendet
wurde.
(b) Gajus I. § 123 „servorum
loco constituuntur.” III. § 114
„idem de eo qui in mancipio
est magis praevaluit, nam et
is servi loco est.” In der letz-
ten Stelle kommt eine unmittel-
bare Anwendung dieſer Analogie
vor. Die Adſtipulation des in
mancipio Stehenden iſt eben ſo
nichtig wie die des Sklaven (ni-
hil agit), und alſo ganz verſchie-
den von der des filiusfamilias.
|0065 : 51|
§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.
die der Kinder in väterlicher Gewalt (Note b). Hierin
beſtand alſo allerdings eine beſondere Art eingeſchränkter
Rechtsfähigkeit, dem Familienverhältniß eigenthümlich an-
gehoͤrend. Der Unterſchied vom Sklavenſtand lag nur
darin, daß dieſer auch als ein Zuſtand an ſich anzuſehen
war, anſtatt daß das mancipium nur in der Abhängig-
keit von einem beſtimmten, einzelnen Familienhaupt ſein
Weſen hatte. Eben ſo war ohne Zweifel, während der
Dauer des mancipii, die Ausübung politiſcher Rechte ſus-
pendirt, ſo daß der Mancipirte weder in der Volksver-
ſammlung ſtimmen, noch judex oder auch nur Teſtaments-
zeuge ſeyn konnte (c). Dagegen ſtand es anders im Fa-
milienrecht; ſeine Ehe blieb eine wahre, rechtsgültige Ehe,
(c) Aus Ulpian, XX. § 3—6,
wo ſo genau die Fälle angege-
ben werden, in welchen der Sohn
für beſtimmte Teſtamente Zeuge
ſeyn konnte, was ſeine allgemeine
Zeugenfähigkeit vorausſetzt, geht
durch den Gegenſatz hervor, daß
der in mancipio überhaupt un-
fähig war, weil ſonſt für ihn ähn-
liche Negeln gegeben worden wä-
ren. Der Teſtamentszeuge ſtellte
nämlich eine Klaſſe des Römi-
ſchen Volks vor, und in dieſer
Beziehung heißt es: „Testamen-
tifactio non privati sed publici
juris est.” L. 3 qui test. (28. 1.).
— Gegen die im Text aufgeſtellte
Behauptung (Suspenſion der po-
litiſchen Rechte) könnte man mit
vielem Schein anführen L. 5 § 2
L. 6 de cap. min. (4. 5.), nach
welchen durch keine minima c. d.,
alſo auch nicht durch die manci-
pii causa, die politiſchen Rechte
verloren werden ſollen. Allein
als dieſe Stellen niedergeſchrieben
wurden, war ja faſt immer die
mancipii causa nur ſymboliſch
und nur vorübergehend, alſo die
Suspenſion unmerklich. Wenn
aber in der älteren Zeit ein Rö-
mer ſeinen Sohn aus Armuth
mancipirte, ſo daß dieſer längere
Zeit dem Käufer diente, ſo iſt
es doch kaum denkbar, daß wäh-
rend dieſes Dienſtes ein politi-
ſches Recht hätte gelten ſollen;
nach der Entlaſſung freylich trat
gewiß das frühere Recht unver-
mindert ein, weshalb ich es auch
nur eine Suspenſion genannt
habe.
4*
|0066 : 52|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
und die Kinder, die er während dieſer Abhängigkeit er-
zeugte, kamen bald in die Gewalt des Großvaters, bald
in die des Mancipirten ſelbſt, nach deſſen Freylaſſung;
in keinem Fall fielen ſie in die mancipii causa ihres Va-
ters (d).
Nunmehr bleibt nur noch diejenige Beſchränkung der
Rechtsfähigkeit zu beſtimmen übrig, welche aus der Ab-
hängigkeit eines Kindes von der väterlichen Gewalt her-
vorgeht, und dieſe iſt zugleich auch die einzige, welche
mit dem Römiſchen Recht auf unſre Zeiten übergegangen
iſt, ja die noch, wenn gleich ſehr modificirt, in den Ge-
ſetzbüchern der neueſten Zeit ſichtbar wird.
Die väterliche Gewalt iſt auch an ſich ſelbſt eines der
wichtigſten Rechtsverhältniſſe, welches in dem Familien-
recht ſeine eigene Stelle finden wird. Daſelbſt iſt von
der Entſtehung und Auflöſung deſſelben, ſo wie von den
Rechten des Vaters und des Kindes, ſowohl welche die
Perſon, als welche das Vermögen betreffen, zu handeln.
Hier iſt aus dieſem ganzen Verhältniß lediglich der Ein-
fluß herauszuheben, welchen daſſelbe auf die Rechtsfähig-
keit des abhängigen Kindes äußert.
Die Rechtsfähigkeit der in väterlicher Gewalt ſtehen-
den Kinder läßt ſich in folgendem einfachen Grundſatz dar-
ſtellen. Das Kind iſt unfähig, im Privatrecht irgend eine
Macht oder Herrſchaft zu haben, in jeder andern Bezie-
hung iſt es vollkommen rechtsfähig. Auch jene Unfähigkeit
(d) Gajus I. § 135.
|0067 : 53|
§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.
iſt nicht als ein dem Kinde ſelbſt inwohnender Mangel
anzuſehen, ſondern lediglich als Folge der Rechtsregel,
nach welcher der Vater alle Rechte erwirbt, die aus den
Handlungen ſeines Kindes entſtehen.
Nur im Privatrecht alſo war eine ſolche Beſchrän-
kung wahrzunehmen, nicht im öffentlichen Recht. Der
Sohn konnte daher, gleich dem Vater, in der Volksver-
ſammlung ſtimmen, ja die höchſten Ehrenſtellen bekleiden (e).
Im Privatrecht hat das Kind Connubium und Com-
mercium, alſo die hoͤchſte Fähigkeit ſelbſt zu den Inſtitu-
ten des alten jus civile: aber dieſe Fähigkeit kann ihm
ſelbſt keine Art von gegenwärtiger Macht verſchaffen.
Dieſes zeigt ſich deutlich in folgenden Anwendungen.
Die Ehe des Sohnes iſt eine gültige Civilehe (justum
matrimonium), aber wenn ſie mit in manum conventio
verbunden iſt, ſo kommt die Gewalt über die Frau nicht
auf den Mann, ſondern auf deſſen Vater. — Die Kinder
aus einer ſolchen Ehe ſind legitime concepti, und treten
mit der Geburt in väterliche Gewalt, aber nicht in die
ihres Erzeugers, ſondern in die Gewalt ihres Großva-
ters. — Der Agnation iſt das Kind durchaus fähig. —
Gewalt über Sklaven kann das Kind nicht haben, da
dieſes eine eigene Macht iſt. — Aber eine Tutel zu füh-
(e) L. 9 de his qui sui (1. 6.).
„Filiusfamilias in publicis cau-
sis loco patrisfamilias habetur,
veluti si magistratum gerat, vel
tutor detur.” — L. 13 § 5. L. 14
pr. ad Sc. Treb. (36. 1.). „… Nam
quod ad jus publicum attinet,
non sequitur jus potestatis.” —
Vergl. L. 3 de adopt. (1. 7.).
L. 77. 78 de jud. (5. 1.), und
Livius XXIV. 44, Gellius II. 2,
Valerius Max. II. 2. 4.
|0068 : 54|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ren iſt der Sohn fähig, denn dieſe iſt ein öffentli-
ches Amt.
Der Sohn hat Commercium, und iſt daher fähig, bey
Mancipationen und Teſtamenten als Zeuge zu erſcheinen,
wozu der Sklave ganz unfähig iſt. — Aber Eigenthum
oder Servituten haben kann der Sohn nicht.
Der Sohn kann keine Schuldforderungen haben, weil
darin eine eigene Macht liegt. Schulden zu haben, iſt er
durchaus fähig, ja dieſe Schulden ſind ſchon jetzt civiles
obligationes, alſo klagbar (f). Der Grund dieſes Unter-
ſchieds liegt darin, daß der Sohn überhaupt den Vater
reicher machen kann, aber nicht ärmer (g). — Dieſe Sätze
erleiden jedoch eine Modification für das wechſelſeitige
Schuldverhältniß zwiſchen dem Vater und Sohn: an den
Vater kann der Sohn auch Forderungen haben, aber nur
als naturales obligationes: umgekehrt kann er auch Schuld-
ner des Vaters ſeyn, aber gleichfalls nur in einer natu-
ralis obligatio (h). Es galt alſo in dieſer Hinſicht ganz
(f) L. 39 de O. et A. (44. 7.).
„Filiusfamilias ex omnibus cau-
sis tanquam paterfamilias obli-
gatur, et ob id agi cum eo tan-
quam cum patrefamilias potest.”
L. 57 de jud. (5. 1.). L. 44. 45
de peculio (15. 1.). L. 141 § 2
de V. O. (45. 1.). L. 8 § 4 de
acceptilat. (46. 4.). — Eine ganz
ſinguläre Ausnahme iſt es, daß
der Sohn ohne des Vaters Wil-
len durch ein Votum nicht ver-
pflichtet wird. L. 2 § 1 de pol-
lic. (50. 12.).
(g) Geradezu ausgeſprochen fin-
det ſich dieſe Regel nur bey Skla-
ven. L. 133 de R. J. (50. 17.).
„Melior conditio nostra per
servos fieri potest, deterior
fieri non potest,” und in ähn-
lichen Stellen. In dieſer Hin-
ſicht aber ſtanden Sklaven und
Kinder auf gleicher Linie.
(h) Die Möglichkeit einer na-
turalis obligatio zwiſchen Vater
und Sohn liegt zum Grunde in
L. 38 pr. § 1. 2 de cond. indeb.
(12. 6.). Die Unmöglichkeit von
|0069 : 55|
§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.
daſſelbe, was oben für die Obligationen zwiſchen dem
Herrn und ſeinem Sklaven beſtimmt worden iſt (§ 65).
— In allen dieſen Regeln aber, welche die Fähigkeit oder
Unfähigkeit zu obligatoriſchen Verhältniſſen betreffen, iſt
ein Unterſchied zwiſchen dem Sohn und der Tochter in
väterlicher Gewalt nicht zu behaupten, ſelbſt für das äl-
tere Recht nicht. (Beylage V.)
Die eben aufgeſtellten Regeln laſſen ſich in den einfa-
chen Grundſatz zuſammen faſſen: das Kind kann über-
haupt keine activen Vermögensrechte haben. Da aber das
Erbrecht, ſeiner Natur und Beſtimmung nach nur der
collective Ausdruck einer Geſammtheit von Vermögensrech-
ten iſt (wenngleich in einzelnen Fällen eine Erbſchaft viel-
leicht nur aus Schulden beſtehen mag), ſo folgt aus je-
nem Grundſatz ferner, daß das Kind, obgleich es testa-
mentifactio hat, dennoch kein Teſtament machen kann (i):
ja noch mehr, daß es überhaupt unfähig iſt, irgend einen
Erben zu haben (k).
Vergleicht man die hier für die Kinder in väterlicher
Gewalt dargeſtellten Gränzen der Rechtsfähigkeit mit den
oben für die Sklaven dargeſtellten (§ 65), ſo findet ſich
Klagen zwiſchen ihnen iſt gera-
dezu ausgeſprochen in L. 4. 11
de jud. (5. 1.). L. 16 de furtis
(47. 2.).
(i) Ulpian. XX. § 10. „Filius
familiae testamentum facere non
potest, quoniam nihil suum ha-
bet, ut testari de eo possit.”
Dagegen hatte er testamenti-
factio, denn er konnte Zeuge
bey der Mancipation, auch libri-
pens und familiae emtor ſeyn:
ibid. § 3—6.
(k) L. 11 de fidejuss. (46. 1.).
L. 18 de Sc. Maced. (14. 6.).
|0070 : 56|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
unter ihnen theils Ahnlichkeit, theils Verſchiedenheit. Sie
ſind einander ähnlich in der unfreywilligen Vertretung des
Familienhauptes durch erwerbende Handlungen, woraus
wiederum die faſt gänzliche Unfähigkeit folgt, ein eigenes
Vermögen zu haben. Sie ſind verſchieden dadurch, daß
die Unfähigkeit des Sohnes keinen anderen Grund hatte,
als eben jene nothwendige Vertretung, ſo daß er daneben
noch fähig war, in einer Römiſchen Ehe und Verwandt-
ſchaft zu ſtehen, Teſtamentszeuge und Vormund zu ſeyn,
klagbare Schulden zu haben; anſtatt daß der Sklave zu
allen dieſen Verhältniſſen unfähig war, weil ſeine Unfä-
higkeit, neben jener nothwendigen Vertretung einer be-
ſtimmten Perſon, noch einen zweyten bavon unabhängigen
Grund hatte, nämlich den abſoluten Zuſtand des Sklaven
an ſich (l). Es war eine bloße Folge dieſer Verſchieden-
heit, daß herrenloſe Sklaven, und zwar ſogar auf man-
cherley Weiſe, wirklich vorkamen, anſtatt daß filiifamilias
ohne einen beſtimmten, wirklichen Vater, von welchem ſie
abhängig waren, durchaus nicht vorkommen konnten.
(l) Dieſer weſentliche Unter-
ſchied zwiſchen der Unfähigkeit des
Sohnes und des Sklaven zeigt
ſich nirgend ſo deutlich, als bey
der Adſtipulation nach Gajus III.
§ 114. Die Adſtipulation hatte
das Eigene, daß darin ausſchlie-
ßend auf das Individuum gerech-
net war, daß alſo der adstipu-
lator, nach der Abſicht des Ver-
trags, ein Klagerecht nie einem
Dritten erwerben konnte, ſondern
nur entweder ſich ſelbſt oder Kei-
nem. Darum heißt es bey dem
servus adstipulator: nihil agit,
bey dem filiusfamilias: agit ali-
quid, aber ſein Klagerecht ruht
während der potestas, und wird
erſt lebendig nach des Vaters Tod.
Von der daneben erwähnten ca-
pitis deminutio ſ. u. § 70. i.
|0071 : 57|
§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.
Die hier dargeſtellte beſchränkte Rechtsfähigkeit der
Kinder in väterlicher Gewalt war die urſprüngliche; im
Laufe der Zeit aber ſind damit große Veränderungen vor-
gegangen. Die erſte derſelben fällt in den Anfang der
Kaiſerregierung, in welcher Zeit man dem Sohne erlaubte,
durch den Erwerb aus Anlaß des Kriegsdienſtes ein eige-
nes Vermögen zu bilden (castrense peculium), ja dafür
durch Fiction als ein Unabhängiger (sui juris) behandelt
zu werden. Dieſe neue Fähigkeit wurde ſpäter auf den
Erwerb durch andere Arten des öffentlichen Dienſtes (qua-
sicastrense) erweitert. — Weit wichtiger durch ihren Um-
fang, aber weniger eingreifend in das Recht ſelbſt, ſind die
Ausnahmen, die von K. Conſtantin an eintraten, und durch
Juſtinian zu einer allgemeinen Regel ausgedehnt wurden, in
dem von den Neueren ſogenannten peculium adventitium.
Seit deſſen Einführung iſt von der früheren Unfähigkeit,
Vermoͤgen zu haben, wenig mehr übrig, vielmehr haben
die Kinder jetzt wirkliches Vermoͤgen in großer Ausdeh-
nung, nur iſt ihr Vermögen ganz eigenthümlichen Ein-
ſchränkungen unterworfen. Indeſſen iſt dieſes neu gebil-
dete Recht nur als die Entwicklung des früheren Zuſtan-
des zu betrachten, es kann ohne dieſen durchaus nicht
verſtanden werden, und die in dem gegenwärtigen §.
dargeſtellte Art beſonderer Rechtsfähigkeit kann daher
nicht unter die antiquirten, ſondern nur unter die um-
gebildeten Inſtitute gerechnet werden, weshalb deſſen Dar-
|0072 : 58|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſtellung dem heutigen Römiſchen Recht unmittelbar an-
gehört.
Faſſen wir Dasjenige, was hier über die Abhängigkeit
von Familiengewalt geſagt worden iſt, unter einen ge-
meinſamen Geſichtspunkt zuſammen, ſo können wir in die-
ſer Hinſicht zwey ganz verſchiedene Stufen beſchränkter
Rechtsfähigkeit unterſcheiden, die auf der väterlichen Ge-
walt, und auf dem mancipium beruhen. Alles bisher
Dargeſtellte aber wird durch folgende Zuſammenſtellung
anſchaulicher werden. Es giebt drey Gründe beſchraͤnkter
Rechtsfähigkeit, und jeder dieſer Gründe beſtimmt wie-
derum drey verſchiedene Stufen der Rechtsfähigkeit, ſo
daß die erſte Stufe jedesmal den günſtigſten Zuſtand,
oder die Abweſenheit jeder aus dieſem Grunde entſprin-
genden Beſchränkung, bezeichnet. Die Stufen ſelbſt ſind
folgende:
I. In Beziehung auf Freyheit:
A. Ingenui
B. Libertini
Liberi.
D. Servi.
II. In Beziehung auf Civität:
A. Cives.
B. Latini.
C. Peregrini.
|0073 : 59|
§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.
III. In Beziehung auf Familiengewalt:
A. Sui juris.
B. Filiifamilias
C. Qui in mancipio sunt
Alieni juris.
Zwar giebt es noch andere Alieni juris, die Sklaven,
und die Ehefrauen in manu: allein jene gehören unter
die erſte Eintheilung (I. C.), dieſe unter die zweyte Stufe
der dritten Eintheilung (III. B.), beide alſo bilden keine
eigenthümliche Stufen der durch Familiengewalt beſchränk-
ten Rechtsfähigkeit.
|0074 : 60|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 68.
Dreyfache capitis deminutio.
Es ſind bis hierher drey Arten eingeſchränkter Rechts-
fähigkeit, jede auf einem eigenen Grunde beruhend, nach-
gewieſen worden. Das Daſeyn derſelben, und insbeſon-
dere auch ihre Anzahl (nicht mehr noch weniger als drey),
iſt unter den Neueren allgemein anerkannt; nur haben die-
ſelben den Verſuch gemacht, jene drey Verhältniſſe durch
die Kunſtausdrücke status libertatis, civitatis, familiae zu
bezeichnen, wodurch die einfache Lehre des Römiſchen Rechts
wieder etwas verdunkelt worden iſt. Ich habe daher ab-
ſichtlich dieſe nicht quellenmäßigen Ausdrücke vermieden,
und behalte mir vor, was daran wahr und falſch iſt, an
paſſender Stelle zu unterſuchen.
In jenen dreyerley Stufen der Rechtsfähigkeit nun
können die Einzelnen mancherley Veränderungen erfahren,
und zwar bald vortheilhafte, bald nachtheilige, indem der
Freye zum Sklaven, der Römiſche Bürger zum Peregri-
nen, oder das Familienhaupt zu einem Abhängigen wer-
den kann, und umgekehrt; das eine kann man Erhöhung,
das andere Herabſetzung oder Degradation nennen. Fer-
ner können dieſe Veränderungen bald natürliche, bald ju-
riſtiſche Urſachen haben, ſo z. B. kann der Sohn von ſei-
nes Vaters Gewalt ſowohl durch deſſen Tod, als durch
Emancipation, befreyt werden. Der Einfluß dieſer Ver-
|0075 : 61|
§. 68. Dreyfache capitis deminutio.
änderungen auf die Rechtsfähigkeit bedarf keiner neuen
Beſtimmungen, ergiebt ſich vielmehr aus dem bisher Dar-
geſtellten von ſelbſt; ſo hat z. B. der Sklave, welcher
aus der Freyheit in den Sklavenſtand gekommen iſt, durch-
aus keine verſchiedene Rechtsfähigkeit von dem in der Skla-
verey geborenen.
Indeſſen findet ſich ein uralter Rechtsbegriff unter der
gleichfalls alten Benennung capitis deminutio (a), und es
fragt ſich, was darunter zu verſtehen ſey. Man moͤchte
glauben, darüber könne kein Zweifel ſeyn, da die alten
Juriſten ſelbſt, in nicht wenigen Stellen, die Erklärung
geben, es ſey eine status mutatio (commutatio, permuta-
tio) (b). Allein damit iſt wenig gewonnen, theils weil die
Erklärung von status wieder die größten Schwierigkeiten
macht, theils weil ſich erweiſen läßt, daß zu der mutatio
(a) In den Handſchriften kom-
men zwey Schreibarten vor, de-
minutio und diminutio. Hugo
erklärt ſich entſchieden für die
letzte (Rechtsgeſchichte S. 121.
Ausg. 11). Für die erſte ſcheint
zu entſcheiden die alphabetiſche
Anordnung bey Feſtus, worin das
Wort Deminuti zwiſchen Dema-
gis und Demoe ſteht; allein das
beweiſt Nichts, weil dieſe ſtrenge
Ordnung erſt durch die Heraus-
geber des Feſtus hervorgebracht
iſt, anſtatt daß in den Hand-
ſchriften Alles ziemlich bunt durch
einander geht. Ich habe keinen
Grund zu zweifeln, daß die Al-
ten ſelbſt Beides wirklich geſchrie-
ben haben, daß alſo Beides rich-
tig iſt.
(b) pr. J. de cap. dem. (1. 16.).
L. 1 de cap. min. (4.5.) von Ga-
jus. — Ulpian. XI. § 13. L. 9
§ 4 de minor. (4. 4.) von Ulpian.
— Paulus I. 7 § 2, III. 6 § 29.
L. 2 de in int. rest. (4. 1.) von
Paulus. — L. 28 C. de liber.
causa (7. 16.). — In allen die-
ſen Stellen heißt es status, bey
Gajus I. § 159 iſt eine unlesbare
Stelle: prioris … permutatio,
die auf meinen Vorſchlag durch
capitis ausgefüllt worden iſt,
weil wenigſtens ein p. bemerkt
worden war. — Der Unterſchied
unter mutatio, commutatio, per-
|0076 : 62|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
in jedem Fall noch allerley hinzugedacht werden muß, was
die Urheber der Definition gewiß auch dachten, und nur
zu ſagen unterlaſſen haben. So erfahren wir alſo an die-
ſer Definition der alten Juriſten Daſſelbe, wie an vielen
anderen, daß wir dadurch nicht viel weiter kommen.
Halten wir uns zunächſt an den bloßen Wortlaut, ſo
ſcheinen zwey Beſtandtheile in jenem Rechtsbegriff erwar-
tet werden zu müſſen: erſtlich eine Veränderung in dem
Zuſtand einer Perſon, und zweytens eine ſolche Ver-
änderung, welche der Perſon zum Nachtheil gereicht.
Dieſes erinnert aber ſogleich an die eine Hälfte der im
Anfang des gegenwärtigen §. erwähnten Veränderungen,
nämlich an die Degradationen in Beziehung auf
Rechtsfähigkeit. Und dieſe Vermuthung erhält wei-
ter einen hohen Grad von Wahrſcheinlichkeit durch die
Wahrnehmung, daß es eben ſo eine dreyfache capitis de-
minutio giebt, wie wir oben eine dreyfache Einſchränkung
der Rechtsfähigkeit fanden. Dann wäre überhaupt unter
capitis deminutio zu denken eine jede Verminderung der
Rechtsfähigkeit, und zwar nach den drey möglichen Grün-
den ſolcher Verminderungen, in Beziehung auf Freyheit,
Civität, Unabhängigkeit, alſo in Vergleichung mit der am
Schluß des § 67 aufgeſtellten Tabelle. Noch immer aber
bleibt dieſe Annahme eine blos wahrſcheinliche, und ihre
mutatio iſt an ſich unbedeutend;
übrigens herrſcht bey mehreren
der angeführten Stellen wiederum
die größte Verſchiedenheit in der
Leſeart der Handſchriften: am
meiſten in der Stelle der Inſti-
tutionen.
|0077 : 63|
§. 68. Dreyfache capitis deminutio.
Wahrheit kann nur bewieſen werden durch Vergleichung
mit dem wirklichen Inhalt, den die Römiſchen Juriſten
ihrer dreyfachen capitis deminutio anweiſen, zu welcher
Vergleichung ich mich jetzt wende (c).
Die drey Grade der capitis deminutio heißen nach der
einfachſten und ſicherſten Terminologie: maxima, media,
minima (d).
I. Maxima. Sie beſteht nach den oben angeführten
Stellen in dem Verluſt der Freyheit, das heißt in der
Verwandlung eines Freyen (Ingenuus oder Libertinus) in
einen Sklaven (e). Hier zeigt ſich alſo die oben aufge-
ſtellte Vermuthung vollkommen und unzweifelhaft beſtätigt.
(c) Die wichtigſten Stellen ſind
dieſe: Gajus I. § 159—163. Ul-
pian. XI. § 10—13. Tit. J. de
cap. demin. (1. 16.). L. 11 de
cap. min. (4. 5.) (von Paulus).
Boethius in Ciceronis top. C. 4
(im Ganzen richtig, nur rech-
net er irrig die Deportation zur
maxima).
(d) Folgende abweichende Ter-
minologieen kommen daneben vor:
1) die media heißt minor bey
Gajus und in den Inſtitutionen
(in beiden media daneben ge-
nannt). 2) Die beiden höheren
Grade werden von Gajus zuſam-
mengefaßt unter dem Nameu ma-
jores (I. § 163), von Calliſtra-
tus und Ulpian unter dem Na-
men magna (L. 5 § 3 de extr.
cogn. 50. 13. — L. 1 § 4 de suis
38. 16. — L. 1 § 8 ad Sc. Ter-
tull. 38. 17.). Im Gegenſatz die-
ſer magna nennt nun Ulpian den
geringſten Grad minor. (L. 1
§ 4 cit.). — Hieraus erhellt, daß
der Ausdruck minor zweydeutig
iſt, und daher beſſer vermieden
wird. Die oben im Text gebrauch-
ten Ausdrücke laſſen durchaus kein
Misverſtändniß zu. — In der an-
geführten L. 5 §3 de extr. cogn.
(50. 13) heißt es: „magna cap.
dem … id est cum libertas ad-
imitur, veluti cum aqua et igni
interdicitur.” Hier wird liber-
tas für civitas genommen, wo-
für auch ſonſt Analogieen vor-
kommen. Schilling Inſtitutio-
nen B. 2 § 27 Note h.
(e) Man könnte vielleicht noch
einen andern Fall dahin rechnen,
die Verwandlung des Freygebor-
nen in einen Freygelaſſenen. Die-
ſer Fall kam nur vor bey einer
Frau, die einen fremden Skla-
|0078 : 64|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
II. Media. Für dieſe kommen folgende Anwendun-
gen vor:
A. Nach den oben angeführten Stellen, Verwandlung
des Civis in einen Peregrinen, z. B. durch die Deportation.
B. Verwandlung des Civis in einen Latinus (f).
C. Die Verwandlung des Latinus in einen Peregri-
nen wird zwar nicht ausdrücklich erwähnt, allein es dürfte
wohl angenommen werden können, daß die Deportation
eines Latinen ebenſowohl eine capitis deminutio war, als
die eines Römiſchen Bürgers (g).
Auch bey der media alſo zeigt ſich unſre eben aufge-
ſtellte Vermuthung eben ſo ſicher bewährt, als bey der
maxima.
ven heurathete mit Einwilligung
des Herrn (denn wenn es wider
deſſen Willen geſchah, ſo wurde
ſie ſelbſt auch Sklavin). Taci-
tus ann. XII. 53. Paulus IV. 10
§ 2. Gajus I. § 84. Fragm. de
jure fisci § 12. Daß dieſer Fall
bey der capitis deminutio nicht
erwähnt wird, erklärt ſich wohl
aus deſſen ſpäter Entſtehung und
(wahrſcheinlich) ſeltner Anwen-
dung. Wenn es übrigens als ca-
pitis deminutio angeſehen wurde,
ſo war es eine maxima, nicht
minima; denn bey dem Freyge-
laſſenen war der Libertinenſtand
an ſich (ähnlich dem Sklaven-
ſtand an ſich), im Verhältniß zum
Staat, noch verſchieden von dem
Verhältniß zu dem beſtimmten Pa-
tron, und wichtiger als dieſes.
(f) Boethius in Ciceronis top.
Cap. 4 „media vero, in qua ci-
vitas amittitur, retinetur liber-
tas, ut in Latinas colonias
transmigratio.” Denſelben Fall
erwähnt auch Gajus III. § 56,
und noch beſtimmter als Boethius,
nur ohne den Namen der capi-
tis deminutio zu brauchen. Vgl.
auch Cicero pro Caecina C. 33.
(g) Nach dem Recht und Sprach-
gebrauch der älteren Zeit konnte
auch die eintretende Infamie als
capitis deminutio betrachtet wer-
den, wegen der verlornen Fähig-
keit zu politiſchen Rechten; zur
Zeit der klaſſiſchen Juriſten wurde
das anders angeſehen. Davon
wird unten bey der Infamie ge-
handelt werden.
|0079 : 65|
§. 68. Dreyfache capitis deminutio.
III. Minima. Die Analogie der beiden erſten Fälle
würde conſequenterweiſe auf folgende Anwendungen führen:
A. Verwandlung eines Familienhauptes in einen fili-
usfamilias, z. B. durch Arrogation, und im neueren Recht
durch Legitimation. Daß dieſe eine minima capitis demi-
nutio ſey, iſt niemals beſtritten worden (h).
B. Degradation eines filiusfamilias, oder einer Frau
in manu, in die mancipii causa. Auch für dieſe iſt die
Natur der minima capitis deminutio unzweifelhaft, und
es lag darin der Grund, warum die Emancipation und
die Adoption eines fremden Kindes als capitis deminutio
galten, da beide nach ihrer alterthümlichen Form ſtets
mit dem Durchgang durch die mancipii causa verbunden
waren (i). Nimmt man nicht auf dieſen Umſtand Rück-
ſicht, ſo muß es auffallen, daß die Emancipation, wo-
durch ja der Sohn unabhängig wird, alſo im letzten Re-
ſultat an Rechtsfähigkeit Nichts verliert, ſondern nur ge-
winnt, dennoch ſtets und ganz allgemein als capitis de-
minutio betrachtet wurde.
C. Man könnte dahin endlich noch zichen wollen die
Degradation eines Familienhauptes in die mancipii causa;
allein dieſe war überhaupt unmöglich, da die Mancipa-
tion, woraus die mancipii causa allein entſtand, lediglich
(h) L. 2 § 2 de cap. min. (4.
5.). Gajus I. § 162. — Eben ſo
die bey einer unabhängigen Frau
durch die Ehe mit in manum
conventio entſtchende Änderung
des Rechtszuſtandes.
(i) L. 3 § 1 de cap. min. (4. 5.)
„cum emancipari nemo possit,
nisi in imaginariam servilem
causam deductus.” Gajus I.
§ 162. 134.
II. 5
|0080 : 66|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
einem filiusfamilias oder einer Frau in manu widerfahren
konnte (k).
So ſcheint alſo auch für die minima unſere Vermu-
thung vollkommen beſtätigt, womit zugleich der zu füh-
rende Beweis durch die Anwendung auf alle einzelne Fälle
vollendet ſeyn würde. Daß dennoch der hier aufgeſtellte
Begriff der capitis deminutio durch die herrſchende Mey-
nung neuerer Rechtslehrer verworfen wird, liegt theils
an einigen zweifelhaften einzelnen Anwendungen, theils
und noch mehr an den ſchwankenden Erklärungen Römi-
ſcher Juriſten über den Begriff der minima capitis demi-
nutio. Dieſes führt aber zu einer ſo weitgreifenden Un-
terſuchung, daß es, um den Zuſammenhang nicht zu un-
terbrechen, zum Gegenſtand einer abgeſonderten Unterſu-
chung gemacht werden mußte (Beylage VI.). Hier ſoll
nur noch zum Schluß die Stelle eines nichtjuriſtiſchen
Schriftſtellers angeführt werden, welcher die wichtigſten
Fälle der capitis deminutio gerade ſo angiebt, wie ſie
auch aus unſrer Annahme folgen. Feſtus ſagt in ſeinem
Woͤrterbuch: „Deminutus capite appellatur qui civitate
mutatus est (l); et ex alia familia in aliam adoptatus:
(k) Gajus I. § 117. 118. Ul-
pian. XI. § 5.
(l) Hier will Conradi parerga
p. 174 emendiren multatus est,
und er nimmt dieſen, allerdings
ſcheinbaren, Vorſchlag aus J. B. Pii
annotationes post. C. 44. Dennoch
muß dieſe Emendation ſchon des-
halb verworfen werden, weil der
Fall ſonſt identiſch ſeyn würde mit
der am Ende der Stelle erwähnten
aquae et ignis interdictio, folg-
lich ganz überflüſſig, und beſon-
ders mit unnatürlicher Trennung
beider Sätze. Der civitate mu-
tatus iſt der Römer, welcher ſein
|0081 : 67|
§. 68. Dreyfache capitis deminutio.
et qui liber alteri mancipio datus est: et qui in hostium
potestatem venit: et cui aqua et igni interdictum est.”
Wir gebrauchen hiernach von jetzt an den Ausdruck
capitis deminutio für jede Degradation in Bezie-
hung auf die Rechtsfähigkeit.
Nimmt man nun die hier vertheidigte Anſicht der mi-
nima c. d. als richtig an, ſo folgt daraus nothwendig,
daß im Juſtinianiſchen Recht die Arrogation der einzige
noch übrige Fall derſelben iſt. Denn die manus, ſo wie
die mancipii causa als ein ſelbſtändiges, dauerndes Ver-
hältniß waren ohnehin ſchon längſt verſchwunden, und die-
ſes wird auch gar nicht bezweifelt. Aber auch die Eman-
cipation kann nicht mehr als capitis deminutio gelten.
Dieſes hätte eigentlich ſchon conſequenterweiſe daraus fol-
gen müſſen, daß der Emancipirte nicht mehr durch die
formelle mancipii causa hindurchgeführt wurde. Zwar
verordnete Juſtinian, daß dennoch der Vater ſein Patro-
natsrecht beybehalten ſollte (m); allein das geſchah ledig-
lich um ihn in der Erbfolge nicht zu verkürzen, wofür
nun nach dem Novellenrecht ohnehin keine künſtliche Vor-
ſorge mehr nöthig iſt. Dagegen hatte Juſtinian ſelbſt
ſchon ausdrücklich vorgeſchrieben, daß die Agnation durch
Bürgerrecht freywillig aufgiebt,
um in einem fremden Staate
Bürger zu werden. Vgl. Cicero
pro Balbo C. 13 „ne quis invi-
tus civitate mutetur,” C. 18 „ut
et civitate illum mutatum esse
fateretur.” Livius V. 46 „mu-
tari finibus.” L. 7 pr. de cap.
min. (4. 5.) „familia mutati.”
Vgl. Gronov. obs. III. 1.
(m) L. 6 C. de emancipat.
(8. 49.).
5*
|0082 : 68|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
die Emancipation nicht aufhören ſolle (n), noch che durch
die neueſte Geſetzgebung über das Erbrecht die Agnation
ohnehin allen praktiſchen Werth verloren hatte. Im Sinn
des Juſtinianiſchen Rechts kann daher die Emancipation
durchaus nicht mehr als eine capitis deminutio betrach-
tet werden.
(n) L. 11. L. 13 § 1 C. de leg. hered. (6. 58.).
|0083 : 69|
§. 69. Wirkungen der capitis deminutio.
§. 69.
Wirkungen der capitis deminutio.
Die Wirkungen der hier unter dem gemeinſamen Na-
men der capitis deminutio zuſammengefaßten ſehr verſchie-
denen Ereigniſſe ſind großentheils ſo beſchaffen, daß ſie
aus der Natur der einzelnen Veränderungen von ſelbſt
folgen. Wenn z. B. ein Römiſcher Bürger die Freyheit
verlor (maxima c. d.), ſo verſtand es ſich von ſelbſt, daß
er nun in die hoͤchſt beſchränkte Rechtsfähigkeit eines Skla-
ven eintrat, und daß er alſo ſowohl ſeine frühere Ehe
und Cognation, als ſein früheres Vermögen nicht mehr
haben konnte. Eben ſo verlor der Arrogirte zwar nicht
ſeine Ehe und Cognation, wohl aber ſein Vermögen. Die-
ſes Alles folgte nothwendig aus den oben dargeſtellten
Einſchränkungen der Rechtsfähigkeit für Sklaven und Kin-
der. Es trat alſo in ſolchen Fällen nur dasjenige in Be-
ziehung auf die Vermögensrechte ein, was ohnehin einge-
treten ſeyn würde, wenn dieſelben erſt nach einer ſolchen
capitis deminutio erworben worden wären, alſo daſſelbe,
was die Römer bey dem letzten Willen durch die natür-
liche Regel ausdrücken: Quae in eam causam pervene-
runt, a qua incipere non poterant, pro non scriptis ha-
bentur (a). Wäre nun Nichts als dieſes gemeynt, ſo
ließe ſich von beſonderen Wirkungen der capitis deminutio
(a) L. 3 § 2 de his quae pro
non scripto (34. 8.). Dieſelbe
Regel kommt vielfach auch in an-
deren Anwendungen vor. L. 11
|0084 : 70|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
gar nicht reden, ja es wäre uns in ihr nur ein unnützes
und beſchwerliches Kunſtwort überliefert. In der That
aber verhält es ſich anders; ſie wird als etwas Selbſtän-
diges behandelt, ſie hat für ſich eigene, poſitive Wirkun-
gen, und dieſe ſollen nunmehr feſtgeſtellt werden. Dabey
lag, wie es ſcheint, der Gedanke zum Grunde, daß jede
Art der capitis deminutio den, der ſie erleidet, gleichſam
zu einem neuen Menſchen mache. Dieſe Unterſcheidung
von zweyerley Wirkungen der capitis deminutio liegt in
der Sache ſelbſt, und wird auch durch den ſonſt ganz un-
nöthigen Kunſtausdruck anerkannt; ausgeſprochen iſt ſie
bey den Römiſchen Juriſten nicht, und auch in einzelnen
Fällen pflegen ſie freylich die poſitiven Wirkungen beſon-
ders hervorzuheben, jedoch ſo, daß ſie damit auch wohl
dasjenige vermiſchen, welches ſich von ſelbſt verſteht, und
daher ſtrenge genommen der beſonderen Natur der capitis
deminutio nicht angehört.
Bey der maxima und media c. d. werden jene eigen-
thümliche, ganz poſitive Wirkungen wenig ſichtbar, indem
hier das Meiſte und Wichtigſte ſchon theils durch den
Sklavenſtand und die Peregrinität an ſich hervorgebracht
wird, theils durch die in den häufigſten Fällen eintretende
Confiscation des Vermögens, welche wiederum ganz be-
de jud. (5. 1.). L. 11 de serv.
(8. 1.). L 16 ad L. Aquil. (9.
2.). § 6 J. de nox. act. (4. 8.).
— Einige beſtritten dieſe Regel,
was aber doch nur auf ihre un-
bedingte Allgemeinheit zu gehen
ſcheint, ſo daß Ausnahmen davon
anerkannt werden ſollten. L. 98
pr. L. 140 § 2 de V. O. (45. 1.).
L. 85 § 1 de R. J. (50. 17.).
|0085 : 71|
§. 69. Wirkungen der capitis deminutio.
ſonderer Natur, und von der capitis deminutio völlig un-
abhängig iſt (b). Nur zwey Rechtsſätze ſind hier beſon-
ders hervor zu heben. — Die beiden höheren Arten der
capitis deminutio werden oft dem Tode gleichgeſtellt, und
das iſt es, was die neueren Juriſten als bürgerlichen
Tod (mors civilis) zu bezeichnen pflegen. Dieſe Gleich-
ſtellung gilt nicht nur für die maxima c. d., ſondern auch
für die media, da wo dieſe auf einer Strafe beruht (c).
Man benutzte dieſelbe unter andern um manchen über-
(b) Da dieſer Punkt von Wich-
tigkeit, aber keinesweges aner-
kannt iſt, ſo muß darüber Fol-
gendes bemerkt werden. Die Con-
fiscation, als Univerſalſucceſſion
des Fiscus in das Vermögen, iſt
eine poſitive Ausbildung beſtimm-
ter Criminalſtrafen, und nicht die
natürliche Folge der capitis de-
minutio; Erſtlich, weil ſie über-
haupt erſt ſeit Auguſt mit Sicher-
heit angenommen werden kann
(denn vorher traten ganz andere
Folgen für das Vermögen ein),
anſtatt daß die capitis deminutio
uraltes Recht iſt. Zweytens weil
ſie nur in Folge gewiſſer Straf-
urtheile vorkommt, und z. B. ganz
gewiß nicht bey dem civis, der
durch Eintritt in eine colonia
latina die media capitis demi-
nutio erlitt (§ 68). Drittens weil
aus der allgemeinen Natur der
in der maxima und media c.
d. enthaltenen Veränderung des
Rechtszuſtandes die Succeſſion
des Fiscus in das Vermögen ent-
ſchieden nicht folgt. Denn der
Deportirte (media c. d.) müßte
nach der allgemeinen Natur ſeines
neuen Zuſtandes das bisherige
Vermögen vielmehr behalten, da
er als freyer Peregrine vermö-
gensfähig iſt. Und ſelbſt bey dem
servus poenae (maxima c. d.)
müßte das Vermögen zwar nicht
mehr ihm gehören, da er ganz
unfähig zu Vermögensrechten iſt;
allein es müßte nach allgemeinen
Grundſätzen herrenlos werden,
da der Fiscus nicht Herr dieſes
Sklaven wird, alſo auch keinen
Succeſſionsanſpruch auf deſſen
Vermögen hat.
(c) I. Für die maxima. L. 209
de R. J. (50. 17.). „Servitutem
mortalitati fere comparamus.“
— L. 59 § 2 de condit. (35. 1.)
„Servitus morti adsimilatur.“
— L. 5 pr. de bonis damn.
(48. 20.). — II. Für die media.
L. 1 § 8 de B P. contra tab.
(37. 4.) „deportatos enim mor-
tuorum loco habendos.“ —
L. 4 § 2 de bonis libert. „de-
portatus … mortui loco habe-
|0086 : 72|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
triebenen Folgen der Caducität vorzubeugen, ſie war aber
keinesweges auf dieſen Zweck beſchränkt (d), vielmehr galt
ſie allgemeiner, und namentlich in der Beziehung, daß der
Deportirte, eben ſo wie ein Verſtorbener, das Erbrecht
entfernterer Cognaten, oder das patronatiſche Erbrecht
ſeiner Kinder, nicht ſollte ausſchließen können (Note c).
— Ferner iſt der Einfluß der media c. d., insbeſondere
der Deportation, auf die Familienverhältniſſe näher zu
beſtimmen. Bey der Ehe eines Deportirten (Mann oder
Frau) iſt die conſequente Behandlung in die Augen fal-
lend. Dieſelbe hoͤrt auf eine Civilehe zu ſeyn, da zu die-
ſer die Civität beider Ehegatten erfordert wird: dagegen
dauert ſie (wenn die Gatten wollen) als Ehe nach jus
gentium fort (e). Daß jede Agnation des Deportirten
aufhört, iſt unzweifelhaft, denn dieſe iſt ohne Civität nicht
tur.“ Es wird hier erwähnt,
daß zuweilen die maxima c. d.
eine ſchwächere Wirkung haben
konnte; wenn nämlich ein Römer
in Gefangenſchaft gerieth, ſo blieb
ſein patronatiſches Erbrecht einſt-
weilen unentſchieden wegen des
möglichen postliminii. — L. 13
§. 1 de don. int. v. et ux. (24.
1.). — Irrig wird als Beweis
angeführt L. 63 §. 10 pro socio
(17. 2.), wo vielmehr der Tod
als etwas von der maxima und
media c. d. verſchiedenes bezeich-
net, und ihnen nur in einer ein-
zelnen Wirkung an die Seite
geſtellt wird.
(d) Die Beziehung auf die Ca-
ducität wird gründlich nachgewie-
ſen, aber zu einſeitig angewendet
von Cujacius obs. XVIII. 13.
Vgl. auch Schulting notae in
Dig., L. 209 de R. J. (50. 17.)
(e) L. 5 § 1 de bonis damn.
(48. 20.). L. 24 C. de don. int.
v. et ux. (5. 16.). L. 1. C. de
repud. (5. 17.). — Darin lag
alſo blos eine conſequente An-
wendung allgemeiner Grundſätze;
dagegen war es allerdings ein
jus singulare, und Folge ſcho-
nender Behandlung, daß (nach
denſelben Stellen) das Dotalrecht
ſollte fortdauern können. Denn
eigentlich ſetzt jede Römiſche Dos
eine gültige Civilehe voraus.
|0087 : 73|
§. 69. Wirkungen der capitis deminutio.
denkbar. Dagegen iſt es auffallend, daß auch ſeine Cog-
nation zerſtört ſeyn ſoll (f), da es doch außerdem aner-
kannt iſt, daß blos juriſtiſche Ereigniſſe (ſo lange die
Freyheit fortdauert) das natürliche Band des Blutes nicht
ſtören können (g). Ohne Zweifel iſt auch jene Regel von
der aufgehobenen Cognation nur ein ungenauer Ausdruck.
Die Cognation ſelbſt dauert fort, aber ihre wichtigſten
juriſtiſchen Wirkungen hören auf; insbeſondere kann der
Deportirte weder ſelbſt ein cognatiſches Erbrecht in An-
ſpruch nehmen, noch das eines entfernteren Verwandten
hindern (Note c). Daß die Cognation als Ehehinderniß
nicht aufgehoben wird, verſteht ſich ohnehin von ſelbſt,
indem ſie in dieſer Beziehung ſogar im Sklavenſtand ent-
ſtehen und nachher ſtets fortwirken kann (§ 65).
Ganz anders verhält es ſich mit der minima c. d. (h).
Zwar kommen auch bey dieſer ſolche Wirkungen vor,
welche ſich nach der Natur der einzelnen Handlung ganz
von ſelbſt verſtehen; ſo z. B. muß der Arrogirte nothwen-
(f) § 6 J. de cap. dem (1. 16.).
„Sed et, si in insulam quis de-
portatus sit, cognatio solvitur.”
L. 4 § 11 de gradibus (38. 10.).
In dieſer letzten Stelle wird auch
die Affinität als aufgehoben an-
gegeben, welches freylich durch die
im Text für die Cognation ge-
gebene Erklärung noch nicht be-
greiflich wird. — Nicht dahin ge-
hört L. 17 § 5 ad Sc. Treb. (36.
1.), worin blos von der Ausle-
gung eines Fideicommiſſes, alſo
von der wahrſcheinlichen Abſicht
des Erblaſſers, die Rede iſt.
(g) § 3 J. de leg. adgn. tut.
(1. 15.). L. 8 de R. J. (50. 17.),
und andere Stellen.
(h) Der Unterſchied der Wir-
kung der geringſten c. d. und der
höheren Grade wird im Allge-
meinen anerkannt in L. 2 pr.
L. 7 § 2. 3 de cap. min. (4. 5.).
|0088 : 74|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
dig ſein Vermögen verlieren, weil er in einen Zuſtand
eintritt, in welchem es unmöglich iſt, Vermögensrechte zu
erwerben oder zu haben (§ 67). Dagegen giebt es viele
andere Wirkungen, die auf dieſe einfache Weiſe, ähnlich
den Wirkungen der maxima und media c. d., nicht zu er-
klären ſind, und der Grund dieſes Unterſchieds iſt folgen-
der. Die höheren Grade ſind ganz einfache und ſtets gleich-
foͤrmige Ereigniſſe. Verluſt der Freyheit, Verluſt der Ci-
vität iſt in ihnen enthalten, nie mehr noch weniger. Nicht
ſo einfacher Natur iſt die minima c. d. Vergleicht man
die Arrogation mit der Emancipation, ſo ſind dieſe in
ihrer Beſtimmung und ihrem Erfolg völlig entgegengeſetzt,
da die väterliche Gewalt durch die eine hervorgebracht,
durch die andere zerſtört wird. Wenn ſie nun dennoch
einen gemeinſchaftlichen Namen führen, und wenn an die-
ſen Namen allgemeine Wirkungen, die ihnen alſo auch
gemeinſchaftlich zukommen, geknüpft ſind, ſo iſt es klar,
daß für ſolche Wirkungen die capitis deminutio an ſich
als ſelbſtändige Urſache zu denken iſt, ohne Rückſicht dar-
auf, ob im einzelnen Fall mit der capitis deminutio eine
Unterwerfung unter die väterliche Gewalt, oder umgekehrt
eine Befreyung von derſelben, verbunden iſt.
Zuerſt nun wird ausdrücklich bemerkt, daß die minima
c. d. nur im Privatrecht wirkte. Wenn alſo ein Magi-
ſtratus, oder Senator, oder Judex, arrogirt oder eman-
cipirt wurde, ſo hatte dieſes Ereigniß auf jene öffentli-
|0089 : 75|
§. 69. Wirkungen der capitis deminutio.
chen Verhältniſſe durchaus keinen Einfluß (i). Im Pri-
vatrecht aber ſind folgende Wirkungen ſichtbar.
I. Familienrecht.
Die Civilehe, welche vor der capitis deminutio vor-
handen war, dauert auch nach derſelben unverändert fort.
Bey der Arrogation und der vollendeten Emancipation iſt
dieſes ganz unzweifelhaft. In dem Übergangszuſtand,
während der mancipii causa, könnte man daran noch etwa
zweifeln; und gerade für dieſen Fall iſt die fortdauernde
Wirkſamkeit der Ehe ausdrücklich anerkannt (§ 67 d).
Die Agnation wird durch jede minima c. d. gänz-
lich aufgehoben, die Cognation dagegen dauert unverän-
dert fort (k). Dieſes gilt in allen Anwendungen, alſo bey
der Arrogation (l), der Adoption, und der Emancipation.
Es iſt dieſes zugleich als eine der eigenthümlichſten Wir-
kungen zu betrachten; namentlich bey dem Emancipirten
verſteht ſie ſich gar nicht von ſelbſt, und es ließe ſich ſehr
wohl eine Entlaſſung aus der väterlichen Gewalt denken
ohne Zerſtörung der Agnation mit den Seitenverwandten.
(i) L. 5 § 2 L. 6 de cap. min.
(4. 5.). Mit welcher Einſchrän-
kung dieſer Satz vielleicht in den
älteren Zeiten verſtanden werden
mußte, iſt ſchon oben angegeben
worden, § 67 Note c.
(k) Gajus I. § 158. 163. III. § 27.
— Ulpian. XXVIII. § 9. — § 3
J. de leg. agn. tut. (1. 15.). —
§ 1 J. de adquis. per. adrog.
(3. 10.). — L 6 de cap. min.
(4. 5.). L. 8 de R. J. (50. 17.).
(l) Bey der Arrogation jedoch
iſt eine Einſchränkung zu bemer-
ken. Der Arrogirte nimmt ſeine
Kinder mit hinüber in die Ge-
walt des neuen Vaters, deren
Agnation alſo geht ihm nicht ver-
loren, oder er findet ſie gewiſſer-
maßen wieder in der neuen Fa-
milie.
|0090 : 76|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
— Juſtinian hat dieſe Wirkung der capitis deminutio
nicht im Allgemeinen, namentlich nicht bey der Arroga-
tion, aufgehoben; nur für die Emancipation hat er ver-
ordnet, daß die Agnation durch ſie nicht zerſtört ſeyn
ſollte (m). Allein durch ſeine ſpätere Geſetzgebung iſt frey-
lich der Agnation jede wichtige Einwirkung ſo ſehr entzo-
gen worden, daß dieſe ganze Frage faſt alles praktiſche
Intereſſe verloren hat.
Die Gentilität wurde gleichfalls aufgehoben, das
heißt jede minima c. d. zerſtörte nothwendig das Verhält-
niß zwiſchen dem deminutus und ſeinen bisherigen Gen-
tilen (n).
Das Patronat gieng unter, ſowohl durch die capi-
tis deminutio des Patrons, als durch die des Freygelaſ-
(m) L. 13 § 1 C. de leg. her.
(6. 58.). Bey dem Tod des Eman-
cipirten ſolle deſſen hereditas an
die Geſchwiſter (als Agnaten),
nicht an den Vater (als Patron)
fallen.
(n) Cicero top. § 6. „Genti-
les sunt qui inter se eodem
nomine sunt … Qui capite non
sunt deminuti” Zunächſt dachte
wohl Cicero nur an den Eman-
cip rten, und er wollte warnen,
man möge ſich nicht durch das
unveränderte nomen verleiten laſ-
ſen zu glauben, als wäre Jener
in ſeiner angebornen Gens ge-
blieben. Daß der Adoptirte und
der Arrogirte nicht in der ange-
bornen Gens blieben, war ſchon
durch das aufgegebene nomen un-
zweifelhaft, aber ſollten ſie nicht
in die des neuen Vaters (ſo wie
ganz ſicher in deſſen Agnation)
eingetreten ſeyn, deſſen nomen
ſie doch annahmen? Nach Cice-
ro’s Worten müßte man es ver-
neinen, da ſie doch gewiß eine
capitis deminutio erlitten hat-
ten; bey dem Adoptirten könnte
man noch etwa glauben, die vor-
übergehende mancipii causa habe
ihn zeitlebens unfähig gemacht,
in den reinen und hohen Verhält-
niſſen irgend einer Gens zu ſte-
hen; aber bey dem Arrogirten
würde doch ſelbſt dieſer Zweifels-
grund wegfallen, und das Na-
türlichſte iſt wohl anzunehmen,
Cicero habe nur allein an die
Emancipation gedacht.
|0091 : 77|
§. 69. Wirkungen der capitis deminutio.
ſenen. Dieſes wird weiter unten bey den einzelnen da-
durch bedingten Rechten (Tutel, operarum obligatio, Erb-
folge) nachgewieſen werden (o).
Die Tutel wird durch die minima c. d. des Vor-
mundes nur dann zerſtört, wenn es eine legitima, und
zwar aus dem älteſten Recht (den 12 Tafeln) herſtam-
mende iſt; die legitima aus neueren Geſetzen, die teſta-
mentariſche, und die Dativtutel dauern fort (p). Wie die
(o) Durch maxima und me-
dia c. d. gieng das Patronats-
recht natürlich auch unter; durch
die ſpätere Begnadigung des Ver-
urtheilten aber wurde es wieder
hergeſtellt. L. 1 de sent. passis.
(48. 23.).
(p) L. 3 § 9. L. 5 § 5 de le-
git. tutor. (26. 4.). § 4 J. quib.
modis tut. (1. 22.). L. 11 de
tutelae (27. 3.). L. 7 pr. de
cap. min. (4. 5.). „Tutelas etiam
non amittit capitis deminutio,
exceptis his, quae in jure alie-
no personis positis deferuntur.”
Die ſehr dunkel ausgedrückte Aus-
nahme in dieſer Stelle hat mit
Recht von jeher großen Anſtoß
erregt. Einige erklären ſie als
eine ſchwerfällige Umſchreibung
von agnatis, ſo daß hier positis
ſo viel heißen ſoll, als: remanen-
tibus usque ad mortem patris,
oder: Verwandte, die ihre ange-
borene Agnation nicht zerſtört ha-
ben. Vergl. Conradi pareiga
p. 190. Rudorff Vormund-
ſchaft B. 3 S. 238. Dafür ſpricht
der Scholiaſt der Baſiliken: da-
gegen der Umſtand, daß der
Ausdruck nicht blos unverzeihlich
dunkel, ſondern geradezu unrich-
tig wäre. Denn nach denſelben
müßten ſolche Tutoren zur Zeit
der deferirten Tutel in
fremder Gewalt ſtehen (positis
deferuntur), was jedoch unmög-
lich iſt. — Andere beſchränken die
Ausnahme auf die c. d. durch
datio in adoptionem. Müh-
lenbruch A. L. Z. 1835 N. 77
S. 609. Dadurch wird aber aller
logiſche Zuſammenhang aufgeho-
ben, indem nun zuerſt eine Aus-
nahme, ſcheinbar als die einzige,
angegeben ſeyn würde, und wei-
ter unten noch eine zweyte, weit
wichtigere. — Andere leſen mit
Haloander: non deferuntur, wo-
durch ein ganz einfacher, befrie-
digender Sinn hergeſtellt wird,
und welches, wie alle ſinguläre
Leſearten Haloanders, nicht als
bloße Conjectur entſchieden ange-
ſehen werden darf. Huſchke
Rhein. Muſeum B. 7 S. 68. Das
Reſultat bleibt nach der erſten
und dritten Erklärung gleich, an
|0092 : 78|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
legitima, ſo geht auch die cessicia unter (q). — Die ca-
pitis deminutio des Pupillen muß in allen Fällen die
Tutel aufheben, da ſich eine ſolche nicht anders denken
läßt, als durch Arrogation, wodurch aber der Pupill in
väterliche Gewalt kommt, folglich jeder Tutel unfähig
wird (r).
ſich unzweifelhaft, und mit ande-
ren Stellen übereinſtimmend;
nach der zweyten läge darin et-
was Neues und wenig Wahr-
ſcheinliches. — Ulpian. XI. 9
ſpricht zu kurz und allgemein
von jeder legitima tutela, ohne
die Ausnahme der novae leges
hinzu zu fügen.
(q) Gajus I. § 170.
(r) L. 2 de leg. tutor. (26. 4.).
§ 4 J. quib. modis tut. (1. 22.).
|0093 : 79|
§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)
§. 70.
Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)
II. Sachenrecht.
Das Eigenthum wird durch die capitis deminutio
nicht aufgehoben. Daß der Arrogirte es verliert, indem
es von ihm auf den neuen Vater übergeht, iſt nicht nur
keine Widerlegung, ſondern geradezu eine Beſtätigung die-
ſes Satzes, indem es nicht auf einen Anderen übergehen
könnte, wenn es durch die capitis deminutio zerſtört
würde (a). Der Emancipirte aber, der noch in der vä-
terlichen Gewalt ein castrense peculium erworben hatte,
iſt gewiß Eigenthümer deſſelben geblieben, ungeachtet der
erlittenen capitis deminutio.
Ganz anders verhält es ſich mit den perſönlichen
Servituten, nämlich dem Uſusfructus und Uſus.
Um dieſes deutlich machen zu können, muß folgende Regel
vorausgeſchickt werden. Wenn einem von Familiengewalt
Abhängigen (Sohn oder Sklave) eine ſolche Servitut ge-
geben wurde, ſo ſollte der Vater oder Herr die Servitut
erwerben, jedoch war es beſtritten, ob deren Fortdauer
an das Leben des Abhängigen, und an deſſen fortwäh-
rende Abhängigkeit gebunden ſeyn ſollte; es ſcheint, daß
nach der vorherrſchenden Meynung die Servitut unter-
(a) Gerade ſo wird es dargeſtellt bey Gajus III. § 83, im Gegen-
ſatz des Uſusfructus.
|0094 : 80|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
gieng, wenn der Sohn ſtarb oder emancipirt wurde, wenn
der Sklave ſtarb, oder veräußert, oder freygelaſſen wurde.
Juſtinian hat das Gegentheil vorgeſchrieben, ſo daß nun-
mehr der Vater oder Herr, ungeachtet aller dieſer Ver-
änderungen, den einmal erworbenen Uſusfructus behalten
ſoll (b). — Daneben ſteht nun der ganz verſchiedene Satz
des älteren Rechts, daß der Uſusfructus durch jede capi-
tis deminutio, auch die minima, gänzlich untergehen ſoll;
dieſe Regel hat Juſtinian für die minima c. d. aufge-
hoben (c). Aus der älteren Regel nun folgte der Un-
tergang der Servitut in folgenden Fällen: Wenn der
Fructuar arrogirt wurde, in welchem Fall alſo der Uſus-
fructus nicht ſo, wie das Eigenthum, auf den neuen Va-
ter übergieng (d); eben ſo, wenn der Sohn, der den Uſus-
fructus als castrense peculium erworben hatte, emanci-
pirt wurde (e). — Dieſer Untergang der perſönlichen Ser-
vituten war der capitis deminutio wieder ganz eigenthüm-
lich, und folgte leinesweges von ſelbſt aus dem veränder-
ten Zuſtand an ſich. Denn bey dem castrense peculium
(b) Fragm. Vat. § 57. L. 5
§ 1. L. 18 quib. modis us. (7. 4.).
L. 15. 17. C. de usufr. (3. 33.).
(c) L. 1 pr. quib. modis us.
(7. 4.), das heißt Fragm. Vat.
§ 61. — § 1 J. de adqu. per ar-
rog. (3. 10.). In dieſer Stelle
allein wird auch der Uſus aus-
drücklich genannt. — Gajus III.
§ 83. Paulus III. 6. § 29. — L. 16
§ 2 C. de usufr. (3. 33.). § 3 J.
de usufr. (2. 4.). L. 1 de usu et
us. leg. (33. 2.). (Hier ſind die
Worte ex magna causa inter-
polirt).
(d) Gajus III. § 83 (arrogatio
und coemtio). Paulus III. 6
§ 29. (Arrogatio und adoptio;
dieſe letzte gehört zu den in der
Note b. angeführten Stellen).
(e) L. 16 § 2 C. de usufructu
(3. 33.).
|0095 : 81|
§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)
wäre die Fortdauer in der Perſon des Fructuars natür-
lich geweſen, und auch bey der Arrogation war zu er-
warten, daß der Uſusfructus auf den neuen Vater über-
gienge, und ganz in die Lage käme, wie wenn er erſt
nach der Arrogation erworben worden wäre. — Von dem
beſonderen Recht der anomaliſchen perſönlichen Servituten
(habitatio und operae) wird im § 72 gehandelt werden.
III. Obligationenrecht.
Bey den Forderungen wurde die Wirkung der ca-
pitis deminutio meiſt nicht ſichtbar, indem dieſelben bey
der Arrogation auf den neuen Vater übergiengen, bey der
Emancipation aber für den Sohn vorher gar nicht vor-
handen ſeyn konnten. Dennoch gab es einige Fälle, worin
die Forderungen des Arrogirten weder auf den Vater
übergiengen, noch bey ihm ſelbſt fortdauerten, ſondern
durch die bloße capitis deminutio zerſtoͤrt wurden. Dahin
gehörte die von einem freygelaſſenen Sklaven eidlich über-
nommene operarum obligatio, die überall nur mit dem ge-
genwärtigen, fortdauernden Patronat verbunden ſeyn
konnte (f), hier alſo mit dem Patronat ſelbſt (§ 69) un-
tergehen mußte (g). Ferner wahrſcheinlich die neue For-
derung, die aus der Litisconteſtation entſtanden war, wenn
der Arrogirte vor der Arrogation in einem legitimum ju-
dicium eine Klage angeſtellt hatte (h). — Eben ſo ge-
hörte dahin ein anomaliſcher Fall bey der Emancipation.
(f) L. 56 pr. de fidej. (46. 1.).
L. 7 pr. de op. libert. (38. 1.).
(g) Gajus III. § 83. — § 1 J. de
adqu. per arrog. (3. 10.).
(h) Gajus III. § 83, die Stelle
iſt lückenhaft. — Die Erklärung,
II. 6
|0096 : 82|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Hatte der Sohn während der väterlichen Gewalt eine
Adſtipulation geſchloſſen, ſo wurde das Klagrecht hieraus
nicht dem Vater, ſondern dem Sohn ſelbſt erworben, je-
doch ſo, daß es einſtweilen ruhte, und erſt mit des Va-
ters Tod wirkſam wurde; endigte aber die väterliche Ge-
walt durch Emancipation, ſo gieng jenes Klagrecht durch
die capitis deminutio ganz unter (i).
Bey den Schulden dagegen tritt die eigenthümliche
Einwirkung der capitis deminutio wieder ſehr ſcharf her-
vor, indem durch jede minima c. d. nach dem älteren
Recht die Schulden ganz untergiengen (k). Da nun der
Sohn in väterlicher Gewalt ſich eben ſo vollgültig ver-
pflichten kann, als der Unabhängige (§ 67), ſo hätte man
erwarten mögen, daß auch die capitis deminutio daran
Nichts ändern würde, ſo daß alſo hier ihre zerſtörende
Kraft als etwas ganz Selbſtändiges erſcheint (l). Der
Arrogirte alſo wird frey von ſeinen Schulden, ohne daß
dieſelben auf den Vater übergehen, und eben ſo wird der
Emancipirte frey, obgleich er vor der Emancipation nicht
blos verpflichtet war, ſondern auch verklagt werden
konnte (§ 67).
die Huſchke Studien I. 277 von
der Sache giebt, ſcheint mir nicht
gehörig begründet.
(i) Gajus III. § 114 Vgl. oben
§. 67 Note b und l, auch § 74. h.
(k) Gajus IV. § 38, u. III. § 84,
dieſe letzte Stelle mit der ganz
vortrefflichen Reſtitution von Gö-
ſchen.
(l) Donellus X XI. 5 § 22, und
eben ſo Glück B. 6 S. 26 hält
die imaginaria servilis causa bey
der Emancipation für den einzi-
gen Grund des Untergangs und
läugnet dieſen daher bey der Ar-
rogation; durch die Stelle des Ga-
jus (Note k) wird dieſe Mey-
nung unmittelbar widerlegt.
|0097 : 83|
§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)
Dieſer wichtige Satz aber iſt noch näher zu beſtimmen
und durch mehrere Ausnahmen zu beſchränken. Zuerſt be-
zieht ſich dieſer Untergang nur auf das Civile in der
Obligation, auf ihre Klagbarkeit; als naturalis obligatio
dauert ſie fort (m). — Aber auch gegen den Untergang
der civilis obligatio ſchützte der Prätor durch Reſtitu-
tion der verlornen Klage (n). Durch dieſe Reſtitution
konnte alſo gegen den Arrogirten und den Emancipirten
aus früheren Verträgen geklagt werden, was außerdem
gar nicht möglich geweſen wäre; ſie war unbedingt ver-
ſprochen, weil ſie nur gegen eine aus der buchſtäblichen
Strenge des alten Civilrechts hervorgehende Härte Schutz
geben ſollte. Daneben wird aber auch noch eine andere
mögliche Reſtitution erwähnt, wenn nämlich der Vertrag
nach der capitis deminutio geſchloſſen wurde (o). Dieſe
hat etwas Räthſelhaftes, weil ja der Arrogirte und der
Emancipirte ohnehin wirkſame Verträge ſchließen können.
Auch wird ausdrücklich hinzugefügt, dieſe Reſtitution komme
(m) L. 2 § 2 de cap. min.
(4. 5.) ſ. u. Note o.
(n) L. 2 § 1. L. 7 § 2. 3 de
cap. min. (4. 5.). L. 2 de in int.
rest. (4. 1.). — Gajus III. § 84.
IV. § 38. — Daß es eine wahre
Reſtitution war, ſagen ausdrück-
lich die hier angeführten Stellen,
ſo wie Paulus I, 7 § 2; aber es
war eine anomaliſche, ſehr ver-
ſchieden z. B. von der bey Min-
derjährigen, ſ. u. Note w und x.
(o) L. 2 § 2 de cap. min. (4.
5.). „Hi, qui capite minuuntur,
ex his causis quae capitis de-
minutionem praecesserunt, ma-
nent obligati naturaliter: cete-
rum si postea, imputare quis
sibi debebit, cur contraxerit,
quantum ad verba hujus Edicti
pertinet. Sed interdum, si con-
trahatur cum his post capitis
deminutionem, danda est actio.
Et quidem, si adrogatus sit, nul-
lus labor: nam perinde obli-
gabitur ut filiusfamilias.”
6*
|0098 : 84|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
nur zuweilen vor (interdum), und namentlich bey dem
Arrogirten ſey ſie nie nöthig, weil dieſer ohnehin, gleich
jedem anderen filiusfamilias, durch ſeine Verträge klagbar
verpflichtet werde (p); daſſelbe gilt aber gewiß auch von
dem Emancipirten. Der ſeltene Fall, der in jener Stelle
nur angedeutet wird, muß bezogen werden auf einen wäh-
rend der mancipii causa geſchloſſenen Vertrag, alſo wäh-
rend eines Zuſtandes, der in der ſpäteren Zeit freylich
nur noch als ein Übergangszuſtand vorkam. Durch einen
ſolchen Vertrag wurde freylich der geweſene Sohn civiliter
nicht verpflichtet (§ 67), aber der andere Contrahent hatte
ſich den Schaden ſelbſt zuzuſchreiben, weil er ſich um den
gegenwärtigen Rechtszuſtand ſeines Schuldners erkundigen
konnte: da jedoch zuweilen (interdum) eine ſchuldloſe Un-
wiſſenheit hierin vorkommen konnte, ſo ſollte dann Re-
ſtitution eintreten (q).
(p) S. die vorige Note. — Bey
der Arrogation galt auch noch eine
andere Klage, die actio de pe-
culio gegen den Vater. L. 42
de peculio (15. 1.). Von dieſer
iſt aber hier nicht die Rede, ſon-
dern von der Klage gegen den
Arrogirten ſelbſt.
(q) Nimmt man an, daß der
alte Juriſt dieſen Fall geradezu
ausdrückte, und daß die Compi-
latoren die Erwähnung des ver-
alteten Rechtsinſtituts wegſtri-
chen, ſo erklärt ſich die Dunkel-
heit der Stelle ganz ungezwun-
gen. — Cujacius obs. VII. 11
bezieht die Stelle auf den Ver-
trag mit einer Ehefrau in manu,
die ſich gar nicht obligiren könne,
und wobey der Contrahent, der
von der manus Nichts wiſſe, re-
ſtituirt werden ſolle. Er nimmt
alſo an, eine filiafamilias könne
überhaupt nach altem Recht nicht
obligirt werden, weil die aucto-
ritas tutoris unmöglich war. Dieſe
Meynung iſt widerlegt in der Bey-
lage V., und damit fällt auch die
eben erwähnte Erklärung unſrer
Stelle. — Die ganze Stelle hat
von jeher viel zu leiden gehabt,
ſowohl durch unbefriedigende Aus-
legung, als durch grundloſe Annah-
me von Interpolationen. Selbſt
|0099 : 85|
§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)
Es gab jedoch auch einige ausgenommene Fälle, in
welchen ſelbſt nach altem Recht die Schulden nicht un-
tergiengen, ſo daß bey ihnen die Reſtitution nicht nöthig
war. Dahin gehörten erſtlich die Schulden aus Delic-
ten (r), die ja auch bey Sklaven klagbare Obligationen
bewirkten (§ 65). Zweytens die Schuld aus einem De-
poſitum, wenn der Schuldner auch nach der capitis de-
minutio im Beſitz der Sache blieb (s). Drittens die Schul-
den aus einer von dem Arrogirten vor der Arrogation
erworbenen Erbſchaft; denn nun gieng das Erbrecht ſelbſt
auf den Adoptivvater über, alſo auch ipso jure die darin
enthaltenen Erbſchaftsſchulden (t). Hierauf aber beſchrän-
ken ſich die ſicheren Ausnahmen. Zwar wird auch noch
in vielen anderen Fällen erwähnt, daß nach der capitis
deminutio Schuldklagen fortdauern, theils ohne nähere
Beſtimmung, theils mit dem Zuſatz, daß dagegen der
Emancipirte die exceptio Sc. Macedoniani, oder das ſo-
genannte beneficium competentiae haben ſolle (u); allein
die Worte nullus labor („bey
dem Arrogirten entſteht keine
Schwierigkeit“) möchten der
Sprache des Ulpian nicht unan-
gemeſſen ſeyn. Vgl. auch Pli-
nius hist. nat. XXVI. 72, „Phre-
neticos somnus sanat .. E di-
verso lethargicos excitare la-
bor est, hoc praestante … peu-
cedani suc co.”
(r) L. 2 § 3 de cap. min. (4.
5.). „Nemo delictis exuitur,
quamvis capite minutus sit.”
(s) L. 21 pr. depos. (16. 3.).
Der Zuſammenhang dieſer Aus-
nahme kann erſt unten § 74 klar
gemacht werden, ſ. beſonders § 74
Note q. r.
(t) Gajus III. § 84, ſ. o. Note k.
(u) L. 2 pr. L. 4 § 1. L. 5 pr.
L. 7 quod cum eo (14. 5.). L. 9
C. eod. (4. 26.). L. 3 § 4 de
minor. (4. 4.). L. 1 § 2 de Sc.
Mac. (14. 6.). L. 58 § 2 pro soc.
(17. 2.). Vergl. über dieſe letzte
Stelle § 74 c.
|0100 : 86|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
in dieſen zahlreichen Stellen iſt ſtets ſchon die prätoriſche
Reſtitution mit hinzu zu denken, die ja ohnehin allgemein
und unbedingt ertheilt wurde.
Wie ſtellt ſich nun aber dieſe ganze Lehre im Juſti-
nianiſchen Recht? Praktiſche Bedeutung hatte ſie ja ſchon
längſt nicht mehr wegen der prätoriſchen Reſtitution. Zwar
könnte man einwenden, daß ja in anderen Fällen, z. B.
bey Minderjährigen, ein großer Unterſchied ſey zwiſchen
der Gültigkeit (oder Ungültigkeit) eines Rechtsverhältniſſes
an ſich ſelbſt, oder vermittelſt einer Reſtitution. Allein
die Wichtigkeit dieſes Unterſchieds lag in zwey Umſtänden:
erſtlich behielt ſich gewoͤhnlich der Prätor ein Handeln
nach freyer Erwägung der Umſtände vor (v); zweytens
war gewöhnlich die Reſtitution an eine kurze Verjährung
gebunden. Beides war hier anders. Denn die Schuld-
klage gegen den capite deminutus war unbedingt, ohne
Vorbehalt individueller Unterſuchung, verſprochen (w); und
dieſe zugeſagte Klage war an keine Verjährung gebun-
den (x). — Juſtinian alſo fand bereits die alte Rechts-
regel von dem Untergang der Schulden durch die minima
c. d., entblöſt von aller praktiſchen Bedeutung vor, und
dieſer Zuſtand der Sache wurde in ſeiner Geſetzgebung ſo
wenig verkannt, daß in derſelben jene Regel merkwürdiger
(v) L. 1 § 1 de minoribus (4.
4.). „.. uti quaeque res erit,
animadvertam.”
(w) L. 2 § 1 de cap. min. (4.
5.). „.. judicium dabo” ohne
den ſonſt vorkommenden Zuſatz:
causa cognita.
(x) L. 2 § 5 eod. „Hoc ju-
dicium perpetuum est” etc.
|0101 : 87|
§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)
Weiſe gar nicht ausgedrückt iſt, ſo daß wir ihr Daſeyn
unmittelbar und poſitiv erſt aus Gajus nachweiſen koͤnnen.
Freylich ſchließen konnten wir daſſelbe ſtets aus dem Ju-
ſtinianiſchen Recht, ja es war nicht conſequent, die Reſti-
tution aufzunehmen, und die alte Rechtsregel, wodurch
allein die Reſtitution zum Bedürfniß wurde, mit Still-
ſchweigen zu übergehen; allein es war dieſes daſſelbe Ver-
fahren, wie in ſo mancher anderen Lehre, indem man von
dem formellen Inhalt des früheren Rechts ſo wenig als
moͤglich untergehen laſſen wollte. Man war zufrieden,
daß die in dem Titel de capite minutis aufgenommenen
Stellen der alten Juriſten, ihrem letzten praktiſchen Re-
ſultat nach, noch immer für wahr gelten konnten (was
allerdings der Fall iſt), wenngleich ſie in den Zuſammen-
hang des übrigen Rechts, ſo wie ſie ausgedrückt waren,
eigentlich nicht mehr paßten.
Eine ganz andere Einwirkung auf die Schulden hatte
die maxima und media c. d. Hier wurde der vorige
Schuldner für immer frey, dagegen gieng die Schuld
nicht unter, ſondern ſie fiel, wie durch Vererbung, auf
denjenigen, welcher das Vermögen bekam, welches ge-
woͤhnlich der Fiscus war. Wurde ſpäter der Verurtheilte
begnadigt, und in die Civität wieder eingeſetzt, ſo galt
dennoch keine Reſtitution für die alten Schuldklagen (y).
(y) L. 2 pr. L. 7 § 2. 3 de
cap. min. (4. 5.). — L. 30 de
O. et A. (44. 7.). — L. 47 pr.
de fidejuss. (46. 1.). L. 19 de
duobus reis (45. 2.). Vergl. zu
dieſer letzten Stelle die notae in
Dig. von Schulting.
|0102 : 88|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Nur wenn er neben der Begnadigung ſein Vermögen zu-
rück bekam, ſo lebten auch die früheren Schuldklagen wie-
der auf, und zwar unmittelbar, ohne die prätoriſche Re-
ſtitutionsklage (z).
IV. Erbrecht.
Ein Teſtament wird irritum, wenn der Teſtator
entweder eine Arrogation, oder eine maxima oder media
c. d. erleidet (aa). Dagegen wenn ein Sohn in väterli-
cher Gewalt über ſein castrense peculium teſtirt, ſo wird
durch Emancipation das Teſtament nicht ungültig (bb).
Man kann alſo nicht allgemein und unbedingt ſagen, daß
jede capitis deminutio des Teſtators das Teſtament ver-
nichte.
Die Inteſtaterbfolge wird durch die minima c. d.
zerſtört, in ſo fern ſie auf den zwoͤlf Tafeln beruhte, da-
gegen nicht wenn ſie aus neueren Geſetzen abgeleitet
war (cc). Wenn alſo von zwey Agnaten der eine eine
ſolche capitis deminutio erlitt, ſo konnte Keiner den An-
deren beerben; eben ſo hatte der Patron ſein Erbrecht
verloren, wenn entweder er ſelbſt, oder der Freygelaſſene,
(z) L. 2. 3 de sent. passis (48.
23.). L. 4 C. eod. (9. 51.).
(aa) Ulpian. XXIII. § 4. Ga-
jus II. § 145. — § 4 J. quib. mod.
test. (2. 17.). L. 6 § 5—12 de
injusto (28. 3.). — So nach dem
ſtrengen Civilrecht. Der Prätor
erhielt das Teſtament aufrecht,
wenn nur vor dem Tod der frü-
here Zuſtand wieder hergeſtellt
war. Ulpian. XXIII. § 6.
(bb) L. 6 § 13 de injusto (28.
3.). L. 1 § 8 de B. P. sec. tab.
(37. 11.).
(cc) Ulpian. XXVII. § 5. —
L. 1 § 8 ad Sc. Tert. (38. 17.).
L. 11 de suis (38. 16.). L. 1
unde legit. (38. 7.). L. 7 pr. de
cap. min. (4. 5.). § 2 J. de Sc.
Orphit. (3. 4.).
|0103 : 89|
§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)
von einer capitis deminutio betroffen wurde (dd). Dage-
gen hörte die aus den Senatusconſulten herſtammende
wechſelſeitige hereditas zwiſchen der Mutter und ihren
Kindern nicht auf, wenngleich die Mutter oder das Kind
eine minima c. d. erlitten hatte. Noch weit mehr aber
war die prätoriſche Erbfolge davon unabhängig, natürlich
mit Ausnahme der B. P. unde legitimi, ſo weit dieſelbe
auf den zwölf Tafeln beruhte. — Die Aufhebung jenes
älteren Inteſtaterbrechts war die nothwendige Folge der
ſchon oben dargeſtellten Regel, nach welcher die Agnation
ſelbſt, und das Patronat ſelbſt, als die Bedingungen des
Erbrechts aus den zwölf Tafeln, durch jede minima c. d.
zerſtoͤrt wurden.
Faſſen wir dasjenige, was hier über die eigenthümli-
chen Wirkungen der minima c. d. als ſolcher geſagt wor-
den iſt, kurz zuſammen, ſo ergiebt es ſich, daß folgende
als die entſchiedenſten und wichtigſten zu betrachten ſind:
Aufhebung der Agnation, des Patronats, der perſönlichen
Servituten, und der Schulden.
(dd) Speciell von dieſem Fall
reden Ulpian. XXVII. 5. Gajus
III. § 51. — Vgl. auch L. 2 § 2
L. 23 pr. de bon. lib. (38. 2.).
L. 3 § 4, 5 de adsign. lib. (38. 4.).
|0104 : 90|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 71.
Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähigkeit
und capitis deminutio.
Wir finden eine nicht geringe Zahl von Rechten, auf
welche die hier feſtgeſtellten Regeln über Rechtsfähigkeit
und capitis deminutio mehr oder weniger unanwendbar
ſind. Der Grund dieſer Unanwendbarkeit liegt darin, daß
jene Rechte, obgleich ihrer Form nach mit anderen Rech-
ten gleichartig, dennoch mehr den natürlichen, oder den
politiſchen Menſchen, als den juriſtiſchen (den Träger der
Privat-Rechtsverhältniſſe) angehen, ſo daß durch ſie irgend
Etwas bewirkt werden ſoll, das durch die ſo eben darge-
ſtellte Rechtsunfähigkeit nicht berührt wird. Dieſe Ano-
malien kommen am häufigſten und vollſtändigſten vor in-
nerhalb des Vermögensrechts: ferner ſo, daß dadurch ein
Klagerecht moͤglich wird, wo es nach den aufgeſtellten
Regeln nicht erwartet werden möchte: endlich in Bezie-
hung auf den filiusfamilias und die minima capitis demi-
nutio; jedoch ſind ſie auf dieſe Gränzen keinesweges voͤllig
eingeſchränkt. — Dabey muß vor Allem gegen das mögliche
Misverſtändniß gewarnt werden, als ſtänden alle hierher
gehörenden Fälle auf gleicher Linie, etwa ſo, daß nun
in jedem derſelben gar keine Gränze der Rechtsfähigkeit
anzuerkennen wäre. Vielmehr wird hier lediglich eine ge-
meinſchaftliche, leitende Rückſicht angegeben, wodurch bey
|0105 : 91|
§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.
den einzelnen Rechten dieſer Art (je nach ihrem individu-
ellen Bedürfniß) bald mehr, bald weniger Abweichung
von der Regel der Rechtsfähigkeit bewirkt wird. Wir
müſſen uns alſo hüten, hierin zu viel zu generaliſiren,
und wir dürfen als das Gemeinſame der angedeuteten
Inſtitute nur dieſes anerkennen, daß ſie eine weniger
juriſtiſche Natur als die gewöhnlichen Rechtsinſtitute
haben. Dieſe Eigenthümlichkeit wird von einem Römiſchen
Juriſten in einem hierher gehoͤrenden beſonderen Fall ſehr
treffend ſo ausgedrückt: in facto potius quam in jure
consistit (a).
Bey Fällen dieſer Art erſcheinen zugleich noch folgende
Eigenthümlichkeiten, welche an ſich auf die Rechtsfähigkeit
keine unmittelbare Beziehung haben:
1) Bey allen dieſen Fällen (vielleicht mit einer einzi-
gen Ausnahme) findet ſich die Unvererblichkeit. Nur
eigentliche Rechte, und zwar Vermögensrechte, ſind Ge-
genſtand der Vererbung. Stirbt daher der Träger eines
Verhältniſſes von dieſer anomaliſchen Natur, ſo wird das
Verhältniß ſelbſt, welches ſich auf ihn allein (als Indi-
viduum) bezog, untergehen müſſen. — Ganz unrichtig
aber würde es ſeyn, dieſen Satz umzukehren, und in allen
unvererblichen Verhältniſſen die hier zur Sprache gebrachte
nichtjuriſtiſche Natur anzunehmen. Die väterliche Ge-
walt, der Uſusfructus, der juriſtiſche Beſitz, ſind unver-
erblich, aber ſie ſind dennoch wahre, eigentliche Rechts-
(a) L. 10 de cap. min. (4. 5.).
|0106 : 92|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
verhältniſſe, und daher ganz der gewoͤhnlichen Regel der
Rechtsfähigkeit unterworfen.
2) Nicht bey allen, wohl aber bey mehreren und wich-
tigen Fällen dieſer Art findet ſich eine action in bonum et
aequum concepta, umgekehrt aber, wo ſich eine ſolche
findet, da iſt auch ſtets jene Anomalie, und namentlich
die ausgeſchloſſene Einwirkung der capitis deminutio, an-
zunehmen (§ 72 y). Dieſer Punkt bedarf jedoch einer ge-
nauen Erörterung. — Von jeher haben die Meiſten hierin
nichts Anderes geſehen, als eine Klage, die auf den freyen
Regeln der aequitas, alſo auf dem jus gentium beruhe,
nicht auf den ſtrengen Regeln des Römiſchen jus civile.
Auch hat an ſich der Ausdruck bonum et aequum keine
andere Bedeutung, und wenn daher nur von dem Ent-
ſtehungsgrund eines Klagerechts die Rede iſt, ſo darf
in der That an nichts Anderes gedacht werden. So z. B.
wird von den Condictionen geſagt: ex bono et aequo
habet repetitionem, und: ex bono et aequo introducta (b),
und Niemand wird bezweifeln, daß die Condictionen reine
Vermögensrechte ſind, vererblich, allen Beſchränkungen der
Rechtsfähigkeit unterworfen, alſo ohne allen Zuſammen-
hang mit der hier abgehandelten Anomalie. Anders aber
verhält es ſich mit dem Erfolg einer Klage, insbeſondere
wenn von dem mehr oder weniger freyen Ermeſſen des
Richters in Beziehung auf den Gegenſtand und Umfang
(b) L. 65 § 4. L. 66 de cond. indeb. (12. 6.).
|0107 : 93|
§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.
des Urtheils die Rede iſt. Hierin kennt der ältere Roͤ-
miſche Prozeß drey Stufen:
a) Stricti juris judicium, wenn daſſelbe auf certa pe-
cunia gerichtet war. Der Prätor beſtimmte in der For-
mel eine feſte Geldſumme, und der Judex hatte nur die
Wahl, entweder auf dieſe beſtimmte Summe zu verurthei-
len, oder gänzlich loszuſprechen. Mehren oder mindern
durfte er die Summe nicht.
b) Bonae fidei und arbitraria judicia. Hier war die
Summe der Verurtheilung nicht durch die Formel vorge-
ſchrieben, ſondern dem Ermeſſen des Richters überlaſſen,
und dieſe Freyheit wird gleichfalls als ein bonum et ae-
quum bezeichnet (c). Von einer andern Seite aber war
allerdings die Willkühr des Richters gebunden, nämlich
durch die nothwendige Rückſicht auf das Intereſſe des Klä-
gers, deſſen wahrer Betrag ſtets durch die bekannten Ver-
hältniſſe des Verkehrs ermittelt werden kann. Indem alſo
hier das Urtheil zwar nicht durch den Prätor, aber durch
den Gegenſtand beſtimmt war, konnte man wohl anneh-
men, daß bey ſolchen Klagen zwey gleich ſachkundige
Richter ſtets auf dieſelbe Summe ſprechen würden.
c) Ganz anderer Natur ſind die hierher gehörenden
Klagen. Bey ihnen bindet den Richter weder der Prätor,
(c) § 30 J. de act. (4. 6.) „ex
bono et aequo aestimandi.” —
§ 31 eod. „permittitur judici ex
bono et aequo .... aestimare
quemadmodum actori satisfieri
oporteat.” — Daſſelbe gilt (nur
mit etwas weniger freyem Er-
meſſen) bey der stricti juris actio,
wenn dieſe auf ein incertum ge-
richtet war.
|0108 : 94|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
noch der Gegenſtand, ſondern ſein Ermeſſen iſt unver-
meidlich ſo frey, daß es ſelbſt bey zwey gleich redlichen
und einſichtsvollen Richtern für ganz zufällig gehalten
werden muß, wenn ihre Urtheile in der Summe überein-
ſtimmen (d). Dieſe ungewöhnlich ausgedehnte richterliche
Willkühr wird in den am genaueſten redenden Stellen
durch den Ausdruck: actio in bonum et aequum concepta
bezeichnet. Auf den erſten Blick moͤchte man vielleicht Be-
denken tragen, jenem Beywort eine ſolche unterſcheidende
Kraft beyzulegen, es rechtfertigt ſich jedoch dieſe, etwas
ſubtil ſcheinende, Annahme auf folgende Weiſe. Durch
das concepta wird ausgedrückt, daß die Hinweiſung auf
das bonum et aequum wörtlich in der Formel enthalten
war; ſie lag nämlich bei der actio rei uxoriae (wahr-
ſcheinlich dem älteſten Fall dieſer Art) in den der Formel
eingerückten Worten quod aequius melius (e), bey mehre-
ren ſpäterhin in das Edict aufgenommenen Fällen in den
weniger alterthümlichen Ausdrücken: quanti aequum, oder
quanti bonum aequum judici videbitur (f). Dieſer Theil
(d) Am anſchaulichſten iſt die-
ſes bei der Injurienklage (Gajus
III. § 224), worin doch gewiß die
Beſtimmung der Summe lediglich
auf ſubjectivem Gefühl betuht,
alſo mit der Beſtimmung der Ent-
ſchädigungsſumme z. B. aus ei-
nem Kaufcontract gar keine Ähn-
lichkeit hat. Daß aber daſſelbe
Verhältniß, wenngleich weniger
augenſcheinlich, auch in vielen an-
deren Fällen ſtatt findet, wird
unten gezeigt werden.
(e) Cicero top. C. 17, de of-
ficiis III. 15. Wörtliche Anſpie-
lungen auf dieſen im Edict vor-
kommenden Ausdruck der Formel
kommen vor in L. 82 de solut.
(46. 3.), L. 66 § 7 sol. matr.
(24. 3.), — Über die Ähnlichkeit
und Verſchiedenheit dieſer Klage
mit anderen gleichartigen Klagen
vgl. unten § 72 ee.
(f) Dieſer Ausdruck findet ſich
|0109 : 95|
§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.
der Formel war dazu beſtimmt, die ungewöhnliche Frey-
heit des richterlichen Ermeſſens, wodurch ſich ſolche Kla-
gen vor den regelmäßigen bonae fidei actiones auszeich-
neten, auszudrücken (g). Wenn alſo eine Klage im Rö-
miſchen Recht geradezu als in bonum et aequum concepta
bezeichnet wird, ſo iſt es unzweifelhaft, daß ihr die hier
dargeſtellte Anomalie zukommt. Allein nicht immer beob-
achten die alten Juriſten dieſen genauen Sprachgebrauch (h);
nicht ſelten gebrauchen ſie in derſelben Bedeutung auch den
allgemeineren, unbeſtimmteren Ausdruck: ex bono et ae-
quo est oder oritur (i), und da deſſen Zweydeutigkeit ſchon
in folgenden Edictſtellen: L. 1 pr.
de his qui effud. (9. 3.). L. 42
de aed. ed. (21. 1.). L. 3 pr.
de sepulchro viol. (47. 12.).
(g) Es iſt alſo kein Wider-
ſpruch, wenn die actio rei uxo-
riae, die (wegen der Worte ae-
quius melius) in bonum et ae-
quum concepta war, doch auch
unter die b. f. actiones gezählt
wird (§ 29 J. de act. 4. 6). Denn
es ſollte in ihr alles Das gelten,
was für die b. f. actiones über-
haupt Regel war, und nur noch
eine ausgedehntere Freyheit des
richterlichen Ermeſſens daneben.
(h) Die Benennung actio in
bonum et aequum concepta
kommt nur bey zwey Klagen vor:
1) der actio rei uxoriae. L. 8
de cap. min. (4. 5). 2) der a. se-
pulchri violati. L. 10 de sepul-
chro viol. (47. 12.). — Daß nun
jede Klage, welche dieſen Cha-
racter an ſich trug, ſtets zugleich
auch von der Einwirkung der ca-
pitis deminutio frey war, ſagt
ausdrücklich L. 8 de cap. min.
(4. 5.), ſ. u. § 72 Note y.
(i) Dahin gehört: 1) die In-
jurienklage. L. 11 § 1 de injur.
(47. 10.), und bey dieſer iſt es
aus mehreren Anſpielungen un-
zweifelhaft, daß die Worte bonum
aequum in ihrer Formel vorka-
men. L. 18 pr. eod. L. 34 pr.
de O. et A. (44. 7.). — 2) Die
actio de effusis. L. 5 §. 5 de
his qui effud. (9. 3.), und bey
dieſer wiſſen wir unmittelbar aus
der Edictſtelle, daß jene entſchei-
denden Worte in der Formel
ſtanden. L. 1 pr. eod. — Sehr
merkwürdig iſt in dieſer Hinſicht
die funeraria actio. Sie ent-
ſteht nicht nur ex bono et ae-
quo, ſondern der Judex hat in
ihr auch ein überaus freyes Er-
meſſen. (L. 14 § 6 de relig. 11.
7.); dennoch iſt ſie eine gewöhn-
|0110 : 96|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
oben bemerklich gemacht worden iſt, ſo dürfen wir aus
ihm allein niemals die anomaliſche Natur einer Klage
ſchließen, dieſe iſt vielmehr in ſolchen Fällen ſtets erſt aus
anderen Gründen zu erweiſen (k).
Es iſt ſchon oben bemerkt worden, daß die anomali-
ſchen Rechte, von welchen hier die Rede iſt, großentheils
in Klagrechten beſtehen, und zwar beſonders in ſol-
chen, die ausnahmsweiſe von einem filiusfamilias geltend
gemacht werden können. Damit dieſes in den einzelnen
Anwendungen völlig klar werde, ſoll hier noch vorberei-
tungsweiſe die Klagfähigkeit des filiusfamilias genauer
beſtimmt werden, als es oben in der allgemeinen Dar-
ſtellung ſeiner Rechtsfähigkeit überhaupt (§ 67) geſchehen iſt.
Es kann nämlich der filiusfamilias in Betracht kommen:
I. Als Beklagter, und zwar:
A. In eigenem Namen. Hier iſt gar keine Schwie-
liche Vermögensklage, und unſre
Anomalien galten bey ihr gewiß
nicht. Daher war ſie denn auch
nicht in bonum et aequum con-
cepta, das heißt nicht blos, die-
ſer Name wird bey ihr nicht er-
wähnt (welches eben ſo zufällig
ſeyn könnte wie bey der Inju-
rienklage), ſondern wir wiſſen aus
der erhaltenen Stelle des Edicts,
daß jene Worte nicht in ihrer
Formel ſtanden. L. 12 § 2 de re-
lig. (11. 7.).
(k) Cujacius hat die Eigen-
thümlichkeit der actio in bonum
et aequum concepta, verſchieden
von der bloßen b. f. actio, und
zuſammenhängend mit der For-
mel aequius melius, richtig er-
kannt, und eben ſo richtig auf
vier Klagen angewendet: de dote
(rei uxoriae), injuriarum, de
effusis, und sepulchri violati.
Cujacii observ. XXII. 14, und
faſt ganz wörtlich gleichlautend in
dem Comm. zu Paulus ad edic-
tum, in L. 9 de cap. min. (Opp.
T. 5 p. 161). Er hat aber der
Sache nicht die Ausdehnung ge-
geben, die ihr gebührt, und worin
allein ſie in ihrem wahren Lichte
erkannt werden kann.
|0111 : 97|
§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.
rigkeit, da der filiusfamilias, völlig ſo wie ein Unabhängi-
ger, in vollgültigen Schuldverhältniſſen ſtehen, und aus
denſelben verklagt werden kann (§ 67).
B. Im Namen des Vaters. Der Sohn kann, eben
ſo wie jeder Fremde, vom Vater als Procurator beſtellt
werden (l), außerdem aber kann er, gleichfalls wie jeder
Fremde, den verklagten Vater nicht vertreten. Namentlich
würde es ganz unrichtig ſeyn, wenn man annehmen wollte,
der Sohn könne die durch ihn hervorgebrachte actio de
peculio nun auch ohne Auftrag für den Vater übernehmen.
Veranlaßt hat er ſie allerdings, aber ſobald ſie einmal
entſtanden iſt, hat ſie mit ihm keine Verbindung mehr, ſon-
dern nimmt die Natur jeder andern Schuld des Vaters an.
II. Als Kläger:
A. Im Namen des Vaters. Auch hier kann er, ſo
wie jeder Andere, als Procurator vom Vater beſtellt wer-
den (Note l), außerdem iſt er zu dieſer Vertretung in
der Regel nicht berechtigt. Namentlich liegt in dem Pe-
culium, welches der Vater etwa dem Sohn gegeben hat,
durchaus nicht der Auftrag, die darin enthaltenen Rechte
durch Klagen vor Gericht geltend zu machen (m). — Aus-
nahmsweiſe aber kann zuweilen der Sohn mit einer utilis
(l) L. 8 pr. in f., L. 35 pr.
de proc. (3. 3.).
(m) Eine merkwürdige Remi-
niscenz findet ſich in L. 8 pr.
C. de bon. quae lib. (6. 61.).
Bey dem ſogenannten adventi-
tium extraordinarium bedarf der
Sohn, um zu klagen, noch immer
der väterlichen Einwilligung, aber
dieſe kann erzwungen werden, iſt
alſo eine leere Formalität zum
Andenken des älteren Rechts.
„Necessitate per officium ju-
dicis patri imponenda tantum-
II. 7
|0112 : 98|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
actio, als präſumtiver Procurator des Vaters, klagen, wenn
der Vater abweſend iſt, und deswegen die Klage ſonſt
unterbleiben, oder doch lange verſchoben werden müßte.
Dieſes gilt unter andern bey Klagen aus einem Diebſtahl,
koͤrperlicher Beſchädigung, Darlehen, Depoſitum, Mandat,
beſonders wenn dieſe Verletzungen oder Rechtsgeſchäfte in
Beziehung auf die Perſon des Sohnes ſtattgefunden ha-
ben, ſo daß vielleicht er ſelbſt dieſe Klagerechte dem Va-
ter erworben hat. In einigen dieſer Fälle wird noch der
unterſtützende Grund hinzugefügt, daß ſonſt der Sohn
ſelbſt in Noth kommen könne, wenn er z. B. ſein Reiſe-
geld ausgeliehen oder durch Diebſtahl verloren hat; dieſes
iſt jedoch keinesweges als allgemeiner Grund oder als Be-
dingung der Regel anzuſehen (n). In dieſen Fällen nun
iſt es ganz gleichgültig, ob der Erwerb dieſer Klagen mit
einem Peculium zuſammenhieng oder nicht. Eine ſcharfe
Gränze für die ſo zuläſſigen Klagen zu ziehen war nicht
nöthig, da die Zulaſſung des Sohnes in dieſen Fällen
ſtets auf dem freyen Ermeſſen der Obrigkeit beruhte. Es
verſteht ſich von ſelbſt, daß der Ertrag dieſer Klagen
immer wieder dem Vater erworben werden muß.
modo filio consentire, vel agen-
ti, vel fugienti, ne judicium
sine patris voluntate videatur
consistere.” Die Worte vel fu-
gienti (als Beklagter) ſcheinen
aus Verſehen herein gekommen
zu ſeyn, veranlaßt durch einen
falſchen Schein conſequenter Voll-
ſtändigkeit; denn verklagt werden
konnte der Sohn ſchon nach altem
Recht für ſich allein, ohne des
Vaters Wiſſen, ja wider deſſen
Willen. L. 3 § 4 de minor. (4. 4.).
(n) L. 18 § 1 de judic. (5. 1.).
L. 17 de reb. cred. (12. 1.).
|0113 : 99|
§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.
B. In eigenem Namen. Dieſer Fall gehört allein
hierher zu unſren anomaliſchen Rechten, und um ſeinet-
willen ſind bis jetzt auch die verwandten Fälle feſtgeſtellt
worden, weil er nur in dieſer Umgebung nach ſeiner Ei-
genthümlichkeit richtig aufgefaßt werden kann. — In der
Regel nun kann der Sohn in eigenem Namen deswegen
nicht klagen, weil er keine eigenen Rechte haben kann,
die durch Klage zu verfolgen wären (o): er kann nicht
vindiciren weil er kein Eigenthum hat, keine Schuldklage
anſtellen weil er nicht Gläubiger ſeyn kann. Der Grund
dieſer Unfähigkeit iſt alſo materieller Art, und liegt nicht
etwa in einer beſondern Ausſchließung des Sohnes von
gerichtlichen Geſchäften: daher kann derſelbe aus ſolchen
Thatſachen, die während der väterlichen Gewalt vorfallen,
in der Regel auch nach deren Aufloͤſung nicht klagen (p).
— Allein es giebt wichtige ausgenommene Fälle, in wel-
chen der filiusfamilias in eigenem Namen klagen kann,
(o) L. 13 § 2 quod vi (43. 24.).
„Idem ait, adversus filiumfa-
milias in re peculiari neminem
clam videri fecisse: namque
si scit eum filiumfamilias esse,
non videtur ejus celandi gratia
fecisse, quem certum est nul-
lam secum actionem habere.”
(p) So z. B. wenn dem Sohn
eine Sache aus dem Peculium
geſtohlen wird, ſo erwirbt die
furti actio der Vater, nicht der
Sohn, weil der Diebſtahl nur dem
Vater ein Recht verletzt hat; auch
die Emancipation kann hieran
Nichts ändern. Geſetzt aber, der
Sohn hatte ein Pferd gemiethet,
und dieſes ſtehlen laſſen, ſo iſt
weder dem Vater noch dem Sohn
ein Recht verletzt; allein der Sohn
iſt dem Vermiether zur Entſchä-
digung verpflichtet, und deswegen
wird auf ihn, eben ſo wie auf
einen Miether der sui juris iſt,
die furti actio übertragen (L. 14
§ 16 de furtis 47. 2.), und dieſe
kann er nach aufgelöſter väterli-
cher Gewalt ſelbſtändig anſtellen,
weil ſeine Schuld gegen den Ver-
miether ſtets fortdauert. (Wäh-
7*
|0114 : 100|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
und dieſes ſind eben unſre anomaliſchen Rechte, die ſo-
gleich einzeln dargeſtellt werden ſollen, und um derenwil-
len dieſe ganze Betrachtung vorausgeſchickt worden iſt (q).
Beſonders wichtig iſt es, dieſe ausgenommenen Fälle von
den oben erwähnten genau zu unterſcheiden, worin der
Sohn nicht in eigenem Namen, ſondern als präſumtiver
Procurator klagt; unſre Schriftſteller haben beide Fälle
vielfach mit einander verwechſelt. — Ein Hauptunter-
ſchied liegt darin, daß in dieſen Fällen, worin der Sohn
in eigenem Namen auftritt, das Ermeſſen der Obrigkeit,
rend der väterlichen Gewalt ruht
die Klage, weil der Vater kein
Intereſſe hat. L. 14 § 10 de fur-
tis 47. 2.). So iſt zu erklären
L. 58 de furtis (47. 2.): „Si
filiofamilias furtum factum es-
set, recte is paterfamilias factus
eo nomine aget. Sed et si res
ei locata subrepta fuit, pater-
familias factus ibidem agere
poterit.” Der erſte Fall der
Stelle kann nur von einem ca-
strense peculium verſtanden wer-
den, weil man zu Julians Zeit
nur in dieſem Fall ſagen konnte,
es ſey gegen den Sohn ein
Diebſtahl begangen worden; viel-
leicht hatte das Julian ausge-
drückt, und die Compilatoren ha-
ben es weggelaſſen, weil ſie daran
dachten, daß zu ihrer Zeit der
Sohn auch außerdem eigenes Ver-
mögen haben könne. Vgl. über
dieſe Stelle Cujacius obs. XXVI.
5, und, faſt wörtlich gleichlau-
tend, Recitat. in Julianum, Opp.
VI. 500.
(q) Auf das Daſeyn ſolcher Aus-
nahmen überhaupt deutet L. 8
pr. de proc. (3. 3.) „si quae
sit actio qua ipse experiri po-
test.” Weit beſtimmter aber
ſpricht L. 9 de O et A. (44. 7.).
„Filiusfamilias suo nomine nul-
lam actionem habet, nisi inju-
riarum, et quod vi aut clam,
et depositi, et commodati, ut
Julianus putat.” Das suo no-
mine bezeichnet den ſcharfen Ge-
genſatz gegen die Fälle des prä-
ſumtiven Mandats in L. 18 § 1
de judic. (5. 1.). Da es jedoch,
wie ſich ſogleich zeigen wird, au-
ßer dieſen vier Klagen noch meh-
rere andere giebt, die der Sohn
suo nomine anſtellen kann, ſo
fragt es ſich, wie dieſer Wider-
ſpruch aufzulöſen iſt. Wahrſchein-
lich ſind dieſe vier Fälle früher
als andere bemerkt und allgemein
anerkannt worden.
|0115 : 101|
§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.
beſonders aber der Widerſpruch des Vaters, ohne Einfluß
iſt, welcher Widerſpruch in den oben erwähnten allgemei-
neren Fällen die Klage des Sohnes gewiß hindert (q¹).
Wenn nun durch ſolche Klagen der Erwerb eines Ver-
mögensrechts, z. B. durch eine Geldzahlung, bewirkt wird,
ſo gehört dieſer Ertrag doch immer wieder dem Vater,
obgleich der Sohn in eigenem Namen klagen konnte und
wirklich geklagt hat.
Dabey muß jedoch noch eine im alten Prozeß liegende
Schwierigkeit erwähnt werden. In den meiſten Klagfor-
meln wurde der Kläger als Inhaber eines Rechts be-
zeichnet, z. B. si paret hominem ex jure quiritium Auli
Agerii esse, oder: si paret N. Negidium A. Agerio SS.
X. Milia dare oportere. Im erſten Fall war der Kläger
als Eigenthümer angegeben, im zweyten als Ereditor,
beides aber konnte ein filiusfamilias überhaupt nicht ſeyn.
(q¹) Allerdings wird in L. 18
§ 1 de jud. (Note n) nicht aus-
drücklich geſagt, daß der Sohn
als Procurator des Vaters klage,
dennoch muß es aus folgenden
Gründen angenommen werden.
Erſtlich wegen des Gegenſatzes
des suo nomine in L. 9 de O.
et A., welches auf beſtimmte ein-
zelne Fälle beſchränkt iſt, anſtatt
daß das in L. 18 cit. erwähnte
Recht des Sohnes eine ſo all-
gemeine Natur hat, daß dafür
nur einzelne Beyſpiele angegeben
werden. Zweytens ſoll das Recht
des Sohnes nach L. 18 cit. nur
gelten „si non sit qui patris
nomine agat;” durch jeden wah-
ren Procurator, und noch mehr
durch des Vaters Widerſpruch,
iſt alſo der Sohn ausgeſchloſſen.
Drittens iſt dieſes präſumtive
Mandat nur eine einzelne An-
wendung eines gleichen Mandats
vieler Cognaten und Affinen (L. 35
pr. de proc.). Daß daſſelbe hier
bey dem Sohn beſonders hervor-
gehoben und ausführlich gerecht-
fertigt wird, kommt daher, daß
in der Regel der filiusfamilias
gar nicht als Kläger ſoll auftre-
ten können (Note o).
|0116 : 102|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Dieſe Schwierigkeit war ſo bedeutend, daß deshalb ein
Sohn dem Vater zwar durch Mancipation erwerben
konnte, aber nicht durch in jure cessio, weil dieſer eine
(wenngleich nur ſymboliſche) Vindication zum Grunde
lag (r). Wie war hier in unſren anomaliſchen Fällen zu
helfen? Auf zweyerley Weiſe. Erſtlich durch eine for-
mula in factum concepta, worin als Bedingung der Ver-
urtheilung nicht, wie in den oben angeführten Formeln,
ein Recht des Klägers, ſondern eine bloße Thatſache aus-
gedrückt wurde. Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß dieſe
Art der Formeln vorzugsweiſe um unſrer anomaliſchen
Fälle willen eingeführt wurden, wenigſtens iſt es merk-
würdig, daß mehrere von Gajus angegebene Beyſpiele
der formula in factum concepta zugleich auch unter die
anomaliſchen Fälle gehören, worin ein Sohn suo nomine
klagen kann (s). Zweytens auf viel durchgreifendere
Weiſe, wenn der Rechtsſtreit überhaupt nicht durch einen
judex und durch formula, ſondern durch die extraordina-
(r) Gajus II. § 96.
(s) Gajus II. § 46. 47. — Hier-
aus iſt zu erklären L. 13 de O.
et A. (44. 7.). „In factum ac-
tiones etiam filiifamiliarum pos-
sunt exercere.” Dieſe Stelle iſt
nicht ſelten ſo misverſtanden wor-
den, als ob ein Sohn alle ac-
tiones in factum anſtellen könn-
te, was ſchon mit L. 9 eod. (ſ. o.
Note q) im ſchneidenden Wider-
ſpruch ſtehen würde, nach wel-
cher doch auf jeden Fall nur ein-
zelne Klagen zugelaſſen werden
können, mag auch deren Aufzäh-
lung in L. 9 cit. nicht vollſtändig
genug ſeyn. Der wahre Sinn
der L. 13 cit. iſt aber dieſer:
Bey der formula in factum con-
cepta ſind filiifamilias durch
die Prozeßform nicht verhin-
dert, die Klage anzuſtellen; ſie
können alſo überhaupt dieſe Kla-
gen gebrauchen, vorausgeſetzt, daß
ſie auch eine materielle Berechti-
gung dazu haben. — Übrigens iſt
auch auf dieſen Unterſchied zu
beziehen der Gegenſatz des: in
|0117 : 103|
§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.
ria cognitio eines Magiſtratus entſchieden wurde (t). Die
erſte Auskunft war nur anwendbar auf die anomaliſchen
Klagrechte eines filiusfamilias, die zweyte war der aus-
gedehnteſten Anwendung fähig, ſie diente daher namentlich
auch als Prozeßform für die anomaliſchen Anſprüche der
Sklaven, von welchen ſogleich die Rede ſeyn wird.
Alles, was hier über die Klagfähigkeit des filiusfamilias
geſagt worden iſt, gilt ohne Unterſchied des Geſchlechts,
alſo für Söhne und Töchter auf gleiche Weiſe (u).
Es iſt aber dieſes Alles bisher von dem Standpunkte
des älteren Rechts aus betrachtet worden; die Modifica-
tionen, welche ſpäterhin für die Einwirkung der väterli-
chen Gewalt eingetreten ſind, haben auch darin die größ-
ten Veränderungen hervorgebracht, und es wird davon
noch weiter unten die Rede ſeyn.
facto potius quam in jure con-
sistit (Note a), nur nicht auf
dieſen allein.
(t) L. 17 de reb. cred. (12.
1.) „extraordinario judicio”
(Note n).
(u) Über die gleiche Schulden-
fähigkeit bey Söhnen und Töch-
tern vgl. Beylage V. — Was die
beſondere Anwendung auf die
Klagfähigkeit betrifft, ſo erwähnt
L. 8 pr. de proc. (3. 3.) beide
auf ganz gleiche Weiſe. Eben ſo
auch, bey genauerer Betrachtung,
L. 3 § 4 commod. (13. 6.), worin
ganz zufällig der zweyte Satz:
cum filio autem familias etc.
bey der Tochter nicht wiederholt
iſt, ohne Zweifel weil der Juriſt
annahm, dieſe Wiederholung wer-
de jeder Leſer von ſelbſt hinzu
denken. Hätte der Juriſt einen
Unterſchied unter beiden Geſchlech-
tern im Sinn gehabt, ſo würde
er ſich gewiß anderer Ausdrücke
bedient haben. — Eine Procura-
tur freylich durften Frauen über-
haupt nicht übernehmen (L. 1 § 5
de postul. 3. 1.), und ſelbſt für
den Vater nur ausnahmsweiſe,
causa cognita, wenn er keinen
andern Procurator finden konnte.
L. 41 de proc. (3. 3.).
|0118 : 104|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 72.
Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähigkeit
und capitis deminutio. (Fortſetzung.)
Nachdem die Natur dieſer Anomalie im § 71 feſtge-
ſtellt worden iſt, gehe ich jetzt zur Angabe der einzelnen
dahin gehörenden Fälle über. Dieſelben laſſen ſich auf
Vier Klaſſen zurückführen.
I. Rechte auf unmittelbare Lebensverſor-
gung.
Durch das Eigenthum, wie durch die Obligationen
die zum Eigenthum führen, werden uns die Mittel dar-
geboten zur Erreichung unſrer Zwecke, jedoch ſo, daß in
der Wahl und Ausbildung der Zwecke, ſo wie in der
Verwendung der Mittel, unſre Freyheit unbedingt herr-
ſchen ſoll. Wenn daher oben das Vermögen für eine er-
weiterte Macht der Perſon erklärt wurde (§ 53), ſo war
damit eben dieſe Herrſchaft unſres Willens über äußere
Mittel zu unbeſtimmten Zwecken gemeynt. Dieſes Ver-
hältniß wird am anſchaulichſten dargeſtellt durch den Gel-
deswerth, in welchen ſich jedes Vermögensrecht auflöſen
läßt. Denn das Geld, an ſich ſelbſt ohne Brauchbarkeit,
hat nur die Bedeutung eines Mittels zu unbeſtimmten
Zwecken, alſo einer unbedingt erweiterten Freyheit. Nun
giebt es aber Rechte, wodurch zwar auch für unſre Zwecke
und Bedürfniſſe geſorgt wird, jedoch ſo, daß die vermitt-
|0119 : 105|
§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.
lende Freyheit entweder ganz verſchwindet, oder doch zu-
rücktritt, ſo daß wir ſelbſt dabey unter eine Art von Vor-
mundſchaft treten. Dieſe Rechte ſind es, bey welchen die
regelmäßigen Einſchränkungen der Rechtsfähigkeit zuwei-
len ganz verſchwinden, zuweilen modificirt erſcheinen. Ein
Beyſpiel wird dieſen Gegenſatz anſchaulich machen. Wenn
einem Unbemittelten freye Koſt verſchafft werden ſoll, ſo
kann dieſes dadurch geſchehen, daß für ihn in einem Gaſt-
haus monatlich eine beſtimmte Summe bezahlt wird, wo-
durch er das Recht erhält, täglich daſelbſt zu eſſen. Die-
ſes wäre ein ſolches anomaliſches Recht, die Wohlthat
wäre mit einer vormundſchaftlichen Beſchränkung verbun-
den. Zu demſelben Zweck aber könnten Jenem am An-
fang des Monats dieſelbe Summe baar gezahlt werden,
wodurch er denſelben Vortheil wie im erſten Fall erlan-
gen könnte. Allein hier wäre ſeiner Freyheit keine Schranke
geſetzt, er koͤnnte das Geld auch anders verwenden, gut
oder ſchlecht, indem er ſich etwa mit ärmlicher Koſt be-
gnügte, und den größten Theil des Geldes den Armen
gaͤbe, oder aber im Spiel verſchwendete. — In einer
Stelle des Römiſchen Rechts wird von denjenigen Obli-
gationen, die jenen anomaliſchen Character an ſich tra-
gen, mit treffendem Ausdruck geſagt: naturalem praesta-
tionem habere intelliguntur (a), das heißt ſie zwecken ab
auf Naturalverpflegung, auf eine unmittelbare Darrei-
chung der Lebensbedürfniſſe, unvermittelt durch unſre Frey-
(a) L. 8 de cap. min. (4. 5.).
|0120 : 106|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
heit, wie ſie ſich in der Verfügung über Geldſummen äu-
ßert. Es iſt alſo ganz unrichtig, wenn unſre Juriſten
jenem Ausdruck entweder die allgemeine Beziehung auf das
jus gentium, auf bona fides, oder gar auf eine naturalis
obligatio beylegen wollten; beſonders die letzte Deutung
widerlegt ſich unmittelbar dadurch, daß die angeführte
Stelle von einer klagbaren Obligation (civilis obliga-
tio) ſpricht.
Die einzelnen zu dieſer Klaſſe gehörenden Rechtsinſti-
tute ſind folgende:
A. Legat von Alimenten.
Alimente werden hier im ſtrengen Sinn genommen, als
Mittel zur Erhaltung des leiblichen Daſeyns. Dahin ge-
hört der Schutz gegen Hunger und Kälte, alſo Nahrung,
Kleidung, Wohnung: alles Andere liegt hier außer die-
ſem Begriff, namentlich die Mittel zu geiſtigen Genüſſen
und geiſtiger Ausbildung (b). Auch findet ſich nur in je-
nen Stücken etwas Gleichförmiges, Allgemeingültiges, denn
die Bedürfniſſe wofür dort Befriedigung verſchafft werden
ſoll, ſind für alle Menſchen dieſelben, wie verſchieden auch
die Art und der Umfang der Befriedigung ſeyn mögen.
Deshalb haben hierin die Roͤmer die größte Abweichung
von der Regel der Rechtsfähigkeit eintreten laſſen, indem
dieſe Rechte auch den Sklaven zuſtehen koͤnnen, und auch
(b) L. 6 de alim. leg. (34. 1.).
„Legatis alimentis cibaria, et
vestitus, et habitatio debebitur,
quia sine his ali corpus non po-
test: cetera, quae ad discipli-
nam pertinent, legato non con-
tinentur.”
|0121 : 107|
§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.
durch maxima capitis deminutio nicht verloren gehen.
Dieſes muß jedoch ſo verſtanden werden. Wenn einem
gewoͤhnlichen Sklaven Alimente legirt werden, ſo iſt von
jener Ausnahme nicht die Rede; es wird dadurch dem
Herrn der Vortheil verſchafft, daß er die Nahrungskoſten
des Sklaven erſpart, und er erwirbt dieſes Recht durch
den Sklaven eben ſo, wie er jedes dem Sklaven legirte
Eigenthum durch dieſen erwirbt, welches auch keine Aus-
nahme von der Regel der Rechtsfähigkeit bildet (c). Da-
gegen kommt jene Anomalie in folgenden Fällen zur An-
wendung. Zuerſt bey einem herrenloſen Sklaven. Der
servus poenae kann dieſes Legat erwerben, und der Freye
der es erworben hat, verliert es durch die maxima capi-
tis deminutio nicht; jedes andere Legat, das einem servus
poenae gegeben wäre, würde nichtig ſeyn, weil er ſelbſt
perſoͤnlich unfähig iſt, und doch auch keinen Herrn hat,
dem es durch ihn erworben werden koͤnnte (d). — Ferner
wird jene Anomalie ſichtbar in manchen Fällen, in welchen
(c) L. 42 de condit. (35. 1.).
„.. si cibaria servis Titii le-
gentur, procul dubio domini
est, non servorum legatum.”
L. 15 § 1 de alim. leg. (34. 1.).
(d) L. 3 pr. § 1 de his quae
pro non scr. (34. 8.). „Si in
metallum damnato quid extra
causam alimentorum relictum
fuerit, pro non scripto est (die
Alimente alſo ſind gültig), nec
ad fiscum pertinet: nam poenae
servus est non Caesaris et ita
D. Pius rescripsit” etc. L. 11
de alim. leg. (34. 1). „Is cui
annua alimenta relicta fuerant,
in metallum damnatus, indul-
gentia Principis restitutus est.
Respondi, eum et praeceden-
tium annorum recte cepisse ali-
menta, et sequentium deberi
ei.” Die praecedentes anni ſind
die vor der Reſtitution, alſo wäh-
rend des Sklavenſtandes, nicht
die vor der Verurtheilung, bey
welcher ja ohnehin kein Zweifel
denkbar war.
|0122 : 108|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
der eigene Herr gezwungen wird ſeinem Sklaven Alimente
zu geben, anſtatt daß er ihn ſonſt hungern laſſen könnte;
dieſes kommt vor, da wo ohnehin ſchon für die Zukunft
die Freyheit des Sklaven, oder deſſen Übergang an einen
andern Herrn rechtlich geſichert iſt (e). — In welcher
Form dieſe Sätze durchgeführt wurden, iſt nicht ganz klar;
ohne Zweifel geſchah es extra ordinem, durch die Obrig-
keit, nach der Form der Fideicommiſſe, und alſo auch
wahrſcheinlich erſt ſeit der Zeit, in welcher die Fideicom-
miſſe Rechtsgültigkeit erlangten (f).
Mit dieſem Fall darf nicht verwechſelt werden ein an-
derer, der nur eine äußere und ſcheinbare Ähnlichkeit mit
demſelben hat. Das Legat einer periodiſchen Geldrente
(e) L. 17 de alim. leg. (34.
1.). L. 16 de annuis leg. (33. 1.).
„Servus post decem annos li-
ber esse jussus est, legatumque
ei ex die mortis domini in an-
nos singulos relictum est: eo-
rum quidem annorum, quibus
jam liber erit, legatum debe-
bitur: interim autem heres ei
alimenta praestare compelli-
tur.” Dieſer letzte Fall iſt be-
ſonders merkwürdig und erläu-
ternd. Das Legat einer jährlichen
Geldrente iſt ein gewöhnliches,
deſſen der Sklave nicht fähig iſt;
daher wird es für die beſchränkte
Zeit, worin der Legatar noch
Sklave iſt, ganz nach dem un-
zweifelhaften Sinn des Teſtators,
in ein Alimentenlegat umgewan-
delt, deſſen iſt der Sklave fähig,
und der eigene Herr wird zur
Entrichtung gezwungen.
(f) Daß es in L. 17 de alim.
leg. (34. 1.) heißt officio judicis,
kann nicht als Einwurf gelten,
denn auch in L. 3 eod. heißt es:
Solent judices ex causa alimen-
torum libertos dividere, und
doch iſt ſowohl aus dem Fortgang
der Stelle, als aus der Inſcrip-
tion klar, daß die Conſuln ge-
meynt ſind. (Vgl. § 1 J. de fid.
her. 2. 23.). Der allgemeinere
Name judex wurde vielleicht hier
gebraucht, um die Conſuln und
den Fideicommiſſarprätor zugleich
zu umfaſſen. Gewiß iſt es we-
nigſtens, daß nicht der Sklave
im ordentlichen Prozeß vor dem
praetor urbanus auftreten konnte.
|0123 : 109|
§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.
(annuum, menstruum legatum) hat die Natur jedes ande-
ren Geldlegats, da es dem Legatar, ganz verſchieden von
den Alimenten, die freyeſte Verfügung über die jedesmalige
Geldſumme giebt. Daher gehört es nicht zu unſren anoma-
liſchen Rechten, und ein Sklave war dazu nicht fähig (g).
Dennoch wird auch von einem ſolchen Legat geſagt, daß
es durch capitis deminutio nicht untergehe (h). Dieſes aber
hat einen ganz andren Grund, als bey den Alimenten.
Eine ſolche Jahresrente nämlich wurde betrachtet als ob
es verſchiedene, von einander unabhängige Legate wären,
und deswegen ſollte z. B. die Emancipation des Legatars
demſelben nicht den Anſpruch auf das künftige, noch gar
nicht deferirte Legat entziehen (i). Der Fall wurde als
ganz gleichartig behandelt mit dem eines Uſusfructus, wel-
(g) Nach L. 3 de his quae
pro non scr. (Note d) iſt Alles
ungültig, was dem servus poenae
außer den Alimenten legirt
wird; alſo auch das annuum le-
gatum. — Eben ſo muß in dem
Fall der L. 16 de ann. leg.
(Note e) das annuum legatum
erſt in ein Alimentenlegat ver-
wandelt werden, um auf den
Sklaven anwendbar zu ſeyn.
(h) L. 10 de cap. min. (4. 5.).
L. 8 L. 4 de ann. leg. (33.1.)
(i) Ob nicht zuweilen ſelbſt von
den Römiſchen Juriſten dieſer Un-
terſchied überſehen worden iſt, mag
dahin geſtellt bleiben. Man könnte
es glauben nach L. 10 de cap.
min. (4. 5.) „Legatum in annos
singulos, vel menses singulos
relictum, vel si habitatio lege-
tur, … capitis deminutione …
interveniente perseverat, quia
tale legatum in facto potius
quam in jure consistit.” Dieſer
Grund bezeichnet recht eigentlich
unſre anomaliſchen Rechte (§ 71).
Er paßt auch in der That, wie
ſich ſogleich zeigen wird, auf die
habitatio, und würde eben ſo
auf ein Alimentenlegat gepaßt ha-
ben, auf das annuum legatum
paßt er nicht. Ob aber wirklich
den alten Juriſten deshalb ein
Vorwurf trifft, läßt ſich nicht be-
ſtimmt behaupten, da dieſer Schein
vielleicht nur aus der Art entſtan-
den iſt, wie das Excerpt aus ſei-
nem Zuſammenhang abgetrennt
wurde.
|0124 : 110|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
cher auch ausnahmsweiſe durch capitis deminutio nicht
untergehen ſollte, wenn er wiederholt auf einzelne Jahre,
oder wiederholt auf den Fall des Untergangs durch capitis
deminutio, oder mit ausdrücklicher Angabe eines Zeitraums
(Lebenszeit, oder zehen Jahre) legirt wurde (k); ein ſolcher
Uſusfructus war gewiß kein anomaliſches Recht, ſondern
durch die allgemeine Regel der Rechtsfähigkeit bedingt,
und die capitis deminutio ſollte nur nicht die darin enthal-
tenen künftigen (noch gar nicht deferirten) Legate zerſtören.
B. Legat der habitatio und der operae.
Habitatio iſt dem Wort nach das Recht in einem be-
ſtimmten Gebäude Obdach zu finden, alſo eines der Stücke,
woraus der vollſtändige Begriff der Alimente beſteht (Note b).
Es war alſo natürlich, daß dabey dieſelbe mehr factiſche
als juriſtiſche Natur, wie bey den vollſtändigen Alimenten,
angenommen wurde, alſo auch eine ähnliche Unabhängigkeit
von Rechtsfähigkeit und capitis deminutio. Nur dieſer
letzte Punkt wird ausdrücklich bezeugt, und zwar geradezu
mit Zurückführung auf den Grund der factiſchen Natur
dieſes Juſtituts (l). Es liegt alſo dabey folgende Betrach-
tung zum Grunde. Wer einem Andern den Vortheil der
Wohnung verſchaffen will, kann dazu verſchiedene Mittel
anwenden. Er kann ihm Geld geben, um ein Haus zu
kaufen oder zu miethen: er kann ihm das Eigenthum oder
(k) L. 1 § 3 L. 2 § 1 L. 3 pr.
§ 1 quib. mod. ususfr. (7. 4.).
L. 8 de ann.leg.(33.1.). Fragm.
Vat. §. 63. 64.
(l) L. 10 de cap. min. (ſ. o.
Note i). L. 10 pr. de usu (7.8.).
|0125 : 111|
§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.
den Uſusfructus eines Hauſes geben. In allen dieſen Fäl-
len behält die Freyheit des Andern einen weiten Spielraum,
denn ſelbſt im Fall des Uſusfructus kann er das Haus
vermiethen und das Miethgeld verſchwenden. Selbſt der
Uſus umfaßt doch das ganze Haus, ſo daß der Uſuar
den leerſtehenden Theil des Hauſes vermiethen kann.
Beſchränkt man aber das Recht ſtreng auf den Vortheil
des Obdachs, das der Andere in dem Hauſe finden ſoll,
ſo hat es die größte Ähnlichkeit mit der oben erwähnten
Anweiſung auf einen Freytiſch, es iſt dann partielle Ver-
ſorgung mit ſtrenger Vormundſchaft, das heißt ohne allen
Spielraum der Freyheit des Berechtigten, oder mit ande-
ren Worten eine naturalis praestatio, wobey natürlich die
capitis deminutio außer Anwendung bleiben konnte (m).
Es ſteht nicht im Widerſpruch mit dieſer Erklärung, daß
ein ſolches Legat ſpäterhin durch wohlwollende Interpre-
tation erweitert wurde, zuerſt durch die Juriſten auf den
Umfang des Uſus, dann durch Juſtinian auf den des Uſus-
fructus (n); dieſe Erweiterung gehört zu der ſpäteren Um-
bildung des Inſtituts, neben welcher die aus der in alter
Zeit beſchränkteren Natur hervorgegangene Ausſchließung
(m) Thibaut Abhandlungen
N. 2 nimmt an, nach dem Sprach-
gebrauch habe habitatio ein Quar-
tier als Almoſen für Arme bedeu-
tet, deswegen habe man ſie mit
den Alimenten gleich geſtellt, und
aus bloßer Milde die capitis de-
minutio ausgeſchloſſen. In den
meiſten Fällen mag wohl die ha-
bitatio in dieſem Sinn gegeben
worden ſeyn, aber dieſes Zuſam-
mentreffen war doch blos zufällig,
und der wahre Grund der juriſti-
ſchen Eigenthümlichkeit lag hierin
nicht.
(n) L. 10 pr. de usu (7. 8.).
L. 13 C. de usufructu (3. 33.).
§ 5 J. de usu (2. 5.).
|0126 : 112|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
der capitis deminutio inconſequenterweiſe beybehalten wurde.
Hätte man von jeher die habitatio als usus oder usus-
fructus aedium angeſehen, ſo wäre ja durchaus kein Grund
denkbar geweſen, weswegen ſie weniger juriſtiſch als jeder
andere Uſus oder Uſusfructus hätte ſeyn ſollen.
Eine ähnliche Bewandniß hatte es mit den operae,
das heißt dem Recht durch einen beſtimmten Sklaven
Dienſte zu erhalten. Auch dieſer Vortheil konnte verſchafft
werden durch Eigenthum oder Uſusfructus an dem Skla-
ven, welches ſtreng juriſtiſche Verhältniſſe waren: es konnte
aber auch geſchehen als naturalis praestatio, ähnlich der
habitatio. Freylich iſt es hier weniger möglich einen Un-
terſchied vom Uſus an einem Sklaven aufzufinden; auch
gehört die Bedienung nicht ſo wie die Wohnung zu den
ſtrengen Lebensbedürfniſſen, alſo den Alimenten. Dennoch
war bey den Römern irgend eine Sklavenbedienung für
jeden Freyen ſo ſehr zum hergebrachten Bedürfniß gewor-
den, daß man ohne Zweifel aus denſelben Gründen, wie
bey der habitatio, auch bey den operae den Untergang
durch capitis deminutio ausſchloß (o). Daß man auch
hier ſpäterhin das Recht ſo weit ausdehnte wie den Uſus-
fructus, ja daß man es endlich auf den Erben übergehen
ließ, gehoͤrt zu den Umbildungen, deren Gründe wir nicht
kennen (p). — Beide Rechte, worauf ſich dieſe Eigen-
(o) L. 2 de op. serv. (7. 7.).
(p) L. 2 de usu leg. (33. 2.).
Es ſcheint übrigens dieſes das
einzige unter den hier zuſammen-
geſtellten Rechten zu ſeyn, welches
auf die Erben übergeht: aber
freylich auch nur nach ſeiner neu-
eren Umbildung, nicht nach dem
|0127 : 113|
§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.
thümlichkeit bezieht, werden übrigens blos als Gegenſtände
von Legaten erwähnt, ſo daß wir eine Entſtehung derſelben
auf anderen Wegen anzunehmen keinen Grund haben (q).
C. Das Dotalrecht der Ehefrau.
Die Eigenthümlichkeiten dieſes wichtigen Rechtsinſtituts
erklären ſich großentheils aus der hier dargeſtellten ano-
maliſchen Natur, die auch ihm zukommt, und die Irrthü-
mer neuerer Juriſten ſind vorzüglich dadurch erzeugt oder
befeſtigt worden, daß ſie verſäumt haben, das Inſtitut
unter dieſen Geſichtspunkt zu bringen. Es zeigt ſich aber
dieſe beſondere Beſchaffenheit deſſelben ſowohl während der
Ehe, als auch nach deren Auflöſung.
Während der Ehe iſt die Dos ganz und gar im
Vermögen des Mannes, und gar nicht in dem der Frau.
Der Mann hat die Dotalſachen im wahren Eigenthum,
ex jure quiritium und in bonis (r); er kann dieſelben,
Begriff, durch welchen allein es
in die Reihe unſrer anomaliſchen
Rechte kam. — Andere nahmen
darin blos die Befugniſſe des Uſus
an. L. 5 de op. serv. (7. 7.). —
Als praktiſche Veranlaſſung könnte
man ſich etwa die Rückſicht auf
einen Deportirten denken, dem
in dieſer Form die Bedienung
eines Sklaven zugewendet oder
erhalten werden konnte, während
er weder Eigenthum, noch Uſus-
fructus oder Uſus, zu erwerben
oder zu behalten fähig war.
(q) Eine Entſtehung durch in
jure cessio würde zu der nicht
ſtreng juriſtiſchen Natur dieſer In-
ſt tute nicht gepaßt haben. Wenn
der Eigenthümer bey der Veräu-
ßerung eines Hauſes die habitatio
ſich vorbehielt, ſo war das was
ihm blieb der gewöhnliche Uſus,
nicht das beſondere Recht der ha-
bitatio. L. 32 de usufr. (7. 1.).
— Ob jene Rechte eine Klage er-
zeugten, wird nicht geſagt, es
könnte aber höchſtens eine actio
in factum concepta geweſen
ſeyn, z. B. si paret habitatio-
nem legatam Gajo esse etc.
(r) L. 75 de j. dot. (23. 3.)
„Quamvis in bonis mariti dos
II. 8
|0128 : 114|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
wenn der Geber nicht Eigenthümer war, pro dote uſu-
capiren; er vindicirt ſie, und zwar ſogar gegen die Frau
ſelbſt, wenn dieſe den Beſitz der Sachen hat (s); er kann
ſie veräußern, ſogar an die Frau ſelbſt (t), und wenn
ihm durch poſitives Geſetz (die Lex Julia) die Veräuße-
rung der unbeweglichen Dotalſachen beſonders unterſagt
wurde, ſo iſt gerade die Möglichkeit und das Bedürf-
niß eines ſolchen poſitiven Verbots, der entſcheidendſte
Beweis ſeines wahren Eigenthums. Dennoch wird auf
der andern Seite geſagt, die Dos gehöre der Frau, ſie
ſey ihr patrimonium (u). Dieſer ſcheinbare Widerſpruch
iſt nur durch die Anerkennung der anomaliſchen Beſchaf-
fenheit des ganzen Inſtituts zu erklären. Der Mann hat
die Dos in ſeinem Vermögen, aber er trägt die Laſten
der Ehe, und zu dieſen gehört vorzüglich die Erhaltung
der Perſon der Frau. Sie hat alſo den Vortheil und
Genuß der Dos, aber dieſer iſt ihr nicht durch eine gegen-
wärtige Klage, ſondern nur durch die allgemeine Einrichtung
des ehelichen Lebens geſchützt. Ihr Vortheil alſo beſteht in
der naturalis praestatio, und man kann von ihm recht
eigentlich ſagen: in facto potius quam in jure consistit.
Juſtinian drückt einmal dieſelbe Anſicht in folgenden Wor-
ten aus (v): „cum eaedem res et ab initio uxoris fuerint,
sit, mulieris tamen est … quam-
vis apud maritum dominium
sit” etc. Gajus II. §. 63.
(s) L. 24 de act. rer. amot.
(25. 2.).
(t) L. 58 sol. matr. (24. 3.).
(u) L. 75 de j. dot. (ſ. oben
Noter) L. 3 § 5 de minor. (4.4.).
(v) L. 30 C. de j. dot. (5.12.).
|0129 : 115|
§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.
et naturaliter in ejus permanserint dominio.
Non enim, quod legum subtilitate transitus ea-
rum in patrimonium mariti videatur fieri, ideo rei
veritas deleta vel confusa est.” Hierin liegt nicht, wie
es Viele angeſehen haben, der Gegenſatz des in bonis und
ex jure quiritium, oder auch irgend eine neu erfundene
Eintheilung des Eigenthums, ſondern ganz daſſelbe, was
anderwärts durch das in facto potius quam in jure consistit
ausgedrückt wird. — Nun iſt es ſehr natürlich, daß dieſer
faktiſche Vortheil der Frau ganz derſelbe iſt, ſie mag in
väterlicher Gewalt leben oder nicht, und daß ſelbſt ihre
capitis deminutio darauf keinen Einfluß hat (w). Auch
erklären ſich daraus die eigenthümlichen Schickſale des
Dotalvermögens. Steht nämlich der Ehemann in väter-
licher Gewalt, ſo iſt ſein Vater wahrer Eigenthümer der
Dos, aber ſie wird keinesweges wie ſein übriges Vermö-
gen behandelt. Denn wenn der Sohn emancipirt oder in
Adoption gegeben oder erheredirt wird, eben ſo wenn der-
ſelbe bey des Vaters Tod nur einen Theil der väterlichen
Erbſchaft bekommt, ſo wird ſtets die Dos von des Vaters
Vermögen ausgeſchieden, ſo daß ſie, in unzertrennter Ver-
bindung mit den Laſten der Ehe, dem Ehemann folgt (x).
Nach aufgelöſter Ehe treten an die Stelle jenes
(w) Darum muß auch die Ehe-
frau, die sua heres ihres Vaters
iſt, die Dos conferiren. L. 1 pr.
§ 8 de dotis coll. (37. 7.).
(x) L. 1 § 9 de dote praeleg.
(33. 4.). L. 46 L. 20 § 2 L. 51
pr. fam. herc. (10. 2.). L. 45
de adopt. (1. 7.) verbunden mit
L. 56 § 1. 2 de j. dot. (23. 3.).
8*
|0130 : 116|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Verhältniſſes Obligationen, die den Inhalt der alten actio
rei uxoriae bilden, und auch in dieſer Klage ſetzen ſich
jene früheren Eigenthümlichkeiten fort, ja ſie werden hier
erſt recht ſichtbar. Weil der Gegenſtand dieſer Obliga-
tion, ſeiner Beſtimmung nach, die Grundlage einer naturalis
praestatio ſeyn ſollte, (und zwar auch nach aufgelöſter
Ehe, wegen einer möglichen neuen) ſo iſt die Klage von
der Einwirkung der beſchränkten Rechtsfähigkeit und der
capitis deminutio großentheils unabhängig (y). Dieſer
wichtige Grundſatz zeigt ſich in folgenden Anwendungen.
Wenn der Ehemann eine capitis deminutio erleidet, ſo
müßte nach der für andere Schulden geltenden Regel
(§ 70. k.) auch ſeine Dotalſchuld eigentlich untergehen;
dieſe aber geht in der That nicht unter, ſondern bleibt
ſtets mit der Perſon des Ehemannes verbunden (Note x),
ſo daß es dabey nicht einmal der für andere Schulden
vorgeſchriebenen Reſtitution bedarf. — Die Ehefrau,
die in väterlicher Gewalt ſteht, kann nicht nur durch ihren
Widerſpruch die actio rei uxoriae, die allerdings ihrem
Vater zuſteht, verhindern (z), ſondern ſie kann dieſelbe auch
(y) L. 8 de cap. min. (4. 5.)
„Eas obligationes, quae natu-
ralem praestationem habere in-
telliguntur, palam est capitis
deminutione non perire, quia
civilis ratio naturalia jura cor-
rumpere non potest. Itaque de
dote actio, quia in bonum et
aequum concepta est, nihilo mi-
nus durat etiam post capitis
deminutionem.” Hier iſt zunächſt
nur von der capitis deminutio
die Rede, ganz aus demſelben
Grunde iſt aber auch die urſprüng-
liche Rechtsunfähigkeit oft ohne
Einfluß.
(z) L. 22 § 1 L. 3 sol. matr.
(24. 3.). Ulpian: VI. § 6. Fragm.
Vat. § 269.
|0131 : 117|
§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.
oft ſelbſt anſtellen; und zwar im Namen des Vaters, wenn
dieſer durch Wahnſinn oder andere Gründe verhindert
iſt (aa): in eigenem Namen, alſo ſelbſt gegen des Vaters
Willen, wenn der Vater einen verwerflichen Lebenswandel
führt (bb). Wird ſie emancipirt, ſo iſt durch dieſe capitis
deminutio ihre Forderung ſo wenig zerſtört, daß gerade
umgekehrt das ganze Recht derſelben jetzt uneingeſchränkt
auf ihre Perſon übertragen wird (cc). Ja ſelbſt die in
der Deportation liegende media capitis deminutio entzieht
ihr für die ſpätere Zeit den Gebrauch der Klage nicht (dd).
— Zugleich iſt die Klage in bonum et aequum concepta
(§ 71. e), und die Römer ſelbſt betrachten dieſe ihre Ei-
genſchaft als zuſammenhängend mit der eben dargeſtellten
anomaliſchen Natur (Note y). Es hat aber in ihr das
bonum et aequum, oder das aequius melius, die wichtige
praktiſche Bedeutung, daß der Richter eine weit freyere
Gewalt hat, als bey den gewöhnlichen b. f. actiones, ſo
daß er namentlich jede Bereicherung des einen Theils
auf Koſten des unvorſichtigen andern Theils verhüten kann
(aa) L. 22 § 4 10. 11. sol. matr.
(24. 3.). L. 8 pr. de proc. (3. 3.).
(bb) L. 8 pr. de proc. (3. 3.).
(cc) L. 44 pr. L. 22 § 5 sol.
matr. (24. 3.). L. un. § 11 C.
de rei ux. act. (5. 12.). — L. 9
de cap. min. (4. 5.) „Ut quan-
doque emancipata agat,” das
heißt: die Emancipation mag vor
oder nach Auflöſung der Eh einge-
treten ſeyn, welches beſonders für
den zweyten Fall zu bemerken wich-
tig war, weil hier der Vater das
Klagrecht ſchon wirklich erworben
hatte. Der Satz der L. 9 cit. iſt
zwar unlaugbar eine Folgerung
aus der vorhergehenden L. 8, aber
keinesweges die einzige, ſo daß
es ganz irrig ſeyn würde, den
Sinn der L. 8 cit. auf den dar-
aus in L 9 gefolgerten Satz ein-
ſchränken zu wollen.
(dd) L. 5 de bonis damn.
(48. 20.).
|0132 : 118|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
und ſoll, die doch bey anderen Obligationen durchaus nicht
ausgeſchloſſen wird (ee).
Beſonders zu bemerken iſt dabey, daß faſt alle dieſe
Eigenthümlichkeiten des Dotalverhältniſſes von Juſtinian
unverändert beybehalten worden ſind. Die wichtigſte Än-
derung, die er eingeführt hat, beſteht in der Verwandlung
der vorher unvererblichen Dotalklage in eine vererbliche
Klage, welches er dadurch ausdrückt, daß an die Stelle
der (von jeher unvererblichen) actio rei uxoriae hinfort
ſtets eine actio ex stipulatu treten ſoll, bey welcher ſich
die Vererblichkeit von ſelbſt verſteht.
D. Die Alimentenklage unter nahen Ver-
wandten.
Sie gilt wechſelſeitig zwiſchen Aſcendenten und Deſcen-
denten. Die gewöhnlichen Regeln von der beſchränkten
Rechtsfähigkeit und der capitis deminutio haben darauf
gar keinen Einfluß, denn das Kind hat ſie gegen den eige-
nen Vater ſelbſt während der väterlichen Gewalt, und
eben ſo auch nach der Emancipation, ſo daß alſo die
(ee) L. 6 § 2 L. 12 § 1 de j.
dot. (23. 3.). L. 9 § 1 de minor.
(4. 4.), die durchaus nicht auf
minderjährige Frauen beſchränkt
werden darf, wie die Vergleichung
mit den ganz ähnlichen Ausdrücken
der vorhergehenden Stellen deut-
lich zeigt. L. un. C. si adv. dotem
(2. 34.). — Indem aber hier die-
ſer Klage eine größere Freyheit
des richterlichen Ermeſſens, als bey
den meiſten anderen Klagen, zu-
geſchrieben wird, ſoll damit kei-
nesweges eine abſolute Freyheit,
und namentlich nicht völlige Gleich-
heit mit anderen Klagen ähnlicher
Art behauptet werden. Bey der
Injurienklage z. B. beſtimmt der
Richter die Strafe nach ganz freyem
Ermeſſen, bey der a. rei uxoriae
iſt er durch den Umfang der em-
pfangenen Dos beſchränkt.
|0133 : 119|
§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.
capitis deminutio ſie nicht zerſtoͤrt haben kann (ff). Eben
ſo iſt kein Zweifel, daß auch der Vater gegen ſeinen filius-
familias dieſe Klage hat, wenn dieſer ein castrense pecu-
lium, oder ein ſogenanntes adventitium extraordinarium
beſitzt. — Es wird nicht ausdrücklich geſagt, daß die Klage
in bonum et aequum concepta ſey, in der That aber iſt
ſie es, weil der Richter unvermeidlich mit viel freyerem
Ermeſſen, als bey den meiſten anderen Klagen, den Um-
fang des Bedürfniſſes und der Zahlungsfähigkeit feſtzuſtel-
len hat (gg). — Übrigens iſt noch zu bemerken, daß der
Begriff der Alimente hier eine weit freyere Ausdehnung
erhält, als bey dem Legat von Alimenten (Note b), und
namentlich auch die geiſtige Ausbildung in ſich ſchließt (hh).
Dafür iſt aber auch hier die Anomalie ſelbſt weit be-
ſchränkter, indem hier nur die väterliche Gewalt und die
minima capitis deminutio, bey dem Alimentenlegat aber
ſogar der Sklavenſtand und die maxima capitis deminutio
kein Hinderniß des Rechts ſeyn ſoll.
E. Die Klage der Tochter gegen den Vater
auf Dotation(ii).
Auch hier iſt die Abhängigkeit von väterlicher Gewalt
(ff) L. 5 § 1 de agnoscendis
(25. 3.).
(gg) L. 5 § 2. 7. 10 de agnosc.
(25. 3.). Es heißt hier, mit wenig
abweichendem Ausdruck, ex ae-
quitate haec res descendit. Das
freye Ermeſſen iſt hier ſehr ähnlich
dem in der funeraria actio, welche
jedoch nicht in bonum et ae-
quum concepta war. Vgl. § 71
Note i. — Wahrſcheinlich war je-
doch die Alimentenklage überhaupt
kein ordinarium judicium, ſon-
dern eine extraordinaria cogni-
tio vor dem magistratus. Zeit-
ſchrift für geſchichtl. Rechtswiſſ.
B. 6. S. 238.
(hh) L. 5 § 12 de agnosc.
(25. 3.).
(ii) L. 19 de ritu nupt. (23. 2.).
|0134 : 120|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
kein Hinderniß des Klagrechts, da ſie ſogar die Bedingung
deſſelben ausmacht. Übrigens fällt dieſes Recht ſeinem
Weſen nach mit dem vorhergehenden zuſammen, da die
Dotation eigentlich nur eine andere Form iſt, in welcher
der Vater ſeiner Tochter die Alimente darreicht. Bey die-
ſem Recht nun iſt es ganz gewiß, (was bey der Alimen-
tenforderung als Vermuthung aufgeſtellt worden iſt), daß
es extra ordinem durch die Obrigkeit geltend gemacht
wurde, nicht durch eine gewöhnliche Klage.
|0135 : 121|
§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.
§. 73.
Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähigkeit
und capitis deminutio. (Fortſetzung.)
II. Klagrechte, deren Zweck auf Vindicta
geht(*).
Die Klagrechte, welche als eigenthümliche Wirkungen
von Rechtsverletzungen entſtehen (quae poenae causa dan-
tur) kommen in verſchiedenen Abſtufungen vor. Einige
ſollen blos die Verletzung ſelbſt ausgleichen, wie die doli
actio, die ſich auf die Entſchädigung des Betrogenen be-
ſchränkt. Andere ſollen dem Verletzten eine Bereicherung
(poena) verſchaffen, und zwar bald nur dieſe (wie die
furti actio), bald die poena noch neben der Entſchädigung
(wie die vi bonorum raptorum actio). Eine dritte Klaſſe
endlich geht zwar zunächſt auch auf ein Vermögensrecht,
aber dieſes iſt nicht, wie bey den erſten Klaſſen, der
Zweck, ſondern nur ein Mittel: der wahre Zweck iſt vin-
dicta. Unter dieſer iſt jedoch nicht Das zu verſtehen, was
wir im gewöhnlichen Leben Rache nennen, Befriedigung
unſres Gefühls durch das Wehe des Andern, ſondern viel-
(*) In den Rechtsquellen heißt
es von einer ſolchen Klage: ad
ultionem pertinet, in sola vin-
dicta constitutum est, vindic-
tam continet. L. 6. 10 de se-
pulchro viol. (47. 12.), L. 20
§ 5 de adqu. vel om. her. (29.
2.). Die Neueren ſagen: actio-
nes quae vindictam spirant.
Vergl. hierüber Burchardi
Grundzüge des Rechtsſyſtems der
Römer S. 231, der mit Unrecht
die Zuſammenſtellung dieſer Kla-
gen verwirft.
|0136 : 122|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
mehr die Ausgleichung der in unſrer Perſon geſtörten
Rechtsordnung, wobey alſo der Einzelne den Beruf aus-
übt, der von Seiten des Staats durch das ganze Crimi-
nalrecht geübt wird. Auch dieſen Rechten ſind manche
Abweichungen von der Regel der Rechtsfähigkeit und der
capitis deminutio eigen, und auch bey ihnen hat dieſes
ſeinen Grund darin, daß ſie ſich auf den natürlichen,
nicht auf den juriſtiſchen Menſchen (den Vermögensinha-
ber) beziehen; denn ſie ſind unmittelbar auf ein ſittliches
Bedürfniß gegründet, ſo wie die Rechte der erſten Klaſſe
auf das Bedürfniß der Lebenserhaltung gegründet waren.
Dahin gehoͤren folgende Fälle.
A. Actio injuriarum.
Wenn ein filiusfamilias beleidigt wird, ſo liegen in
dieſer einen Handlung zwey ganz verſchiedene Injurien:
gegen den Vater, weil der Sohn unter ſeinem Schutze
ſteht, und gegen den Sohn ſelbſt. Aus jeder derſelben
entſteht eine eigene Injurienklage, in der Regel auf Geld
gerichtet: die aus der Injurie gegen den Sohn ſelbſt iſt
es, die hierher gehört. Auch ſie ſtellt in der Regel der
Vater an, weil er überhaupt durch den Sohn Klagen
aller Art erwerben kann: auch kann ihn der Widerſpruch
des Sohnes daran nicht hindern (a). Ausnahmsweiſe aber
kann auch der Sohn ſelbſt, in eigenem Namen, mit Er-
laubniß des Prätors klagen, wenn der Vater abweſend
(a) L. 1 § 5. L. 41 de injur.
(47. 10.). L. 30 pr. de pactis
(2. 14.). L. 39 § 3. 4 de proc.
(3. 3.).
|0137 : 123|
§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.
oder ſonſt verhindert, und nicht durch einen Procurator
vertreten iſt: ja ſelbſt gegen des Vaters Willen, wenn
deſſen Nichtswürdigkeit einen gänzlichen Mangel an Ehr-
gefühl annehmen läßt (b). Wird der Sohn emancipirt,
ſo geht das Klagrecht unbedingt auf ihn über, ſo daß
alſo die capitis deminutio daſſelbe nicht zerſtört (c). Das
Geld übrigens, welches der filiusfamilias auf dieſe Weiſe
einklagt, gehört ohne Zweifel dem Vater, ſo daß alſo
der Sohn ſtets in einem gemiſchten Verhältniß auftritt:
suo nomine wegen der vindicta, als Vertreter des Va-
ters wegen des eingeklagten und erworbenen Geldes.
Eben auf dieſes gemiſchte Verhältniß gründen ſich die
großen Beſchränkungen, unter welchen der Sohn zu der
Klage zugelaſſen wird. Iſt die Injurie von ſo ſchwerer
Art, daß die Klage aus der lex Cornelia begründet iſt,
ſo fallen alle jene Beſchränkungen weg, und der Sohn
hat dann ein unbedingtes Klagrecht (d).
Die gewöhnliche, auf Geld gerichtete Injurienklage,
von welcher hier die Rede war, iſt in bonum et aequum
concepta (e), denn die Beſtimmung der Strafſumme hängt
ganz von ſubjectivem Gefühl ab, iſt alſo in hohem Grade
willkührlich. Auch iſt die Klage unvererblich, und gehört
(b) L. 17 § 10—14. § 17. 20.
L. 11 § 8 de injur. (47. 10.).
L. 9 de O. et A. (44. 7.). L. 8
pr. de proc. (3. 3.). L. 30 pr.
de pactis (2. 14.).
(c) L. 17 § 22 de injur. (47. 10.).
(d) L. 5 § 6 de injur. (47. 10.).
— Auch dieſe Klage übrigens „etsi
pro publica utilitate exercetur,
privata tamen est.” L 42 § 1
de proc. (3. 3.).
(e) L. 11 § 1 de injur. (47. 10.)
ſagt blos: ex bono et aequo est,
welcher Ausdruck an ſich zwey-
|0138 : 124|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
überhaupt nicht zu den Vermögensrechten. Beides freylich
ändert ſich ſobald ſie einmal wirklich angeſtellt iſt (f).
B. Actio sepulchri violati.
Wegen der Verletzung eines Grabmals klagen vor
Allem Die, welche eine perſönliche Beziehung dazu haben,
das heißt die Kinder des Beerdigten (auch wenn ſie ſich
der Erbſchaft entſchlagen), oder die Erben. Ihre Klage
geht auf bloße vindicta durch eine willkührlich zu beſtim-
mende Summe, ſie iſt daher in bonum et aequum con-
cepta (g). Daraus folgt, daß die capitis deminutio dieſe
Klage nicht entziehen kann (h). Wollen jene beſonders
Berechtigte die Klage nicht anſtellen, ſo iſt Jeder aus dem
Volk dazu fähig, nun geht ſie auf 100 aurei, und hat
jene Eigenthümlichkeit nicht.
deutig iſt (§ 71). Allein die An-
ſpielungen in L. 18 pr. eod. und
in L. 34 pr. de O. et A. (14. 7.)
machen es unzweifelhaft, daß jene
Ausdrücke in der Klagformel des
Edicts ſtanden, und die völlig will-
kührliche Beſtimmung der Straf-
ſumme beſtätigt dieſes.
(f) L. 13 pr. L. 28 de injur.
(47. 10.). Darum iſt denn auch
das Aufgeben dieſer Klage keine
Veräußerung oder Vermögens-
verminderung; ganz eben ſo auch
das Aufgeben der querela inof-
ficiosi. L. 1 § 8 si quid in
fraud. patr. (38. 5.), verglichen
mit § 7 eod.
(g) L. 3 pr. L. 6. 10 de sep.
viol. (47. 12.) L. 20 § 5 de ad-
quir. hered. (29. 2.).
(h) Nach der allgemeinen Re-
gel in L. 8 de cap. min. (4. 5.),
welche dieſes für jede actio in
bonum et aequum concepta an-
erkennt. Man müßte den Fall
etwa ſo denken. Der Verſtorbene
hinterließ einen Suus, welcher ab-
ſtinirte, und ſich nachher arrogi-
ren ließ; hier hätte der Arrogirte
noch immer die Klage. Hätte er
nicht abſtinirt, ſo würde durch ihn
der Adoptivvater wirklicher heres
geworden ſeyn, und wäre nun
ſelbſt der Klagberechtigte (ad quem
ea res pertinet).
|0139 : 125|
§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.
C. Actio de effusis.
Wenn Etwas aus einem Hauſe ausgegoſſen oder her-
abgeworfen, und wenn dadurch ein freyer Menſch beſchä-
digt wird, ſo gilt eine Klage auf eine willkührlich zu be-
ſtimmende Summe. Dieſe Klage geht auf vindicta, ſie
iſt nicht erblich, und ſie iſt in bonum et aequum con-
cepta, alſo iſt ſie nach der allgemeinen Regel frey von
der Wirkung der capitis deminutio (i).
D.
Die Klage wegen Verwundung durch ge-
fährliche Thiere, wenn dabey eine Unvorſichtigkeit des
Herrn zum Grunde lag, iſt gleichfalls in bonum et ae-
quum concepta, und hat daher dieſelbe Beſchaffenheit wie
die vorhergehende Klage (k).
E. Interdictum quod vi aut clam.
Dieſes gehört unter die Klagen, welche ein filiusfami-
lias in eigenem Namen anſtellen kann (l). Der Grund
liegt darin, daß daſſelbe auf vindicta geht wegen der ver-
letzten perſönlichen Würde durch Nichtachtung des Ein-
ſpruchs (vi factum), welche Verletzung ja auch gegen den
Sohn in väterlicher Gewalt möglich iſt (m). Ein Recht
(i) L. 5 § 5 de his qui effud.
(9. 3.). Der allgemeine Ausdruck
dieſer Stelle: ex bono et aequo
oritur würde Nichts beweiſen
(§ 71). Allein in der erhaltenen
Stelle des Edicts ſtehen geradezu
die Worte: quantum ob eam
rem aequum judici videbitur.
L. 1 pr. eod.
(k) L. 42 de aedil. ed. (21. 1.)
„quanti bonum aequum judici
videbitur.” Vgl. § 1 J. si quadr.
(4. 9.).
(l) L. 9 de O. et A. (44. 7.).
L. 19. L. 13 § 1 quod vi (43. 24.).
(m) L. 13 § 1. 2 quod vi (43.
24). Es wird hier ausdrücklich
bemerkt, vi könne etwas gegen
den Sohn gethan werden, clam
nicht, weil dieſer keine Klage ha-
|0140 : 126|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
des Klägers an der Sache, welches freylich dieſer nicht
haben könnte, iſt auch ſonſt dazu nicht erforderlich (n),
und eben ſo wenig ein wirkliches materielles Unrecht des
Beklagten (o). Auch der unmittelbare Erfolg des Inter-
dicts, der in der Reſtitution der vorgenommenen eigen-
mächtigen Veränderung beſteht (p), kann zum Vortheil des
klagenden filiusfamilias unbedenklich in Erfüllung gebracht
werden, wenn z. B. der Sohn ein Haus des Vaters,
oder auch ein von einem Fremden gemiethetes Haus be-
wohnt, und durch einen eigenmächtigen Bau des Nach-
bars in dem bequemen Gebrauch der Wohnung geſtört
wird. Kommt es freylich zu einem durchgeführten Rechts-
ben könne, auf deren Umgehung
die Heimlichkeit abzwecken möchte.
Das heißt alſo, wegen vi factum
ſteht das Interdict dem Vater und
dem Sohn zu, wegen clam nur
dem Vater. — Ohne Zweifel wird
nun auch das Klagrecht des Soh-
nes durch capitis deminutio nicht
aufgehoben.
(n) L. 13 § 5. L. 12 quod vi
(43. 24.). — Eben daher iſt es
ganz irrig, wenn Manche dieſe
Befugniß des filiusfamilias auch
auf die poſſeſſoriſchen Inter-
dicte ausdehnen wollen, unter
welche das Int. quod vi ganz und
gar nicht gehört (ſo z. B. Bur-
chardi, Archiv für civil. Praxis
B. 20 S. 33). Denn die poſſeſ-
ſoriſchen Interdicte ſind bedingt
durch die juriſtiſche possessio,
ein Verhältniß des Klägers, wel-
ches zwar urſprünglich factiſch,
durch ſeine Folgen aber einem
Rechte ähnlich iſt (Savigny
Beſitz § 5. 6); zu dieſem Ver-
hältniß iſt ein filiusfamilias ganz
unfähig. Durch die Dejection des
Sohnes aus einem fundus pe-
culiaris erwirbt alſo der Vater
das Interdict, und der Sohn hat
zu deſſen Anſtellung nicht mehr
Recht als zur Anſtellung der vä-
terlichen Vindication. Der Grund
liegt eben darin, daß der Zweck
des Int. quod vi in der vindicta
beſteht, der Zweck des Int. de vi
dagegen in der Verfolgung eines
gewöhnlichen Privatintereſſe, ſo
gut als der Zweck der Vindication.
(o) L. 1 § 2. 3 quod vi (43. 24.).
(p) L. 1 pr. § 1 quod vi (43.
24.).
|0141 : 127|
§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.
ſtreit, ſo löſt ſich am Ende jene Reſtitution in die Ver-
urtheilung zu einer Geldſumme auf, die in dem erweisli-
chen Intereſſe beſteht (q), und dieſes Geld wird wieder,
eben ſo wie bey der Injurienklage, dem Vater erworben.
Die Klage iſt alſo, da ſie einen völlig beſtimmten Ge-
genſtand hat (Reſtitution oder Intereſſe), keinesweges in
bonum et aequum concepta (r).
F. Die Klage gegen den Freygelaſſenen
wegen einer in jus vocatio.
Dem Freygelaſſenen war es verboten, ohne beſondere
Erlaubniß des Prätors, gegen den Patron ſelbſt oder
deſſen Kinder eine in jus vocatio vorzunehmen: die Über-
tretung dieſes Verbots hatte eine Strafklage auf 50 aurei
zur Folge. War nun dieſe Verletzung gegen den Sohn
begangen, und der Vater war abweſend, ſo gehörte die
Klage unter diejenigen, die der Sohn ſelbſt anſtellen
konnte, ähnlich der Injurienklage (s).
G. Querela inofficiosi.
Daß auch dieſe Klage, die doch auf reines Vermoͤ-
(q) L. 15 § 12 quod vi (43. 24.).
(r) Dagegen hat es wohl kei-
nen Zweifel, daß das Interdict,
eben ſo wie die Injurienklage,
unvererblich iſt. Die ſcheinbar
entgegenſtehende L. 13 § 5 quod
vi (43. 24.) geht nur auf den
beſonderen Fall, wenn die ta-
delnswerthe Handlung nach dem
Tode des Erblaſſers, aber vor
dem Antritt der Erbſchaft, ge-
ſchah, in welchem Fall auch die
Injurienklage dem Erben erwor-
ben wird. L. 1 § 6 de injur.
(47. 10.).
(s) L. 12 de in jus voc. (2.
4.). Die Klage gieng auf vin-
dicta und war unvererblich (L. 24.
eod.), aber in bonum et aequum
concepta konnte ſie, wegen ihres
genau beſtimmten Gegenſtandes,
nicht ſeyn. Daß für dieſen Fall
eine formula in factum con-
cepta galt (deren Ausdruck dem
|0142 : 128|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
gensrecht abzweckt, unter unſre anomaliſchen Rechte ge-
hört, muß beſonders bewieſen und erklärt werden.
Wenn ein Teſtator die nächſten Verwandten, die ſeine
Inteſtaterben hätten werden können, gar nicht oder zu
wenig bedenkt, ſo entſteht dadurch im Volke die Mey-
nung, der Ausgeſchloſſene müſſe eine ſolche Strafe durch
ſchlechte oder liebloſe Handlungen verdient haben. Iſt
nun dieſe Meynung ungegründet, ſo liegt darin eine un-
verdiente Ehrenkränkung (t), zu deren Austilgung dem Ge-
kränkten folgendes Rechtsmittel dargeboten iſt. Er darf
das Teſtament als inofficiosum anklagen, und findet ſich
ſeine Behauptung gegründet, ſo wird angenommen, das
Teſtament ſey in blinder Leidenſchaft, dem Wahnſinn ähn-
lich, gemacht worden (u), es wird aufgehoben, die Inte-
ſtaterbfolge wird eroͤffnet, und dadurch wird auf recht
öffentliche und feyerliche Weiſe die Unſchuld des Ausge-
ſchloſſenen anerkannt. — Dieſe Behandlung der Sache
zieht aber die erwähnte Klage, ähnlich der Injurienklage,
unter unſre anomaliſchen Rechtsmittel. Wenn nämlich
einem filiusfamilias eine ſolche Kränkung wiederfuhr, z. B.
im Teſtament ſeiner Mutter oder ſeines mütterlichen Groß-
vaters, ſo wird dieſes als eine höchſt perſönliche Angele-
genheit des Sohnes betrachtet (weit mehr als die Inju-
filiusfamilias als Kläger nicht im
Wege ſtand) ſagt ausdrücklich Ga-
jus IV. § 46.
(t) Es heißt injuria L. 4 L. 8
pr. de inoff. test. (5. 2.). — Auch
indignatio L. 22 pr. eod. — „To-
tum de meritis filii agitur.”
L. 22 § 1 eod.
(u) L. 2. 4. 5 de inoff. test.
(5. 2.).
|0143 : 129|
§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.
rienklage), obgleich durch die Klage der Vater wirklicher
Erbe werden kann. Daher kann der Vater die Klage
nicht gegen den Willen des Sohnes anſtellen, noch nach
deſſen Tod fortführen (v). Umgekehrt aber kann der Sohn
klagen, ſelbſt wenn der Vater das Teſtament, worin er
ſelbſt bedacht war, anerkannt hat, alſo auch gegen des
Vaters Willen (w). Es iſt alſo auch kein Zweifel, daß
die capitis deminutio des Sohnes dieſe auf blos ſittlichen
Gründen beruhende Klage nicht zerſtören kann. — Sehr
natürlich geht dieſe Klage nicht auf die Erben über (x).
In bonum et aequum concepta konnte ſie nicht ſeyn, weil
ſie einen höchſt beſtimmten Gegenſtand hatte; dennoch galt
darin ein äußerſt freyes richterliches Ermeſſen, welches
nur nicht den Umfang der Verurtheilung (ſo wie die mit
jenem Namen bezeichneten Klagen), ſondern die Zulaſ-
ſung derſelben betraf, indem dieſe von der Prüfung des
(v) L. 8 pr. de inoff. test.
(5. 2.). — Hier iſt das Wider-
ſpruchsrecht des unbillig ausge-
ſchloſſenen Kindes gegen die von
ſeinem Vater anzuſtellende Querel
ganz ähnlich dem Widerſpruchs-
recht der Tochter gegen die actio
rei uxoriae, womit ihr Vater ge-
gen den Ehemann oder deſſen Er-
ben klagen will (§ 72 z).
(w) L. 22 pr. § 1 de inoff.
test. (5. 2.). — Natürlich kann
aber der Vater nicht gezwungen
werden, wider ſeinen Willen die
Erbſchaft anzunehmen. Dann ge-
ſchieht es alſo, daß die Inteſtat-
erbfolge, die einmal unabänder-
lich eröffnet iſt, einem Andern als
dem Kläger zufällt, was aber auch
in anderen Fällen vorkommt. L. 6
§ 1 eod. Der Sohn hat dennoch
ſeinen Zweck erreicht, denn ſei-
ner Ehre iſt öffentliche Genug-
thuung widerfahren.
(x) L. 6 § 2. L. 7. L. 15 § 1
de inoff. test. (5. 2.). — Sie iſt
nämlich überhaupt nicht in bonis,
und wer ſie aufgiebt, vermindert
dadurch nicht ſein Vermögen, eben
ſo wie bey der Injurienklage (ſ. o.
Note f).
II. 9
|0144 : 130|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſittlichen Verhaltens des Klägers abhing, die doch nicht
auf ſo feſte Regeln zurück zu führen war, wie die Beur-
theilung anderer Klagen.
Über die Natur der Querel iſt von alter Zeit her viel
Streit geweſen, und dieſer erneuert ſich noch immer wie-
der. Einige ſehen ſie als eine Klage in rem an, und
zwar namentlich als eine eigenthümliche Art der hereditatis
petitio: andere als gar keine eigene, ſelbſtändige Klage,
ſondern nur als Vorbereitung einer andern: neuerlich iſt
auf die Anſicht derſelben, als einer in personam actio,
hingearbeitet worden (y). Die Erörterung dieſes Streites
kann hier freylich nicht ihre Stelle finden. Allein zur
Vermittlung der ſtreitenden Meynungen dürfte die hier
dargelegte Unterſcheidung des unmittelbaren Gegenſtandes
der Klage von ihrem entfernteren, aber nicht minder we-
ſentlichen, Zweck (worin die ganze Eigenthümlichkeit der-
ſelben ihren Grund hat) wohl beytragen können, indem
hierin Dasjenige, was jeder Partey in der entgegenge-
ſetzten Meynung am meiſten Anſtoß erregte, ſeine Anflö-
ſung findet. Zu dieſem Zweck ſoll hier nochmals das
ganze Verhältniß kurz zuſammengefaßt werden. Der Aus-
geſchloſſene verlangt, durch Aufhebung des Teſtaments
Inteſtaterbe zu werden, verfolgt alſo das Erbrecht, wel-
ches ohne Zweifel ein reines Vermögensrecht iſt. Allein
der eigentliche Zweck dieſer Klage iſt die feyerliche, offen-
(y) Vergl. Klenze querelae
inoff. test. natura Berol. 1820.
Mühlenbruch Fortſ. ron Glück
B. 35 § 1421. e.
|0145 : 131|
§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.
kündige Herſtellung des durch das Teſtament gefährdeten
Rufs: der Kläger erſcheint darin in einem feindlichen Ver-
hältniß zu dem verſtorbenen Teſtator, der ſeinen Ruf in
dieſe Gefahr brachte, und die Klage geht daher auf vin-
dicta. Eben ſo war die Genugthuung für die verletzte
Ehre Zweck der Injurienklage, und beide Klagen haben
alſo etwas Gemeinſchaftliches in ihrem Zweck. Als Mit-
tel dazu dient bey der Injurienklage die Einforderung ei-
ner Geldobligation: bey der querela inofficiosi die Ver-
folgung eines Erbrechts, welches erſt durch eine richterliche
Handlung eröffnet werden ſoll. Die Eigenthümlichkeiten
beider Klagen erklären ſich aus der Verſchiedenheit jenes
weſentlichen Zweckes von dem nächſten juriſtiſchen Gegen-
ſtand, der blos als Mittel zu jenem Zweck gebraucht wer-
den ſoll.
H. Alle populares actiones.
Dieſe ſind Klagen auf eine dem Kläger zu zahlende
Geldſtrafe, wodurch aber ein öffentliches Intereſſe ver-
folgt und geſchützt werden ſoll (z); ſo daß dabey der Klä-
ger in ſeiner politiſchen, nicht in ſeiner juriſtiſchen (pri-
vatrechtlichen) Eigenſchaft thätig iſt (§ 71). Wenn in
ſolchen Fällen zugleich einzelne Perſonen, wegen der ihnen
widerfahrenen Verletzung, ein beſonderes Intereſſe haben,
ſo werden dieſe allen anderen Klägern vorgezogen (aa);
(z) L. 1 de pop. act. (47. 23.).
„Eam popularem actionem di-
cimus, quae suum jus populi
tuetur.”
(aa) L. 3 § 1 de pop. act. (47.
23.). L. 42 pr. de proc. (3. 3.).
L. 45 § 1 eod.
9*
|0146 : 132|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
die Klage hat dann eine gemiſchte Natur, und tritt nicht
in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit hervor (bb). Dahin ge-
hoͤren mehrere der in dieſem §. abgehandelten einzelnen
Obligationen, z. B. die actio sepulchri violati (lit. B).
Anders, wenn ſolche Intereſſenten entweder gar nicht vor-
handen ſind, oder nicht klagen wollen. Nun kann Jeder
aus dem Volke, als Vertreter der allgemeinen Sicherheit,
die Klage anſtellen, und er erſcheint dann gleichſam als
ein Procurator des Staats, jedoch ohne die einem Pri-
vatprocurator obliegende Cautionspflicht (cc). Dazu iſt
denn auch ohne Zweifel jeder filiusfamilias befugt (dd),
und eben ſo kann Keiner durch minima capitis deminutio
dieſe Befugniß verlieren, da er doch gewiß nicht aufge-
hört hat, unus ex populo zu ſeyn. Das Klagerecht ſelbſt
iſt auch zunächſt gar nicht ein Beſtandtheil des Vermö-
gens; durch die Litisconteſtation verwandelt es ſich in ei-
nen ſolchen, es wird nun, was es bis dahin nicht war,
eine wahre Obligation (ee), und dieſe Forderung, ſo wie
(bb) S. Note cc.
(cc) S. o. Note z. — L. 43
§ 2 de proc. (3. 2.). „In po-
pularibus actionibus, ubi quis
quasi unus ex populo agit, de-
fensionem ut procurator prae-
stare cogendus non est.” —
Weil er gleichſam ein Procurator
iſt, kann er nicht wieder einen
Procurator beſtellen (L. 5 de pop.
act. L. 42 pr. de proc.); eben
deswegen ſind zu dieſen Klagen
unfähig Diejenigen, welche über-
haupt nicht Procuratoren ſeyn
können (L. 4. 6 de pop. act.).
Beides aber iſt anders, wenn der
Kläger zugleich ein eigenes In-
tereſſe verfolgt, d. h. wenn es
keine reine Popularklage iſt. LL.
citt. und L. 45 § 1 de proc.
(3. 3.).
(dd) Gerade ſo kann auch der
filiusfamilias im Criminalprozeß
Ankläger ſeyn. Keinesweges wol-
len das L. 6 § 2 L. 37 ad L. Jul.
de adult. (48. 5.) auf den Ehe-
bruch beſchränken.
(ee) L. 7 § 1 de pop. act. (47.
|0147 : 133|
§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.
das dadurch erzwungene Eigenthum der Geldſtrafe, er-
wirbt der klagende filiusfamilias allerdings wieder dem
Vater. — In bonum et aequum conceptae ſind übrigens
die reinen Popularklagen nicht, vielmehr gehen ſie auf
allgemein beſtimmte Geldſummen, welches der gleichmäßi-
gen Befugniß Aller zu ihrer Anſtellung angemeſſen iſt.
Eine ähnliche Natur, wie die populares actiones, ha-
ben auch die Interdicta publica oder popularia (ff), und
eben ſo auch die operis novi nunciatio, welche publici
juris tuendi gratia geſchieht (gg); nur mit dem Unter-
ſchied, daß dieſe Rechtsmittel nicht auf Zahlung von
Geldſtrafen gerichtet ſind. In der unbeſchränkten Befug-
niß zu ihrem Gebrauch, unabhängig von den gewöhnli-
chen Regeln über die Rechtsfähigkeit, kommen alle dieſe
Rechtsmittel mit einander überein.
23.). L. 12 pr. de V. S. (50. 16.).
L. 32 pr. ad L. Falc. (35. 2.).
L. 56 § 3 de fidejuss. (46. 1.).
(ff) L. 1 pr. L. 2 § 1 de in-
terd. (43. 1.), L. 2 § 34 ne quid
in loco (43. 8.), L. 1 § 9 ne
quid in flum. (43. 13.).
(gg) L. 1 § 16. 17, L. 4, L. 5
pr. de op. novi nunc. (39. 1.).
|0148 : 134|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 74.
Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähigkeit
und capitis deminutio. (Fortſetzung.)
III.
Eine dritte Klaſſe ſolcher anomaliſchen Rechte
bilden folgende Verhältniſſe, welche an ſich blos fakti-
ſcher Natur ſind, und nur durch enge Verbindung mit
eigentlichen Rechten an der juriſtiſchen Natur derſelben
Theil nehmen.
A. Societät.
Sie beſteht in einer fortgehenden faktiſchen Verbindung
zu gemeinſamen Unternehmungen, wobey die Rückſicht auf
die Eigenſchaften des natürlichen Menſchen (ſeine Redlich-
keit und Geſchicklichkeit) vorherrſchend iſt. Sie ſelbſt alſo
iſt, ihrem allgemeinen Daſeyn nach, verſchieden von den
daraus entſtehenden Obligationen, die durch die actio pro
socio verfolgt werden.
Wenn daher ein filiusfamilias eine Societät eingeht,
ſo bleibt dieſe unverändert dieſelbe auch nach der Eman-
cipation, und eben ſo wird umgekehrt die Societät durch
die Arrogation weder aufgelöſt, noch auf den neuen Va-
ter übertragen (a). Es hat alſo auf dieſelbe die minima
capitis deminutio gar keinen Einfluß, und nur durch die
maxima und media, in welchen ein bürgerlicher Tod liegt
(§ 69), wird ſie ſtets aufgelöſt (b). Was aber die actio
(a) L. 58 § 2. L. 65 § 11 pro
socio (17. 2.).
(b) L. 63 § 10 pro socio (17.
2.). Gajus III. § 153. Wenn da-
|0149 : 135|
§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.
pro socio betrifft, ſo folgt dieſe den gewoͤhnlichen Regeln.
Nach der Emancipation alſo kann damit gegen den Vater
geklagt werden nur aus früheren Handlungen des Soh-
nes, und nur de peculio: gegen den Sohn ſowohl aus
früheren, als aus ſpäteren Geſchäften (c). Das Recht
auf den activen Gebrauch der Klage hat aus den frühe-
ren Geſchäften ausſchließend der Vater, ſelbſt nach der
Emancipation, weil ihm die Klage ſchon früher unabän-
derlich erworben war: aus den ſpäteren der Sohn.
Auch ein Sklave kann in der Societät ſtehen: er ſelbſt
wird dadurch nicht verpflichtet, aber die actio pro socio
geht wegen ſeiner Handlungen gegen den Herrn als actio
de peculio oder quod jussu (d): ohne Zweifel auch gegen
jeden Dritten, der den Sklaven als Inſtrument zur So-
cietät gebraucht, und der nun ſelbſt als durch ihn han-
delnd anzuſehen iſt. Wird der Sklave veräußert, ſo hört
jedoch die bisherige Societät auf und das was äußerlich
her L. 4 § 1 eod. ſagt: „Disso-
ciamur renuntiatione, morte,
capitis minutione, et egestate,”
ſo iſt hier die Unbeſtimmtheit des
Ausdrucks nicht als Allgemeinheit
anzuſehen, ſondern einſchränkend
hinzu zu denken: maxima vel me-
dia. Haloander lieſt: maxima
capitis deminutione, nimmt alſo
jenen Gedanken theilweiſe in den
Text auf, weshalb er von Au-
gustin. emend. III. 6 getadelt
wird. Indeſſen möchte es wohl
die wahre Vulgata ſeyn, wenig-
ſtens leſen ſo ed. Jenson s. a.
und ed. Koberger 1482, Hand-
ſchriften müßten darüber entſchei-
den. Für richtig jedoch halte ich
dieſe Leſeart nicht, ſondern die
Florentiniſche, weil durch die be-
ſtimmte Bezeichnung maxima die
media ausgeſchloſſen wäre, ganz
gegen die angeführten Zeugniſſe.
(c) L. 58 § 2 pro socio (17.
2). Bey der Klage gegen den
Sohn aus früheren Geſchäften
muß natürlich die Reſtitution hin-
zugedacht werden. Vgl. § 70 u.
(d) L. 18. L. 58 § 3. L. 63
§ 2. L. 84 pro socio (17. 2).
|0150 : 136|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
als Fortſetzung erſcheint, kann doch nur als eine neue
Societät angeſehen werden (e).
Aus dieſer ſtrengen Unterſcheidung der Societät ſelbſt,
von den daraus entſpringenden Obligationen, iſt es denn
auch allein zu erklären, warum jene unvererblich iſt, an-
ſtatt daß dieſe, ſo wie alle andere Obligationen forterben.
B. Mandat und negotiorum gestio.
Das Mandat hat mit der Societät eine ganz ähnliche
Natur, denn auch bey ihm iſt zu unterſcheiden das fakti-
ſche, unvererbliche, auf die Eigenſchaften des natürlichen
Menſchen großentheils gerichtete Verhältniß des Auftrags
ſelbſt, und die daraus entſtehende Obligation, welche durch
die mandati actio verfolgt wird, und in ihrer Beſchaffen-
heit von jeder andern Obligation gar nicht verſchieden
iſt. Die negotiorum gestio hat hierin gleiche Natur mit
dem Mandat.
Hieraus folgt, daß der Sohn ein wahres Mandat von
ſeinem Vater erhalten kann (f), obgleich Obligationen mit
civiler Gültigkeit unter ihnen nicht möglich ſind (§ 67).
Hat ein filiusfamilias von einem Fremden ein Mandat er-
halten, und wird dann emancipirt, ſo dauert das vorige
Mandat unverändert fort, ſo daß alſo die capitis demi-
nutio keinen Einfluß auf daſſelbe hat (g). Geht der Auf-
trag eines Fremden darauf, daß der filiusfamilias für ihn
eine Adſtipulation ſchließe, ſo erwirbt die Klage daraus
(e) L. 58 § 3 pro socio (17. 2.).
(f) L. 8 pr. in f. L. 35 pr.
de proc. (3. 3.), ſ. o. § 71.
(g) L. 61 mandati (17. 1.).
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§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.
nicht der Vater, weil auf deſſen Perſon dabey nicht ge-
rechnet war; auch in der Perſon des Sohnes ruht einſt-
weilen die Klage aus der Adſtipulation, weil ſonſt das
eingeklagte Geld dem Vater erworben werden würde; ſie
kann daher erſt geltend gemacht werden, wenn der Sohn
aus der väterlichen Gewalt ausgetreten iſt, und zwar
ohne capitis deminutio, weil durch dieſe die Stipula-
tionsklage ganz untergehen würde (h).
Auch ein Sklave kann gegen Jeden im Verhältniß ei-
nes Mandats oder einer negotiorum gestio ſtehen, und
dieſes Verhältniß nach der Manumiſſion unverändert fort-
ſetzen. Allein eine Klage daraus gieng gegen ihn nur
wegen der nach der Freylaſſung vorgenommenen Hand-
lungen, nicht wegen der früheren, weil die contractlichen
Handlungen eines Sklaven überhaupt keine Klagen erzeu-
gen (§ 65): eine Ausnahme dieſer Einſchränkung gilt für
den Fall, wenn die frühere Geſchäftsführung mit der ſpä-
teren unzertrennlich zuſammenhängt, indem nun die Klage
die früheren und ſpäteren Handlungen zugleich umfaßt (i).
C. Actio depositi.
Ulpian ſagt, ein filiusfamilias könne nicht ſelten im
Namen des abweſenden Vaters klagen, als deſſen prä-
ſumtiver Procurator, jedoch immer nur mit beſonderer
Erlaubniß der Prätors: beyſpielsweiſe nennt er als ſolche
(h) Gajus III. § 114. S. o.
§ 67 l und § 70 i.
(i) L. 17 de negot. gestis (3.
5.). S. o. § 65 und Beylage IV.
Note n.
|0152 : 138|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Klagen (nicht um andere damit auszuſchließen) die aus
Diebſtahl, Beſchädigung, Mandat, Darlehen, und auch
die actio depositi (k). Dagegen zählt Paulus einige we-
nige Klagen auf, die ein Sohn ausnahmsweiſe in eige-
nem Namen anſtellen könne, alſo unabhängig von des
Vaters Willen oder Abweſenheit, und eben ſo von einer
Erlaubniß des Prätors, unter dieſen Ausnahmen nennt
er die actio depositi (l), mit welcher Angabe auch Ulpian
in einer anderen Stelle übereinſtimmt (m). Dieſe beiden
Möglichkeiten ſind an ſich völlig verſchieden (§ 71), und
da ſie beide in Beziehung auf die actio depositi aufge-
ſtellt werden, zum Theil von demſelben alten Juriſten
(welches den Gedanken an eine Controverſe der Alten aus-
ſchließt), ſo liegt darin ein ſcheinbarer Widerſpruch, wel-
cher nur durch folgende Unterſcheidung geloͤſt werden kann.
Wenn der Sohn eine Sache des Vaters, z. B. aus dem
Peculium, einem Andern zur Aufbewahrung übergiebt, ſo
erwirbt dadurch der Vater die actio depositi, weil es ſein
Intereſſe iſt, die Sache ſelbſt wieder zu bekommen, oder
in Geld entſchädigt zu werden. Hier kann der Sohn gar
nicht klagen, außer als Procurator des Vaters, und auf
(k) L. 18 § 1 de judic. (5. 1.).
S. o. § 71 n.
(l) L. 9 de O. et A. (44. 7.).
S. o. § 71 q.
(m) L. 19 depositi (16. 3.).
„Julianus et Marcellus putant,
filiumfamilias depositi recte
agere posse.” Hier iſt offenbar
das Depoſitum als etwas Beſon-
deres gemeynt, und in ganz an-
derer Weiſe, als es derſelbe Ul-
pian in L. 18 § 1 de jud. (Note k),
mitten unter vielen anderen Kla-
gen, und ſelbſt mit dieſen nur
beyſpielsweiſe anführt.
|0153 : 139|
§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.
dieſen Fall, der ohnehin der gewöhnlichſte iſt, geht die
erſte Stelle des Ulpian. Das Depoſitum kann aber auch
ſo beſchaffen ſeyn, daß der Vater dabey gar kein rechtli-
ches Intereſſe hat, wenn etwa der Sohn die Sache von
einem Fremden miethweiſe, oder als Commodat, oder als
Depoſitum empfangen, oder wenn er ſie gar geſtohlen
hatte. Hier hat der Sohn ein zwiefaches Intereſſe die
Klage anzuſtellen, wovon der Vater nicht berührt wird:
erſtlich, in manchen Fällen (wie wenn er die Sache als
Miether oder Commodatar erhielt), weil er dadurch den
faktiſchen Vortheil der Detention und des Gebrauchs der
Sache wieder erlangt, der nicht im Vermoͤgen iſt, und
daher auch dem Vater nicht zu gut kommt: zweytens, in
allen hier bezeichneten Fällen, weil er ſelbſt gegen andere
Perſonen verpflichtet iſt, ihnen die Sache oder eine Geld-
entſchädigung zurück zu geben, welche Verpflichtung wie-
der nicht den Vater berührt. Da nun überhaupt ein De-
poſitar, ein Dieb u. ſ. w., wenn er die Sache einem An-
dern aufzubewahren giebt, gegen dieſen die actio depositi
erwirbt (n), ſo muß in den angegebenen Fällen auch der
Sohn dieſelbe in eigenem Namen haben, und auf dieſe
Fälle geht denn die Stelle des Paulus, ſo wie die zweyte
Stelle des Ulpian, welche daher mit der erſten Stelle
des Ulpian nicht im Widerſpruch ſtehen. Wenn freylich
der Rechtsſtreit nicht durch die Reſtitution der Sache
ſelbſt (wodurch jene Zwecke rein zur Erfüllung kommen)
(n) L. 16. L. 1 § 39. L. 31 § 1 depos. (16. 3.).
|0154 : 140|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
beendigt wird, ſondern durch eine Entſchädigung in Geld,
ſo wird dieſes Geld allerdings dem Vater erworben, und
dieſer kann darüber willkührlich verfügen; wenn aber der
Sohn es verwendet, um damit Denjenigen abzufinden, ge-
gen welchen er aus dem früheren Commodat oder aus
dem Diebſtahl verpflichtet war, ſo iſt dadurch ſeine Schuld
getilgt, und der oben angegebene Zweck iſt dennoch er-
füllt; ja er kann ſich dieſe Erfüllung noch dadurch ſichern,
daß er die Klage gar nicht ſelbſt anſtellt, ſondern ſeinem
Gläubiger cedirt, und auf dieſem Wege ſeine Schuld
tilgt. — Es iſt bemerkenswerth, daß gerade bey dem De-
poſitum auch eine formula in factum vorkommt, die dem
Sohn die Anſtellung der Klage in eigenem Namen mög-
lich machte (o). — Wie wirkt nun auf dieſe Verhältniſſe
die capitis deminutio, nämlich die Emancipation oder die
datio in adoptionem? Die Klage für den Vater fällt
gewiß weg, weil der Grund der präſumtiven Vertretung
aufgehoben iſt, aber die Klage in eigenem Namen muß
fortdauern, da die Gründe und Zwecke derſelben ſelbſt
fortwähren: namentlich die Schuld gegen den Dritten
durch die oben abgehandelte Reſtitution gegen die capitis
deminutio.
Alles dieſes ſtellt ſich ganz anders bey dem Sklaven,
welcher eine Sache deponirt: dieſer kann weder als Sklave
die Klage anſtellen, weil er überhaupt zu allen Klagen
unfähig iſt, noch nach der Manumiſſion, weil bey ihm
(o) Gajus IV. § 47.
|0155 : 141|
§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.
das Hauptintereſſe des Sohnes (die klagbare Verpflich-
tung gegen den Dritten) ohnehin wegfällt (§ 65). Daher
hatte dieſe Klage ſtets der Herr, in deſſen Dienſt der
Sklave zur Zeit des gegebenen Depoſitum ſtand (p).
Ähnliche Rückſichten, wie bey dem Recht zur actio de-
positi, treten auch bey der Verpflichtung aus dem Depo-
ſitum ein. Wenn alſo ein filiusfamilias ein Depoſitum
übernimmt, und wenn derſelbe noch nach der Emancipa-
tion im Beſitz der Sache bleibt, ſo geht die Klage gegen
ihn (hier gewiß ſelbſt ohne Reſtitution), und gar nicht
als Peculienklage gegen den Vater (q); denn es handelt
ſich hier um die ganz faktiſche Reſtitution des natürlichen
Beſitzes, die von dem juriſtiſchen Verhältniß im Peculium
unabhängig iſt. Daß man dieſes wirklich als etwas Be-
ſonderes dachte, und zwar gerade aus dieſem Grunde,
erhellt unwiderſprechlich aus der ganz ähnlichen, und noch
mehr anomaliſchen, Weiſe, wie das einem Sklaven ge-
gebene Depoſitum behandelt wird: denn wenn dieſer nach
der Manumiſſion die Sache beſitzt, ſo geht gegen ihn die
actio depositi, da doch andere Contractsklagen aus der
Zeit des Sklavenſtandes durchaus nicht gegen ihn ange-
ſtellt werden können (r).
(p) L. 1 § 30 depos. (16. 3.).
(q) L. 21 pr. depos. (16. 3.).
(r) L. 21 § 1 depos. (16. 3.).
Die ganze Stelle, deren erſte
Hälfte in Note q angeführt iſt,
lautet im Zuſammenhang ſo:
„Si apud filiumfamilias res de-
posita sit, et emancipatus rem
teneat, pater nec intra annum
de peculio debet conveniri: sed
ipse filius. — Plus Trebatius
existimat, etiam si apud servum
depositum sit, et manumissus
rem teneat, in ipsum dandam
|0156 : 142|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
D. Actio commodati.
Eine ganz ähnliche Bewandniß wie mit dem Depoſi-
tum, hat es auch mit dem Commodat, und wir dürfen
unbedenklich annehmen, daß die eben aufgeſtellten Sätze
auch auf das Commodat anwendbar ſind. Einer der wich-
tigſten derſelben iſt ſogar ausdrücklich anerkannt, und wenn
die übrigen nicht gleichfalls erwähnt werden, ſo iſt dieſes
nur als zufällig anzuſehen. Auch die actio commodati
nämlich wird ausdrücklich unter diejenigen Klagen gerech-
net, die ein filiusfamilias ausnahmsweiſe in eigenem Na-
men anſtellen kann (s). Dieſes iſt ohne Zweifel aus den-
ſelben Gründen abzuleiten, und mit denſelben Unterſchei-
dungen anzuwenden, welche ſo eben bey dem Depoſitum
dargeſtellt worden ſind. Auch kommt bey dem Commodat,
eben ſo wie bey dem Depoſitum, eine formula in factum
concepta vor (t).
Man könnte fragen, ob nicht ein filiusfamilias auch
die actio locati gebrauchen könne, um eine von ihm ver-
miethete Sache zurück zu fordern? Wenn blos von die-
actionem, non in dominum, li-
cet ex ceteris causis in manu-
missum actio non datur.” —
Von dieſer Ausnahme iſt ſchon
anderwärts die Rede geweſen, vgl.
§ 70 s und Beylage IV. Note m.
Beſaß der Freygelaſſene die Sache
nicht, ſo konnte die Klage nicht
gegen ihn angeſtellt werden, ſelbſt
nicht wenn er ſich als Sklave ei-
nes dolus dabey ſchuldig gemacht
hatte. L. 1 § 18 depos. (16. 3.).
(s) L. 9 de O. et A. (44. 7.).
Vgl. oben § 71 q. — Auch hier
gilt die Regel, daß ſelbſt der Dieb
die Klage anſtellen kann (L. 15.
16 comm. 13. 6.), gewiß alſo
auch ein Commodatar oder De-
poſitar, der die Sache einem Drit-
ten als Commodat überließ.
(t) Gajus IV. § 47.
|0157 : 143|
§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.
ſer Rückforderung die Rede iſt, ſo ſind allerdings die Ver-
hältniſſe ganz ähnlich denjenigen, welche ſo eben bey der
actio depositi und commodati erwähnt worden ſind. Daß
ſie demungeachtet nicht in dieſer Verbindung erwähnt wird,
mag wohl daher rühren, daß hier die Klage zugleich auf
die Zahlung des Miethgeldes gerichtet, alſo die Rückfor-
derung meiſt mit der Verfolgung eines reinen und voll-
ſtändigen Vermögensrechts vermiſcht iſt.
E. Der natürliche Beſitz (die bloße Detention).
Kinder in väterlicher Gewalt, eben ſo wie Sklaven,
ſind des juriſtiſchen Beſitzes unfähig, der Detention aber,
da ſie blos faktiſch iſt, fähig (u). Dieſe Fähigkeit zeigt
ſich in folgenden Anwendungen.
Wenn der Vater dem Sohn etwas ſtipulirte, das ju-
riſtiſche Natur hatte, z. B. Eigenthum, ſo war es gültig,
weil das dem Sohn gegebene Eigenthum ſo gut als dem
ſtipulirenden Vater ſelbſt gegeben iſt. Geht aber die Sti-
pulation auf etwas blos Faktiſches, z. B. auf Detention
des Sohnes oder auf deſſen Gehen über einen beſtimmten
Weg, ſo iſt es ungültig, weil dieſes Faktum nicht in des
Vaters Vermögen kommen kann, ſo daß es wie jede Sti-
pulation für einen Andern, den der Stipulator nicht re-
präſentirt, zu betrachten iſt. Wenn umgekehrt der Sohn
ſtipulirt, daß der Vater Eigenthum, oder Detention, oder
die Erlaubniß zu gehen erhalte, ſo iſt dieſes Alles gültig,
weil der Sohn allgemein den Vater repräſentiren kann.
(u) Savigny Recht des Beſitzes § 9. 26.
|0158 : 144|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Wenn endlich der Sohn für ſich ſelbſt die Detention oder
das Gehen ſtipulirt, ſo iſt das gültig, und zwar in dem
Sinn, daß nun der Vater (nicht der Sohn) gegen den
Schuldner die Intereſſenklage wegen Verweigerung der
Detention oder des Gehens erwirbt. Dieſes Alles galt
bey dem Sklaven ganz eben ſo wie bey dem Sohn (v).
Eine andere Anwendung findet ſich bey der von einem
filiusfamilias beſeſſenen Erbſchaft. Dieſer muß die here-
ditatis petitio, ſo wie jeder Unabhängige, gegen ſich er-
gehen laſſen, weil die Verpflichtung zu derſelben auf dem
natürlichen Beſitz beruht. Läßt er ſich nun auch arrogi-
ren, ſo ändert hierin ſelbſt die capitis deminutio Nichts,
und es bedarf nicht einmal einer Reſtitution, um die An-
ſtellung der Klage gegen ihn auch ferner möglich zu ma-
chen (w).
F. Die erzwungene Reſtitution eines Fi-
deicommiſſes der Erbſchaft.
Wenn der Vater, der zum Erben eingeſetzt, und zur
Reſtitution der Erbſchaft an den Sohn verpflichtet iſt,
die Erbſchaft bedenklich findet, ſo kann ihn der Sohn zum
Antritt und zur Reſtitution zwingen, weil nun in Folge
des Zwanges alle Schulden auf den Sohn übergehen,
und der Vater frey von aller Gefahr bleibt (x). Anders
(v) L. 130. L. 37 § 6. 7. 8 de
V. O. (45. 1.). § 2 J. de stipul.
serv. (3. 17.). Vgl. Cujacius in
Lib. 15 quaest. Pauli (L. 130
de V. O.), opp. T. 5 p. 1107.
(w) L. 36 § 1 de her. pet.
(5. 3.).
(x) L. 16 § 11. 12 ad Sc.
Treb. (36. 1.).
|0159 : 145|
§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.
verhält es ſich, wenn der Herr gebeten wird, ſeinen Skla-
ven frey zu laſſen, und dann demſelben die Erbſchaft zu
reſtituiren. Denn da der Sklave ſich nicht durch Rechts-
geſchäfte klagbar verpflichten kann (§ 65), ſo verpflichtet
ihn auch nicht der gegen den Herrn ausgeübte Zwang
zum Antritt; er könnte alſo nach der Freylaſſung die An-
nahme der Reſtitution verweigern, in welchem Fall der
Herr mit den Erbſchaftsſchulden belaſtet bleiben würde (y).
Der Grund dieſes anomaliſchen Klagrechts zwiſchen
Vater und Sohn liegt darin, daß die durch Klage er-
zwungene Handlung eine bloße Formalität iſt, alſo etwas
blos Faktiſches, ohne alle rechtliche Wirkung für den Be-
klagten. Die Prozeßform war kein Hinderniß, weil der
Zwang extra ordinem durch die Fideicommißobrigkeit
durchgeführt wurde.
IV.
Endlich eine vierte Klaſſe anomaliſcher Rechte
bezieht ſich auf den Zwang zu ſolchen Handlungen, wo-
durch Veränderungen in Familienverhältniſſen
hervorgebracht werden ſollen. In der Regel nämlich ſind
ſolche Handlungen überhaupt ganz frey; wo aber ein
rechtlicher Zwang zu denſelben zugelaſſen wird, da iſt die-
ſer auch von den gewöhnlichen Regeln über die Rechts-
fähigkeit unabhängig, weil ein ſolcher Zwang gerade dar-
auf abzweckt, jene Regeln zu modificiren. Dahin gehoͤren
folgende Fälle.
(y) L. 16 § 13. 14 ad Sc. Treb. (36. 1.).
II. 10
|0160 : 146|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
A. Fideicommissaria libertas.
Wenn ein Teſtator ſeinem Sklaven die directa libertas
giebt, ſo liegt darin keine Abweichung von den Regeln
über die Rechtsfähigkeit. Der Sklave geht unmittelbar
in den Zuſtand der Freyen über, und es erſcheint alſo
gar nicht das Bedürfniß, während des Sklavenſtandes die
Ausübung eines Rechts, z. B. eine Klage gegen den Er-
ben, zuzulaſſen. Anders wenn der Teſtator ſeinem eige-
nen Sklaven, oder dem des Erben, oder auch eines Drit-
ten, die Freyheit durch Fideicommiß hinterläßt. Denn
dadurch erhält der Sklave eine Klage gegen den eigenen
Herrn unmittelbar auf Freylaſſung, gegen den Erben der
nicht ſein Herr iſt, auf Ankauf und Freylaſſung. Dieſes
bey den Römern ſo ſehr häufige und wichtige Rechtsver-
hältniß wurde für die Ausführung dadurch möglich ge-
macht, daß nicht eine gewoͤhnliche Klage, ſondern eine
extraordinaria cognitio der Obrigkeit, dazu angewendet
wurde (z).
B.
Wenn einem Erben oder Legatar durch Fideicom-
miß zur Pflicht gemacht wurde, ſeine Kinder zu emanci-
piren, ſo war dieſes zwar durch die gewöhnliche fidei-
commiſſariſche Jurisdiction nicht geſchützt: außerordentli-
cherweiſe aber konnte auch hier durch Einwirkung der
Kaiſer ein Zwang gegen den Vater eintreten, der ſich
durch Annahme der Erbſchaft oder des Legats zu einer
(z) § 2 J. de sing. reb. (2. 24.). Ulpian. XXV. § 12. 18. Tit. Dig.
de fid. libert. (40. 5.).
|0161 : 147|
§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.
Handlung verpflichtet hatte, die er hinterher verwei-
gerte (aa). — Vielleicht konnte ſogar im ordentlichen Pro-
zeß die Emancipation erzwungen werden, wenn ein Un-
mündiger arrogirt war, und dieſer nach erlangter Mün-
digkeit die Auflöſung der Gewalt verlangte (bb).
C.
Noch weit wichtiger aber iſt die durch die Lex
Julia eingeführte Regel, daß der Vater von ſeinen Kin-
dern durch Einwirkung der Obrigkeit gezwungen werden
kann, in ihre Ehe einzuwilligen, wenn er dieſe Einwilli-
gung ohne gehörigen Grund verweigert (cc).
(aa) L. 92 de cond. et de-
monstr. (35. 1.).
(bb) L. 32. 33 de adopt. (1.
7.). Doch könnte man auch un-
ter dem in L. 32 pr. cit. er-
wähnten judex den magistratus
verſtehen, worauf der Zuſatz causa
cognita zu deuten ſcheint; dann
wäre es eine extraordinaria
cognitio.
(cc) L. 19 de ritu nupt. (23. 2.).
10*
|0162 : 148|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 75.
Heutige Anwendbarkeit der Lehre von der Rechtsfä-
higkeit und der capitis deminutio.
Es bleibt nun noch zu unterſuchen übrig, welche Be-
deutung der hier dargeſtellten Lehre von der Rechtsfähig-
keit und der capitis deminutio (§ 64 — 74) in unſrem heu-
tigen Recht übrig geblieben iſt.
Wir haben von der Römiſchen Unfreyheit Nichts übrig,
alſo kann auch nicht mehr die Rede ſeyn von der Rechts-
unfähigkeit der Roͤmiſchen Sklaven.
Eben ſo wenig beſteht unter uns ein Stand der Civi-
tät oder Latinität, mit ihrem Gegenſatz in dem Stand
der Peregrinen; alſo hat auch bey uns die beſchränkte
Rechtsfähigkeit der Peregrinen aufgehört: die der Latinen
war ohnehin ſchon durch Juſtinians Geſetzgebung ver-
ſchwunden.
Dagegen beſteht in unſrem heutigen Recht allerdings
noch die Abhängigkeit von väterlicher Gewalt. Auch die
hierauf gegründete beſchränkte Rechtsfähigkeit iſt zum Theil
unverändert geblieben; und ſelbſt da, wo ſie durch die
Geſetze der chriſtlichen Kaiſer ſtarke Modificationen erhal-
ten hat, iſt ſie doch nur in Verbindung mit dem älteren
Recht zu verſtehen und anzuwenden möglich.
Ich gehe über zur capitis deminutio. Haben wir keine
Sklaven und Peregrinen mehr, ſo iſt auch eine maxima
|0163 : 149|
§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
und media capitis deminutio unmöglich geworden; mit ih-
nen zugleich der bürgerliche Tod, den die Römer darin
annahmen (§ 69).
Die minima capitis deminutio kann allerdings noch
vorkommen; denn wenn ſich ein Unabhängiger von einem
Andern arrogiren läßt, ſo unterwirft er ſich allen Be-
ſchränkungen, welche überhaupt einem filiusfamilias zu-
kommen, und erleidet alſo eine nachtheilige Veränderung
in ſeiner Rechtsfähigkeit. Eine andere Frage iſt es, ob
für ihn auch die ganz eigenthümlichen, poſitiven Wirkun-
gen der capitis deminutio (§ 69) noch jetzt eintreten, um
deren willen allein dieſer Begriff mit ſeinem Kunſtaus-
druck jemals praktiſchen Werth hatte? Dieſe Frage aber
muß verneint werden. Denn die Agnation, die dadurch
verloren gieng, iſt überhaupt ſeit der neueſten Geſetzgebung
von Juſtinian ohne praktiſche Bedeutung. Das Patro-
natsverhältniß exiſtirt gar nicht mehr. Den Einfluß der
minima capitis deminutio auf die perſönlichen Servituten
hat Juſtinian ausdrücklich aufgehoben. Endlich auch der
Untergang der Schulden durch capitis deminutio iſt im
Juſtinianiſchen Recht nicht mehr als praktiſches Recht zu
finden, ſondern nur noch für das Recht der früheren Zeit
zu errathen; jedoch auch hier ſo, daß ihm ſchon längſt
ſein praktiſcher Einfluß ganz entzogen war. Wir müſſen
alſo ſagen: die Lehre von der capitis deminutio iſt hiſto-
riſch und exegetiſch wichtig; für das praktiſche Recht iſt
der Begriff und der Name vollkommen entbehrlich.
|0164 : 150|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Am meiſten lebendige Fortdauer älterer Rechtsanſichten
iſt noch wahrzunehmen in den anomaliſchen Rechtsinſtituten,
welche ſich von den poſitiven Einſchränkungen der Rechtsfä-
higkeit ganz oder theilweiſe unabhängig erhalten haben (§ 71
— 74). Zwar iſt auch hier Vieles ganz verſchwunden, wie
z. B. das Alimentenlegat an Sklaven (§ 72) und die Frey-
laſſung durch Fideicommiß (§ 74). Dagegen hat ſich er-
halten die eigenthümliche Beſchaffenheit des Dotalrechts,
der Klagen auf Alimente und auf Dotation (§ 72), der
Injurienklage, der querela inofficiosi (inſofern man dieſe
noch nach der Novelle 115 gelten laſſen will) (§ 73), der
Societät, des Mandats u. ſ. w. (§ 74).
Die hier aufgeſtellten Behauptungen über die Gränze
der Anwendbarkeit der vorgetragenen Rechtsregeln ſtehen
auch mit den Anſichten neuerer Schriftſteller nicht im
Widerſpruch. Zwar pflegen ſich dieſelben nicht ſo aus-
drücklich und vollſtändig darüber zu erklären, allein man
kann mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß die meiſten
der hier aufgeſtellten Sätze, wenn es zu einer Erklärung
darüber käme, keinen erheblichen Widerſpruch finden wür-
den. Selbſt der ſcheinbare Widerſpruch von Glück (a)
kann nur zur Beſtätigung meiner Behauptung dienen. Er
nimmt an, wir hätten eine maxima capitis deminutio,
wenn Jemand ſich als Leibeigenen hingäbe, oder lebens-
länglich zu Feſtung oder Zuchthaus verurtheilt würde:
(a) Glück B. 2 § 128.
|0165 : 151|
§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
desgleichen eine media, in dem Verluſt des Bürgerrechts
eines einzelnen deutſchen Staats, oder auch des allgemei-
nen deutſchen Bürgerrechts. Er fügt aber hinzu, die Rö-
miſchen Rechtsſätze könnten darauf nicht angewendet wer-
den. Gerade davon aber iſt hier allein die Rede, und
insbeſondere von der aufgehobenen oder verminderten
Rechtsfähigkeit im Römiſchen Sinn. Daß zu allen Zeiten
mancherley Veränderungen in dem Zuſtand der Menſchen
vorkommen, wird Niemand bezweifeln; will man aber dieſe
als capitis deminutiones behandeln und bezeichnen, ſo kann
das nur zu einem leeren, verwirrenden Spiel mit Wor-
ten führen.
So verhält es ſich nun insbeſondere auch mit dem
bürgerlichen Tod; unſre Schriftſteller geben wohl den Rö-
miſchen Begriff an (b), aber nicht um damit eine prakti-
ſche Anwendung deſſelben zu behaupten. Anders hat ſich
die Sache ſeit langer Zeit in Frankreich geſtaltet, und ob-
gleich dieſer Gegenſtand nicht in den Gränzen unſrer Auf-
gabe liegt, ſo will ich ihn dennoch anhangsweiſe darſtel-
len, weil er ein warnendes Beyſpiel darbietet, wie weit
die ungeſchickte Anwendung misverſtandener hiſtoriſcher
Rechtsbegriffe führen kann.
Domat ſpricht von der mort civile in wenigen Zei-
len, die ihm jedoch zu zwey großen Irrthümern Raum
laſſen: Mort civile, ſagt er, war der Zuſtand des zum
Tod oder zu irgend einer Strafe mit Vermögensconfisca-
(b) So z. B. Mühlenbruch T. 1 § 184.
|0166 : 152|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
tion Verurtheilten, welcher dieſen Namen deswegen führte,
weil er esclave de la peine war (c). — Allein mit der
Confiscation hat der bürgerliche Tod gar Nichts zu ſchaf-
fen: denn der kriegsgefangene Roͤmer erlitt ihn ohne Con-
fiscation, und der relegatus erlitt ihn niemals, obgleich
auch bey ihm die Confiscation des Vermögens zuweilen
(nicht immer) vorkam. Ferner erlitt der Deportirte den
bürgerlichen Tod, ohne doch esclave de la peine zu ſeyn.
So ſtand es in der Theorie. In der Praxis (d) wurde
jener Begriff angewendet auf die lebenslängliche Galee-
ren- und Verbannungsſtrafe; in einigen anderen Fällen
war die Anwendung beſtritten. Die wichtigſte Anwendung,
und wodurch alle böſe Leidenſchaften in Bewegung geſetzt
wurden, machte das Geſetz von Ludwig XIV. auf die
religiöſen Emigranten, die réfugiés; weil aber dieſes Ge-
ſetz mit der öffentlichen Meynung im Widerſpruch ſtand,
ſo ſetzte man ſich in der Anwendung oft darüber hinweg,
beſonders in Beziehung auf die Kinder der Ausgewanderten.
Die Revolution brach aus, und bald fanden ſich neue
hoͤchſt wichtige Anwendungen, indem die Geſetze vom
28. März und vom 17. Sept. 1793 den bürgerlichen Tod
auf die Emigranten und auf die Deportirten anwendeten.
Die Rüſtkammer der alten Jurisprudenz mußte jetzt die
Waffen zur Verfolgung der Emigranten hergeben.
(c) Domat Liv. prélim. Tit. 2
Sect. 2 § 12.
(d) Ausführlich handelt davon
Merlin Répertoire art. Mort
civile, wo ſich die Beläge zu den
nachfolgenden Sätzen des Textes
finden.
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§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
Endlich ſollte der Code gemacht werden. Nichts iſt
irriger, als wenn Viele glauben, dieſer wäre ganz aus
neuer revolutionärer Weisheit, kraft einer Art von In-
ſpiration, hervorgegangen. Vielmehr brachten ſowohl die
erſten Redactoren, als nachher die Mitglieder des Staats-
raths, alle ihre Kenntniſſe und Irrthümer aus der Zeit
der alten Jurisprudenz mit hinzu. Als Fälle der Anwen-
dung des bürgerlichen Todes wurden nun folgende ange-
nommen:
1) Die Emigranten. Zwar wurden die Geſetze gegen
die Emigration ſchon im J. VIII. aufgehoben und die mei-
ſten Einzelnen, die es wollten, waren aus der Emigran-
tenliſte geſtrichen, und dadurch wieder von dem bürgerli-
chen Tod befreyt worden; allein theils blieben immer noch
Viele übrig, die nicht zurückgekehrt waren, theils ſollten
und konnten auch die Wiederaufgenommenen von der Wir-
kung ihres bürgerlichen Todes auf die in der Vergangen-
heit eingetretenen Ehen und Erbfälle nicht befreyt werden (e).
Dagegen ſollte in Zukunft die freywillige Aufloͤſung
der Verhältniſſe zum Vaterland nicht mehr als bürgerli-
cher Tod gelten, ſondern nur noch die Eigenſchaft eines
Franzoſen aufheben (art. 17 — 21), welche Veränderung
aber gar nicht von Erheblichkeit iſt.
(e) Die Geſetze über die Emi-
granten citirt Merlin l. c., p. 373.
— Bey der Discuſſion des Code
im Staatsrath wurde die fort-
dauernde Wirkſamkeit und Wich-
tigkeit der Emigrantengeſetze über-
haupt, und beſonders in Bezie-
hung auf ihren bürgerlichen Tod,
ausdrücklich anerkannt. Confé-
rence du code civil T. 1 p. 76.
77 (zu art. 24).
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
2) Die zum Tod Verurtheilten: theils für die Zwi-
ſchenzeit bis zu ihrer Hinrichtung, theils für die Fälle,
worin ſie ſich der Hinrichtung durch die Flucht entziehen
würden (art. 23).
3) Die zu gewiſſen anderen Strafen Verurtheilten
(art. 24). Der Code civil behielt die nähere Beſtimmung
noch vor, der Code pénal art. 18 knüpfte den bürgerli-
chen Tod an die lebenslängliche Zwangsarbeit (Galeeren)
und an die Deportation; dieſer letzte Fall wurde mit Recht
als der erheblichſte und ſchwierigſte behandelt, weil der De-
portirte am Ort der Verbannung in Freyheit leben ſollte.
Das Wichtigſte aber ſind nun die Wirkungen des bür-
gerlichen Todes, die ſich in folgenden Hauptſätzen, nach
Vorſchrift des art. 25, darſtellen laſſen:
1) Das ganze gegenwärtige Vermoͤgen des bürgerlich
Todten fällt, im Augenblick dieſes Ereigniſſes, auf ſeine
Inteſtaterben.
2) Er iſt für die Zukunft unfähig zu allen droits civils,
fähig zu allen droits naturels (f). Dieſe Grundverſchie-
denheit wird folgendergeſtalt angewendet:
(f) Es war dieſes wörtlich aus-
geſprochen im Projet de code
civil Liv. 1 Tit. 1 art. 30 „pri-
vés des avantages du droit ci-
vil proprement dit.” § 31 „Ils
demeurent capables de tous les
actes qui sont du droit natu-
rel et des gens.” Der Code
civil ſelbſt enthält dieſe formelle
Beſtimmung nicht, ſondern nur
(beyſpielsweiſe) die Aufzählung
der wichtigſten einzelnen entzo-
genen Rechte, der Sinn aber iſt
derſelbe geblieben, wie aus der
Discuſſion im Staatsrath deut-
lich erhellt. Vgl. Toullier droit
civil Français Liv. 1 § 279.
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§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
a) Er kann nicht durch Erbſchaft erwerben, mit Aus-
nahme legirter Alimente.
b) Er kann weder Teſtaments- noch Inteſtaterben hin-
terlaſſen. Was er während des bürgerlichen Todes er-
wirbt, fällt bey ſeinem natürlichen Tod an den Staat
(art. 33).
c) Er kann weder ſchenken, noch Geſchenke empfan-
gen, mit Ausnahme von Alimenten (g).
d) Die Ehe, in welcher er bis jetzt lebte, iſt aufge-
löſt in Anſehung aller civilen Wirkungen.
e) Die Ehe, die er von jetzt an ſchließen möchte, iſt
in Anſehung derſelben Wirkungen ungültig.
f) Dagegen iſt er fähig, durch jede andere juriſtiſche
Handlung, als die oben genannten, Vermögen zu erwer-
ben und zu veräußern. Er iſt alſo fähig zu Kauf, Tauſch,
Pacht und Miethe, Darlehen, ſo wie zu allen Klagen aus
Injurien oder anderen Delicten (h).
Gegen dieſe Gränzbeſtimmung iſt nun Folgendes einzu-
wenden. Die Unterſcheidung der droits civils und natu-
(g) So iſt es im art. 25 wört-
lich ausgedrückt. Toullier § 282
ſagt dagegen, der bürgerlich Todte
ſey fähig zu erwerben und zu ver-
äußern durch donations manuel-
les, d. h. durch Schenkung be-
weglicher Sachen vermittelſt der
Tradition, aber nicht durch Schen-
kung von Immobilien, oder ſol-
che, die ſchriftlich abgefaßt wer-
den müßten. Dann würde alſo
ein großes Vermögen in baarem
Geld oder Staatspapieren gültig
geſchenkt werden können, was
doch dem Geſetz geradezu entge-
gen iſt. Das Projet de code
civil art. 32. 33 erlaubte den Em-
pfang einer Schenkung von ge-
ringen beweglichen Sachen und
die von Alimenten, dagegen die
Veräußerung durch Schen-
kung unbedingt.
(h) Das Projet de code civil
§ 31 hatte die erlaubt bleibenden
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
rels ſtammt augenſcheinlich aus dem Römiſchen Recht, hat
aber in dieſem eine ganz andere Bedeutung, indem das
Römiſche jus gentium ein in ſich ausgebildetes, gleichfalls
poſitives Recht war (§ 22). Unvermerkt hat man dem
Roͤmiſchen Gegenſatz den davon verſchiedenen Gegenſatz
der mehr poſitiven und willkührlichen, oder mehr natürli-
chen und ſich von ſelbſt verſtehenden Rechtsinſtitute unter-
geſchoben. Dieſer letzte aber iſt theils für die Anwendung
unerheblich, theils in der Gränzbeſtimmung ſchwankend und
unbeſtimmt, welches ſich in folgenden Anwendungen deut-
lich zeigt. Ganz inconſequent iſt es, daß der Deportirte
Vermögen erwerben kann, dieſes aber bey ſeinem Tode
an den Staat fallen ſoll, was doch im Grunde nur eine
partielle Confiscation, alſo eine halbe Maasregel iſt. Im
Römiſchen Recht galt zwar derſelbe Rechtsſatz (i), aber
hier hatte er die conſequente Bedeutung einer Fortſetzung
der gleich Anfangs eintretenden Confiscation, die ja aber
das Franzöſiſche Recht verwirft. Blos als Peregrine be-
trachtet hätte der Deportirte wohl Erben hinterlaſſen koͤn-
nen, denn die Peregrinen als ſolche wurden ja niemals
vom Staate beerbt. In der poſitiven Natur alles Erb-
rechts liegt gewiß keine Rechtfertigung des Franzöſiſchen
Rechtsſatzes, und doch ſcheint man ihn blos darauf ge-
Geſchäfte ausdrücklich aufgezählt,
der Code ſelbſt ſchweigt darüber,
aber der Sinn iſt auch bey ihm
derſelbe. Vgl. Toullier § 280.
283. Ferner die Äußerungen von
Tronchet im Staatsrath, Con-
férence T. 1 p. 119.
(i) L. 2 C. de bonis proscript.
(9. 49.).
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§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
gründet zu haben. — Noch auffallender iſt die Behandlung
der Schenkung, die doch gewiß um gar Nichts poſitiver
iſt, als der Kauf und die Miethe. Auch geht hierin der
Code ganz von dem Projet ab, und die Juriſten gehen
wieder ihren eigenen Weg (Note g). Der Grund, den
Toullier für die civile Natur der Schenkung angiebt,
daß die Schenkung an poſitive Formen gebunden ſey,
kann gar Nichts entſcheiden; denn auch der Kauf und die
Miethe, ſo bald ſie einen Werth von 150 Franken über-
ſteigen, ſind einer poſitiven Form unterworfen (art. 1341),
und doch ſollen dieſe Verträge unbedingt dem Deportirten
zugänglich ſeyn.
Doch wichtiger als alles Andere iſt die Behandlung
der Ehe. In dieſer unterſchied man zwar ein natürliches,
civiles und religiöſes Element (k); indem man ihr aber
die effets civils verſagte, meynte man damit unzweifelhaft
alle und jede juriſtiſche Wirkungen, wie es auch im Lauf
der Discuſſionen ausdrücklich anerkannt worden iſt. In
Beziehung auf die Ehe eines Deportirten iſt alſo, da ſie
juriſtiſch gar nicht exiſtirt, weder Ehebruch noch Bigamie
möglich. Die Kinder eines Deportirten ſind uneheliche,
ſind bâtards, ſie haben keinen Vater, und es gilt für ſie
kein Erbrecht, ſelbſt nicht in das Vermögen der Seiten-
verwandten (l). In beiden Beziehungen macht es auch
(k) Conférence T. 1 p. 86.
92. 98.
(l) Conférence p. 86. 110. —
Toullier § 285. 293 behauptet die
Legitimität der Kinder, weil ja
doch das vinculum matrimonii
(le lien) fortdauere. Offenbar
im Widerſpruch gegen das Ge-
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
gar keinen Unterſchied, ob der Deportirte blos eine frü-
here Ehe fortgeſetzt, oder ob er erſt während der Depor-
tation eine Ehe geſchloſſen hat. — Vergleichen wir damit
das frühere Recht.
Nach Römiſchem Recht war die Ehe eines Deportirten
nach jus civile ungültig, nach jus gentium gültig, alſo
völlig eben ſo gültig, wie die Ehen der vielen Millionen
Provinzialen vor der durch Caracalla allgemein gemachten
Civität (m). Die Folgen dieſes Grundſatzes beſtanden darin,
daß die Kinder aus einer ſolchen Ehe nicht in der väterlichen
Gewalt des Deportirten, noch in der Agnation mit deſſen
Verwandten ſtanden. Dagegen waren ſie ehelich, ſie hatten
einen juriſtiſch gewiſſen Vater, ſie ſtanden in einer wah-
ren Cognation mit ihren Eltern und deren Verwandten,
und konnten hieraus jedes cognatiſche Erbrecht (nur nicht
in das Vermoͤgen des Vaters, welches immer wieder con-
fiscirt wurde) geltend machen. Alle dieſe Beſtimmungen
giengen aus rein juriſtiſcher Conſequenz hervor, nicht aus
religiöſen Anſichten, denn ſie waren lange vor der Herr-
ſchaft des Chriſtenthums anerkannt. — Indem man nun
ſetz. Was er vertheidigt, wurde
von der Minorität des Staats-
raths geltend gemacht, um eine
Abänderung des Projects durch-
zuſetzen; ihre Meynung fiel aber
durch, und das Project wurde un-
verändert angenommen. Gerade
durch den vorhergehenden gründ-
lichen Streit wird der wahre
Sinn des Geſetzes ganz außer
Zweifel geſetzt.
(m) Ja ſogar hatte man aus
Menſchlichkeit noch etwas von den
ſtrengen Grundſätzen nachgege-
ben; die Dos, die eigentlich nur
neben einem justum matrimoni-
um gelten konnte, ſollte hier fort-
dauern dürfen, obgleich die Ehe
nicht mehr justum matrimo-
nium war.
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§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
bey der Abfaſſung des Code die dem Roͤmiſchen jus civile
eigenthümlichen Wirkungen mit den juriſtiſchen Wirkungen
überhaupt verwechſelte, kam man unvermerkt zu dem ſelt-
ſamen Reſultat, die Ehe des Franzöſiſchen Deportirten
nicht (wie es natürlich geweſen wäre) mit der Ehe des
Römiſchen Deportirten gleich zu ſtellen, ſondern mit der
Ehe des Roͤmiſchen Bergwerkarbeiters, welche allerdings
durch den Sklavenſtand des verurtheilten Ehegatten con-
ſequenterweiſe vernichtet werden mußte. Ja man gieng
darin noch weiter, als das Römiſche Recht in ſeiner neue-
ſten Geſtalt; denn Juſtinian hat den Sklavenſtand dieſer
Verurtheilten aufgehoben, damit ihre Ehe fortdauern könne
(Nov. 22 C. 8), und ſelbſt dieſe Milderung iſt den Fran-
zöſiſchen Deportirten verſagt.
Das altfranzöſiſche Recht, und insbeſondere die ordon-
nance von 1639, deren Härte ſtets mit der oͤffentlichen
Meynung im Widerſpruch ſtand, und eine ſtille Widerſetz-
lichkeit der Gerichte zur Folge hatte, erkannte dennoch an,
daß die früher geſchloſſene Ehe als Sacrament fortdauere,
daß daher die ſpäter in derſelben erzeugten Kinder ehelich
ſeyen, und gegen alle Verwandte Erbrecht hätten (n).
Auch erregte der Vorſchlag des neuen Geſetzes den
lebhafteſten und gründlichſten Widerſpruch: zuerſt von
Seiten des Appellationshofes in Paris (o): dann im Staats-
rath von Seiten des erſten Conſuls (der darüber ſehr ver-
(n) Conférence p. 89. 90.
(o) Observations des tribu-
naux d’appel sur le projet de
code civil p. 38.
|0174 : 160|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſtändig ſprach), des Juſtizminiſters, und anderer Mitglie-
glieder (p): endlich auch von Seiten des Tribunats, an
welches die Redaction des Staatsraths zur Prüfung ge-
langte (q). Man beſtritt den Vorſchlag theils aus dem
Römiſchen und altfranzöſiſchen Recht, theils aus Gründen
der Menſchlichkeit; beſonders hob Bonaparte hervor, wie
empörend es ſey, daß die Frau eines Deportirten, deren
edle Treue, wenn ſie ſein Unglück theile, Verehrung ver-
diene, durch das Geſetz zur Concubine herabgewürdigt
werde. Alles vergebens. Das Geſetz wurde dennoch an-
genommen, und dazu wirkten folgende verſchiedene Gründe
zuſammen. Erſtlich die ſtarre Conſequenz aus hiſtoriſch
falſchen Prämiſſen, alſo die Nachwirkung der Irrthümer,
welche die meiſten Juriſten von ihrer Jugend an aus einer
oberflächlichen Kenntniß des Römiſchen Rechts in ſich auf-
genommen hatten, und nun nicht los werden konnten (r).
Zweytens der von der Revolution her eingewurzelte Haß
gegen die Emigranten, obgleich der groͤßte Theil derſelben
(p) Conférence p. 86. 87. 88.
Vgl. beſonders auch Maleville
analyse raisonnée T. 1 p. 47—50.
(q) Conférence T. 1 p. 174—
176.
(r) Wer etwa glauben möchte,
die Einwirkung des Römiſchen
Rechts (in irriger Auffaſſung) ſey
hier nur von mir willkührlich ange-
nommen, in der That nicht ge-
gründet, der wolle doch den Ar-
tikel Mort civile in Merlin Ré-
pertoire nachleſen, worin ſich der
Verfaſſer die größte und über-
flüſſigſte Noth macht mit der Er-
klärung und ſelbſt mit der Text-
kritik von Pandektenſtellen. Un-
ter andern wird das völlig un-
paſſende postliminium mit her-
eingezogen, und p. 373 werden
die Worte der L. 4 de capt. „An
qui hostibus deditus, reversus,
nec a nobis receptus est,” von
einem Überläufer erklärt, einem
enfant ingrat de la patrie, und
mit art. 18. 19. 21 des Code in
Verbindung geſetzt, welches doch
faſt in’s Unglaubliche geht.
|0175 : 161|
§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
bereits begnadigt war, und die Ubrigen ihre Wichtigkeit
und Gefährlichkeit längſt verloren hatten. Drittens das
ängſtliche Beſtreben, die frühere Einwirkung religioͤſer An-
ſichten auf das Recht ſtreng abzuwehren. Recht auffallend
wird das Reſultat dieſer ſiegenden Beweggründe in der
Vertheidigungsrede, womit der Tribun Gary das defini-
tive Project, d. h. die jetzt in dem Code ſtehende Abfaſ-
ſung, zur Annahme empfahl. Er giebt zu, wenn die Frau
dem Deportirten in die Verbannung folge, ſey es hart,
daß die Kinder unehelich ſeyen, ſie ſelbſt eine Con-
cubine; allein Härten gebe es auch ſonſt wohl im Recht,
und eine ſolche Frau möge ſich mit ihrem Gewiſſen, mit
der Religion, mit der Meynung anderer Menſchen tröſten,
daran hindere ſie das Geſetz ganz und gar nicht, aber
die Conſequenz des Geſetzes gehe über Alles (s). Ohne
Zweifel wird ſtets die öffentliche Meynung das Geſetz ent-
kräften, ja auch die Gerichte werden es, ſo wie ſie früher
thaten, in der Anwendung unvermerkt untergraben, allein
dadurch wird deſſen voͤllige Verwerflichkeit nicht vermin-
dert, ſondern nur noch mehr außer Zweifel geſetzt.
Fragt man zuletzt nach der künftigen Wirkung des Ge-
ſetzes, ſo iſt darüber Folgendes zu ſagen. Fuͤr die zum
Tod oder zu lebenslänglicher Zwangsarbeit Verurtheilten
iſt es faſt ganz gleichgültig, weil die Natur ihrer Strafe
ohnehin alles Dasjenige unmöglich macht, worin die An-
nahme eines bürgerlichen Todes bedenklich ſcheinen könnte;
(s) Code civil suivi des motifs T. 2 p. 86.
II. 11
|0176 : 162|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
hier bleibt alſo nur die augenblickliche Beerbung als Folge
übrig, und gegen dieſe läßt ſich am wenigſten ſagen. Bey
den Emigranten iſt das Geſetz wichtig, wegen der Folgen
der während der Emigration eingetretenen Rechtsverhält-
niſſe; allein dieſe Wichtigkeit muß allmälig aufhören. Die
bleibend wichtige Folge wird ſich bey der Deportation
zeigen; daraus wollte man ein politiſch wichtiges, plan-
mäßiges Inſtitut machen, welches jedoch bis auf dieſen
Tag noch nicht zur Reife gekommen iſt. Hier werden ſich
alle oben gerügte Mängel fühlbar machen. Die gerade
hier vorgebrachte Rechtfertigung, es ſey gefährlich, dem
Deportirten durch ausgedehntere Rechtsfähigkeit die Mittel
zur Flucht oder zu feindſeligen Unternehmungen zu ge-
währen (t), iſt völlig ohne Grund. Denn gegen dieſe Ge-
fahr ſchützt, auch ohne bürgerlichen Tod, die bloße In-
terdiction, das heißt dieſelbe Maasregel, die neben man-
chen anderen Strafen wirklich angewendet, und ganz aus-
reichend befunden wird (u).
Keine einzelne Anwendung jener Grundſätze hat ſolche
Celebrität erlangt, als die auf den Fürſten Polignac.
Dieſer wurde durch das Urtheil des Pairshofes vom
21. Dec. 1830 zu lebenslänglicher Haft verurtheilt, welche
die Stelle einer, nicht ausführbaren, Deportation vertre-
ten ſollte, und in Folge dieſer Strafe wurde er zugleich
ausdrücklich für bürgerlich todt erklärt, mit allen Folgen,
die das Geſetz an die Deportation und den bürgerlichen
(t) Conférence T. 1. p. 128.
(u) Code pénal art. 29. 30. 31.
|0177 : 163|
§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
Tod knüpfe. Seine Ehe hat in Ham fortgedauert, es
ſind ihm Kinder geboren worden, und ſo kann dieſer Fall
vorzüglich dazu dienen, die ganze hier dargelegte Verwerf-
lichkeit des Franzöſiſchen Geſetzes über den bürgerlichen
Tod anſchaulich zu machen.
Im Jahr 1831 wurde eine Commiſſion niedergeſetzt
zur Abänderung einiger Beſtimmungen des Strafgeſetz-
buchs, und durch ſie ſind in der That manche Modifica-
tionen herbeygeführt worden. Von dieſer Commiſſion
wurde die Verwerflichkeit des Geſetzes über den bürgerli-
chen Tod anerkannt, und in den ſtärkſten Ausdrücken ge-
ſchildert. Sie enthielt ſich nur deswegen des Antrags auf
Abſchaffung, weil ſie mit Recht annahm, daß dieſe Ände-
rung nicht ohne gleichzeitige neue Beſtimmungen über
manche verwandte Stücke des Privatrechts erfolgen dürfe,
die außer dem Auftrag der Commiſſion lagen (v). In
dieſem Zuſtand iſt die Sache bis jetzt geblieben.
Indem aber hier die der Franzoͤſiſchen Geſetzgebung
zum Grund liegenden Irrthümer über den bürgerlichen
Tod im Einzelnen dargelegt worden ſind, wird dadurch
zugleich zu einer umfaſſenderen Betrachtung dieſes Gegen-
ſtandes, in Beziehung auf mögliche und räthliche heutige
Anwendung, der Weg gebahnt ſeyn. Für überflüſſig wird
(v) Der Bericht der Commiſ-
ſion wurde in der Sitzung der
Deputirtenkammer vom 11. No-
vember 1831 erſtattet. Vgl. Mo-
niteur 1831 vom 12. November.
11*
|0178 : 164|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
dieſer Zuſatz nicht gehalten werden können, wenn man er-
wägt, daß dieſer Theil des Franzöſiſchen Rechts auch in
den Geſetzen deutſcher Länder Eingang gefunden hat, und
leicht noch ferner Eingang finden könnte.
Im Roͤmiſchen Recht erſcheinen bey den meiſten ſchwe-
ren Verbrechen viererley Folgen vereinigt: Criminalſtra-
fen, Magna capitis deminutio, der bürgerliche Tod, die
Confiscation des Vermögens. Dieſe vier Folgen werden
häufig in einem unrichtigen Verhältniß zu einander ge-
dacht, und hierin liegt der Grund der bedenklichſten Mis-
verſtändniſſe.
Die magna capitis deminutio iſt nicht identiſch mit
den Criminalſtrafen, denn die relegatio iſt eine Criminal-
ſtrafe ohne capitis deminutio (w); auf der andern Seite
erlitt eine magna capitis deminutio der Römiſche Bürger,
der in Kriegsgefangenſchaft gerieth, oder der in eine La-
tiniſche Colonie eintrat, und bey dieſen Beiden wird Nie-
mand an eine Strafe denken. Beide Rechtsbegriffe liegen
alſo außer einander, und man kann nur ſagen, daß an
mehrere Criminalſtrafen die capitis deminutio als eine ganz
poſitive Folge angeknüpft iſt, ohne aus dem Begriff die-
ſer Strafen von ſelbſt zu folgen.
Der Ausdruck des bürgerlichen Todes (mors civilis)
iſt erſt in neuerer Zeit entſtanden; um den Begriff be-
ſtimmter zu bezeichnen, will ich es die Fiction des Todes
nennen, das heißt die Behandlung eines lebenden Men-
(w) L. 7 § 5 de bonis damn. (48. 20.).
|0179 : 165|
§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
ſchen als ob er todt wäre. Dieſe Fiction iſt als ganz
poſitive Folge an jede magna capitis deminutio ange-
knüpft, ohne aus dem Begriff derſelben von ſelbſt zu fol-
gen (§ 69 S. 71). Sie ſteht alſo in demſelben Verhält-
niß wie die capitis deminutio zu den Criminalſtrafen; der
Kriegsgefangene unterliegt der Fiction des Todes, der re-
legatus iſt davon frey, und man kann alſo auch von die-
ſer Fiction nur ſagen, daß ſie als poſitive Folge mit
mehreren Criminalſtrafen verknüpft iſt. Allein auch wo
ſie in dieſer Verbindung erſcheint, iſt ſie von den Römern
niemals als Strafe, oder als Schärfung einer andern
Strafe, oder als eine Verſtärkung des moraliſchen Ein-
drucks derſelben, gedacht worden, ſondern nur als eine
billige, einfache, bequeme Auskunft zur Beſeitigung derje-
nigen Schwierigkeiten, die bey Erbſchaftsfällen entſtehen
konnten. Denn der ſo Verurtheilte konnte ſelbſt nicht Erbe
ſeyn wegen der capitis deminutio (x); damit nun nicht
durch ſein bloßes Daſeyn auch Andere an der Erbfolge
gehindert werden möchten, fingirte man ſeinen Tod, wo-
durch ſein Daſeyn bey einer ſolchen Erbſchaft ganz außer
Betracht kam. Ebendaher aber wurde dieſe Fiction nur
angewendet, wo ſie dieſem beſonderen Zweck dienen konnte,
alſo auch nur in Anſehung der an das Leben geknüpften
civilen Wirkungen, außerdem nahm man darauf keine
Rückſicht, ſo daß hierin eine buchſtäbliche Conſequenz nicht
(x) Er war nicht einmal zu ei-
ner Bonorum possessio fähig
(L. 13 de B. P.), alſo noch viel
weniger zu einer hereditas.
|0180 : 166|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
erwartet werden darf. So konnte der Deportirte Vermoͤ-
gen erwerben, und eine Ehe führen, wiewohl bekanntlich
todte Menſchen zu Beidem ganz unfähig ſind; die Fähig-
keit dazu gründete ſich bey ihm auf das jus gentium, nicht
auf das jus civile.
Die Vermögensconfiscation iſt, überall wo ſie vor-
kommt, eine wahre Strafe. Mit der magna capitis de-
minutio erſcheint ſie nur zufällig und äußerlich verknüpft
(§ 69. b), ſo daß beide Rechtsbegriffe außer einander lie-
gen. Zur Zeit der freyen Republik trat ſelbſt neben den
ſchwerſten Strafen die Confiscation in der Regel nicht
ein (y). Unter den Kaiſern war ſie allerdings die regel-
mäßige Folge jeder als Strafe verhängten magna capitis
deminutio (z); doch auch nun noch mit ſehr mildernden
Modificationen. Portionen des Vermögens wurden ſchon
frühe den Kindern des Verbrechers überlaſſen, und nach
manchen Schwankungen der Rechtsregeln beſtimmte zuletzt
Juſtinian, daß, mit Ausnahme des Majeſtätsverbrechens,
das Recht des Fiscus ganz wegfallen ſollte zum Vortheil
der Descendenten und der drey nächſten Grade der Ascen-
denten des Verbrechers (aa). Umgekehrt aber konnte auch
(y) Der verurtheilte Vatermör-
der wurde auf gewöhnliche Weiſe
beerbt, und es war nur zweifel-
haft, ob er noch nach der Ver-
urtheilung ein gültiges Teſtament
machen könne. Cicero de invent.
II. 50. Auct. ad Herenn. I. 13.
(z) L. 1 pr. de bonis damn.
(48. 20.).
(aa) L. 1 § 1. 2. 3 de bonis
damn. (48. 20.), L. 10 C. de
bonis proscr. (9. 49.). Nov. 17
C. 12. — Das neueſte Geſetz iſt
Nov. 134 C. 13, wovon Auth.
Bona damnatorum C. de bonis
proscr. (9. 46.) Etwas abweicht.
|0181 : 167|
§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
die Confiscation eintreten ohne alle capitis deminutio (bb).
— Eben ſo zufällig zuſammentreffend, und den Begriffen
nach von einander unabhängig, ſind die Confiscation, und
die Fiction des Todes. Bleibt man bey dem ſtrengen Be-
griff dieſer Fiction ſtehen, ſo folgt daraus nicht Confis-
cation, ſondern Beerbung, da ja auch das Vermögen des
wirklich Todten nicht confiscirt, ſondern vererbt wird.
Von den hier aufgeſtellten Sätzen ſoll nun noch eine
beſondere Anwendung auf die Teſtamentsfähigkeit eines
Verurtheilten gemacht werden. Wo Confiscation des Ver-
moͤgens eintritt, iſt es ſehr einleuchtend, daß jedes Teſta-
ment des Verurtheilten unwirkſam bleiben muß, es mag
vor oder nach der Verurtheilung gemacht ſeyn. Dieſer
Grund verſchwindet alſo für eine heutige Geſetzgebung,
wenn darin die Confiscation überhaupt nicht aufgenom-
men wird.
Bey den Römern war der entſcheidende Grund, der
jedes frühere Teſtament bey ſolchen Strafen vernichten
mußte, die capitis deminutio, da ſelbſt die minima dieſe
Wirkung hatte. Nur wenn zur Zeit des Todes eine Her-
ſtellung des vorigen Zuſtandes erfolgt war, ſollte das frü-
here Teſtament, welches nach jus civile ungültig war und
blieb, durch den Prätor aufrecht erhalten werden (cc).
Nach der Verurtheilung konnte kein Teſtament gemacht
(bb) L. 7 § 5 de bonis damn.
(48. 20).
(cc) Gajus II. § 145. 147. Ul-
pian. XXIII. § 4. 6. L. 1 § 8.
L. 11 § 2 de B. P. sec. tab. (37.
11.). L. 8 § 3 de j. codic. (29.
7.). L. 6 § 5—13 de injusto
(28. 3.).
|0182 : 168|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
werden, weil kein Peregrinus die testamentifactio hatte (dd).
Dieſes Hinderniß kann in einer neueren Geſetzgebung nicht
vorkommen, weil wir die Römiſche magna capitis demi-
nutio nicht kennen.
Die Fiction des Todes endlich, wenn ſie ſtreng durch-
geführt wird, macht allerdings ein ſpäteres Teſtament un-
moͤglich, weil ein todter Menſch kein Teſtament machen
kann. Dagegen ſteht ſie der Wirkſamkeit des früheren
Teſtaments gewiß nicht im Wege, indem ja auch der
wirkliche Tod ein vorhandenes Teſtament nicht entkräftet,
ſondern erſt recht in Kraft ſetzt. Dieſes wird beſonders
einleuchtend in einem Fall, worin die Fiction des Todes,
ganz beſonders zu dieſem Zweck, durch einen eignen Volks-
ſchluß (die Lex Cornelia) ausgeſprochen war. Wenn
naͤmlich ein Römer als Kriegsgefangner ſtarb, ſo wurde
fingirt, er ſey im Augenblick der Gefangennehmung ge-
ſtorben; dadurch wurde ſein früher gemachtes Teſtament
aufrecht erhalten, welches ohne dieſe Fiction durch die
maxima capitis deminutio vernichtet worden wäre (ee).
In den Römiſchen Begriffen und Rechtsregeln alſo,
wenn wir ſie conſequent auf unſren veränderten Rechts-
zuſtand anwenden, liegt kein durchgreifender Grund, dem
Teſtament eines Verurtheilten in einer heutigen Geſetzge-
bung die Wirkſamkeit zu verſagen.
(dd) L. 8 § 1 — 4 qui test.
(28. 1.).
(ee) L. 6 § 5. 12 de injusto
(28. 3.). L. 12 qui test. (28. 1.).
Ulpian. XXIII. § 5.
|0183 : 169|
§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.
Dieſe Betrachtungen ſollten keinesweges der Aufnahme
des bürgerlichen Todes in ein Strafgeſetzbuch unſrer Zeit
widerſprechen; es ſollte nur der täuſchende Schein eines
Zuſammenhangs mit den Begriffen und Regeln unſres
überlieferten poſitiven Rechts entfernt werden, der uns
verleiten kann, ganz unbegründeten Conſequenzen Raum
zu geben. Was in dieſer Hinſicht beſtimmt werden mag,
iſt etwas Neues, von dem bisher geltenden Recht Unab-
hängiges, welches nicht durch hiſtoriſche Gründe, ſondern
von dem Standpunkt innerer Zweckmäßigkeit aus, gerecht-
fertigt werden muß. Und dieſes gilt namentlich auch für
die Frage, ob die Teſtamente der zu ſchweren Strafen
Verurtheilten als gültig zugelaſſen werden ſollen.
|0184 : 170|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 76.
Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Infamie.
Einleitung.
Die bisher dargeſtellten Beſchränkungen der Rechtsfä-
higkeit ſind aus zwey Gründen als Beſtandtheile des heu-
tigen Römiſchen Rechts zu behandeln: erſtlich, weil das
Syſtem des Privatrechts von alter Zeit her ſo ganz mit
ihnen verflochten war, daß eine gründliche Einſicht auch
in deſſen neueſte Geſtalt ohne die genaue Kenntniß jener
Beſchränkungen eben ſo wenig möglich iſt, als die ſichere
Abwehrung der verwirrendſten Irrthümer: zweytens weil
von denſelben auch in dem neueſten Recht bedeutende
Stücke erhalten ſind, die abgetrennt von ihrem früheren
Zuſammenhang in ihrem eigentlichen Weſen nicht verſtan-
den werden können.
Beide Gründe ſind nicht vorhanden bey einigen ande-
ren Beſchränkungen, die ſtets nur eine ſehr iſolirte Ein-
wirkung auf die Rechtsfähigkeit gehabt haben, in dem
neueſten Recht aber, wie ich glaube, ganz verſchwun-
den ſind: ich meyne die Infamie, und die Religionsver-
ſchiedenheit. Beide ſind, inſoweit ſie dem Römiſchen Recht
angehören, als antiquirte Inſtitute zu betrachten. Da
aber die herrſchende Meynung mit der hier ausgeſproch-
nen nicht ganz übereinſtimmt, und daher in den neueren
Syſtemen jene Inſtitute als Beſtandtheile des heutigen ge-
meinen Rechts aufgeführt zu werden pflegen, ſo konnte
|0185 : 171|
§. 76. Infamie. Einleitung.
eine kritiſche Darſtellung derſelben, nach dem Plan dieſes
Werks, nicht ausgeſchloſſen werden.
Um für die ſchwierige Unterſuchung der Infamie, als
des erſten unter jenen Inſtituten, einen feſten Boden zu
gewinnen, will ich nicht mit der Aufſtellung ihres Begriffs
und ihrer Arten, noch mit einer Geſchichte derſelben, an-
fangen, ſondern mit der Geſtalt, welche ſie in den Juſti-
nianiſchen Rechtsquellen an ſich trägt. Daß dieſe nicht
auf einer gänzlichen Entſtellung des früheren Rechtszu-
ſtandes beruhen kann, iſt einleuchtend: denn ihr liegt zum
Grunde das woͤrtlich aufgenommene Prätoriſche Edict (a),
und alles Übrige iſt nur Ergänzung oder Abänderung deſ-
ſelben. Unſre Kenntniß beruht nun hauptſächlich auf fol-
genden Quellenſtücken:
Tit. Dig. de his qui notantur infamia (3. 2.).
Tit. Cod. ex quibus causis infamia irrogatur (2. 12.).
In merkwürdige Verbindung damit tritt ein großer Theil
des Römiſchen Volksſchluſſes, welcher gewoͤhnlich als ta-
bula Heracleensis bezeichnet wird (b), und worüber erſt
weiter unten Auskunft gegeben werden kann.
(a) Die Edictſtelle ſteht in
L. 1 de his qui not. (3. 2.). Bey
den in dieſer Stelle unmittelbar
enthaltenen Fällen werde ich, der
Kürze wegen, nur das Edict als
Quelle citiren, womit alſo ſtets
der in der L. 1 de his qui not.
enthaltene Text des Edicts ge-
meynt iſt. Dieſes muß beſonders
bemerkt werden, weil wir zum
Theil noch einen andern und ſehr
abweichenden Text beſitzen, wahr-
ſcheinlich aus dem Commentar des
Paulus genommen, Fragm. Vat.
§ 320 (der Commentar § 321).
Von dieſer Verſchiedenheit wird
weiter unten und in der Bey-
lage VII. die Rede ſeyn.
(b) Tab. Heracl. lin. 108—141
in Haubold monumenta legalia
|0186 : 172|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Folgende neuere Schriftſteller ſind gleich in dieſer Ein-
leitung anzumerken:
Donellus Lib. 18 C. 6 — 8.
Hagemeiſter in Hugo’s civil. Magazin B. 3 Num. VIII.
(1803) S. 163—182 der Ausg. des dritten Bandes
von 1812.
G. Chr. Burchardi de infamia. Kilon. 1819. 4. (c).
Th. Marezoll über die bürgerliche Ehre. Gieſſen
1824. 8. (d).
(Über den heutigen Zuſtand dieſes Inſtituts:)
Eichhorn deutſches Privatrecht vierte Ausg. § 83—90.
ed. Spangenberg Berol. 1830
p. 122 — 129. — Das Geſetz wur-
de gegeben im J. der Stadt 709,
und ſein wahrer Name iſt Lex
Julia municipalis. Zeitſchrift für
geſchichtl. Rechtswiſſenſchaft B. 9
S. 348. 371.
(c) Burchardi ſelbſt ſagt p. 5.
11, daß ſeine Anſichten großen-
theils aus meinen von ihm ge-
hörten Vorleſungen entſprungen
ſeyen. Wenn dieſes wirklich der
Fall iſt, ſo hat er wenigſtens das
Geliehene mit reichlichen Zinſen
zurück bezahlt: auf mehrere wich-
tige Punkte dieſer Unterſuchung
bin ich erſt durch ſeine Schrift
aufmerkſam geworden. — Später
hat dieſer Schriftſteller ſeine An-
ſicht dahin modificirt, daß Vieles,
was wir zum Privatrecht zählen,
in der That juris publici ſey,
alſo mit in die Folgen der In-
famie falle, wie connubium,
commercium, testamentifactio.
(Grundzüge des Rechtsſyſtems der
Römer S. 272). Wäre dieſe An-
ſicht richtig, ſo würden ſolche Fol-
gen der Infamie nicht erſt ſo ſpät,
ſo beſchränkt, und ſo vereinzelt
eingeführt worden ſeyn, wie er
ſelbſt es, mit Beziehung auf Vor-
ſchriften der Lex Julia und Con-
ſtantins, behauptet.
(d) Eine ungemein fleißige
Schrift, auf deren reichhaltiges
Material ich im Allgemeinen, als
Ergänzung meiner kürzeren Dar-
ſtellung, verweiſe, wenngleich ich
mehrere Hauptanſichten derſelben
nicht für richtig halte. Beſon-
ders manche kleinere Zuſätze aus
Kaiſergeſetzen, die auf das We-
ſen des Inſtituts keinen Einfluß
gehabt haben, werde ich über-
gehen.
|0187 : 173|
§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.
§. 77.
Einzelne Fälle der Infamie.
Die einzelnen Fälle der Infamie, wie ſie in unſeren
Rechtsquellen aufgeſtellt werden, laſſen ſich auf fünf Klaſſen
zurückführen.
I. Verurtheilung wegen eines Criminalverbrechens.
Dieſer Fall wurde erſt nach und nach zu einer allge-
meinen Regel ausgebildet. Das Edict ſelbſt knüpfte die
Infamie nur allein an die in einem Criminalprozeß began-
gene calumnia oder praevaricatio, und dieſer Fall ſteht
auch in der Tafel von Heraklea (lin. 120. 122). — Ein
Senatsſchluß verordnete ſie als Folge eines einzelnen Ver-
brechens, der vis privata (a). — Dann ließ man ſie auf
jede Kapitalſtrafe folgen; das war nicht wichtig, denn ſo
lange dieſe Strafe (alſo wenigſtens der Verluſt der Civität)
wirkte, war die Infamie ohne Bedeutung; ſie wurde alſo
erſt fühlbar, wenn der Verurtheilte Erlaß der Strafe er-
halten hatte und nicht zugleich Erlaß der Infamie, welcher
in dieſem Fall überhaupt nicht ertheilt zu werden pflegte (b).
— Endlich aber wurde die allgemeine Regel aufgeſtellt,
daß jede Verurtheilung in einem publicum judicium infa-
mire (c). Damit war alſo ausgeſchloſſen die Verurtheilung
(a) L. 1 pr. ad L. Juliam de
vi priv. (48. 7.).
(b) L. 1 § 6. 9 de postulando
(3. 1.). Marezoll S. 127.
(c) L. 7 de publ. jud. (48. 1.).
L. 56 pro socio (17. 2.). Coll.
LL. Mos. Tit. 4 § 3 vergl. mit
§ 12. In der tab. Heracl. lin.
|0188 : 174|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
wegen eines crimen extraordinarium, denn dieſe infamirte
nur ausnahmsweiſe in einigen ſogleich näher anzugebenden
Fällen.
Dagegen wurden einige ähnliche Fälle gleichfalls als
Entſtehungsgründe der Infamie anerkannt, gleichſam aus
der Fiction eines Criminalurtheils, welches in derſelben
wirklich nicht ergangen war. Dahin gehörte (als erſter
im Edict ſelbſt ausgedrückter Fall) die ſchimpfliche Aus-
ſtoßung eines Soldaten aus dem Heer (d). Ferner der
Fall einer im Ehebruch betroffenen (nicht verurtheilten)
Frau (e). Der Meineid, welcher begangen wird durch
Verletzung eines beſchwornen Vergleichs oder Nachlaßver-
trags (e¹). Endlich der Fall einer Delation an den Fiscus,
die von ihrem Urheber nicht erwieſen werden konnte (f).
Als die neueſte hierher gehörende Erweiterung der
Römiſchen Lehre von der Infamie kann man die Auth.
Habita des K. Friedrich I. zum Schutz der Scholaren
der Rechtswiſſenſchaft anſehen. Wer einen ſolchen belei-
117. 118. 111. 112. findet ſich ſchon
früher eine nur theilweiſe über-
einſtimmende Vorſchrift; das Ge-
ſetz trifft jeden der in dieſer Stadt
nach irgend einem publicum ju-
dicium verurtheilt, ſo wie jeden
der in Rom aus Italien verbannt
oder irgendwo ex L. Plaetoria
verurtheilt iſt. Der Grund dieſer
Verſchiedenheit wird im § 80 an-
gegeben werden.
(d) L. 1 pr. de his qui not.
(3 2) „qui ab exercitu igno-
miniae causa ab Imperatore....
dimissus erit.” Dieſer Fall ſteht
auch in der tab. Heracl. lin. 121.
(e) L. 43 §. 12. 13 de ritu nupt.
(23 2.) „Quae in adulterio de-
prehensa est, quasi publico ju-
dicio damnata est.”
(e¹) Es iſt alſo die Rede nur
von ſolchen Verträgen, die ein
ſtreitiges Rechtsverhältniß zu er-
ledigen beſtimmt ſind. L. 41 C.
de transact. (2. 4.).
(f) L. 18 § 7 L. 2 pr. de j.
fisci (49. 14.).
|0189 : 175|
§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.
digt, oder unter dem Vorwand von Repreſſalien beraubt
oder beſchädigt, ſoll infam ſeyn, vierfachen Erſatz geben,
und (wenn er Beamter iſt) ſeines Amtes entſetzt werden.
II. Einige Privatdelicte, und zwar nach dem Edict
ſelbſt: Diebſtahl, Raub, Injurie, Betrug. Hier infamirte
zunächſt die Verurtheilung; jedoch nur wenn der Beklagte
in eigenem Namen verurtheilt war. Und zwar hatte dieſe
Beſchränkung den zwiefachen Sinn, daß, wenn der Be-
klagte den Prozeß durch einen Procurator geführt hatte,
weder er ſelbſt noch dieſer Procurator infam wurde (g).
Die natürliche Folge davon war die, daß ſeit der allge-
meinen Zulaſſung von Procuratoren dieſe Drohung der
Infamie entkräftet war, indem ſie jeder Beklagte durch
die Beſtellung eines Procurators leicht vermeiden konnte.
— Der Verurtheilung war in dieſen Fällen durch das
Edict ſelbſt der Vergleich an die Seite geſtellt (damnatus
pactusve erit). Dieſe Vorſchrift ſollte jedoch nur verſtan-
den werden von einer Geldabfindung durch Privatüber-
einkunft; alſo weder von einer Abfindung unter richterli-
cher Vermittlung, noch von einem unentgeltlichen Erlaß (h).
Wenn in den Fällen jener Privatdelicte nicht die Pri-
vatklage angeſtellt, ſondern ein crimen extraordinarium
anhängig gemacht wurde, ſo ſollte darum nicht minder
die Infamie erfolgen, und dieſes ſind die oben angedeu-
teten Ausnahmen, in welchen auch das crimen extraordi-
(g) L. 6 § 2 de his qui not.
(3.2.). L. 2 pr. de obsequ. (37.15.).
(h) L. 6 § 3 de his qui not.
(3. 2.).
|0190 : 176|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
narium die infamirende Kraft hatte, die in der Regel nur
dem publicum judicium vorbehalten war (i). Auch machte
es dabey keinen Unterſchied, ob das Delict ſeinen gewöhn-
lichen Namen (furtum, injuria) behielt (k), oder ob daſ-
ſelbe unter einem ſpecielleren Namen (expilata hereditas, stel-
lionatus) Gegenſtand einer Criminalunterſuchung wurde (l).
In allen dieſen Fällen konnte die Befreyung von der In-
famie, die bey Privatklagen durch die Ernennung eines
Procurators bewirkt wurde, nicht zur Anwendung kom-
men (m).
Unter die infamirenden Privatdelicte kann man gewiſ-
ſermaßen auch den Zinswucher rechnen, da er wenigſtens
im älteren Recht eine Privatſtrafe nach ſich zog. Dieſe
iſt nun zwar in Juſtinians Geſetzgebung nicht anerkannt,
aber die Infamie iſt darin dennoch als Folge des Wu-
chers vorgeſchrieben (n).
III. Obligatoriſche Verhältniſſe außer den Delicten.
Bey einigen derſelben infamirt wieder die Verurthei-
lung. Dahin gehören nach den Worten des Edicts fol-
gende Klagen: pro socio, tutelae, mandati, depositi. Mit
dieſer Angabe ſtimmen groͤßtentheils überein mehrere Stel-
len des Cicero und die Tafel von Heraklea (o); jedoch
(i) L. 7 de publ. jud. (48. 1.).
(k) L. 92 de furtis (47. 2.).
L. 45. de injur. (47. 10.).
(l) Marezoll S. 134—136,
wo der ſcheinbare Widerſpruch
zwiſchen L. 13 § 8 de his qui not.
(3. 2.) u. L. 2 stellion. (47. 20.)
befriedigend gelöſt iſt.
(m) Marezoll S. 167.
(n) L. 20 C. ex quib. caus.
inf. (2. 12.).
(o) Cicero pro Roscio Com.
C. 6, pro Roscio Amer. C. 38.
39, pro Caecina C. 2 (am Ende)
|0191 : 177|
§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.
dieſe alle mit der merkwürdigen Abweichung, daß ſie die
depositi actio weglaſſen, und dagegen die fiduciae actio
aufnehmen, welche als ein veraltetes Inſtitut bei Juſtinian
natürlich nicht mehr vorkommt. Es iſt nicht unwahrſchein-
lich, daß in der älteren Zeit das Depoſitum ohne Fiducia
in der That kein Grund der Infamie war, und daß man
ſpäter, als die Fiducia außer Gebrauch kam, und zwar
ſchon vor Juſtinian (L. 10 C. depos.), das Depoſitum im
Allgemeinen an deren Stelle ſetzte. — Auch bey dieſen
Klagen ſollte die Infamie durch die Aufſtellung eines Pro-
curators vermieden werden können (suo nomine … dam-
natus erit). — Die Infamie ſollte ferner nur aus der
directa actio erfolgen (non contrario judicio damnatus
erit). Doch wurde ausnahmsweiſe auch die contraria actio
infamirend, wenn dabey dem Beklagten gerade eine beſon-
dere Unredlichkeit zur Laſt fiel (p). — Bey der directa
actio ſind unſere Juriſten ſehr verſchiedener Meynung über
die wichtige Frage, ob dieſe Klagen allgemein infamiren,
oder nur unter Vorausſetzung des dolus, welchem hier,
wie anderswo, die lata culpa gleich gilt. Für die erſte
oder ſtrengere Meynung iſt die Edictſtelle geltend gemacht
und C. 3. Tab. Heracl. lin. 111.
— Bey dem Vormund folgt die In-
famie nicht blos aus der Verurthei-
lung in Folge der tutelae actio,
ſondern auch aus der Abſetzung
als Suspectus. § 6 J. de susp.
(1. 26), L. 3 § 18 eod. (26. 10.),
L. 9 C. eod. (5. 43.). — Ja ſogar
entſteht ſie, wenn der Vormund
die Mündel vor der geſetzlichen
Zeit für ſich oder ſeinen Sohn
zur Ehe nimmt, weil dieſes als
eingeſtandener Dolus gelten ſoll.
L. 66 pr. de r. n. (23. 2.), L. 7
C. de interd. matrim. (5. 6.).
(p) L. 6 § 5. 7 de his qui not.
(3. 2.).
II. 12
|0192 : 178|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
worden, welche allgemein, ohne Erwähnung des dolus als
Bedingung, ſagt: Infamia notatur … qui pro socio, tu-
telae, mandati, depositi … damnatus erit; mit derſelben
ſtimmen auch mehrere andere Stellen in eben ſo unbeſtimm-
ter Allgemeinheit überein (q). Dagegen aber ſtreiten meh-
rere andere Stellen, welche ausdrücklich die Unredlichkeit
als Grund, und alſo auch als Bedingung, der Infamie
bezeichnen (r). Man hat darauf erwiedert, ſchon der Um-
ſtand, daß es in dieſen Klagen der Beklagte zum Prozeß
kommen laſſe, anſtatt freywillig zu zahlen, dieſe temeritas
litigandi, ſey als dolus zu betrachten, und verdiene die
Strafe der Infamie. Dieſe Erwiederung führt auf fol-
gende Sätze, in welchen wohl jene entgegengeſetzte Mey-
nungen ihre Vermittelung finden dürften. 1) Für den
Fall des eigentlichen Betrugs, der Unterſchlagung u. ſ. w.
iſt ohnehin kein Streit. 2) Dieſem Fall ſteht aber voͤllig
gleich der andere, wenn der Vormund oder der Depoſitar,
ohne vorher betrogen zu haben, geradezu die Auslieferung
des Vermögens oder der anvertrauten Sache verweigern.
3) Auch für den Fall kann man die Infamie einräumen,
wenn bey einer arbitraria actio der arbiter vor dem Ur-
theil den Beklagten zur Bezahlung einer beſtimmten Summe
auffordert, und dieſer dennoch nicht zahlt, ſondern es auf
(q) § 2 J. de poena temere
litig. (4. 16.). Tabula Heracl.
lin. 111.
(r) L. 6 § 5. 6. 7 de his qui
not. (3. 2.) „fidem,” „male ver-
satus,” „perfidia.” L. 22 C. ex
quib. caus. (2. 12.) „fidem rum-
pens.” Cicero pro Caecina C. 3
„fraudavit.”
|0193 : 179|
§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.
das Urtheil ankommen läßt. Eine ſolche contumacia mag
hierin, wie auch in anderen Wirkungen (s), dem dolus
gleich behandelt worden ſeyn. 4) Weiter aber darf man
nicht gehen, vielmehr muß für alle andere Fälle die In-
famie verneint werden. Geſetzt alſo, der Mandatar hat
eine levis culpa begangen, läßt es aber wegen der ganz
übertriebenen Forderung des Mandanten auf den Prozeß
ankommen, und wird nun auf eine mäßige Summe con-
demnirt, ſo könnte man ihm gewiß keine frevelhafte Streit-
ſucht vorwerfen, und die Infamie würde in ſolchem Fall
mit allem geſunden Rechtsgefühl im Widerſpruch ſtehen (t).
Außerdem aber ſollte, bey allen Obligationen ohne
Unterſchied, die Inſolvenz ein Entſtehungsgrund der In-
famie ſeyn (bona possessa, proscripta, vendita). Dieſes
ſagen mehrere ältere Zeugniſſe ausdrücklich (u). Im Juſti-
nianiſchen Recht findet ſich davon eine unverkennbare in-
directe Spur, indem geſagt wird, die cessio bonorum,
und der durch ſie veranlaßte Verkauf des Vermögens in-
famire nicht (v); offenbar im Gegenſatz des wirklichen
Concurſes, der dabei als Grund der Infamie vorausgeſetzt
(s) So z. B. bey dem jusju-
randum in litem. L. 2 § 1 de
in litem. jur. (12. 3.).
(t) Die hier angenommene mil-
dere Meynung iſt vortrefflich aus-
geführt, und beſonders gegen die
Einwürfe aus einzelnen Stellen
durch gründliche Interpretation
geſchützt, von Donellus XVIII.
8 § 8 — 13. Die ſtrengere Mey-
nung wird ausführlich vertheidigt
von Marezoll S. 148 — 155,
welcher irrig den Donellus als
Vertheidiger derſelben Meynung
anführt.
(u) Cicero pro Quinctio C. 15.
Tabula Heracl. lin. 113 — 117.
Gajus II. § 154.
(v) L. 8 C. qui bon. (7. 71.).
L. 11 C. ex quib. caus. inf. (2. 12.).
12*
|0194 : 180|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
wird. Wann und wodurch jener Rechtsſatz verſchwunden
iſt, läßt ſich nicht mit Sicherheit angeben. Die Aufhebung
der alten bonorum venditio erklärt das Verſchwinden der
Infamie nur wenn man annimmt, daß dieſelbe immer erſt
mit der vollendeten venditio eintrat, nicht ſchon mit den
Vorbereitungen derſelben, namentlich der bloßen possessio
bonorum (x).
IV. Handlungen in Beziehung auf das Geſchlechter-
verhältniß. Hierin iſt Vieles dunkel, theils wegen Unzu-
länglichkeit unſerer Quellen, theils wohl auch weil manche
Rechtsregeln ſelbſt über dieſe Gegenſtände vorzugsweiſe
unbeſtimmt und veränderlich waren. Die einzelnen Fälle
ſind folgende:
1) Verletzung der Trauerzeit.
Das Edict ſelbſt (ſo wie wir es in den Digeſten fin-
den) ſagt: Wenn eine Wittwe vor Ablauf der Trauerzeit
eine neue Ehe ſchließt, ſo werden dadurch infam: der neue
Ehemann, wenn er paterfamilias iſt, ſonſt deſſen Vater:
außer dieſem aber auch der Vater der Wittwe, wenn er
dieſe in ſeiner Gewalt hat, und durch ſeine Einwilligung
die neue Ehe möglich macht. Von der Infamie der Wittwe
ſelbſt, die man zunächſt erwarten möchte, iſt nicht die Rede.
— In der Folge aber wurde die Infamie allerdings auch
auf die Wittwe ſelbſt angewendet (y).
(x) Gajus erwähnt allerdings
nur die venditio als Grund der
Infamie, die Stellen aus Cicero
und aus der Tafel von Heraklea,
wenn man ſie buchſtäblich nimmt,
ſprechen für die entgegengeſetzte
Meynung.
(y) L. 11 § 3 de his qui not.
|0195 : 181|
§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.
Hierbey bemerken die alten Juriſten, der Grund der
Infamie ſey nicht etwa die verletzte Pietät gegen den Ver-
ſtorbenen, ſondern lediglich die Gefahr der sanguinis tur-
batio, das heißt der ungewiſſen Paternität im Fall zwey
nahe auf einander folgender Ehen; daraus ziehen ſie die
ganz conſequente Folge, daß die Infamie eintrete, auch
wenn der Verſtorbene aus beſonderen Gründen, z. B. als
Hochverräther, nicht betrauert werde; auf der andern Seite
aber auch, daß die Niederkunft der Wittwe bald nach des
Mannes Tod (wegen der nun unmöglichen sanguinis tur-
batio) die neue Ehe ſogleich zuläſſig mache; imgleichen,
daß jede andere vernachläſſigte Trauer, ſelbſt gegen die
nächſten Verwandten, die Infamie nicht nach ſich ziehe (z).
So ſteht die Sache unzweifelhaft im Juſtinianiſchen Recht:
aus dem ältern Recht aber finden ſich ſo ſcheinbar wider-
ſprechende Zeugniſſe, daß ein ſicheres Reſultat nicht ohne
eine ſehr ausführliche Unterſuchung zu gewinnen iſt (Vgl.
Beylage VII.).
Die erwähnte Trauerzeit war übrigens von jeher auf
Zehen Monate beſtimmt, und kam daher ganz mit der
phyſiologiſchen Regel überein, nach welcher die Schwan-
gerſchaft höchſtens Zehen Monate dauern kann (Beyl. III.);
durch Geſetze der chriſtlichen Kaiſer wurde ſie auf Zwölf
(3. 2.). Hier ſchwanken die Hand-
ſchriften zwiſchen den Leſearten Si
quis und Si qua: die letzte wird
durch den Zuſammenhang noth-
wendig. — L. 15 C. ex quib.
caus. (2. 12.). L. 1. 2 C. de
sec. nupt. (5. 9.). L. 4 C. ad
Sc. Tert. (6. 56.).
(z) L. 11 § 1. 2. 3. L. 23 de
his qui not. (3. 2.).
|0196 : 182|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Monate ausgedehnt (aa). — Das canoniſche Recht hat für
dieſen Fall die Infamie gänzlich aufgehoben (bb).
2) Doppelte Ehe oder doppelte Sponſalien.
Das Edict ſagt: Wenn ein Mann zu gleicher Zeit in
zwey Ehen oder zwey Sponſalien lebt, ſo trifft ihn ſelbſt
die Infamie, wenn er paterfamilias iſt, ſonſt den Vater,
der es veranlaßt. Auch hier ſprach das Edict nur von
dem Mann (cc); in der Folge wurde es gleichfalls auf
die Frau ausgedehnt (dd).
War auch das eine der gleichzeitigen Verhältniſſe aus
irgend einem Rechtsgrund ungültig, ſo wurde dadurch die
Infamie nicht abgewendet, indem nur auf die Abſicht ge-
ſehen wurde (ee); ohnehin wäre außerdem die Infamie
wegen doppelter Ehe unmöglich geweſen, weil neben einer
beſtehenden Ehe jede neue Ehe an ſich nichtig war (ff).
(aa) L. 2 C. de sec. nupt. (5. 9.).
(bb) C. 4. 5 X. de sec. nupt.
(4. 21.).
(cc) Bey dem Fall des Trauer-
jahrs, der ſo umſtändlich beſchrie-
ben wird, iſt es klar, daß nur
von den mitwirkenden Männern
die Rede ſeyn ſollte: weniger klar
iſt es bey dem Fall der Doppel-
ehe. Stände nun blos das Mas-
culinum Quive im Wege, ſo würde
das die Beziehung auf die Frau
nicht hindern, da in anderen Fäl-
len Quis auf Männer und Frauen
zugleich geht (L. 1 de V. S. 50. 16.).
Allein in dieſer Stelle muß doch
das Quive ausſchließend auf den
Mann bezogen werden, und zwar
nicht blos wegen der Analogie des
Falles vom Trauerjahr, ſondern
vorzüglich wegen der folgenden
Worte: Quive suo nomine …
ejusve nomine quem quamve in
potestate haberet etc. Da zuletzt
beide Geſchlechter ausgedrückt wer-
den, ſo iſt im Anfang der Stelle
das zweyte Geſchlecht abſichtlich
ausgelaſſen, weil es nicht in dem
Gedanken des Prätors lag.
(dd) L. 13 § 3 de his qui not.
(3. 2.).
(ee) L. 13 § 4 de his qui not.
(3. 2.). L. 18 C. ad L. Jul. de
adult. (9. 9.).
(ff) § 6. 7 J. de nupt. (1. 10.).
|0197 : 183|
§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.
Nicht bloß durch Ehe neben Ehe, oder Sponſalien
neben Sponſalien, wird die Infamie erzeugt, ſondern auch
durch Sponſalien neben Ehe (gg).
3) Unzüchtiges Leben der Frauen als Gewerbe (cor-
pore, auch palam, oder vulgo quaestum faciens).
Das in den Digeſten erhaltene Edict erwähnt dieſen
Fall gar nicht. Die Lex Julia verbietet die Ehe mit ſol-
chen Frauen den Senatoren und deren männlichen Nach-
kommen, ohne dabey den Ausdruck der Infamie zu ge-
brauchen; eben ſo verbietet ſie allen Freygebornen die Ehe
mit gewiſſen Frauen, aber ohne dabey dieſen ſpeciellen
Fall zu nennen. Dieſe Verſchiedenheiten ſind nur durch eine
genaue hiſtoriſche Unterſuchung zu erklären (Beylage VII.).
4) Der Mann, der ſich fremder Wolluſt überläßt (mu-
liebria passus), iſt infam ſchon nach dem Edict (hh), und
ſelbſt ohne Rückſicht auf Geldgewinn.
5) Eben ſo infamirt das Gewerbe einer unzüchtigen
Wirthſchaft ſchon nach dem Edict (qui lenocinium fecerit),
womit auch die Tafel von Heraclea (lin. 123) überein-
ſtimmt (ii). — Inwiefern dieſer Fall der Infamie auf
(gg) L. 13 § 3 de his qui not.
(3. 2.).
(hh) L. 1 § 6 de postulando
(3. 1.). L. 31 C. ad L. Jul. de
adult. (9. 9.). — Der muliebria
passus ſtand nicht in dem allge-
meinen Edict über die Infamen
(L. 1 de his qui not. 3. 2.), ſon-
dern wurde noch ungünſtiger als
dieſe behandelt. Von dieſem Un-
terſchied wird ſogleich weiter die
Rede ſeyn. — Die tab. Heracl.
lin. 122. 123 beachtet dieſen Fall
nur unter Vorausſetzung des Geld-
gewinns: „queive corpori (cor-
pore) quaestum fecit fecerit.”
(ii) Hier iſt lenocinium im ei-
gentlichen Sinn zu verſtehen, als
|0198 : 184|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
beide Geſchlechter bezogen wurde, iſt wieder Gegenſtand
einer beſonderen Unterſuchung (Beylage VII.).
V. Einige Gewerbe (noch außer den unter Num. IV.
erwähnten) bewirkten gleichfalls die Infamie, und zwar
ſollten nach dem Edict folgende Perſonen ehrlos ſeyn:
1) Wer als Schauſpieler öffentlich aufgetreten war (kk).
2) Wer ſich zu den Thierkämpfen vermiethet hatte,
auch wenn er nicht wirklich auftrat: eben ſo auch wer auf
einem Amphitheater im Thierkampf auftrat, wenngleich
ohne Geldlohn (ll).
Vergleicht man dieſe ſehr verſchiedenartige Entſtehungs-
gründe der Infamie mit einander, ſo zeigt ſich darin eine
gewerbliche Hurenwirthſchaft. L. 4
§ 2. 3 de his qui not. (3. 2.).
Figürlich nannte man ſo auch jede
Beförderung von adulterium oder
stuprum, z. B. wenn ein Ehe-
mann für Geld den Ehebruch ſei-
ner Frau zuließ. Dieſe Fälle ge-
hören aber nicht hierher, ſie wur-
den ganz als adulterium behan-
delt, und unterlagen alſo einem
publicum judicium. L. 2 § 2
L. 8 pr. L. 9 § 1. 2 ad L. Jul.
de adult. (48. 5.).
(kk) Qui artis ludicrae pro-
nunciandive causa in scenam
prodierit. Auch lanistatura war
mit eingeſchloſſen (Tab. Heracl.
lin. 123), aber nicht Athletae
und Designatores (L. 4 pr. § 1
de his qui not. 3. 2.). — Durch
einen Senatsſchluß muß außer-
dem den Vornehmen das Auftre-
ten auf der Bühne geradezu ver-
boten geweſen ſeyn, denn leicht-
ſinnige Jünglinge von Stand lie-
ßen ſich, um ihren Hang zum
Schauſpielerleben zu befriedigen,
zuerſt in einem infamirenden Pro-
zeß verurtheilen, wodurch ſie dann
wieder die Fähigkeit dazu erlang-
ten. Suetonii Tiber. 35.
(ll) L. 1 § 6 de postul. (3. 1.).
Dieſer Fall ſtand wieder nicht un-
ter den gewöhnlichen, ſondern un-
ter den ſchwereren Fällen der In-
famie. Vgl. auch Tab. Heracl.
lin. 112. 113.
|0199 : 185|
§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.
zwiefache Ubereinſtimmung. Erſtlich iſt es immer eine
eigene Handlung, woran die Infamie als Folge geknüpft
iſt (mm). Zweytens iſt es die Handlung ſelbſt, die infa-
mirt, niemals eine Art der Strafe, z. B. die körperliche
Züchtigung (nn).
(mm) Davon weicht nur ab das
ſehr ſpäte Geſetz, worin die Söhne
der Hochverräther für ehrlos er-
klärt werden, welches aber auch
von jeher den verdienten Abſcheu
erregt hat. L. 5 § 1. C. ad L.
J. majest. (9. 8.).
(nn) L. 22 de his qui not.
(3. 2.). In Deutſchland hat man
es hierin häufig anders angeſehen.
|0200 : 186|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 78.
Juriſtiſche Bedeutung der Infamie.
Ich will zuerſt in einzelnen Sätzen zuſammen ſtellen,
was für die juriſtiſche Natur der Infamie aus der Be-
trachtung der aufgezählten einzelnen Fälle unmittelbar folgt.
1) Es muß ein ſcharf beſtimmter Begriff derſelben an-
gegeben werden können, da nicht nur das Edict die Fälle
einzeln aufzählt, ſondern auch die alten Juriſten über die
Gränzen dieſer einzelnen Fälle genaue Unterſuchungen an-
ſtellen. Eben darauf deutet der Ausdruck, mit welchem
die Ausdehnung der Infamie auf einen neuen Fall bezeich-
net wird: et videlicet omni honore, quasi infamis, ex
Senatusconsulto carebit (a). Offenbar wurde hier der
techniſche Ausdruck eines feſten, bekannten Rechtsbegriffs
vom Senat auf einen neuen Fall angewendet.
2) Hieraus folgt aber weiter, daß mit der Infamie
beſtimmte Wirkungen verknüpft ſeyn mußten, weil außer-
dem die genaue Beſtimmung des Begriffs für den prakti-
ſchen Sinn der alten Juriſten kein Intereſſe gehabt ha-
ben würde.
3) Die aufgezählten Fälle ſind von zweyerley Art. In
einigen wird die Infamie abhängig gemacht von einem
richterlichen Urtheil, ohne welches ſie nie eintreten kann:
in anderen dagegen von irgend einer außergerichtlichen
(a) L. 1 pr. ad L. Jul. de vi priv. (48. 7.).
|0201 : 187|
§. 78. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung.
Thatſache, die demnach als unmittelbar gewiß, oder no-
toriſch, vorausgeſetzt wird. Dieſe verſchiedene Natur der
Bedingungen der Infamie macht es allerdings nöthig, für
die Fälle der erſten Art die Eigenſchaften des Urtheils
feſtzuſtellen, welches zur Erzeugung der Infamie fähig ſeyn
ſoll (b). Neuere Schriftſteller haben hierauf eine Einthei-
lung der Infamie in mediata und immediata gegründet,
die nicht nur überflüſſig und unfruchtbar iſt, ſondern auch
durch die lateiniſchen Ausdrücke zu dem Irrthum verleiten
kann, als fänden ſich dieſe Ausdrücke ſchon in den Quellen.
4) Neben dieſer juriſtiſch beſtimmten Infamie giebt es
manche Fälle, worin das ſittliche Urtheil rechtlich geſinn-
ter und verſtändiger Menſchen, bald wegen einzelner Hand-
lungen, bald wegen der ganzen Lebensweiſe, eben ſo ent-
ſchieden die Ehre abſpricht, als wenn die Bedingungen
der Infamie wirklich vorhanden wären (c). Die Neueren
gründen hierauf die Eintheilung in eine juris und facti in-
famia. In der That iſt nur für die erſte der Name der
Infamie juriſtiſch zu gebrauchen, und die erwähnten Kunſt-
ausdrücke ſind nicht blos deswegen verwerflich, weil ſie
nicht quellenmäßig ſind, ſondern weil ſie leicht zu dem
irrigen Verfahren verleiten, für die infamia facti wiederum
beſtimmte Bedingungen und Wirkungen aufzuſuchen, die
doch nur für die wahre Infamie (die infamia juris) gelten
(b) Ausführlich handelt davon
Marezoll S. 123 fg.
(c) Sehr klar iſt dieſes Ver-
hältniß ausgeſprochen in L. 2 pr.
de obsequ. (37. 13.). — Vergl.
darüber auch Donellus Lib. 18
C. 6. § 7.
|0202 : 188|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
können. Alle Wirkungen, die man der infamia facti bey-
zulegen verſucht hat, löſen ſich auf in dem völlig freyen
Ermeſſen, bald der höchſten Gewalt und ihrer Behoͤrden
(bey der Anſtellung von Beamten), bald auch der Richter
(z. B. bey der Glaubwürdigkeit der Zeugen, und bey der
querela inofficiosi der Geſchwiſter); dadurch erſcheint aber
jener vermittlende Begriff der infamia facti nicht nur als
entbehrlich, ſondern auch als verwirrend und zum Irr-
thum verleitend. Die gänzliche Ungleichartigkeit der ſoge-
nannten infamia facti und der wahren Infamie zeigt ſich
darin, daß es für jene an allen ſicheren Kennzeichen fehlt:
theils weil die gegründete üble Meynung in den verſchie-
denſten Abſtufungen, ohne feſte Gränzen, vorkommt; theils
weil die öffentliche Meynung oft im Unrecht iſt, indem ſie
ſich durch Vorurtheile anſtatt ſittlicher Gründe, oder durch
grundlos angenommene Thatſachen, beſtimmen läßt.
Noch verſchieden davon iſt es, wenn gewiſſe Stände
oder Beſchäftigungen als verächtlich angeſehen werden,
ohne daß eine ſolche verbreitete Anſicht durch ſittliche
Gründe gerechtfertigt werden kann: für ſolche Zuſtände
iſt die Bezeichnung eben ſo unbeſtimmt und ſchwankend,
als die Einwirkung auf Rechtsverhältniſſe, die wohl hier
und da vorkommt (d).
Worin beſtand nun bey den Römern die Wirkung der
(d) Darauf gehen die Aus-
drücke turpes, viles, abjectae,
humiles personae. Vgl. Ma-
rezoll S. 270 fg.
|0203 : 189|
§. 78. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung.
Infamie, woraus allein der beſtimmte, praktiſche Begriff
derſelben gebildet werden kann, den wir nach den ſo eben
angeſtellten Betrachtungen zu erwarten berechtigt ſind?
Fragen wir nach dem Zuſammenhang, worin dieſer
Begriff in den Rechtsquellen unmittelbar vorkommt, ſo
ſcheint Alles einfach und leicht. Die Digeſten enthalten
wörtlich die Stelle des Edicts, worin die Fälle der In-
famie aufgezählt ſind, und woran ſich alle ſpätere Be-
ſtimmungen anſchließen. Der Prätor aber war veran-
laßt, die Infamie im Edict zu erwähnen, weil er nicht
leiden wollte, daß infame Perſonen für Andere poſtuliren,
d. h. vor ſeinem Tribunal Anträge machen ſollten. Darum
ſteht in den Digeſten der Titel de his qui notantur infa-
mia unmittelbar hinter dem de postulando. Mag alſo
auch von jeher ein unbeſtimmter Begriff von Infamie exi-
ſtirt haben, ähnlich dem was unſre Juriſten die infamia
facti nennen, ſo ſcheint doch der Prätor derjenige, wel-
cher zuerſt ihn juriſtiſch auffaßte, ihm feſte Gränzen gab,
und eine beſtimmte Wirkung beylegte. Demnach könnten
wir, wie es ſcheint, den Rechtsbegriff der Infamie ſo
definiren: es iſt der Zuſtand derjenigen Perſonen, welche
in der Regel unfähig ſind, für Andere zu poſtuliren (e).
Allein bey genauerer Betrachtung erſcheint dieſe Er-
klärung unhaltbar. Vor Allem muß dabey Jedem ein gro-
(e) Dieſes iſt eigentlich die An-
ſicht der Meiſten, nur mehr oder
weniger deutlich ausgeſprochen.
Vgl. unter Anderen Marezoll
S. 99. 208. 212.
|0204 : 190|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ßes Misverhältniß zwiſchen Mittel und Zweck auffallen.
Ehrloſigkeit iſt gewiß etwas Ernſtes und Wichtiges, auch
abgeſehen von beſtimmten rechtlichen Folgen. Dieſes wich-
tige ſittliche Verhältniß nun ſollte in das Rechtsgebiet ein-
geführt ſeyn, lediglich um — die Unfähigkeit zum Poſtu-
liren für Andere zu bezeichnen! Für den Prätor mochte
es eine gewiſſe Wichtigleit haben, ſein Tribunal von un-
würdigen Menſchen rein zu halten; auch war dieſes gewiß
für ihn der einzige Beweggrund, an dieſer Stelle des
Edicts, ja im Edict überhaupt, von der Sache zu reden.
Allein er konnte ja dieſen Zweck völlig erreichen, indem
er dieſelben Perſonen aufzählte, ohne den wichtigen Na-
men der Infamie auf ſie anzuwenden. Wollte man ſagen,
er dachte eben die ſittlich Ehrloſen nun auch juriſtiſch recht
hart zu treffen, indem er ſie vom Poſtuliren für Andere
ausſchloß, ſo iſt zu bedenken, wie unbedeutend eben dieſes
für die Meiſten iſt; denn die Meiſten werden ohnehin kein
beſonderes Bedürfniß dazu haben, und die es gerade ha-
ben möchten, können doch das Auftreten vor dem Prätor
unbemerkt unterlaſſen, alſo ohne daß dadurch ihre Infa-
mie irgend ſichtbar würde. Für die Einzelnen alſo iſt in
der That dieſer Nachtheil faſt unfuͤhlbar, und darin liegt
eben das oben gerügte ſtörende Misverhältniß zwiſchen
Mittel und Zweck.
Allein noch weit entſcheidender gegen die dargeſtellte
Anſicht iſt der wirkliche Inhalt des Edicts ſelbſt, der nun-
mehr angegeben werden ſoll. Der Prätor unterſcheidet
|0205 : 191|
§. 78. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung.
die Perſonen, denen er das Poſtuliren unterſagt, nach
drey Klaſſen, wodurch alſo drey Edicte über dieſen Ge-
genſtand entſtehen (f).
Die erſte Klaſſe (oder das erſte Edict) umfaßt Dieje-
nigen, welche ſchlechthin unfähig ſind, alſo nicht einmal
für ſich ſelbſt poſtuliren dürfen. Dahin gehoͤren alle Men-
ſchen unter 17 Jahren, und alle Taube (g); neben dieſen
letzten hätten auch die Stummen ausgeſchloſſen werden
können, allein deren mündliche Anträge waren ohnehin
nicht zu beſorgen.
Die zweyte Klaſſe beſteht aus Denjenigen, welche zwar
für ſich ſelbſt, aber durchaus nicht für Andere, poſtuliren
dürfen. Dahin gehören die Frauen (h), die Blinden, und
gewiſſe in höherem Grade ehrloſe Perſonen (in turpitu-
dine notabiles): namentlich Männer, die ſich fremder
Wolluſt überlaſſen, die wegen eines Kapitalverbrechens
Verurtheilten, und Die welche ſich zu den Thierkämpfen
vermietheten (i).
In der dritten Klaſſe endlich ſtehen Diejenigen, welche
(f) L. 1 § 1. 7. 9 de postulan-
do (3. 1.). „Eapropter tres fe-
cit ordines” — „tres ordines
Praetor fecit non postulantium”
— „si fuerit inter eos, qui ter-
tio Edicto continentur.”
(g) L. 1 § 3 de postul. (3. 1.).
(h) Die Frauen jedoch mit ei-
nigen Ausnahmen: für den Va-
ter durften ſie poſtuliren causa
cognita, wenn er keinen andern
Vertreter finden konnte (L. 41
de proc. 3. 3): ferner durften
ſie für jeden dritten cognitoriam
operam übernehmen, wenn es in
rem suam geſchah (Paulus I. 2
§ 2). Alſo war ihnen die Er-
werbung einer Forderung durch
Ceſſion nicht verſagt.
(i) L. 1 § 5. 6 de postul. (3. 1.).
Dieſe noch unter den Infamen
Ausgezeichneten ſind ſchon oben in
der Reihe aller Infamen mit auf-
geführt worden (§ 77).
|0206 : 192|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
für ſich ſelbſt poſtuliren können, für Andere in der Regel
nicht, wohl aber ausnahmsweiſe unter Vorausſetzung be-
ſonderer Verhältniſſe, wie Verwandtſchaft, Schwäger-
ſchaft, Patronat, Hülfloſigkeit des zu Vertretenden (k).
Dahin gehoͤren:
1) Alle, die durch Volksſchluß, Senatsſchluß, durch
Edict oder Decret des Kaiſers beſonders in dieſen Zu-
ſtand verſetzt werden;
2) Außerdem aber hoc edicto continentur etiam alii
omnes, qui Edicto Praetoris ut infames notantur (l).
Dieſe letzte Beſtimmung war es, welche den Prätor
veranlaßte, zur Erläuterung derſelben ein Verzeichniß der
Infamen aufzuſtellen, welches alſo ohne Zweifel ein Be-
ſtandtheil des dritten Edicts über die zum Poſtuliren (ganz
oder theilweiſe) unfähigen Perſonen ausmachte (m).
Aus dieſem, nicht in die Quellen hinein getragenen,
ſondern in denſelben klar vor uns liegenden, Zuſammen-
hang der Rechtsſätze folgt nun aber, daß die Genealogie
der Begriffe und Kunſtausdrücke eine ganz andere iſt, als
die oben aus unſren neueren Schriftſtellern dargeſtellte.
Der Prätor ſagt nicht: ich verbiete gewiſſen Perſonen zu
(k) L. 1 § 8. 11. L. 2 — 5 de
postul. (3. 1.).
(l) L. 1 § 8 de postul. (3. 1.).
(m) Donellus Lib. 18 C. 6
§ 1 nimmt an, der Prätor habe
in einem beſonderen Edict von
den Infamen gehandelt; es iſt
aber viel wahrſcheinlicher, daß die
Edictſtelle in L. 1 de his qui
not. ſich unmittelbar an die in
L. 1 § 8 de postul. anſchloß, und
nur zur Erklärung des tertium
Edictum de non postulantibus
dienen ſollte. Donellus ſcheint
irre geführt zu ſeyn durch die Ge-
ſtalt, welche der Sache in den Di-
geſten durch die Compilatoren ge-
geben worden iſt.
|0207 : 193|
§. 78. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung.
poſtuliren, und will dieſen den Namen Infames hiermit
beylegen; theils wäre nun dieſer Name ganz zwecklos ge-
weſen, theils wäre kein Grund denkbar, warum er dieſen
nen erfundenen Namen nicht eben ſo auf die im § 6 auf-
gezählten in turpitudine notabiles angewendet haben ſollte,
wodurch jener Name zur conſequent durchgeführten Be-
zeichnung aller aus ſittlichen Gründen Unfähigen gewor-
den wäre. Vielmehr ſagt er: zu dem dritten ordo der
Unfähigen gehoͤren unter andern auch alle Infames (inſo-
fern ſie nicht ſchon einzeln im zweyten ordo mit aufge-
führt ſind). Nach dieſer Art des Ausdrucks ſetzt alſo der
Prätor den Begriff der Infames als einen alten, bekann-
ten Rechtsbegriff voraus, deſſen Anwendungsgränzen ihm
auch gar nicht zweifelhaft waren: damit jedoch hierüber
kein Irrthum obwalten oder vorgewendet werden möchte,
ſtellte er vorſichtigerweiſe ein Verzeichniß dieſer dem dritten
ordo non postulantium angehörenden, Infames auf. Es
war aber, nach ſeinem praktiſchen Zweck, ganz conſequent,
hier diejenigen Perſonen nicht aufzunehmen, die er ſchon
im zweyten ordo einzeln genannt hatte, obgleich dieſe
darum nicht minder Infames ſeyn und heißen ſollten (n).
(n) Man könnte einwenden,
der calumniae in judicio publi-
co causa judicatus komme un-
ter den Infames der L. 1 de his
qui not. vor, und ſtehe doch auch
ſchon in dem secundum edictum
der L. 1 § 6 de postul. Allein
in dieſem § 6 wird gar nicht ge-
ſagt, der wegen calumnia Ver-
urtheilte gehöre in den secundus
ordo (d. h. er könne unbedingt
nicht für Andere poſtuliren), ſon-
dern nur, daß bey ihm der Se-
nat noch beſonders verordnet habe,
er dürfe auch nicht einmal vor
dem judex pedaneus poſtuliren.
Der calumniae damnatus wird
alſo nicht in zwey Edicten auf-
II. 13
|0208 : 194|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Demnach hat alſo der Prätor den Begriff der Infames
nicht neu gebildet, ſondern als einen längſt vorhandenen
Begriff vorgefunden, und nur gelegentlich für einen ein-
zelnen, ſeine Amtsverhältniſſe berührenden, Zweck benutzt.
Damit ſteht auch keinesweges im Widerſpruch, daß ein-
mal die alten Juriſten die Infamie ſo bezeichnen, daß
man glauben könnte, ſie wollten den Urſprung derſelben
dem Edict zuſchreiben (o). Denn allerdings war das
Edict die erſte geſchriebene Urkunde, worin die Infamen
vorkamen, und es war alſo natürlich, daß die Juriſten,
wenn ſie den Rechtsbegriff der Infamie recht beſtimmt be-
zeichnen wollten, auf dieſes urkundliche Zeugniß verwie-
ſen, alſo, der Sicherheit und Deutlichkeit wegen, lieber
das neuere geſchriebene Recht, als das ältere ungeſchrie-
bene zur Bezeichnung ihres Gedankens benutzten.
geführt, ſondern es wird nur eine
einzelne ihn betreffende Bemer-
kung von dem commentirenden
alten Juriſten nicht ganz am rech-
ten Ort eingeſchaltet.
(o) L. 5 § 2 de extr. cogn.
(50. 13.) „… vel cum plebejus
fustibus caeditur, vel in opus
publicum datur, vel cum in
eam causam quis incidit, quae
Edicto perpetuo infamiae cau-
sa enumeratur.” — L. 2 pr. de
obsequ. (37. 15.) „licet enim ver-
bis Edicti non habeantur infa-
mes ita condemnati” etc.
|0209 : 195|
§. 79. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)
§. 79.
Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.)
Nach der bisherigen Unterſuchung hat der Prätor die
Infamie als ein Rechtsinſtitut nicht eingeführt, ſondern
vorgefunden. Welche Bedeutung hatte ſie nun ſchon vor
dem Edict?
Wir denken uns dieſelbe in unſren Zeiten zunächſt als
ein Strafmittel, mag ſie allein eintreten, oder als Erhö-
hung einer andern Strafe; ſie iſt dann der ſehr wirkſame
Ausdruck der Verachtung, die der Staat durch ſeine Or-
gane gegen einen Einzelnen ausſpricht. Allein um ſo zu
wirken, muß ſie im einzelnen Fall beſonders ausgeſpro-
chen werden; ſo lange ſie blos auf einer allgemeinen Re-
gel beruht, bleibt ſie ohne lebendige Wirkung. Oder mit
anderen Worten: dieſe Anſicht möchte noch etwa paſſen
auf die ſogenannte mediata infamia (weil dabey der Rich-
ter ein Urtheil ausſpricht), auf die immediata paßt ſie
gar nicht. Und auch ſelbſt bey der mediata wird ſie da-
durch bedenklich, daß die Römer ſie doch auch nur als
die natürliche Folge des Urtheils anſahen, nie im Urtheil
ſelbſt ausſprachen, welches gerade den lebendigen Eindruck
der als Strafe gedachten Infamie ſo ſehr verſtärkt hätte.
Eine öffentliche Meynung über Ehre oder Unehre der
Einzelnen findet ſich überall: doppelt wichtig aber iſt ſie
in einer Republik wie Rom, wo alle Macht und Hoheit
13*
|0210 : 196|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
von Volkswahlen ausgeht. Ihrer Natur nach iſt dieſe
Meynung, wie der Sinn der Menge überhaupt, unſicher
und wechslend: gelingt es, ſie zu leiten und zu befeſtigen,
ſo iſt ein Großes gewonnen. Die Römer hatten zwey
Anſtalten, die unmittelbar und vorzugsweiſe hierauf ab-
zweckten (a): beide in ihrem Weſen verſchieden, aber ver-
wandt und einander ergänzend, beide auch unter dieſelbe
Magiſtratur geſtellt. Dieſe Anſtalten ſind die Infamie,
und die freye Gewalt der Cenſoren. Von beiden redet
mit großer Klarheit Cicero in der Rede pro Cluentio.
Die Infamie beruhte auf alten, feſten, durch Überliefe-
rung unzweifelhaften Regeln (moribus): ſie war unab-
hängig von perſönlicher Willkühr, obgleich in vielen Fäl-
len (nicht in allen) durch einen Richterſpruch bedingt.
Weil aber dieſe feſten Regeln für das wirkliche Leben
nicht ausreichten, ſo erhielten ſie eine lebendige Ergänzung
in der den Cenſoren verliehenen freyen Gewalt, nach ih-
rem Gewiſſen Unehre in verſchiedenen Abſtufungen zuzu-
theilen. Dieſe konnten alſo nach ihrem Gutfinden aus
dem Senat oder Ritterſtand ausſtoßen, in eine geringere
(a) Ich ſage unmittelbar, denn
mittelbare Einwirkung auf die
Ehre haben die meiſten Strafen
überhaupt. Darauf geht die Er-
klärung der existimatio als ei-
nes dignitatis inlaesae status in
L. 5 § 1. 2. 3 de extr. cogn.
(50. 13.). Die existimatio kann
bald vermindert werden, bald ver-
nichtet; das erſte geſchieht unter
andern durch Infamie, außerdem
aber auch durch gar manche Stra-
fen ohne Infamie; das zweyte ge-
ſchieht durch Verluſt der Freyheit
oder der Civität, wodurch der bis-
herige Bürger völlig aus dem
Kreiſe ausſcheidet, für welchen die
Bürgerehre exiſtirt. Vgl. über jene
Stelle Beylage VI. Num. IV. V.
|0211 : 197|
§. 79. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)
Tribus verſetzen, aus allen Tribus ausſtoßen, wodurch
der Ausgeſtoßene aerarius wurde und ſein Stimmrecht ver-
lor (b): ſie konnten ſich auch blos mit einem ausgeſproch-
nen Tadel begnügen, indem ſie dem Namen eines Rö-
mers in den Bürgerliſten eine nota censoria hinzufügten (c).
Solche Verfügungen beruhten nicht nothwendig auf einer
genauen Unterſuchung der Thatſachen, vielmehr konnten
auch bloße Gerüchte, ja vorübergehende politiſche Stim-
mungen, Einfluß darauf haben (d). Darum geſchah es
oft, daß eine ſolche censorum opinio durch den Wider-
ſpruch des Collegen, oder durch den Beſchluß der folgen-
den Cenſoren, oder durch Richterſprüche oder Volksſchlüſſe,
wieder entkräftet wurde (e). Sie war alſo durchaus nicht
von ſicherer Dauer (f), und darin völlig verſchieden von
der Infamie, die unabänderlich für das ganze Leben fort-
wirkte (g). — War daher die Ausübung der cenſoriſchen
(b) „de senatu moveri … in
aerarios referri, aut tribu mo-
veri” Cic. pro Cluentio C. 43.
— „aerarium reliquissent” ib.
C. 45.
(c) Die bloße subscriptio oder
notatio censoria kommt oft vor,
z. B. pro Cluentio C. 42. 43. 44.
46. 47. — Es wurden einzelne
Handlungen ausgedrückt, z. B.
„furti et captarum pecuniarum
nomine notaverunt” C. 42, oder
„contra leges pecunias acce-
pisse subscriptum est” C. 43.
(d) pro Cluentio C. 45 und
C. 47 „in istis subscriptionibus
ventum quendam popularem
esse quacsitum .... ex tota ipsa
subscriptione rumorem quen-
dam, et plausum popularem
esse quaesitum.”
(e) pro Cluentio C. 43.
(f) pro Cluentio C. 47 „quid
est, quamobrem quisquam no-
strûm censorias subscriptiones
omnes fixas, et in perpetuum
ratas putet esse oportere?”
(g) pro Cluentio C. 42 „turpi
judicio damnati, in perpetuum
omni honore ac dignitate pri-
vantur.” — Damit ſteht nicht im
Widerſpruch, daß der Kaiſer (frü-
her das Volk), oder auch der Se-
nat reſtituiren konnte; die Will-
|0212 : 198|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Macht über die Bürgerehre, gefährlich wegen der mögli-
chen Willkühr und Ungerechtigkeit (h), ſo wurde dieſe Ge-
fahr dadurch gemildert, daß jedes ſo zugefügte Unrecht
von vielen Seiten her wieder gut gemacht werden konnte.
Die Infamie war gefährlicher durch ihre unveränderliche
Dauer, dagegen beruhte ſie auf feſten, bekannten Regeln,
und ſo konnte ſie Jeder vermeiden.
Dieſe vergleichende Zuſammenſtellung der Infamie mit
der cenſoriſchen Gewalt über die Ehre führt uns nun un-
mittelbar zu dem geſuchten praktiſchen Begriff der Infa-
mie ſelbſt. Dieſelbe beſteht in nichts Anderem, als dem
Verluſt aller politiſchen Rechte bey fortdauernder Civität.
Der Infamis wurde alſo aerarius, er verlor ſein Stimm-
recht und ſeine Wählbarkeit (suffragium et honores), und
die Definition deſſelben wird nun vollſtändig ſo lau-
ten müſſen:
kühr einzelner Obrigkeiten konnte
es nicht, und ſelbſt jene feyerliche
Reſtitution mag in der Republik
ſelten oder nie vorgekommen ſeyn.
Der Prätor konnte es nicht, au-
ßer indirect, inſofern durch die ge-
wöhnliche Reſtitution der Grund
der Infamie weggeräumt wurde,
z. B. wenn ein Minderjähriger
wegen nachläſſiger Prozeßführung
in einem famosum judicium ver-
urtheilt wurde, der Prätor ihn
reſtituirte, und nun der neue ju-
dex die Klage abwies. L. 1 § 9.
10 de postul. (3. 1.).
(h) Cicero’s Darſtellung könnte
zu dem Irrthum verleiten, als wä-
ren ſolche Ungerechtigkeiten ganz
gewöhnlich geweſen; man muß
aber bedenken, daß er ein cenſo-
riſches Urtheil zn entkräften hatte,
weshalb es im Intereſſe ſeines
Clienten lag, ſolche Urtheile im
Allgemeinen verdächtig zu machen.
Ohne Zweifel übten die Cenſoren
ihr Amt meiſt mit ernſter und
weiſer Strenge, ſonſt hätte ſich
daſſelbe nicht in ſo großem An-
ſehen erhalten können. Perſönlich-
keiten alſo kamen zwar vor, aber
gewiß nur als ſeltene Ausnah-
men, jedoch lag ihre Möglichkeit
in der Natur des Amtes ſelbſt.
|0213 : 199|
§. 79. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)
Infamis heißt derjenige Römer, welcher in Folge ei-
ner allgemeinen Regel (nicht der cenſoriſchen Will-
kühr), bey fortdauernder Civität, die politiſchen
Rechte derſelben verloren hat.
Ehe ich den Beweis dieſer Behauptung zu führen ver-
ſuche, will ich einige Sätze aufſtellen, die unter Voraus-
ſetzung ihrer Wahrheit daraus nothwendig folgen, und ſo
zur näheren Beſtimmung derſelben dienen:
1) Die Infamie erſcheint nun als eine Art von capi-
tis deminutio, und zwar als eine halbe oder unvollſtän-
dige media capitis deminutio, indem ſie die Civität in
ihrem politiſchen Theil zerſtört, in dem privatrechtlichen
unberührt läßt. Die publiciſtiſche Rechtsfähigkeit alſo
wird aufgehoben, die Privatrechtsfähigkeit dauert fort.
2) Die Infamie gehoͤrt daher ihrem eigentlichen We-
ſen nach dem öffentlichen Recht an, obgleich ſie nebenher
auch im Privatrecht Wirkungen hervorbringen kann (i).
3) Die Wirkung der Infamie iſt dieſelbe, wie die der
cenſoriſchen Macht in ihrer äußerſten Anwendung, und
der Unterſchied liegt nur darin, daß ſie nach allgemeinen
Regeln erfolgt, und daher unabänderlich iſt.
4) Die Regeln der Infamie beruhten nicht auf Ge-
ſetzen, ſondern auf alter Volksanſicht (moribus), und ihre
gleichförmige Anerkennung und Beobachtung ſetzte daher
(i) Dieſe weſentlich publiciſti-
ſche Natur der Infamie iſt zuerſt
von Burchardi durchgeführt
worden: angedeutet hat ſie ſchon
Hagemeiſter, indem er am
Schluß ſeiner Abhandlung (p. 181)
dieſer Lehre ihren Platz bey dem
jus civitatis anweiſt.
|0214 : 200|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
eine verfaſſungsmäßige Aufſicht voraus. Dieſe nun war
wiederum den Cenſoren anvertraut, welche jedesmal die
Mitglieder des Senats, der Tribus u. ſ. w. neu verzeich-
neten, und dadurch Gelegenheit hatten, den Infamen un-
ter die Ärarier einzutragen, alſo von allen Tribus aus-
zuſchließen. Sie thaten dann in Vollziehung einer feſten
Regel, was ſie in anderen Fällen aus eigenem Gutfinden
thun mochten, ſo daß ſie eine zwiefache Einwirkung hat-
ten, indem ſie die Regel der Infamie theils zur Anwen-
dung brachten, theils durch eigenes Ermeſſen ergänzten (k).
Wären ſie aber nachläſſig geweſen in der Übung ihres
Amtes, ſo konnte gewiß auch jeder Conſul oder Prätor,
der die Comitien hielt, den Ehrloſen zurückweiſen, wenn
dieſer als Candidat auftreten, ja ſelbſt wenn er nur ſeine
Stimme abgeben wollte.
5) Dieſe Bedeutung der Infamie mußte unter den
Kaiſern bald ihre Wichtigkeit verlieren, als die politiſchen
Rechte der Civität in den Hintergrund traten, und die
alten Formen der Tribus, der Bürgerliſten ꝛc. in ihrer
Reinheit nicht mehr erhalten wurden. Von dieſer Zeit
an blieb die Infamie nur noch in Nebenwirkungen ſicht-
bar, und daraus erklärt ſich die räthſelhafte Geſtalt,
worin ſie in unſren Rechtsquellen erſcheint.
(k) Vergl. hierüber beſonders Niebuhr B. 2 S. 448 — 451
(ed. 2 und 3).
|0215 : 201|
§. 80. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)
§. 80.
Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.)
Ich will nunmehr den Beweis führen, daß in der
That das Weſen der Infamie in dem Verluſt aller poli-
tiſchen Rechte des Römiſchen Bürgers beſtand: und zwar
zuerſt für jeden der beiden Beſtandtheile dieſer Rechte (ho-
nores und suffragium) einzeln, dann für beide zuſammen-
genommen.
1) Verluſt der honores. Dieſer Ausdruck iſt hier in
der ausgedehnten Bedeutung einer jeden hoͤheren politi-
ſchen Stellung (dignitas) zu nehmen, nicht blos für Ma-
giſtraturen. Ferner hat er den zwiefachen Sinn, daß
darin ſowohl der Verluſt einer gegenwärtigen Auszeich-
nung, als die Unfähigkeit zu jeder künftigen, enthalten iſt.
Dieſer Theil meiner Behauptung kann am wenigſten
bezweifelt werden. Cicero ſagt ausdrücklich, die Infamie
ſchließe für immer von honor und dignitas aus (§ 79. g).
Eben ſo wird in einem Senatsſchluß anerkannt, daß es
zum Weſen eines Infamis gehöre, von jedem honor aus-
geſchloſſen zu ſeyn (§ 78. a). — Derſelbe Rechtsſatz hat
ſich nachher durch alle Zeiten der Kaiſerregierung erhal-
ten (a). Nur hatte er hier, durch die veränderte Verfaſ-
ſung, eine ſehr veränderte Stellung angenommen. Er
(a) L. un. C. de infam. (10. 57.), L. 3 C. de re mil. (12.
36.), L. 8 C. de decur. (10. 31.).
|0216 : 202|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
war nicht mehr, wie früher, eine ſcharf beſtimmte Rechts-
regel, unabänderlich bindend für alle ausführende Behör-
den, ſondern mehr eine Ankündigung desjenigen, was der
Kaiſer in einzelnen Fällen thun werde, wobey er ſich na-
türlich vorbehielt, nach Umſtänden den Begriff der Infa-
mie, wenn von der Ertheilung eines Amtes die Rede war,
einzuſchränken oder auszudehnen. So erklären ſich die
ſehr ſchwankenden Ausdrücke einer Verordnung von Con-
ſtantin, welche freylich für die frühere Verfaſſung unpaſ-
ſend geweſen wären, der Zeit dieſes Geſetzes aber ganz
angemeſſen waren (b). — Auch die Tafel von Heraklea
beſtätigt jenen Rechtsſatz, wie dieſes weiter unten genauer
angegeben werden wird.
2) Verluſt des suffragium, oder was daſſelbe ſagt, Aus-
ſtoßung aus allen Tribus, Verſetzung unter die Ärarier (c).
(b) L. 2 C. de dign. (12. 1.).
„Neque famosis, et notatis, et
quos scelus aut vitae turpitudo
inquinat, et quos infamia ab
honestorum coetu segregat, dig-
nitatis portae patebunt.” —
Mit Recht bemerkt Burchardi
p. 58, daß hier der beſtimmte Be-
griff der juriſtiſchen Infamie ver-
laſſen, und der unbeſtimmte ei-
ner infamia facti ſubſtituirt ſey.
Nur iſt es unrichtig, darin eine
Veränderung der juriſtiſchen Lehre
der Infamie zu ſuchen, und noch
weniger iſt Grund vorhanden, eine
Juſtinianiſche Interpolation anzu-
nehmen. Die Schlußworte ſagen
ja ſehr deutlich nicht mehr als Fol-
gendes: „Solche ſchlechte Men-
ſchen ſollen ſich keine Hoffnung
machen, jemals Auszeichnungen
vom Kaiſer zu erhalten.“ Darin
liegt nun kein Rechtsſatz, der ge-
nau beſtimmter Bedingungen be-
dürftig oder empfänglich wäre.
(c) Zur Rechtfertigung dieſer
Ausdrücke mag hier Folgendes die-
nen. So lange in Rom drey
völlig getrennte Comitien exiſtir-
ten, war die Theilnahme an ir-
gend einer Tribus Bedingung der
Stimmfähigkeit nur für die tri-
buta comitia, nicht für die an-
deren Comitien. Allein ſchon früh
änderte ſich dieſes. Die Curien
verſchwanden, und erhielten ihr
|0217 : 203|
§. 80. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)
Dieſer Satz iſt es, der wohl am erſten bezweifelt wer-
den könnte. Denn wenngleich bey der vollſtändigen oder
unvollſtändigen Ertheilung der Civität an fremde Städte
suffragium und honores ſtets verbunden genannt werden,
ſo ließe es ſich doch bey einer poſitiven Anſtalt, wie die
Infamie, ſehr wohl denken, daß man dem Ehrloſen das
höhere Recht der Wählbarkeit entzogen, das niedere Recht
der Stimmfähigkeit aber gelaſſen hätte. Daß dieſes je-
doch nicht ſo war, ſondern vielmehr der Infame auch
das suffragium verlor, ergiebt ſich aus folgenden Zeug-
niſſen. Zuerſt ſtellt Cicero in den oben angeführten Stel-
len (§ 79. b. g) das Verhältniß der cenſoriſchen Ehren-
kränkung zur Infamie ſo dar, daß jene leichter und will-
kührlicher eintreten kann, dieſe aber in ihrer Wirkung ge-
waltiger und verderblicher erſcheint. Da er nun eben da-
ſelbſt als das äußerſte Ziel der cenſoriſchen Willkühr die
Herabſetzung eines Bürgers zum Ärarier angiebt, ſo kann
die Wirkung der Infamie unmöglich geringer als die äu-
ßerſte Wirkung jener Willkühr angenommen werden.
Noch unmittelbarer aber beſtätigen die aufgeſtellte Be-
Andenken nur noch in einer lee-
ren Formalität: die Centurien
aber kamen mit den Tribus in
eine ſolche Verbindung, daß ſie
als Theile derſelben angeſehen
wurden. (Cicero pro Plancio
C. 20 und viele andere Stellen.)
Von dieſer Zeit an war die
Stimmfähigkeit überhaupt gleich-
bedeutend geworden mit der Stel-
lung in irgend einer Tribus, und
der unter die Ärarier Verſtoßene
verlor mit der Tribus zugleich
das Stimmrecht, und die Fähig-
keit ſo wie die Verpflichtung zum
regelmäßigen Kriegsdienſt. Nie-
buhr B. 1 S. 492 — 495 ed. 4
(521 — 524 ed. 3); vergl. B. 3
S. 346 — 352, S. 383 — 384.
|0218 : 204|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
hauptung mehrere Stellen, welche übereinſtimmend von
den Schauſpielern ſagen: tribu moventur. So Livius
und Valerius Maximus, welche von der Aufführung des
von den Oskern herſtammenden Schauſpiels der Atellanen
als etwas Beſonderes bemerken, daß dieſelbe nicht, ſo wie
das gewöhnliche Schauſpiel, den Darſteller aus der Tri-
bus ſtoße, und zum Dienſt in den Legionen untauglich
mache (d). Eben ſo ſagt ganz allgemein Auguſtin von
den Schauſpielern, daß ſie (nach dem Eintritt in dieſes
Gewerbe) durch die Cenſoren aus ihrer Tribus geſtoßen
würden (e). Da nun die Schauſpieler gewiß ehrlos
waren (§ 77), ſo iſt Nichts natürlicher als anzunehmen,
(d) Livius VII. 2. „Quod ge-
nus ludorum ab Oscis accep-
tum tenuit juventus, nec ab hi-
strionibus pollui passa est.
Eo institutum manet, ut acto-
res Atellanarum nec tribu mo-
veantur, et stipendia, tamquam
expertes artis ludicrae, fa-
ciant.” — Valer. Max. II. 4
§ 4. „Nam neque tribu move-
tur, neque a militum stipendiis
repellitur.”
(e) Augustinus de civitate
Dei II. 13. „Sed, sicut apud
Ciceronem idem Scipio loqui-
tur, cum artem ludicram sce-
namque totam probro ducerent,
genus id hominum non modo
honore civium reliquorum ca-
rere, sed etiam tribu moveri
notatione censoria voluerunt.”
Burchardi p. 46 ſieht dieſe Stelle
als einen Gegengrund an, indem
nach ihr erſt der Wille des Cen-
ſors, alſo nicht ſchon die Infa-
mie an ſich ſelbſt, den Schauſpie-
ler aus der Tribus entferne; er
weiß dieſem Einwurf nur dadurch
zu begegnen, daß er einen Irr-
thum des Auguſtin annimmt, und
denſelben aus der damals ſchon
längſt untergegangenen Cenſur er-
klärt. Bedenkt man aber, daß
den Cenſoren die Ausführung der
Regeln über die Infamie oblag
(§ 79), und daß ſie es waren,
die jedesmal neue Tribusliſten an-
fertigten, und aus denſelben die-
jenigen Bürger wegließen, welche
ſeit dem letzten Cenſus infam ge-
worden waren, ſo liegt in jener
Stelle kein Widerſpruch gegen un-
ſre gemeinſchaftliche Anſicht, und
man kann höchſtens dem Auguſtin
vorwerfen, daß er nicht vorſich-
tig genug einen Ausdruck ge-
|0219 : 205|
§. 80. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)
daß ihre Entfernung aus der Reihe der ſtimmfähigen Bür-
ger lediglich eine Folge ihrer Infamie war, wodurch eben
unſre Behauptung beſtätigt wird. Ja Auguſtin drückt in
der angeführten Stelle dieſen Zuſammenhang faſt wörtlich
aus, indem er die Infamie der Schauſpieler mit ihrer
Ausſtoßung aus der Tribus unmittelbar zuſammenſtellt,
und ſo beides gewiſſermaßen identificirt (f).
brauchte, der gewöhnlicher von der
cenſoriſchen Willkühr gebraucht
wurde, an ſich aber auch für die
eigentliche Infamie (wovon er
redete) nicht unpaſſend war.
(f) Allerdings könnte noch aus
der unverkennbaren Zweydeutig-
keit des Ausdrucks tribu movere
ein Zweifel hergenommen wer-
den. Tribu movere heißt wört-
lich: einen Bürger aus der Tri-
bus, worin er bisher ſtand, ent-
fernen. Daneben iſt nun zweyer-
ley denkbar: er kann in eine an-
dere, nur geringere, Tribus (aus
einer rustica in eine urbana)
verſetzt, oder aber in gar keine
Tribus gebracht, alſo zum Ära-
rier gemacht werden. (Nie-
buhr II. 448). Wird der Aus-
druck von einer willkührlichen
Handlung der Cenſoren gebraucht,
ſo giebt man ihm wohl den er-
ſten Sinn, und unterſcheidet ihn
von dem in aerarios referre.
So thut es Cicero (§ 79. b),
und eben ſo kommt der Ausdruck
vor in der merkwürdigſten Stelle
über dieſen Sprachgebrauch (Liv.
XLV. 15), welche unten (§ 81. c)
erklärt werden wird. — Wird da-
gegen das tribu moveri als Folge
einer allgemeinen Regel (wie hier
bey den Schauſpielern) bezeichnet,
ſo iſt es ohne Zweifel gleichbe-
deutend mit in aerarios referri:
theils weil ja ſonſt die Angabe,
wegen der fehlenden Bezeichnung
der neuen geringeren Tribus, ganz
unvollſtändig bliebe, theils weil
überhaupt die bloße Herabſetzung
in eine geringere Tribus zu der
willkührlichen Verfügung eines
Cenſors ſehr gut paßt, aber als
Folge einer allgemeinen Regel ge-
dacht, zu ſubtil und kleinlich iſt,
und daher nicht mit Wahrſchein-
lichkeit angenommen werden kann.
Daß aber Livius und Valerius
Maximus (Note d) unter tribu
movere die Ausſtoßung aus allen
Tribus verſtehen, wird völlig un-
zweifelhaft durch die damit in Ver-
bindung geſetzte Unfähigkeit zum
Kriegsdienſt: denn dieſe Unfähig-
keit war nur die Folge der Aus-
ſtoßung aus allen Tribus (Note c),
nicht der bloßen Herunterſetzung
in eine weniger vornehme.
|0220 : 206|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Jetzt erſt iſt es möglich, das etwas dunkle Verhältniß
der Tafel von Heraklea zu dem Edict über die Infamia
feſtzuſtellen. Der in jener Inſchrift enthaltene Volksſchluß
ſagt kein Wort von Infamie, aber er ſtellt, mit wenigen
Abweichungen, dieſelben Fälle zuſammen, welche der Prä-
tor als Fälle der Infamie aufzählt. Dieſe Zuſammen-
ſtellung aber hat in dem angeführten Volksſchluß den
Sinn, daß den hier bezeichneten Perſonen verboten wird,
Senatores, Decuriones, Conscripti ihrer Stadt zu ſeyn,
ihre Stimme im Stadtſenat abzugeben, die mit dieſen
Stellen verknüpften Ehren zu genießen, imgleichen Magi-
ſtraturen zu erlangen, welche den Eintritt in den Senat
geben: Alles bey Strafe von 50000 Seſterzen (2500 Tha-
ler) für die Unfähigen, welche ſich dennoch einzudrängen
ſuchen (lin. 109 — 110. 124 — 141). Hierin könnte man
nun theils eine Beſtätigung, theils eine Widerlegung un-
ſrer aufgeſtellten Anſicht finden wollen: eine Beſtätigung,
inſofern hier ungefähr dieſelben Perſonen, die das Edict
als Infames aufzählt, von allen Ehren und Würden aus-
geſchloſſen werden; eine Widerlegung, inſofern hier nicht
zugleich die Entziehung des Stimmrechts an jene Eigen-
ſchaften geknüpft wird. Dieſen Einwurf kann man nicht
etwa durch die Annahme entfernen, daß die Municipien
und Colonien damals überhaupt keine Volksverſammlun-
gen mehr gehabt hätten, denn ſolche werden ſogar in
derſelben Lex ausdrücklich erwähnt (g). Vielmehr iſt das
(g) Tab. Heracl. lin. 132 „neve quis ejus rationem comitiis
conciliave habeto.”
|0221 : 207|
§. 80. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)
wahre Verhältniß dieſes. Die Theilnahme an der Römi-
ſchen Volksverſammlung, welche über die höchſten Inte-
reſſen des ganzen Reichs entſchied, war ungleich wichti-
ger, als die an den Comitien einer einzelnen Landſtadt.
Es war alſo gar nicht inconſequent, die Perſonen, welche
von alter Zeit her in Rom als Infames galten, in Rom
von den Comitien auszuſchließen, in den Municipien aber
zuzulaſſen: während ihnen alle höhere Ehren auch in den
Municipien verſagt ſeyn ſollten. Dann lag darin ein er-
ſter großer Schritt zu der unter den Kaiſern immer voll-
ſtändiger durchgeführten Umbildung der Landſtädte in ari-
ſtokratiſche Corporationen (h): eine Maaßregel, die ohne-
hin unvermeidlich war, wenn die monſtröſe Verbreitung
der Civität über ganz Italien nicht völlig ſinnlos bleiben
ſollte. — Sieht man die Sache von dieſer Seite an, wo-
durch allein jener räthſelhafte Volksſchluß Licht erhalten
kann, ſo liegt auch darin wieder eine Beſtätigung unſrer
allgemeinen Anſicht von der weſentlich publiciſtiſchen Na-
tur aller Infamie.
Vergleichen wir nun die einzelnen Fälle der Infamie,
ſo wie ſie von einer Seite in dem Edict, von der ande-
ren in der Tafel von Heraklea aufgezählt werden, ſo fin-
den wir bey den meiſten Fällen völlige Übereinſtimmung,
und dieſe iſt ſchon oben (§ 77) bey jedem derſelben be-
merkt worden. Daß die Tafel zuweilen eine größere
(h) Vergl. Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 1
§ 6. 7.
|0222 : 208|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Strenge zeigt (§ 77. c), würde ſich ungezwungen daraus
erklären, daß ſie auch nur von höheren Ehren ausſchlie-
ßen wollte, wobey man allerdings ſtrenger verfahren
konnte. Auffallender iſt es, daß umgekehrt einige Fälle
fehlen, die das Prätoriſche Edict mit aufzählt, nament-
lich der Fall der übereilten zweyten Ehe, und der Dop-
pelehe; eben ſo, daß der Mann, der ſich fremder Wolluſt
hingiebt, nur dann ausgeſchloſſen ſeyn ſoll, wenn er es
für Geld thut (§ 77. hh). Hier muß man annehmen, daß
nach der Zeit dieſer Lex die Anſichten ſtrenger geworden,
und mit dieſer groͤßeren Strenge in das Edict übergegan-
gen waren: vielleicht war zur Zeit der L. Julia und Papia
Poppaea dieſer Zuſatz in das Edict gekommen; vielleicht
auch (wenn etwa doch jene Stellen des Edicts älter wa-
ren) nahm die Tafel von Heraklea auf Verſchiedenheiten
des Familienrechts Rückſicht, wie ſie in manchen Theilen
von Italien vorkommen mochten, und in welche man durch
jenes blos politiſche Geſetz gerade nicht eingreifen wollte.
Weniger Schwierigkeit macht es, daß die actio vi bono-
rum raptorum in dem Volksſchluß fehlt: denn von dieſer
wiſſen wir, daß ſie nur aus Veranlaſſung der Bürger-
kriege eingeführt wurde (i), und dieſe in den vorüberge-
henden Zeitumſtänden gegründete Veranlaſſung mag die Ur-
ſache geweſen ſeyn, daß das bleibende Geſetz für die Mu-
nicipien jene Klage nicht erwähnte.
(i) Savigny in der Zeitſchrift für geſchichtliche Rechtswiſſen-
ſchaft B. 5 S. 126 — 130.
|0223 : 209|
§. 81. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)
§. 81.
Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.)
Folgende Zeugniſſe endlich beſtätigen meine Behaup-
tung in ihrem ganzen Zuſammenhang, für honores und
suffragium zugleich, indem ſie die Infamie als eine Ka-
pitalſache, als eine capitis deminutio, anerkennen, wel-
ches ſich nur aus der hier aufgeſtellten Anſicht von dem
Verluſt der politiſchen Hälfte der Civität erklären läßt (§ 79).
Von den drey infamirenden Klagen, fiduciae, tutelae,
societatis, ſagt Cicero in der Rede pro Roscio (Cap. 6),
ſie ſeyen summae existimationis, et paene dicam capitis.
— Eine andere Rede des Cicero, pro Quinctio, beſchäf-
tigt ſich mit der Frage, ob ſein Client in der That einen
rechtsgültigen Concurs (possessio bonorum) erlitten habe,
und er nennt dieſe Sache wiederholt und ganz beſtimmt
eine capitis causa (Cap. 8. 9. 13. 22), welches durchaus
nicht anders zu erklären iſt, als aus der mit dem Con-
curſe verbundenen Ehrloſigkeit (§ 77). Ja in einer Stelle
dieſer Rede bezeichnet er geradezu das ſchwere Schickſal,
welches er von ſeinem Clienten abzuwenden ſucht, als In-
famie (Cap. 15), ſo daß aus dem Zuſammenhang dieſer
Rede die Identität der Infamie mit der capitis causa un-
zweifelhaft hervorgeht.
Noch unmittelbarer aber gehört hierher eine Stelle des
Tertullian, welche den Schauſpielern die Infamie zu-
ſchreibt, zugleich aber ihren Zuſtand eine capitis minu-
II. 14
|0224 : 210|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
tio nennt, und dann im Einzelnen als die Entfernung von
allen Ehren und Auszeichnungen darſtellt (a). — Damit
ſtimmt überein das von Modeſtin angeführte Reſcript des
K. Severus, nach welchem die Entſetzung aus dem Senat
nicht als capitis minutio angeſehen werden ſoll (b). Die-
ſer Ausdruck kann nur gebraucht ſeyn in der Abſicht, den
bloßen Verluſt der Senatorenwürde von der in der In-
famie liegenden Unfähigkeit zu allen Würden überhaupt,
ſcharf zu unterſcheiden, und der Kaiſer will alſo eigentlich
ſagen: die Abſetzung eines Senators infamirt nicht; da er
nun dieſen Sinn durch die Verneinung der capitis mi-
nutio ausdrückt, ſo wird dadurch deren Identität mit der
Infamie gleichfalls anerkannt.
(a) Tertullianus de Specta-
culis C. 22. „Quadrigarios, sce-
nicos … manifeste damnant
ignominia et capitis minutio-
ne, arcentes curia, rostris, se-
natu, equite, ceterisque hono-
ribus.” Dürfte man bey dieſem
Schriftſteller jeden einzelnen Aus-
druck ganz genau nehmen, ſo
könnte das rostris neben den an-
deren verlornen Rechten nur noch
bedeuten die Erſcheinung vor den
rostris, alſo die Theilnahme an
der Volksverſammlung; dann läge
in dieſer Stelle wieder ein un-
mittelbares Zeugniß dafür, daß
der Infame Ärarier wurde.
(b) L. 3 de senator. (1. 9.).
„Senatorem remotum senatu ca-
pite non minui, sed morari Ro-
mae, D Severus et Antoninus
permiserunt.” Daß hier eigent-
lich die Infamie verneint werden
ſollte, zeigt beſonders der Zuſatz
sed morari Romae, welcher auf-
fallend iſt, da ja ſonſt ſelbſt die
wirklich eintretende capitis demi-
nutio den Aufenthalt in Rom
nicht verhindert. Dieſer Zuſatz
bezieht ſich darauf, daß die ſchimpf-
lich entlaſſenen Soldaten (die
wirklich infam waren) Rom und
jeden anderen Aufenthalt des Kai-
ſers meiden mußten (L. 2 § 4
de his qui not. L. 3 C. de re
mil.). Das Reſcript will alſo ſa-
gen, man ſolle ſich nicht durch
dieſe ſcheinbare Analogie verleiten
laſſen zu glauben, der abgeſetzte
Senator werde (gleich jenen Sol-
daten) infam, oder müſſe gar
Rom verlaſſen.
|0225 : 211|
§. 81. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)
Endlich ſteht damit auch noch im Zuſammenhang eine
ſchon oben erwähnte merkwürdige Stelle des Livius
(XLV. 15). Schon früher waren wiederholt alle Frey-
gelaſſene in die weniger geachteten vier ſtädtiſchen Tribus
geſetzt worden. Bald aber wurde dieſe Einſchränkung
durch regelmäßige Ausnahmen gemildert, bald auch durch
bloßen Misbrauch aus den Augen geſetzt, ſo daß ſich
Freygelaſſene durch alle Tribus zerſtreut fanden. Dieſes
Ubel von Grund aus zu heben, beſchloß endlich der Cen-
ſor Gracchus, die Freygelaſſenen aus allen Tribus zu
ſtreichen, das heißt zu Arariern zu machen, oder des
Stimmrechts zu berauben. Allein ſein College Claudius
widerſetzte ſich dieſer Maasregel, die er als gewaltſam
und ungerecht bezeichnete. Endlich einigten ſich beide Cen-
ſoren dahin, daß die Freygelaſſenen nicht das Stimmrecht
verlieren, aber in die ſtädtiſchen Tribus zurückgebracht
werden ſollten, und zwar nicht in alle Vier vertheilt, ſon-
dern ausſchließend in eine derſelben, welche durch das Loos
beſtimmt wurde. In der Rede nun, worin Claudius die
gänzliche Ausſchließung bekämpft, drückt er ſich ſo aus:
negabat … suffragii lationem injussu populi censorem
cuiquam homini, nedum ordini universo, adimere posse.
Neque enim, si tribu movere posset, quod sit nihil aliud,
quam mutare jubere tribum, ideo omnibus XXXV tribu-
bus emovere posse, id est civitatem libertatemque eri-
pere (c). Hier iſt deutlich geſagt, die Entziehung des
(c) Hier wird ſchärfer als irgendwo die bloße Verſetzung in
14*
|0226 : 212|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Stimmrechts, oder die Entfernung aus allen Tribus, ſey
ein Verluſt der Civität (nämlich der politiſchen Hälfte der
Civität, nicht der privatrechtlichen). Sieht man es nun
durch die im § 80 beygebrachten Zeugniſſe als erwieſen
an, daß der Infame aus allen Tribus ausſchied, ſo muß
ihm nach dem Ausdruck dieſer Rede des Claudius zugleich
der Verluſt der (politiſchen) Civität, folglich eine capitis
deminutio, zugeſchrieben werden.
Unter den Kaiſern aber verloren bald die politiſchen
Rechte der Civität ihre frühere Wichtigkeit, und dieſe in
der Sache ſelbſt eingetretene Veränderung blieb nicht ohne
Einfluß auf die Anſicht und den Sprachgebrauch der Ju-
riſten. Von jetzt an wurden die Ausdrücke capitis demi-
nutio und capitalis causa nicht mehr auf die Fälle der
eine geringere Tribus von der
Ausſtoßung aus den Tribus über-
haupt unterſchieden, und jenes
erſte allein wird durch tribu mo-
vere bezeichnet: allein dieſes ge-
ſchieht auch lediglich in einem Fall
cenſoriſcher Willkühr, und beſtä-
tigt alſo den oben (§ 80. f) näher
beſtimmten Sprachgebrauch. Ganz
eben ſo verhält es ſich mit einer
gleich folgenden Stelle deſſelben
Kapitels, die von denſelben Cen-
ſoren Folgendes erzählt: „Plures,
quam a superioribus, et senatu
emoti sunt, et equos vendere
jussi. Omnes iidem ab utro-
que et tribu remoti, et aerarii
facti.” Hier wird, eben ſo wie
bey Cicero (§ 79. b), Beides als
verſchieden dargeſtellt. — Wenn
übrigens Claudius in ſeiner Rede
den Cenſoren das Recht abſpricht,
einen Bürger aus allen Tribus
auszuſtoßen, (oder zum Ärarier
zu machen), ſo läßt ihn damit
Livius ſeine Behauptung polemiſch
auf die äußerſte Spitze treiben;
denn daß ſie in der That jenes
Recht hatten, zeigt nicht nur das
Zeugniß des Cicero (§ 79. b),
ſondern ſogar die eigene Hand-
lung deſſelben Claudius nach der
ſo eben mitgetheilten Erzählung
von den ausgeſtoßenen Senatoren
und Rittern, die er, gemeinſchaft-
lich mit ſeinem Collegen, zu Ära-
riern machte.
|0227 : 213|
§. 81. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)
bloßen Infamie, ſondern nur noch auf den Verluſt der
ganzen, vollſtändigen Civität angewendet. Erſt dadurch
erhielt der Begriff der capitis deminutio diejenige aus-
ſchließende Beziehung auf die privatrechtliche Rechtsfähig-
keit, welche wir in unſren Rechtsquellen wahrnehmen
(Beylage VI. Num. XIII.). — Dieſe Veränderung des
Sprachgebrauchs wird ausdrücklich erwähnt in folgender
merkwürdigen Stelle des Modeſtin:
L. 103 de V. S. (50. 16.).
Licet capitalis latine loquentibus omnis causa exi-
stimationis videatur, tamen appellatio capitalis, mor-
tis vel amissionis civitatis intelligenda est.
Das heißt: nach dem jetzt geltenden Sprachgebrauch (der
Juriſten und der Kaiſergeſetze) gilt nur der Tod und der
Verluſt der Civität als Kapitalſtrafe, obgleich in den klaſ-
ſiſchen Schriftſtellern (latine loquentibus) auch ſchon die
Infamie als Kapitalſtrafe bezeichnet wird (d). — Was
nun in dieſer Stelle als juriſtiſcher Sprachgebrauch all-
gemein bezeugt wird, das findet ſich durch die in vielen
(d) Modeſtin bezeichnet alſo den
Gegenſatz eines älteren und neue-
ren Sprachgebrauchs, welcher zu-
gleich mit dem des nichtjuriſti-
ſchen und juriſtiſchen zuſammen
fällt, weil ſich der neuere in Folge
einer Reflexion der Juriſten ge-
bildet hatte. Marezoll S. 112.
113 erklärt irrig das latine lo-
quentibus von dem Sprachge-
brauch des gemeinen Lebens, und
nimmt die oben angeführten Stel-
len des Cicero für redneriſche
Übertreibung; in der Stelle pro
Roscio möchte das noch etwa gel-
ten, in der pro Quinctio, wo der
Ausdruck ſo oft, und ganz wie
etwas allgemein Bekanntes ge-
braucht wird, iſt es ganz un-
möglich.
|0228 : 214|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
anderen Stellen vorkommende Anwendung vollkommen be-
ſtätigt (e).
(e) § 2 J. de publ. jud. (4. 18.).
„Capitalia dicimus, quae ulti-
mo supplicio afficiunt, vel aquae
et ignis interdictione, vel de-
portatione, vel metallo. Ce-
tera si quam infamiam irro-
gant cum damno pecuniario,
haec publica quidem sunt, non
tamen capitalia.” § 5 J. de cap.
dem. (1. 16.), L. 28 pr. § 1
L. 2 pr. de publ. jud. (48. 19.),
L. 14 § 3 de bon. libert. (38. 2.),
L. 6 C. ex quib. caus. inf. (über
dieſe letzte Stelle vgl. Beylage VI.
Num. V.). — Nicht ganz ſtimmt
damit überein das Reſcript von
Severus (Note b). Indeſſen kann
bey einer ſolchen, gewiß allmäli-
gen, Veränderung des Sprachge-
brauchs einiges Schwanken nicht
befremden, auch deutet doch das
erwähnte Reſcript nur negativ,
alſo indirect, auf den älteren
Sprachgebrauch hin, nicht indem
es eine eigene Behauptung auf
denſelben gründet.
|0229 : 215|
§. 82. Infamie. Nebenwirkungen.
§. 82.
Nebenwirkungen der Infamie.
Es iſt bisher gezeigt worden, daß das Weſen der In-
famie publiciſtiſch war: darum aber iſt es nicht minder
wahr, daß ſie nebenher manche Einwirkungen auf das
Privatrecht hatte, welche nunmehr dargeſtellt werden ſollen.
1) Die erſte privatrechtliche Wirkung der Infamie,
die ſchon oben erwähnt worden iſt (§ 78), beſteht in der
beſchränkten Fähigkeit zu poſtuliren. Es ſollte nämlich
der Infame nur für ſich ſelbſt vor dem Prätor Anträge
machen dürfen, oder für ſolche Perſonen, welche mit ihm
in einem beſonders nahen Verhältniß ſtänden (§ 78. i):
in der Regel alſo für fremde Perſonen nicht.
Daraus folgte zunächſt, daß der Infame in der Regel
(d. h. mit Ausnahme der erwähnten perſönlichen Verhält-
niſſe), nicht Cognitor werden konnte (a): eben ſo wenig
(a) Fragm. Vatic. § 324. „Ob
turpitudinem et famositatem
prohibentur quidem (ms. qui-
dam) cognituram suscipere, ad-
sertionem non, nisi suspecti
praetori.” Paulus I. 2 § 1.
„Omnes infames, qui postulare
prohibentur, cognitores fieri
non possunt, etiam volentibus
adversariis.” — Man könnte in
der erſten Stelle das quidam der
Handſchrift dadurch zu retten ver-
ſuchen, daß man es als eine Hin-
deutung auf die Ausnahme der
nahe ſtehenden Perſonen anſähe;
allein theils paßt quidam wohl
als Bezeichnung einer Ausnahme,
aber nicht (wie es hier ſeyn müßte)
einer vorherrſchenden Regel, theils
iſt das quidem durch den Gegen-
ſatz der Adſertion gegen die Cogni-
tur hinlänglich motivirt. Der Ju-
riſt übergieng die Ausnahme mit
Stillſchweigen, da es ihm gerade
nur um den erwähnten Gegen-
ſatz zu thun war. — Merkwürdi-
|0230 : 216|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
aber auch Procurator, da die perſönlichen Hinderniſſe
der Cognitur auch auf die Procuratur allgemein ange-
wendet wurden (b).
Es folgte daraus aber auch ferner der wichtige Satz,
daß dem Infamen keine Klagen cedirt werden konnten (c),
indem dieſes ſtets unter der Form einer Beſtellung zum
Cognitor oder Procurator geſchah (d). Allein dieſe wich-
tigſte privatrechtliche Wirkung der Infamie wurde entkräf-
tet, ſobald man anfieng, die Ceſſion auch ohne die wirkliche
Beſtellung eines Cognitors oder Procurators, durch utiles
actiones, zuzulaſſen; denn der Sache nach verfolgte ja
ohnehin jeder Ceſſionar ein eigenes Intereſſe, wovon kein
Infamer ausgeſchloſſen ſeyn ſollte, und man konnte ihm
nun auch nicht entgegen ſetzen, daß er der Form nach ein
gerweiſe hat ſich dieſer Satz des
alten Rechts in Gratians Decret
verirrt c. 1 C. 3. q. 7. „Infamis
persona nec procurator esse
potest nec cognitor.” Er wird
hier einer Romana synodus zu-
geſchrieben, und dieſe hatte ihn
ohne Zweifel aus dem Breviarium
aufgenommen. Nur ſteht er frey-
lich in dieſer wörtlichen Faſſung
weder in dem Text des Paulus,
noch in unſrer Interpretation:
wahrſcheinlich aber findet er ſich
ſo in irgend einer der ſpäteren
Bearbeitungen. (Savigny Geſch.
des R. R. im M. A., B. 2 § 20).
(b) Fragm. Vatic. § 322. 323.
(c) Paulus I. 2 § 3. „In rem
suam cognitor procuratorve ille
fieri potest, qui pro omnibus
postulat.” Alſo nicht Derjenige,
welcher in dem zweyten oder drit-
ten Edict de postulando ſtand.
Auch die Interpretatio bezieht den
Satz ganz richtig auf die Aus-
ſchließung der Infamen. — Wört-
lich konnte man ihn auch auf die
Ausſchließung der Frauen bezie-
hen, aber von dieſen ſagt das
Gegentheil der unmittelbar vor-
hergehende § 2. „Feminae in rem
suam cognitoriam operam sus-
cipere non prohibentur.” (Alſo
nicht auch procuratoriam.)
(d) Gajus II. § 39. L. 24 pr.
de minor. (4. 4.). L. 3 § 5 de
in rem verso (15. 3.).
|0231 : 217|
§. 82. Infamie. Nebenwirkungen.
Procurator, alſo durch den Buchſtaben des Edicts aus-
geſchloſſen ſey (e).
Endlich folgte daraus auch die Unfähigkeit der Ehr-
loſen, reine Popularklagen anzuſtellen, das heißt ſolche
Klagen, wodurch zwar eine Geldſtrafe eingefordert wird,
aber lediglich um einem öffentlichen Intereſſe durch dieſe
Strafe Gewicht und Schutz zu verſchaffen. Denn in ſol-
chen Klagen ſtellte der Kläger lediglich einen Procurator
des Staats vor (f). Hatte dagegen der Kläger zugleich
ein eigenes Intereſſe zu verfolgen, ſo erhielt dadurch die
Klage eine gemiſchte Natur, und der Infame war dann
von der Anſtellung derſelben nicht ausgeſchloſſen (g).
Dieſe ganze Einſchränkung war zunächſt auf die Würde
des Prätors gegründet, welchem nicht ohne Noth und aus
bloßer Willkühr ehrloſe Menſchen vor Augen geſtellt wer-
den ſollten, und darum konnte, wie Paulus ausdrücklich
ſagt, ſelbſt die Einwilligung des Gegners hierin Nichts
ändern (Note a). Aber auch der Gegner im Prozeß ſollte
in der Regel nicht gezwungen ſeyn, mit einem ehrloſen
(e) L. 9 C. de her. vel act.
vend. (4. 39.) „utiliter eam mo-
vere suo nomine conceditur.”
Nämlich inſofern suo nomine, als
er nun nicht die beſonderen Rechte
und Einſchränkungen eines Pro-
curators hatte; dem Beklagten
gegenüber war es freylich noch
immer die alte Klage des Ceden-
ten, alſo auch allen früheren Ex-
ceptionen unterworfen.
(f) L. 4 de pop. act. (47. 23.).
„Popularis actio integrae per-
sonae permittitur: hoc est, cui
per Edictum postulare licet.”
Eben ſo waren auch Frauen aus-
geſchloſſen. L. 6 eod. — Vergl.
über dieſe Klagen § 73 lit. H.
(g) Ausdrücklich geſagt wird
dieſes nur von den Frauen. L. 6
de pop. act. (47. 23.). Es iſt
aber unbedenklich auch auf die
Ehrloſen anzuwenden.
|0232 : 218|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Cognitor oder Procurator zu verhandeln, und zur Ver-
theidigung dieſes ſeines ſelbſtändigen Rechts gab man ihm
eine procuratoria exceptio, die ihm der Prätor aus blo-
ßer Nachſicht gegen den Infamen gewiß nicht entziehen
konnte. Juſtinian hob dieſe Exception geſetzlich auf, da
ſie ohnehin nicht mehr üblich ſey (h): das heißt aber nicht
ſo viel, daß die Infamen hinfort ſollten unbeſchränkt po-
ſtuliren dürfen, was ja den deutlichſten Beſtimmungen der
Digeſten widerſprechen würde, ſondern es ſollte nur noch
die Obrigkeit dieſelben zurückweiſen dürfen, ohne daß die
Gegenpartey eine ſolche Exception vorbringen, oder auch
blos als Vorwand zur Verſchleppung des Prozeſſes fer-
ner misbrauchen durfte.
Blos aus dieſer zuletzt erwähnten Verordnung Juſti-
nians (Note h) erfahren wir gelegentlich, daß eine gleiche
Exception den Infamen auch verhinderte, für ſich einen
(h) § 11 J. de except. (4. 13.).
„Eas vero exceptiones, quae
olim procuratoribus propter in-
famiam, vel dantis vel ipsius
procuratoris, opponebantur:
cum in judiciis frequentari
nullo modo perspeximus, con-
quiescere sancimus: ne dum de
his altercatur, ipsius negotii
disceptatio proteletur.” — Ma-
rezoll S. 215—217 faßt die
Abſicht und Wirkung dieſer neuen
Verordnung richtig auf, erklärt
aber die Worte nullo modo ſehr
gezwungen. Der natürliche Sinn
iſt wohl dieſer: „die erwähnten
exceptiones kamen ſchon jetzt
ſehr wenig vor, woraus erhellt,
daß kein praktiſches Bedürfniß für
dieſelben vorhanden war; wir he-
ben ſie daher nunmehr geſetzlich
auf, damit ſie nicht in einzelnen
Fällen hervorgeſucht und zur Ver-
ſchleppung misbraucht werden mö-
gen.“ Das frequentari nullo
modo bezeichnet ſeltnen Gebrauch
eines Rechtsinſtituts, und iſt noch
verſchieden von einer durch Ge-
wohnheitsrecht bewirkten Aufhe-
bung des Inſtituts ſelbſt. Theo-
philus freylich kann leicht zur An-
nahme dieſer letzten verleiten.
|0233 : 219|
§. 82. Infamie. Nebenwirkungen.
Procurator zu ernennen, welche Beſchränkung gleichfalls
Juſtinian aufhebt. Das mag ſeinen Grund etwa darin
gehabt haben, daß der Beklagte die Unzuverläſſigkeit des
ehrloſen Klägers mit mehr Erfolg für ſich geltend machen
konnte, wenn dieſer perſönlich vor Gericht erſchien. Die
Amtswürde der Obrigkeit hatte dabey kein Intereſſe, und
es war ihr daher nicht, wie bey der vorhergehenden Ein-
ſchränkung, überlaſſen, den von einem Infamen ernann-
ten Procurator von Amtswegen zurück zu weiſen. Daher
mußte denn mit der Aufhebung dieſer zweyten procurato-
ria exceptio zugleich auch der ganze ihr zum Grund lie-
gende Rechtsſatz völlig verſchwinden: hierin liegt der na-
türliche Grund, warum ſich in den übrigen Theilen der
Juſtinianiſchen Rechtsbücher keine Spur dieſer zweyten
Einſchränkung erhalten hat. Sehr wichtig war dieſelbe
im älteren Recht, indem dadurch der Infame verhindert
wurde, irgend eine ihm zuſtehende Schuldforderung zu
veräußern, welches damals nur durch eine foͤrmliche Ceſ-
ſion, alſo nur durch die Beſtellung eines Procurators oder
Cognitors, geſchehen konnte.
2) Die zweyte privatrechtliche Wirkung der Infamie
beſtand in einer Beſchränkung der Fähigkeit zur Ehe. Dem
älteren Recht war dieſelbe fremd, die Lex Julia legte dazu
den Grund, aber erſt die Interpretation der Juriſten
brachte ſie zur Ausbildung (i). Der Entwicklungsgang
dieſes Rechtsſatzes war aber folgender.
(i) Die vollſtändige Darſtellung dieſer Sätze, durch Quellenzeug-
|0234 : 220|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Die Lex Julia verbot den Senatoren, ſo wie den männ-
lichen und weiblichen Nachkommen der Senatoren, die Ehe
mit Freygelaſſenen, und außerdem mit gewiſſen, einzeln
aufgezählten, verächtlichen Perſonen. Allen freygebornen
Männern verbot ſie die Ehe mit gewiſſen, gleichfalls ein-
zeln aufgezählten, verächtlichen Frauen. Beide Aufzäh-
lungen der Fälle der Verächtlichkeit ſtimmten nur theil-
weiſe überein.
Die Juriſten bildeten dieſes Verbot auf zweyerley Weiſe
aus: erſtens indem ſie die Faͤlle der Verächtlichkeit aus
einer Klaſſe auf die andere übertrugen: zweytens indem
ſie dieſe Fälle auf den allgemeinen Begriff der Infamie
zurück führten, und nun die Regel aufſtellten, daß ſich
das Verbot für die Senatoren, wie für die Freygebornen,
auf alle im Edict als Infame bezeichnete Perſonen beziehe.
Dieſes gab die erſte Gelegenheit, die Infamie auch
auf Frauen zu beziehen, und ſo den alten Begriff der In-
famie zu erweitern. Die neu aufgenommenen Fälle der-
ſelben wurden nachträglich in das Edict eingeſchrieben.
Das Verbot der Lex Julia aber hatte nicht etwa den
Sinn, daß eine ſo verbotene Ehe nichtig ſeyn ſollte, ſon-
dern ſie ſollte nur nicht die durch dieſes Geſetz mit dem
Zuſtand der Verehelichten verbundenen Vortheile gewäh-
ren, oder mit anderen Worten: ſie ſollte nicht fähig ſeyn,
die Strafen des Cölibats abzuwenden.
niſſe begründet, findet ſich in der
Beylage VII. Ich ſtelle hier nur
deren Reſultate zu einer kurzen
Überſicht zuſammen.
|0235 : 221|
§. 82. Infamie. Nebenwirkungen.
Zwar wurde die Wirkung des Verbots durch einen
Senatsſchluß unter Marc Aurel bis zur Nichtigkeit der
Ehe ausgedehnt, jedoch nicht für die Freygebornen, ſon-
dern nur für die Senatoren, und auch für dieſe nur im
Verhältniß zu den Freygelaſſenen, und zu den durch gewiſſe
Gewerbe verächtlichen Perſonen (wie den Schauſpielern),
niemals im Verhältniß zu den Infamen im Allgemeinen.
Das Eheverbot der Lex Julia hörte von ſelbſt auf,
als durch Geſetze chriſtlicher Kaiſer die Cölibatsſtrafen all-
gemein aufgehoben wurden. Die Ausdehnung jenes Ver-
bots für die Senatoren wurde von Juſtinian gänzlich auf-
gehoben.
Nunmehr hatte wieder die Infamie ihre Anwendbar-
keit auf das weibliche Geſchlecht gänzlich verloren. Es
war eine conſequente Folge davon, daß die Compilatoren,
als ſie das prätoriſche Edict über die Infamen in die
Digeſten aufnahmen, daraus wiederum die nachträglich
eingeſchriebenen Stellen über ehrloſe Frauen wegließen.
Die hier aufgezählten Nebenwirkungen ſind die einzi-
gen, die ſich mit Grund auf die Infamie, nach dem wah-
ren juriſtiſchen Begriff dieſes Worts, zurückführen laſſen.
Manche andere ſind jedoch von unſren Juriſten irriger-
weiſe dahin gezählt worden.
So ſollen die Infamen unfähig ſeyn als Zeugen auf-
zutreten, ſey es vor Gericht, oder bey feyerlichen Rechts-
|0236 : 222|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
geſchäften (k). Das Römiſche Recht hat aber niemals
eine ſolche allgemeine Regel aufgeſtellt. In älteren Ge-
ſetzen war den wegen gewiſſer einzelner Verbrechen Ver-
urtheilten die Zeugenfähigkeit beſonders abgeſprochen. Zu-
letzt hat Juſtinian verordnet, zu Zeugen ſollten überhaupt
nur vortreffliche Leute genommen werden, gleich zuver-
läſſig durch guten Ruf und durch ihre äußere Stellung (l).
Daß dieſe, ohnehin unausführbare, Vorſchrift mit dem be-
ſtimmten Rechtsbegriff der Infamie Nichts gemein hat,
verſteht ſich von ſelbſt; ſie geht ſogar über den ſchon ſehr
ſchwankenden Begriff der Infamia facti (§ 78) noch hin-
aus (m). Demnach müſſen wir, was das Reſultat des
neueſten Rechts betrifft, eine abſolute Unfähigkeit der In-
famen zum Zeugniß (ſowohl dem gerichtlichen, als dem
bey feyerlichen Geſchäften) durchaus verneinen. Was aber
die Glaubwürdigkeit derſelben im gerichtlichen Zeugniß be-
trifft, ſo kann dieſe ohnehin nur durch freyes Ermeſſen
des Richters in jedem einzelnen Fall beurtheilt werden,
und auch dabey ſind die genauen juriſtiſchen Beſtimmun-
gen der Infamie gleichgültig.
Eben ſo verhält es ſich endlich auch mit der angebli-
chen Beziehung der Infamie auf die querela inofficiosi.
Geſchwiſter, ſagt man, die in dem Teſtament ausgeſchloſ-
ſen ſind, koͤnnen nur dann auf die Querel Anſpruch ma-
(k) Dieſe Meynung iſt ſehr ver-
breitet. Vergl. u. a. Linde Lehr-
buch des Civilprozeſſes § 258 (4te
Auflage).
(l) Nov. 90.
(m) Ausführlich behandeln dieſe
Frage Burchardi § 6 und Ma-
rezoll S. 220—227.
|0237 : 223|
§. 82. Infamie. Nebenwirkungen.
chen, wenn der ihnen vorgezogene Erbe eine infame Per-
ſon iſt. Allein die Beſtimmung des Geſetzes iſt eine ganz
andere. Die Querel wird abhängig gemacht von dem
Umſtand, daß der Vorzug des eingeſetzten Erben, wegen
deſſen perſönlicher Eigenſchaften, etwas beſonders Ver-
letzendes habe. Als Beyſpiele ſolcher, den Vorzug zur
Kränkung für den Ausgeſchloſſenen machender Eigenſchaf-
ten, werden genannt: die Infamie, ſchlechter Ruf (wenn-
gleich in geringerem Grade), und Libertinität, mit Aus-
nahme ſolcher Freygelaſſenen, die ſich beſondere Verdienſte
um den Verſtorbenen erworben hatten (n). Offenbar iſt
alſo auch hier Alles der freyen Beurtheilung des Richters
überlaſſen, und der Rechtsbegriff der Infamie mit ſeinen
ſcharf beſtimmten Gränzen iſt dabey nicht das entſchei-
dende Moment.
(n) L. 27 C. de inoff. test.
(3. 28.) „si scripti heredes in-
famiae, vel turpitudinis, vel le-
vis notae macula adspergantur:
vel liberti qui perperam et non
bene merentes … instituti sunt.”
Die Grundlage dieſer Conſtitu-
tion ſind zwey Stellen des Theo-
doſiſchen Codex. L. 1. 3 C. Th.
de inoff. (2. 19.). Vergl. über
dieſe Frage Marezoll S. 246,
deſſen Anſichten von den hier auf-
geſtellten zum Theil verſchieden
ſind.
|0238 : 224|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 83.
Heutige Anwendbarkeit der Lehre von der Infamie.
Es iſt nunmehr anzugeben, was aus den über die
Infamie aufgeſtellten Sätzen für die heutige Anwendung
dieſes Rechtsinſtituts folgt.
Zuerſt alſo: welche Geſtalt hat die Infamie im Ju-
ſtinianiſchen Recht angenommen? Es iſt davon Nichts
übrig geblieben, als die beſchränkte Fähigkeit der Infa-
men, für Andere poſtulirend vor Gericht aufzutreten, und
auch dieſe Beſchränkung nur inſoferne der Richter ſelbſt
ſie geltend machen will, nicht mehr als ein perſönliches
Recht der Gegenpartey (§ 82). Denn die publiciſtiſche
Bedeutung der Infamie hatte ohnehin längſt aufgehört,
indem auch ſelbſt die Unfähigkeit der Infamen zu Ehren-
ſtellen, obgleich ſie ſich noch ausgeſprochen findet, dem
Sinne nach von dem alten Rechtsſatz ganz verſchieden iſt,
und blos eine buchſtäbliche und ſcheinbare Fortdauer deſ-
ſelben in ſich ſchließt (§ 80). Eben ſo war auch die mit
der Infamie lange Zeit verbundene beſchränkte Fähigkeit
zur Ehe gänzlich verſchwunden (§ 82).
Allein auch jener Überreſt des alten Rechtsinſtituts
hat ſich bey dem Übergang des Römiſchen Rechts auf
das neuere Europa nicht erhalten können, da er mit der
eigenthümlichen Gerichtsverfaſſung der Roͤmer zuſammen-
|0239 : 225|
§. 83. Infamie. Heutige Anwendbarkeit.
hieng, in der That alſo auch wieder durch ſtaatsrechtliche
Verhältniſſe bedingt war.
Nach der neueren Gerichtsverfaſſung beruht alle ge-
richtliche Vertretung Anderer theils auf der Procuratur,
theils auf der Advocatur, welche bald in denſelben Per-
ſonen vereinigt, bald getrennt erſcheinen. Beide Geſchäfte
ſind ferner (je nach dem verſchiedenen Recht einzelner Län-
der) theils an eine öffentliche Anſtellung gebunden, theils
davon unabhängig, alſo bloße Privatſache. Im erſten
Fall gehören ſie, ſo wie alle Anſtellungen, dem oͤffentli-
chen Rechte an, und ſind daher von den Beſtimmungen
des Römiſchen Rechts, nach richtigen Anſichten, ganz un-
abhängig. Insbeſondere was die Unfähigkeit der Infamen
zur Anſtellung als Gerichtsprocuratoren betrifft, ſo gilt
davon alles Dasjenige, was ſo eben über ihre Unfähig-
keit zu oͤffentlichen Amtern überhaupt bemerkt worden iſt.
— Im zweyten Fall könnte an ſich wohl von einer An-
wendung der Römiſchen Regel die Rede ſeyn. Dieſe hätte
dann den Sinn (den auch wirklich Manche darein legen),
daß Infame nicht befugt wären, Prozeßſchriften für An-
dere abzufaſſen: denn das iſt es, was man unter der Pri-
vatadvocatur, oder dem heutigen Poſtuliren, zu denken
pflegt. Allein auch ſelbſt eine ſo beſchränkte Anwendung
würde doch höchſtens dem Buchſtaben, nicht dem wahren
Sinn der Römiſchen Regel entſprechen. Denn was nach
der Römiſchen Anſicht die Amtswürde verletzte, war das
willkührliche, nicht durch Verfolgung eigener Intereſſen
II. 15
|0240 : 226|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
gerechtfertigte, Auftreten des Infamen vor der Perſon des
Prätors. Die Abfaſſung von Prozeßſchriften kann un-
möglich als eine Verletzung des richterlichen Anſehens be-
trachtet werden, welche Eigenſchaften auch der (vielleicht
ſogar ungenannt bleibende) Verfaſſer an ſich tragen moͤge.
Wollte man etwa ſagen, ein ehrloſer Verfaſſer ſey auch
der Verdrehung des Rechts verdächtig, ſo würde dadurch
die Sache in ein ganz anderes, der Römiſchen Regel frem-
des Gebiet hinüber geſpielt, das Gebiet der Aufſicht auf
die Prozeßverhandlungen. Hier aber ſind, wenn ſich ein-
mal der Richter einmiſchen ſoll, ganz andere Rückſichten
zu beachten: theils ſittliche, theils intellectuelle, wohin be-
ſonders ein gewiſſer Grad von Rechtskenntniß gehören
wird. Die Infamie mit ihren ganz poſitiv beſtimmten
Bedingungen wird dabey gleichgültig ſeyn, und anſtatt
derſelben wird der unbeſtimmte Begriff perſoͤnlicher Zu-
verläſſigkeit zur Anwendung kommen.
Die hier aufgeſtellten Gründe, wenngleich ſie in dieſer
Geſtalt und Beſtimmtheit nicht anerkannt zu werden pfleg-
ten, und alſo nicht zu deutlichem Bewußtſeyn kamen, ſind
dennoch nicht ohne Einfluß auf neuere Schriftſteller ge-
blieben. Daraus allein erklären ſich die unglaublich ſchwan-
kenden Meynungen derſelben über den Grad der Anwend-
barkeit, welcher den Römiſchen Grundſätzen über die In-
famie einzuräumen ſeyn möchte (a).
Aber auch in dieſer großen Mannichfaltigkeit der Mey-
(a) Vgl. Marezoll S. 346—349.
|0241 : 227|
§. 83. Infamie. Heutige Anwendbarkeit.
nungen laſſen ſich doch einige gemeinſame Anſichten wahr-
nehmen, worin die Meiſten und Beſonnenſten übereinſtim-
men (b). Dahin gehoͤrt zunächſt eine ungemeine Beſchrän-
kung der Vorſchriften des R. R., wodurch ſich alſo jene
Anſichten in ihrem letzten Reſultat der hier vertheidigten
ſehr annähern. Es ſollen nämlich gar keine Anwendung
mehr finden die Fälle der Infamie, welche ohne richterli-
ches Urtheil eintraten (immediata). Ferner aus der ſo-
genannten mediata die Urtheile über Privatdelicte oder
Contracte. Hiernach bliebe die Infamie als Rechtsinſti-
tut (denn die infamia facti geht uns überhaupt Nichts an),
nur noch übrig als Folge ausgeſprochener Criminalſtra-
fen, wobey es noch dahin geſtellt bleiben muß, ob man auch
die extraordinaria crimina ausſchließen möchte (§ 77. c),
welche Einſchränkung freylich zu unſrem heutigen Crimi-
nalrecht gar nicht mehr paſſen würde. — Die Carolina
erwähnt die Infamie namentlich als Strafe des Meinei-
digen, ſo wie Desjenigen, welcher durch die Perſon ſei-
ner Frau oder ſeines Kindes ein Lenocinium begeht (c).
Andere Reichsgeſetze erkennen ſie an als Folge der Inju-
rie (d), oder drohen ſie als eigene, neu erfundene Strafe
für beſtimmte Vergehen an (e).
(b) Eichhorn deutſches Pri-
vatrecht § 87. 88, 1te Ausg.
(c) C. C. C. art. 107. 122.
(d) Reichsſchlüſſe von 1668.
1670. Sammlung der Reichsab-
ſchiede Th. 4. S. 56. 72.
(e) Strafe der Notare, die
eine Ceſſion von Juden an Chri-
ſten aufnehmen R. A. 1551 § 80.
Strafe der widerſpenſtigen Hand-
werksgeſellen 1731. Sammlung
der Reichsabſchiede Th. 4. S. 379.
15*
|0242 : 228|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Die ſo eng begränzte Infamie ſoll nun im heutigen
Recht noch folgende Wirkungen hervorbringen:
1) Unfähigkeit zu Ehrenämtern, mit Einſchluß der
Gemeindeämter;
2) desgleichen zur Advocatur, Procuratur, und zum
Notariat;
3) desgleichen zur Theilnahme an Zünften und bür-
gerlichen Collegien.
4) Endlich auch noch alle im Privatrecht durch das
R. R. geordnete Wirkungen, namentlich in Beziehung auf
die querela inofficiosi.
Über die wichtigſten der hier erwähnten Gegenſtände
habe ich mich bereits im Einzelnen erklärt, namentlich
darüber, daß die unter Num. 4 genannten Wirkungen in
der That gar nicht vorhanden ſind. In den Reichsge-
ſetzen wird eine jener Folgen, die Unfähigkeit zum Nota-
riat, namentlich ausgeſprochen (f).
Man ſieht, daß der Umfang der noch übrig bleiben-
den rein praktiſchen Controverſe ſehr eng iſt, und daß die
bedenklichſten Fälle der Römiſchen Infamie ſchon in jener
Lehre bewährter neuerer Schriftſteller beſeitigt ſind (g).
(f) Notariatsordnung 1512 § 2
„ſo darzu von den Rechten ver-
boten, als … ehrloß, Infames
genandt … und in Summa alle
die in Rechten zu zeugen ver-
worffen werden, dieweil ſie an
ſtatt der Zeugen gebraucht wer-
den.“ Hierbey liegt offenbar die
falſche Meynung mehrerer Rechts-
lehrer zum Grunde, als ob nach
R. R. die Infames ſchlechthin un-
fähig zu jedem Zeugniß wären.
(g) Am bedenklichſten ſind man-
che Fälle der ſogenannten infa-
mia immediata, z. B. der Fall der
bina sponsalia, das heißt eines
neuen Verlöbniſſes ohne aus-
drückliche Aufkündigung des frü-
|0243 : 229|
§. 83. Infamie. Heutige Anwendbarkeit.
Aber auch in dieſer großen Einſchränkung kann ich irgend
eine Anwendung der Römiſchen Infamie aus den oben
entwickelten Gründen nicht zugeben. Was ſich davon ein-
räumen läßt, iſt Folgendes.
Unter dem Einfluß Germaniſcher Anſichten haben ſich
vom Mittelalter her in verſchiedenen Ländern ziemlich
gleichförmige Regeln uͤber Ehre und Ehrloſigkeit ausge-
bildet, die theilweiſe auch die Natur von Rechtsinſtituten
angenommen haben, vorzüglich in Beziehung auf die mög-
liche Theilnahme an Corporationen verſchiedener Art.
Solche Rechtsregeln ſind theils durch eigentliche Geſetze,
theils durch Gewohnheitsrecht, beſonders aber durch die
Statuten und Obſervanzen ſolcher Corporationen ſelbſt,
feſtgeſtellt worden. Auf dieſe Feſtſtellung nun, woran
meiſt Rechtsgelehrte Antheil nahmen, haben nicht ſelten
die (mehr oder weniger misverſtandenen) Beſtimmungen
des R. R. Einfluß gehabt.
Ein ſolcher indirecter Einfluß des R. R. auf das heu-
tige Recht der Infamie läßt ſich nicht verkennen; er grün-
det ſich jedoch nur auf Misverſtändniſſe über die oben
dargeſtellte wahre Natur dieſes Rechtsinſtituts, und er iſt
überdem nie von großer Erheblichkeit geweſen. In das
heren; ferner die Ehe des Vor-
mundes oder des Sohnes deſſel-
ben mit der Mündel vor der ge-
ſetzlichen Zeit (§ 77. o). Beide
Fälle laſſen ſich denken als ganz
argloſe Übertretungen blos for-
meller Vorſchriften bey augen-
ſcheinlicher Unſchuld in der Sache
ſelbſt. Kein Rechtsinſtitut aber
kann ſo wenig, als das der In-
famie, einen ſchneidenden Wider-
ſpruch mit der öffentlichen Mey-
nung vertragen.
|0244 : 230|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Gebiet dieſer Misverſtändniſſe fallen denn auch diejenigen
Reichsgeſetze, welche für einzelne Fälle die Infamie theils
als gültig vorausſetzen, theils neu vorſchreiben (§ 83. c.
d. e. f), und auch dieſe können daher nicht geltend ge-
macht werden, um die hier aufgeſtellten Gründe gegen die
gemeinrechtliche Anwendbarkeit der Infamie zu widerlegen.
In den Fällen übrigens, worin die Infamie noch in
unſrem Criminalrecht, ſey es als ausgeſprochene Strafe,
oder als Folge gewiſſer Strafarten, vorkommt, kann ich
zwar, aus den hier entwickelten Gründen, beſtimmte recht-
liche Wirkungen derſelben, ſo wie ſie im Einzelnen be-
hauptet zu werden pflegen, nicht zugeben. Ich bin aber
weit entfernt, deshalb die Realität und Wirkſamkeit der-
ſelben als eines bedeutenden Strafmittels zu beſtreiten.
Denn wenn der Richter die Infamie ausſpricht, oder wenn
ſie als nothwendige Folge einer vollzogenen Strafe ange-
ſehen wird, ſo iſt die unausbleibliche Wirkung auf die
öffentliche Meynung an ſich ſelbſt ein ſehr reelles Übel,
auch wenn daneben einzelne juriſtiſche Folgen nicht noch
nachgewieſen werden können.
|0245 : 231|
§. 84. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Religion.
§. 84.
Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Religion.
Seit der Herrſchaft der chriſtlichen Religion bildete
ſich im Römiſchen Recht allmaͤlig der Grundſatz aus, daß
gewiſſe Verſchiedenheiten des religiöſen Bekenntniſſes eine
Beſchränkung der Rechtsfähigkeit mit ſich führen ſollten.
Es gehören dahin folgende Fälle.
I. Pagani. Die Anhänger der alten Religion, deren
Herrſchaft und Druck ſo lange Zeit den Chriſten verderb-
lich geweſen war, wurden nun abwechslend mit mehr oder
weniger Duldung behandelt, ja es wurden auf ſie die
härteſten Strafgeſetze nicht ſelten angewendet. Es erklärt
ſich wohl gerade aus der Strenge dieſer Strafen, daß
dabey von einer Beſchränkung der Rechtsfähigkeit, die
doch immer einen Zuſtand ruhiger Duldung vorausſetzt,
und durch vertilgende Maasregeln unnütz wird, nicht un-
mittelbar die Rede iſt. Gegen die willkührliche Verfol-
gung durch Privatperſonen wurden ſie zu Zeiten durch be-
ſondere Geſetze in Schutz genommen (a).
II. Judaei. Der Regel nach ſollten ſie gleiches Recht
mit den Chriſten haben (b). Nur die Ehe zwiſchen Chri-
ſten und Juden war gänzlich verboten, und ſollte mit der
geſetzlichen Strafe des Ehebruchs belegt werden (c). Dieſe
(a) L. 6 C. de paganis (1. 11.).
(b) L. 8. 15 C. de Judaeis
(1. 9.).
(c) L. 6 C. de Judaeis (1. 9.).
|0246 : 232|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Beſtimmung war ganz poſitiv, und darf auf keine Weiſe
als eine Anwendung des den Peregrinen verſagten Con-
nubium betrachtet werden. Denn das fehlende Connubium
war kein Verbot und zog keine Strafe nach ſich: ferner
hatten gewiß von jeher einzelne Juden die Civität erwor-
ben, und die allgemeine Civität, die Caracalla allen Un-
terthanen des Reichs verlieh, kam gewiß auch den da-
mals vorhandenen Juden und ihren Nachkommen zu gut.
III. Haeretici. Diejenigen Chriſten, deren Lehre durch
eine Kirchenverſammlung für Ketzerey erklärt worden war,
wurden mit verſchiedenen, oft harten, Strafen verfolgt,
welche bald auf einzelne augenblicklich wichtige Irrlehren,
wie der Manichäer und Donatiſten, bald auf alle Ketze-
reyen überhaupt bezogen wurden. Unter dieſe Strafen
gehörten nun beſonders auch Beſchränkungen der Rechts-
fähigkeit. Am häufigſten wurde ihnen die Befugniß ver-
ſagt, Erbſchaften zu erwerben, und Teſtamente zu errich-
ten: daneben kommt auch wohl das Verbot der Schen-
kung und des Verkaufs, ja aller Contracte, aller Klagen,
und aller juriſtiſchen Handlungen vor (d).
IV. Apostatae. Beſondere Geſetze wurden erlaſſen ge-
gen den Abfall von der richtigen Kirchenlehre zu den drey
genannten Klaſſen von Irrthümern. Dieſe Geſetze betra-
fen bald nur eine der genannten Klaſſen, bald mehrere,
(d) L. 4 L. 19 pr. L. 21. L. 22
C. de haeret. (1. 5.). Auth. Item
und Auth. Friderici Credentes
C. eod. — L. 7. 17. 18. 25. 40.
49. 58 C. Th. de haeret. (16. 5.).
|0247 : 233|
§. 84. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Religion.
bald alle, ſo daß alſo der Name Apostata, wie es Ver-
anlaſſung und Bedürfniß gerade mit ſich brachte, in ver-
ſchiedenen Bedeutungen gebraucht wurde. Hier, wie bey
der Ketzerey, kam häufig die Beſchränkung der Rechts-
fähigkeit vor, und beſonders das Verbot Erbe zu werden
und zu teſtiren (e).
Von allen dieſen Beſtimmungen iſt in dem heutigen
Römiſchen Recht, und namentlich in dem gemeinen Recht
von Deutſchland, nur eine einzige übrig geblieben: das
Eheverbot zwiſchen Juden und Chriſten. Heiden, ſo wie
Ketzer im Sinn der Römiſchen Kaiſergeſetze, alſo auch
Apoſtaten in dieſer Beziehung, ſind in unſren Staaten
nicht mehr vorhanden, ſo daß inſofern ſelbſt die Möglich-
keit der Anwendung fehlen würde. Eine ſolche Unmoͤg-
lichkeit läßt ſich für die Apoſtaſie zum Judenthum aller-
dings nicht behaupten: dennoch wird ſchwerlich Jemand
die Anwendung der Römiſchen Geſetze auf dieſen Fall,
vom Standpunkt des heutigen Römiſchen Rechts aus, in
Schutz nehmen.
Andere Gegenſätze haben ſeit der Reformation Europa
entzweyt, und hier ſind ähnliche Härten und Ausſchlie-
ßungen, wie jene Römiſchen, erfolgt, je nachdem die eine
oder andere Partey ſiegreich wurde. In Deutſchland allein
kam es ſchon ſehr früh zu einem gewiſſen Gleichgewicht,
welches in feſten, geſetzlichen Regeln ausgebildet wurde.
(e) L. 2. 3. 4 C. de apost. (1. 7.). L. 1. 2. 4. 7 C. Th. de apost.
(16. 7.).
|0248 : 234|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Seitdem war gemeinrechtlich zwiſchen den drey großen
Religionsparteyen kein Unterſchied mehr: deſto größer war
dieſer Unterſchied nach dem Particularrecht einzelner Län-
der, und auch dieſe Verſchiedenheit hatte ihre hypotheti-
ſche Begründung in den Beſtimmungen des Weſtphäliſchen
Friedens.
Anders nach der Bundesakte von 1815. Dieſe be-
ſtimmt für die chriſtlichen Religionspartheien in allen zum
deutſchen Bunde gehoͤrenden Ländern völlige Gleichheit der
bürgerlichen und politiſchen Rechte, und zwar unbedingt,
ohne für irgend eine Abweichung in dem Recht einzelner
Länder Raum zu laſſen (f). In Anſehung der Juden wer-
den ebendaſelbſt künftige Beſtimmungen über den Genuß
der bürgerlichen Rechte noch vorbehalten.
(f) Bundesakte Art. 16 „Die
Verſchiedenheit der chriſtlichen Re-
ligions-Partheien kann in den Län-
dern und Gebieten des Deutſchen
Bundes keinen Unterſchied in dem
Genuſſe der bürgerlichen und po-
litiſchen Rechte begründen.“
|0249 : 235|
§. 85. Juriſtiſche Perſonen. Begriff.
§. 85.
Juriſtiſche Perſonen. Begriff.
Digest. III. 4. Quod cujuscunque universitatis nomine
vel contra eam agatur.
Digest. XLVII. 22 de collegiis et corporibus.
Schriftſteller:
Über die hiſtoriſche Seite der Lehre:
Wassenaer ad tit. D. de coll. et corp. L. B. 1710.
(Fellenberg jurispr. ant. I. p. 397—443).
Dirkſen Zuſtand der juriſtiſchen Perſonen nach R. R.
(Abhandlungen B. 2 Berlin 1820 S. 1—143).
Uber die praktiſche Seite:
Zachariae liber quaestionum Viteb. 1805. 8. Qu. 10
de jure universitatis.
Thibaut civiliſtiſche Abhandlungen Heidelberg 1814
N. 18. Über die rechtlichen Grundſätze bey Ver-
theilung der Gemeindeſachen. — Vgl. deſſelben Ver-
faſſers Pandektenrecht § 129—134 der 8ten Ausg.
J. L. Gaudliz s. Haubold de finibus inter jus sin-
gulorum et universitatis regundis Lips. 1804, in
Hauboldi opusc. Vol. 2 Lips. 1829 p. 546—620
p. LXIII—LXXIX(a).
(a) Ich citire dieſe Schrift, die
gewöhnlich unter dem Namen des
Reſpondenten angeführt wird, un-
ter Haubolds Namen, weil in
|0250 : 236|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Lotz civiliſtiſche Abhandlungen, Coburg und Leipzig
1820 N. 4 S. 109—134.
Kori von Gemeinheits-Beſchlüſſen, und von Pſeudo-
Gemeinheits-Sachen; in: Langenn und Kori Er-
örterungen praktiſcher Rechtsfragen B. 2 Dresden
und Leipzig 1830 N. 1. 2, S. 1—39.
Die Rechtsfähigkeit wurde oben dargeſtellt als zuſam-
menfallend mit dem Begriff des einzelnen Menſchen (§ 60).
Wir betrachten ſie jetzt als ausgedehnt auf künſtliche,
durch bloße Fiction angenommene Subjecte. Ein ſolches
Subject nennen wir eine juriſtiſche Perſon, d. h. eine
Perſon welche blos zu juriſtiſchen Zwecken angenommen
wird. In ihr finden wir einen Träger von Rechtsver-
hältniſſen noch neben dem einzelnen Menſchen.
Um aber dieſem Begriff die angemeſſene Beſtimmtheit
zu geben, iſt es noͤthig, das Gebiet der Rechtsverhält-
niſſe, worauf ſich dieſe Fähigkeit beziehen ſoll, enger zu
begränzen; der Mangel einer ſolchen Begränzung hat nicht
wenig Verwirrung in die Behandlung dieſes Gegenſtan-
des gebracht.
Zuvoͤrderſt, da wir hier überhaupt nur im Gebiet des
Privatrechts uns befinden, ſind es auch nur die Verhält-
niſſe des Privatrechts, worauf die künſtliche Fähigkeit
der juriſtiſchen Perſon bezogen werden darf. Auch im
der That Beide theilweiſe als Verfaſſer anzuſehen ſind. Vergl. Opuse.
Vol. 1 p. XV.
|0251 : 237|
§. 85. Juriſtiſche Perſonen. Begriff.
Staatsrecht iſt Nichts häufiger, als daß ein Zweig der
öffentlichen Gewalt nur von Mehreren gemeinſchaftlich,
alſo von einer collectiven Einheit, ausgeübt werden kann;
wollte man aber deswegen z. B. jedes Richtercollegium
als juriſtiſche Perſon bezeichnen, ſo würde man nur den
Begriff verdunkeln, indem gerade das Weſen der juriſti-
ſchen Perſon (die Vermögensfähigkeit) den meiſten jener
Collegien abgeht, obgleich einzelne unter ihnen, neben ih-
rem Richteramt, auch den davon voͤllig verſchiedenen Cha-
racter einer juriſtiſchen Perſon erlangt haben koͤnnen. Eben
ſo iſt es ganz uneigentlich, wenn Manche in einer erbli-
chen Monarchie die ganze Reihe der Regenten als eine
juriſtiſche Perſon bezeichnen (b). Daß den Römern, die
ſo lange unter republicaniſchen Formen lebten, ſolche Ver-
hältniſſe des öffentlichen Rechts bekannt und geläufig wa-
ren, verſteht ſich von ſelbſt. In dieſem Sinn ſprechen ſie
von einem Collegium der Conſuln, oder der Volkstribu-
nen (c). Eben ſo ſagen ſie, die gleichzeitigen Duumvirn
einer Stadt ſeyen als Einheit zu betrachten, ganz als ob
nur ein einzelner Menſch dieſes Amt bekleidete (d). Fer-
ner wenn mehrere judices in einem Rechtsſtreit ernannt
würden, und einige derſelben, oder gar alle, durch an-
dere Perſonen erſetzt werden müßten, ſo bleibe es den-
(b) Haſſe, Archiv B. 5.
S. 67.
(c) Livius X. 22. 24. Cicero
in Verrem II. 100, pro domo 47.
(d) L. 25 ad munic. (50. 1.).
„Magistratus municipales, cum
unum magistratum administrent,
etiam unius hominis vicem su-
stinent.”
|0252 : 238|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
noch daſſelbe Judicium (e). Alle dieſe Ausdrücke und
Rechtsſätze aber gelten ihnen nur für das Staatsrecht
oder den Prozeß, und ſie ſind weit entfernt, ſie mit der
privatrechtlichen Lehre von den juriſtiſchen Perſonen in ir-
gend eine Berührung zu bringen, von welcher Vermiſchung
des Ungleichartigen ſich die neueren Schriftſteller nicht ſo
frey erhalten haben. Auch die Claſſen, Centurien und
Tribus waren wichtige politiſche Einheiten, aber als ju-
riſtiſche Perſonen, d. h. als Inhaber eines gemeinſamen
Vermoͤgens, ſcheinen ſie niemals gegolten zu haben (f).
Eine zweyte, nicht minder weſentliche Begränzung des
Begriffs der juriſtiſchen Perſon iſt die auf die Vermö-
gensverhältniſſe, wodurch alſo die Familie ausge-
ſchloſſen wird. Alles Familienverhältniß nämlich, in ſei-
nem urſprünglichen Begriff, bezieht ſich auf den natürli-
chen Menſchen, und die juriſtiſche Behandlung deſſelben
iſt etwas Abgeleitetes und Untergeordnetes (§ 53. 54); da-
her iſt eine Anwendung deſſelben auf Subjecte, die nicht
Menſchen ſind, unmöglich. Das Vermögen aber iſt ſei-
(e) L. 76 de judic. (5. 1.). —
Eben ſo, wenn Nov. 134 C. 6
ſagt, das Reſcript an einen Pro-
vinzialbeamten ſey auch von deſ-
ſen Nachfolger auszuführen.
(f) Doch will ich hierüber nichts
Beſtimmtes behaupten. Sueton.
Aug. 101 ſagt, Auguſt habe in
ſeinem Teſtament dem Populus
zwey Millionen Thaler, jeder Tri-
bus Fünf Tauſend Thaler legirt:
„Legavit populo Rom. qua-
dringenties, tribubus tricies
quinquies HS.” (das heißt ſo
viele 100000 Seſterze). Indeſſen
kann das auch ſo viel heißen:
die zwey Millionen waren der
Staatskaſſe legirt, Fünf Tauſend
ſollten an die einzelnen Bürger
jeder Tribus vertheilt werden.
Vgl. auch Averanius II. 19.
|0253 : 239|
§. 85. Juriſtiſche Perſonen. Begriff.
nem Weſen nach eine Machterweiterung (§ 53), alſo Si-
cherung und Erhoͤhung der freyen Thätigkeit. Dieſes Ver-
hältniß nun läßt ſich eben ſo gut auf die juriſtiſche Per-
ſon, wie auf den einzelnen Menſchen anwenden: ihre
Zwecke (worauf das ganze Bedürfniß ihrer Annahme be-
ruht) können eben ſo durch Vermögen gefördert werden,
wie die Zwecke des einzelnen Menſchen. Was aber die
künſtlichen Erweiterungen der Familie betrifft, ſo ſind dieſe
von zweyerley Art (§ 55. 57): einige ſind an rein menſch-
liche Zuſtände angeknüpft, die dadurch ausgebildet oder
geſchützt werden ſollen, und dieſe werden auf die juriſti-
ſchen Perſonen keine Anwendung finden können: andere
ſind auf Vermögensverhältniſſe gegründet, und ſind daher,
ſo wie dieſe, allerdings bey juriſtiſchen Perſonen an-
wendbar.
Hieraus ergiebt ſich, daß bey den juriſtiſchen Perſo-
nen folgende Rechtsverhältniſſe vorkommen können: Eigen-
thum und jura in re, Obligationen, Erwerb durch Erb-
ſchaft: ferner Gewalt über Sklaven und Patronat: im
neueren Recht auch Colonat. Dagegen ſind auf ſie nicht
anwendbar: Ehe, väterliche Gewalt, Verwandtſchaft: fer-
ner manus, mancipii causa und Vormundſchaft. Und nun-
mehr koͤnnen wir den Begriff der juriſtiſchen Perſon noch
näher dahin beſtimmen: ſie iſt ein des Vermögens fä-
higes künſtlich angenommenes Subject. — Indem nun
hier das Weſen der juriſtiſchen Perſonen ausſchließend in
die privatrechtliche Eigenſchaft der Vermögensfähigkeit ge-
|0254 : 240|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſetzt wird, ſoll damit keinesweges behauptet werden, daß
an den wirklich vorhandenen juriſtiſchen Perſonen nur allein
dieſe Eigenſchaft zu finden oder doch von Wichtigkeit wäre.
Im Gegentheil ſetzt ſie ſtets irgend einen von ihr verſchie-
denen ſelbſtſtändigen Zweck voraus, der eben durch die
Vermoͤgensfähigkeit gefoͤrdert werden ſoll, und der an ſich
oft ungleich wichtiger iſt als dieſe (g). Nur für das Sy-
ſtem des Privatrechts ſind ſie durchaus Nichts als ver-
mögensfähige Subjecte, und jede andere Seite ihres We-
ſens liegt völlig außer deſſen Gränzen.
Ich gebrauche dafür lediglich den Namen der juri-
ſtiſchen Perſon (welcher dann die natürliche Per-
ſon, das heißt der einzelne Menſch, entgegengeſetzt iſt),
um auszudrücken, daß ſie nur durch dieſen juriſtiſchen
Zweck ein Daſeyn als Perſon hat. Früher war ſehr ge-
woͤhnlich der Name der moraliſchen Perſon, den ich aus
zwey Gründen verwerfe: erſtens weil er überhaupt nicht
das Weſen des Begriffs berührt, der mit ſittlichen Ver-
hältniſſen keinen Zuſammenhang hat: zweytens weil jener
Ausdruck eher dazu geeignet iſt, unter den einzelnen Men-
ſchen den Gegenſatz gegen die unmoraliſchen zu bezeichnen,
ſo daß durch jenen Namen der Gedanke auf ein ganz
(g) So z. B. iſt bey den Städten
die Grundlage ihres Weſens po-
litiſcher und adminiſtrativer Na-
tur, und dagegen ſteht ihr privat-
rechtlicher Character, d. h. ihr Da-
ſeyn als juriſtiſche Perſonen, ſehr
an Wichtigkeit zurück. Auf die
Städte als politiſche und admi-
niſtrative Körper beziehen ſich im
R. R. Digest. Lib. 50 Tit. 1 — 12,
die ich daher im Anfang des § 85
unter den Quellen der hier abzu-
handelnden Lehre des Privat-
rechts nicht mit aufgeführt habe.
|0255 : 241|
§. 85. Juriſtiſche Perſonen. Begriff.
fremdartiges Gebiet hinüber geleitet wird. — Die Römer
ſelbſt haben keinen gemeinſchaftlichen Namen für alle Fälle
dieſer Art. Wo ſie dieſen Character ſolcher Subjecte all-
gemein ausdrücken wollen, ſagen ſie nur, daß dieſelben
die Stelle von Perſonen vertreten (h), welches ſoviel ſa-
gen will, als daß ſie fingirte Perſonen ſeyen.
(h) L. 22 de fidejuss. (46. 1.).
„hereditas personae vice fun-
gitur, sicuti municipium et de-
curia et societas.” Gerade ſo
heißt es von dem bonorum pos-
sessor: vice heredis, oder loco
heredis est. L. 2 de B. P. (37.
1.), L. 117 de R. J. (50. 17.),
Ulpian. XXVIII. 12 „heredis
loco constituuntur … heredes
esse finguntur.” Wie der bo-
norum possessor ein fingirter
heres iſt, ſo iſt die juriſtiſche Per-
ſon eine fingirte persona.
II. 16
|0256 : 242|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 86.
Juriſtiſche Perſonen. — Arten.
Betrachten wir die juriſtiſchen Perſonen, wie ſie in
unſrem Rechtszuſtand wirklich vorkommen, ſo müſſen wir
unter denſelben folgende Gegenſätze anerkennen, deren Ver-
ſchiedenheit nicht ohne Einfluß auf die juriſtiſche Natur
derſelben iſt.
1) Einigen derſelben können wir ein natürliches oder
auch nothwendiges Daſeyn zuſchreiben, anderen ein künſt-
liches oder willkührliches. Ein natürliches Daſeyn haben
die Gemeinden, Städte und Dörfer, welche meiſt älter
ſind als der Staat ſelbſt (nämlich in ſeiner gegenwärti-
gen Einheit und Begränzung), und welche die Hauptbe-
ſtandtheile des Staates bilden. Das juriſtiſche Daſeyn
derſelben iſt faſt nie zweifelhaft; eine willkührliche Grün-
dung kommt zwar auch bey ihnen vor, aber nur als Aus-
nahme, und nur als Nachbildung der urſprünglichen Ge-
meinden. Solche willkührlich gegründete waren die Rö-
miſchen Colonieen (im Gegenſatz der Municipien), mit de-
ren Anzahl und Bedeutung in unſren neueren Staaten kein
ähnlicher Fall zu vergleichen iſt. Die Einheit der Ge-
meinden iſt eine geographiſche, da ſie ſich auf das örtliche
Verhältniß der Wohnung und des Landeigenthums gründet.
Künſtliche oder willkührliche juriſtiſche Perſonen ſind
alle Stiftungen und Geſellſchaften, welchen dieſe Eigen-
|0257 : 243|
§. 86. Juriſtiſche Perſonen. Arten.
ſchaft beſonders beygelegt iſt. Bey ihnen iſt es augen-
ſcheinlich, daß ſie lediglich dem willkührlichen Entſchluß
eines Einzelnen oder Mehrerer ihr Daſeyn verdanken.
Auf einer ſcharfen Begränzung übrigens beruht dieſer
Gegenſatz nicht; vielmehr giebt es auch juriſtiſche Perſo-
nen, welche zwiſchen beiden Arten gewiſſermaßen die Mitte
halten. Dahin gehören die Handwerkszünfte und andere
Innungen, welche ſich zuweilen an die Gemeinden an-
ſchließen, und als einzelne Beſtandtheile derſelben er-
ſcheinen.
2) Einige juriſtiſche Perſonen haben eine ſichtbare Er-
ſcheinung in einer Anzahl einzelner Mitglieder, die, als
ein Ganzes zuſammengefaßt, die juriſtiſche Perſon bilden;
andere dagegen haben ein ſolches ſichtbares Subſtrat nicht,
ſondern eine mehr ideale Exiſtenz, die auf einem allge-
meinen, durch ſie zu erreichenden Zweck beruht.
Die erſten nennen wir, mit einem aus dem lateini-
ſchen erborgten Ausdruck, Corporationen, welcher
Name daher für die Bezeichnung der juriſtiſchen Perſonen
überhaupt zu eng iſt. Es gehören dahin zunächſt alle
Gemeinden, außerdem aber auch die Innungen, und eben
ſo diejenigen Geſellſchaften, welchen die Rechte juriſtiſcher
Perſonen verliehen ſind. Das Weſen aller Corporationen
beſteht aber darin, daß das Subject der Rechte nicht in
den einzelnen Mitgliedern (ſelbſt nicht in allen Mitglie-
dern zuſammengenommen) beſteht, ſondern in dem idealen
Ganzen: eine einzelne, aber beſonders wichtige, Folge
16*
|0258 : 244|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
davon iſt, daß durch den Wechſel einzelner, ja ſelbſt aller,
individuellen Mitglieder das Weſen und die Einheit der
Corporation nicht afficirt wird (a).
Die zweyten pflegt man mit dem allgemeinen Namen
Stiftungen zu bezeichnen. Die hauptſächlichſten Zwecke
derſelben beſtehen in: Religionsübung (wohin die hoͤchſt
mannichfaltigen kirchlichen Inſtitute gehören), Geiſtesbil-
dung, Wohlthätigkeit (b).
Auch hier aber finden ſich nicht ſelten Übergänge, die
eine ſcharfe Begränzung beider Klaſſen ausſchließen; ja
ſogar Inſtitute derſelben Art haben in verſchiedenen Zei-
ten bald der einen, bald der anderen Klaſſe angehoͤrt.
So z. B. ſind die Domkapitel und Chorherrenſtifter zwar
(a) L. 7 § 2 quod cuj. un.
(3. 4.). „In decurionibus vel
aliis universitatibus nihil re-
fert, utrum omnes iidem ma-
neant, an pars maneat, vel om-
nes immutati sint.” Das iidem
iſt eine ganz unbedenkliche Emen-
dation von Jensius stricturae
p. 12 ed. L. B. 1764; Handſchrif-
ten und Ausgaben leſen idem.
Noch vollſtändiger entwickelt fin-
det ſich derſelbe Satz in L. 76
de jud. (5. 1.), obgleich nicht in
Anwendung auf juriſtiſche Per-
ſonen, ſondern auf mehrere für
dieſelbe Rechtsſache ernannte ju-
dices, deren individuelle Erneue-
rung kein Grund ſeyn ſoll, es für
ein anderes judicium zu halten.
(b) Wie unpaſſend es iſt, den
Namen der Corporationen für
alle juriſtiſche Perſonen zu ge-
brauchen, läßt ſich leicht an man-
chen Stiftungen recht auffallend
wahrnehmen. Wollte man z. B.
ein Hoſpital als eine Corporation
anſehen, wer wären denn die ein-
zelnen Mitglieder, deren collective
Einheit als Subject des Vermö-
gens betrachtet werden könnte?
Die in dem Hoſpital verpflegten
Kranken gewiß nicht, denn dieſe
ſind blos Gegenſtände der Wohl-
thätigkeit, nicht Theilhaber an
dem Vermögen der Anſtalt. Das
wahre Subject der Rechte iſt alſo
ein als Perſon anerkannter Be-
griff, nämlich der Zweck der Men-
ſchenliebe, der an dieſem Orte,
auf beſtimmte Weiſe, durch be-
ſtimmte Mittel, erreicht wer-
den ſoll.
|0259 : 245|
§. 86. Juriſtiſche Perſonen. Arten.
kirchliche Inſtitute, zugleich aber wahre Corporationen.
Die höheren Lehranſtalten waren bey ihrer Entſtehung
wahre Corporationen, und zwar, nach Verſchiedenheit der
Länder, bald der Lehrer, bald der Scholaren (c); in neue-
ren Zeiten aber ſind ſie immer mehr Unterrichtsanſtalten
des Staats geworden: ſie erſcheinen nun nicht mehr als
Corporationen, obgleich noch immer als juriſtiſche Perſo-
nen, das heißt des Vermögens fähige Subjecte.
3) Unter den Corporationen findet ſich wieder der Un-
terſchied, daß einige eine künſtlich ausgebildete Verfaſſung
haben, wie Stadtgemeinden und Univerſitäten (wo dieſel-
ben Corporationen waren oder noch ſind), andere nur mit
einer nothdürftigen Organiſation für beſchränkte Zwecke
verſehen ſind, wie Dorfgemeiden und (wenigſtens in den
meiſten Fällen) Handwerkszünfte. Neuere Schriftſteller
bezeichnen dieſen Gegenſatz durch die Kunſtausdrücke uni-
versitas ordinata und inordinata.
Ganz allein, und außer dieſen Gegenſätzen, ſteht die
größte und wichtigſte unter allen juriſtiſchen Perſonen:
der Fiscus, das heißt der Staat ſelbſt, als Subject
von privatrechtlichen Verhältniſſen gedacht. Wollte man
auch ihn als eine Corporation auffaſſen, als die Corpo-
ration aller Staatsgenoſſen, ſo würde dieſe gezwungene
Anſicht leicht zu einer verwirrenden Gleichſtellung der un-
gleichartigſten Rechtsverhältniſſe führen.
(c) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 3 § 59.
|0260 : 246|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 87.
Juriſtiſche Perſonen. — Geſchichte.
Bei den Römern finden ſich ſchon in der älteſten Zeit
bleibende Genoſſenſchaften von mancherley Art: beſonders
religiöſe und gewerbliche: dann auch die der untergeord-
neten Officianten, z. B. der Lictoren, welche Vereine ſpä-
terhin bey dem Kanzleyperſonal eine große Ausdehnung
erhielten. Dennoch lag in ihrem Daſeyn kein dringendes
Bedürfniß, den Begriff juriſtiſcher Perſonen auszubilden,
da bey ihnen die gemeinſame Thätigkeit und etwa die
politiſche Stellung allein von Wichtigkeit war, die Ver-
mögensfähigkeit aber mehr zurücktrat; ſo z. B. veranlaßte
zwar der Gottesdienſt nicht geringen Aufwand, aber die
Koſten deſſelben wurden vom Staat beſtritten, machten
alſo ein Corporationsvermögen der Prieſtercollegien oder
der Tempel ſelbſt weniger nöthig (Note p). Ferner konnte
die fromme Abſicht derer, die durch Stiftungen den Göt-
terdienſt fördern wollten, meiſt ganz einfach durch Conſe-
cration der dazu beſtimmten Sachen erreicht werden, wo-
durch dieſe dem Eigenthum überhaupt entzogen, alſo nicht
etwa dem Tempel oder den Prieſtern Eigenthum beyge-
legt wurden.
Bey der Vergrößerung des Staats waren es zuerſt
die abhängigen Gemeinden (Municipien und Colonieen),
|0261 : 247|
§. 87. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte.
in welchen der Begriff der juriſtiſchen Perſonen zu bedeu-
tender Anwendung, und ſo auch zu beſtimmter Ausbildung
kam; denn dieſe hatten, gleich den natürlichen Perſonen,
auf der einen Seite Bedürfniß des Vermögens und Gele-
genheit zu deſſen Erwerbung, auf der andern Seite aber
eine ſolche Abhängigkeit, wodurch ſie vor Gericht gezogen
werden konnten. In dieſer letzten Rückſicht waren ſie ver-
ſchieden vom Römiſchen Staat, der unter keinem Richter
ſtand, und deſſen Vermögensverhältniſſe mehr adminiſtrativ
behandelt wurden; daher denn auch die Betrachtung der
Römiſchen Republik und ihres Vermögens nicht die erſte
Veranlaſſung zur Anerkennung der juriſtiſchen Perſönlich-
keit und zur Ausbildung ihres Rechts gab, wenngleich zur
Sicherheit des Staats gleiche Rechtsformen, wie zur Si-
cherheit der Privatperſonen, angewendet wurden, wovon
unter andern das jus praediatorium ein Beyſpiel giebt.
Sobald aber um der abhängigen Städte willen der
Begriff einer juriſtiſchen Perſon feſtgeſtellt worden war,
kam derſelbe allmälig auch in ſolchen Fällen zur Anwen-
dung, für welche allein er urſprünglich nicht leicht erfun-
den worden wäre. Er wurde nun angewendet auf die
oben genannten uralten Genoſſenſchaften der Prieſter und
Handwerker; ferner auf den Staat, den man jetzt durch
künſtliche Reflexion aus ſich ſelbſt heraustreten ließ, unter
dem Namen des Fiscus als eine Perſon behandelte, und
ſo unter einen Richter ſtellte; endlich auf ganz ideale
Subjecte, wie Götter und Tempel.
|0262 : 248|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Dieſe letzte Anwendung erhielt die größte Ausdehnung
und Mannichfaltigkeit, als das Chriſtenthum zur Ober-
herrſchaft gelangte. Das ſo ausgebildete Rechtsinſtitut
erhielt in den Germaniſchen Staaten nicht nur Fortdauer,
ſondern ſelbſt weitere Entwicklung, da ihm hier, bey dem
loſeren Staatsverband, die entſchiedene Neigung der Na-
tionen zu willkührlichen Vereinen aller Art entgegen kam.
In neueren Zeiten hat das Uebergewicht centraler Staats-
gewalt die Corporationen wieder mehr in den Hintergrund
gedrängt, wie dieſes ſchon oben (§ 86) an dem Beyſpiel
der Univerſitäten bemerkt worden iſt; doch iſt das Weſen
der juriſtiſchen Perſonen dadurch nicht verändert worden.
Nach dieſer vorläufigen Ueberſicht ſollen nunmehr die
wichtigſten Fälle der im Römiſchen Recht vorkommenden
juriſtiſchen Perſonen zuſammen geſtellt werden.
I. Gemeinden.
Ganz Italien, ſeitdem es unter Römiſcher Herrſchaft
ſtand, zerfiel in eine große Anzahl von Stadtgebieten, ſo
daß Städte lange Zeit die einzigen ſelbſtſtändigen Gemein-
den waren. Alle dieſe Städte wurden zugleich als wirk-
liche Staaten gedacht, nur von Rom abhängig; ja viele
derſelben (die Municipien) waren früher unabhängig ge-
weſen, und erſt ſpäter in dieſe Abhängigkeit gekommen.
Dieſe Anſicht der Städte iſt unſrem heutigen Recht im
Ganzen fremd, und kommt nur in ſeltenen Ausnahmen
vor. — Aus den Rechtsquellen ſind dafür folgende Aus-
drücke zu bemerken.
|0263 : 249|
§. 87. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte.
Civitas(a).
Municipes(b). Dieſes iſt der gewöhnlichſte Ausdruck,
häufiger als municipium, unter andern auch deswegen,
weil jener Ausdruck die Bürger der Municipien und der
Colonieen gleichmäßig umfaßt. Dieſer Ausdruck iſt ein ſo
regelmäßiger geworden, daß er ſelbſt da die Stadt bezeich-
net, wo dieſelbe im Gegenſatz der einzelnen Bürger er-
wähnt werden ſoll (c).
Respublica(d). Zur Zeit der freien Verfaſſung be-
zeichnet dieſer ohne Zuſatz gebrauchte Ausdruck den Rö-
miſchen Staat: bey den alten Juriſten dagegen regelmäßig
eine abhängige Stadtgemeinde.
(a) L. 3. 8 quod. cuj. univ.
(3. 4.), L. 6 § 1 de div. rer.
(1. 8.), L. 4 C. de j. reipub.
(11. 29), L. 1. 3 C. de vend.
reb. civ. (11. 30.).
(b) L. 2 L. 7 pr. L. 9 quod
cuj. un. (3. 4.), L. 15 § 1 de
dolo (4. 3.) (ſ. Note i), Gajus
III. § 145. — In demſelben Sinn
aber kommt allerdings auch mu-
nicipium vor, z. B. in L. 22
de fidejuss. (46. 1.).
(c) L. 1 § 7 de quaest. (48. 18.)
„Servum municipum posse in
caput civium torqueri saepis-
sime rescriptum est: quia non
sit illorum servus, sed reipu-
blicae. Idemque in ceteris ser-
vis corporum dicendum est:
nec enim plurium servus vi-
detur, sed corporis.” Hier iſt
offenbar municipes gleichbedeu-
tend mit respublica, und den
Gegenſatz bilden die (einzelnen)
cives, auf welche nachher das
illorum geht. (Ueber die Sache
ſelbſt vgl. L. 6 § 1 de div. rer.
1. 8.). — Nur ſcheinbar ver-
ſchieden iſt der Sprachgebrauch
in Ulpian. XX. § 5. „Nec mu-
nicipia, nec municipes heredes
institui possunt, quoniam in-
certum corpus est” etc. Er will
ſagen: die Erbeinſetzung iſt gleich
ungültig, der Teſtator mag den
Ausdruck municipium oder mu-
nicipes gebraucht haben. Ulpian
ſelbſt alſo nimmt unter dieſen
Ausdrücken gar keine Verſchie-
denheit an, wie der gleich folgende
Grund deutlich zeigt.
(d) L. 1 § 1 L. 2 quod cuj.
un. (3. 4.), L. 1 C. de deb. civ.
(11. 32.). Cod. Just. Lib. 11
Tit. 29 — 32.
|0264 : 250|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Respublica civitatis oder municipii (e).
Commune, Communitas(f).
Außer den Städten ſelbſt, als den Hauptgemeinden,
kommen aber auch einzelne Beſtandtheile derſelben als
juriſtiſche Perſonen vor. Dahin gehören folgende Fälle:
Curiae, oder Decuriones. Gewöhnlich ſtehen die de-
curiones entweder blos als Einzelne, im Gegenſatz der
Stadt (g), oder auch für die Stadt ſelbſt, welche ja ganz
durch ſie regiert und vertreten wird (h). Zuweilen aber
kommen ſie auch als beſondere Corporation innerhalb der
Stadt vor, mit einem eigenen Vermögen verſehen (i).
Vici. Die Dörfer haben, politiſch betrachtet, durchaus
keine Selbſtſtändigkeit, indem ſie ſtets zu einem Stadtge-
biet gehören (k). Dennoch ſind ſie auch für ſich juriſtiſche
(e) L. 2 C. de deb. civ. (11.32.),
L. 31 § 1 de furtis (47. 2) „..
reipublicae municipii alicujus
… Idemque scribit et de ceteris
rebus publicis deque societati-
bus.” Die ceterae res publicae
ſind coloniae, fora, conciliabula
u. ſ. w.
(f) Wassenaer p. 409.
(g) L. 15 § 1 de dolo (4. 3.)
„Sed, an in municipes de dolo
detur actio, dubitatur. Et puto,
ex suo quidem dolo non posse
dari: quid enim municipes dolo
facere possunt? Sed si quid ad
eos pervenit ex dolo eorum,
qui res eorum administrant,
puto dandam. De dolo autem
decurionum in ipsos decuriones
dabitur de dolo actio.”
(h) L. 3 quod cuj. un. (3. 4.)
„Nulli permittetur nomine ci-
vitutis vel curiae experiri, nisi
ei cui lex permittit” etc.
(i) L. 7 § 2 quod. cuj. un.
(3. 4.) „In decurionibus vel aliis
universitatibus nihil refert” etc.
L. 2 C. de praed. decur. (10. 33.).
(k) L. 30 ad munic. (50. 1.)
Qui ex vico ortus est, eam
patriam intelligitur habere, cui
reipublicae vicus ille respondet.”
Alſo iſt der vicus ſelbſt keine res-
publica, ſondern Theil einer ſol-
chen. Dieſem widerſpricht nicht
Festus v. vici: „.. Sed ex vicis
partim habent rempub. et jus
dicitur; partim nihil eorum, et
tamen ibi nundinae aguntur ne-
gotii gerendi causa, et magistri
|0265 : 251|
§. 87. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte.
Perſonen, und können ſowohl eigenes Vermögen erwer-
ben (l), als Prozeſſe führen (m).
Fora, Conciliabula, Castella. Es waren Orte, die
an Umfang und Wichtigkeit zwiſchen den Städten und
Dörfern in der Mitte ſtanden; ſie gehörten gleichfalls zu
einem Stadtgebiet, und hatten gewiß auch Corporations-
rechte (n).
In ſpäterer Zeit wurden auch ganze Provinzen als
juriſtiſche Perſonen, mithin als größere Gemeinden be-
handelt (o).
vici, item magistri pagi quo-
tannis fiunt.” Sie hatten alſo
nur bald mehr, bald weniger
Stücke einer Gemeindeverfaſſung;
die vollſtändigeren ſind vielleicht
gerade die, welche ſonſt fora und
conciliabula heißen (Note n).
Die hier erwähnte jurisdictio
geht nicht auf örtliche Gerichts-
obrigkeiten, ſondern der ſtädtiſche
magistratus begab ſich an dieſe
Orte hin, um daſelbſt Gericht zu
halten. — Hierin war alſo der
Römiſche Zuſtand von dem un-
ſrigen völlig verſchieden; denn bey
uns ſind Dörfer (oder auch Kirch-
ſpiele und Bauerſchaften ohne
Dörfer) ſelbſtſtändige Gemeinden,
völlig unabhängig von den Städ-
ten (vgl. Eichhorn deutſches
Privatrecht § 379. 380); ja wenn
ausnahmsweiſe manche Dörfer
von Städten abhängen, ſo ſteht
dieſes in Verbindung mit dem
den Römern ganz fremden guts-
herrlichen Verhältniß. — Außer-
dem kommt heutzutage noch eine
andere gleichfalls geographiſche,
den Römern unbekannte, Art von
Corporationen vor, die wichtigen
Markgenoſſenſchaften. Vgl.
Eichhorn deutſches Privatrecht
§ 168. 372.
(l) L. 73 § 1 de leg. 1 (30. un.).
„Vicis legata perinde licere
capere atque civitatibus, re-
scripto Imperatoris nostri sig-
nificatur.”
(m) L. 2 C. de jurejur. pro-
pter cal. (2. 59.) „sive pro ali-
quo corpore, vel vico, vel alia
universitate.”
(n) Es iſt merkwürdig, daß
dieſe Gemeinden in den Juſtinia-
niſchen Rechtsquellen nicht er-
wähnt werden. Sie kommen vor
in der Tafel von Heraklea, der
Lex de Gallia cisalpina, und bey
Paulus IV. 6. § 2.
(o) Cod.Theod. Lib 2 Tit. 12
Dirkſen S. 15.
|0266 : 252|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Bey den Agrimenſoren heißen die Gemeinden, und zwar
namentlich die Colonieen, publicae personae, welcher Aus-
druck ihr politiſches Weſen, als Grundlage der privat-
rechtlichen Perſönlichkeit ſehr gut bezeichnet (p).
(p) Aggenus ap. Goes. p. 56.
„Quaedam loca feruntur ad pu-
blicas personas attinere. Nam
personae publicae etiam colo-
niae vocantur, quae habent as-
signata in alienis finibus quae-
dam loca quae solemus prae-
fecturas appellare. Harum prae-
fecturarum proprietates mani-
feste ad colonos pertinent” etc.
(alſo hier coloni für colonia,
eben ſo wie oben municipes,
Note b. c. g). — Daſſelbe faſt
wörtlich gleichlautend, p. 67. —
Aggenus p. 72 „haec inscriptio
videtur ad personam coloniae
ipsius pertinere quae nullo mo-
do abalienari possunt a repu-
blica: ut si quid in tutelam
aut templorum publicorum, aut
balnearum adjungitur: habent
et respub. loca suburbana in-
opum funeribus destinata.”
|0267 : 253|
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
§. 88.
Juriſtiſche Perſonen. — Geſchichte. (Fortſetzung)
II. Willkührliche Vereinigungen.
A.
Religiöſe Vereine. — Dahin gehören die Col-
legien der Prieſter (auch Tempelcollegien genannt) und
der Veſtalinnen. Beide konnten Eigenthum erwerben, und
in letzten Willen bedacht werden (a).
B.
Beamtenvereine. — Die untergeordneten Offi-
cianten, die von den Obrigkeiten zur Beſorgung verſchie-
dener Geſchäfte gebraucht wurden, erſcheinen ſchon frühe
als Corporationen (§ 87). Beſonders war ſtets zuneh-
mend, an Zahl der Mitglieder und an Wichtigkeit, das
Schreiberperſonal, deſſen Mitglieder in allen Zweigen des
öffentlichen Dienſtes benutzt wurden, daneben aber auch,
ſo wie unſere Notare, für Privatperſonen ähnliche Ge-
ſchäfte beſorgten (b). Sie kommen unter verſchiedenen Na-
men vor, hergenommen von beſonderen Beſchäftigungen,
wie librarii, fiscales, censuales: der allgemeinſte Name
(a) Hyginus p. 206 ed. Goesii:
„Virginum quoque Vestalium
et sacerdotum quidam agri vec-
tigalibus redditi sunt et locati.”
— L. 38 § 6 de leg. 3 (32. un.).
Es war folgendes Fideicommiß
gegeben: „MM. sol. reddas col-
legio cujusdam templi. Quae-
situm est cum id collegium po-
stea dissolutum sit” etc. — Vgl.
Wassenaer p. 415. Dirkſen
S. 50. 117. 118.
(b) Niebuhr Römiſche Ge-
ſchichte B. 3 S. 349 — 353. Sa-
vigny Geſchichte des R. R. im
Mittelalter B. 1 § 16. 111. 140.
— Vgl. J. Gothofred. in Cod.
Theod. XIV. 1. Dirkſen
S. 46. 58.
|0268 : 254|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
aber war früher Scribae. Sie waren in beſondere Ab-
theilungen geordnet, welche decuriae hießen, und es war
ganz zufällig, daß dieſer an ſich generiſche Name (c) für
ſie als individuelle Bezeichnung üblich wurde. Decuriae
alſo, ohne weiteren Zuſatz, bezeichnet ſchon in der Re-
publik, und dann ſtets unter den Kaiſern, die Innungen
der Schreiber; die einzelnen Mitglieder heißen decuriati,
und in ſpäterer Zeit decuriales. Es war natürlich, daß
die Schreiberzünfte in Rom, und dann auch in Conſtan-
tinopel, beſonders ausgezeichnet und privilegirt wurden (d).
C.
Gewerbliche Vereine(e).
Dahin gehören zuerſt die uralten Handwerkszünfte, die
ſich durch alle Zeiten erhielten, zum Theil auch (wie die
Schmiede) mit beſonderen Privilegien verſehen waren (f).
Ferner auch neuere, wie in Rom die Bäckerzunft, in Rom
und in den Provinzen die Schiffer (g). Die Geſchäfte der-
(c) Decuria heißt eigentlich ein
Verein von zehen Perſonen, dann
aber auch ein Collegium über-
haupt, ohne Rückſicht auf die
Zahl der Mitglieder. Der Aus-
druck kommt auch bey dem Se-
nat vor (in Rom und in den
Landſtädten), ferner bey den ju-
dices; aber in keiner dieſer An-
wendungen iſt er zu ſo üblicher,
vorherrſchender Bezeichnung ge-
braucht worden, wie bey den
Schreibern.
(d) Hauptſtellen über dieſe De-
curien ſind folgende: Cicero in
Verrem III. 79, ad Quintum fra-
trem II. 3. Tacitus ann. XIII.
27. Sueton. August. 57, Clau-
dius 1. — L. 3 § 4 de B. P. (37. 1.),
L. 22 de fidejuss. (46. 1.), L. 25
§ 1 de adqu. vel om. her. (29. 2.),
Cod. Just. XI. 13, Cod. Theod.
XIV. 1. — Vgl. Averanius In-
terpret. II. 19 § 1.
(e) Niebuhr B. 3 S. 349.
Dirkſen S. 34 fg. — Über die
heutigen Zünfte als Inhaber von
Vermögensrechten vergl. Eich-
horn deutſches Privatrecht § 371
— 373.
(f) L. 17 § 2 de excus. (27. 1.),
L. 5 § 12 de j. immun. (50. 6.).
(g) L. 1 pr. quod cuj. univ.
(3. 4.), L. 5 § 13 de j. immun.
|0269 : 255|
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
ſelben waren gleichartig (und darauf gründeten ſich ihre
Vereine), nicht gemeinſchaftlich: jeder Einzelne arbeitete,
ſo wie bey uns, auf eigene Rechnung.
Allein auch gemeinſchaftliche gewerbliche Unternehmun-
gen kommen in der Geſtalt juriſtiſcher Perſonen vor. Der
allgemeine Name ſolcher Verbindungen iſt Societas, und
die meiſten derſelben hatten eine blos contractliche Natur,
erzeugten Obligationen, und waren der Auflöſung durch
Kündigung ſo wie durch den Tod jedes einzelnen Mitglie-
des unterworfen. Einzelne darunter erhielten jedoch das
Recht von Corporationen, ohne darum den allgemeinen
Namen Societates aufzugeben (h). Dahin gehoͤrten die
Geſellſchaften zum Betrieb von Bergwerken, Salinen und
Zollpachtungen (i).
D.
Geſellige Vereine, Sodalitates, Sodalitia, Col-
legia sodalitia(k). Der ältere Cato (bey Cicero) erzählt
(50. 6.). — Als Elemente der
Stadtgemeinden ſelbſt, und als
Träger politiſcher Rechte, konn-
ten übrigens weder die alten noch
die neuen Zünfte betrachtet wer-
den. Darin waren die alten Stadt-
verfaſſungen weſentlich verſchieden
von den in den Germaniſchen
Staaten entſtandenen: denn in
dieſen waren die Zünfte an Stel-
lung und Wichtigkeit den Römi-
ſchen Tribus zu vergleichen.
(h) L. 1 pr. § 1 quod cuj. univ.
(3. 4), L. 3 § 4 de B. P. (37. 1.),
L. 31 § 1 de furtis (47. 2.) (ſ. o.
§ 87. e). In L. 1 pr. cit. muß
man mit Haloander leſen: „Ne-
que societatem (Flor. societas),
neque collegium, neque hujus-
modi corpus passim omnibus
habere conceditur” etc. — Zur
Unterſcheidung von dieſen corpo-
rativen Societäten werden dann
die blos contractlichen auch wohl
privatae societates genannt.
L. 59 pr. pro soc. (17. 2.).
(i) L. 1 pr. quod cuj. univ.
(3. 4.), L. 59 pr. pro soc. (17. 2.).
(k) Dieſer letzte Ausdruck ſteht
in L. 1 pr. de coll. (47. 22.).
Haloander lieſt sodalitia (ohne
collegia), und dieſes ſcheint auch
(nach der Gloſſe) die Vulgata zu
ſeyn, obgleich manche alte Aus-
|0270 : 256|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ihre erſte Entſtehung während ſeines Mannesalters, und
beſchreibt ſie mit großem Behagen als Zuſammenkünfte
zu gemeinſchaftlichen Gaſtmahlen, mäßig, aber in froher
Geſelligkeit: zugleich, nach der Sitte der alten Zeit, in
Verbindung mit gemeinſchaftlichem Gottesdienſt (l). Es
war alſo das was wir Clubbs nennen, und wenn wir
dieſe Vereine ſpäterhin als minder harmlos, ja als poli-
tiſch gefährlich, erwähnt finden, ſo folgt daraus gar nicht,
daß unter jenem Ausdruck Inſtitute verſchiedener Art ver-
ſtanden werden müßten, ſondern nur, daß die Beſchaffen-
heit derſelben durch den allgemeinen Character jedes Zeit-
alters beſtimmt wurde. Die früher blos geſelligen Clubbs
wurden in aufgeregten Zeiten (wie es auch in unſeren
Tagen geſchehen iſt) Mittelpunkte der politiſchen Factio-
nen, ja es wurden nun ohne Zweifel auch neue lediglich
zu dieſem Zweck geſtiftet. — Dadurch erklärt ſich denn
zugleich Dasjenige, was von öfteren Verboten derſelben
berichtet wird. In einzelnen Fällen großer Bewegung
gaben das Florentiniſche collegia
sodalitia haben, z. B. Venet. 1485,
Lugd. Fradin. 1511. In meiner
Handſchrift fehlen die Worte col-
legia sodalitia neve milites, ſo
daß es heißt ne patiantur esse
collegia in castris habeant. So
mag überhaupt die bald folgende
Wiederholung des Wortes col-
legia Veranlaſſung zur irrigen
Weglaſſung gegeben haben. —
Übrigens hat Sodalitia, allein ſte-
hend, ſehr alte Autoritäten für ſich,
ſo daß es wohl nur zufällig in
den Rechtsquellen nicht vorkommt.
(l) Cicero de senect. C. 13.
Cato zählt hier die Freuden des
Alters auf. „Sed quid ego ali-
os? ad meipsum jam revertar.
Primum habui semper sodales;
sodalitates autem me quaestore
constitutae sunt, sacris Idaeis
Magnae Matris acceptis; epu-
labar igitur cum sodalibus om-
nino modice, sed erat quidam
fervor aetatis, qua progrediente
|0271 : 257|
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
waren die öffentlichen Plätze von den Clubbs und den
Schreibercollegieen beſetzt worden: der Senat befahl ihnen
aus einander zu gehen, und brachte einen Antrag an das
Volk, um dieſem Befehl durch die Drohung eines publi-
cum judicium Nachdruck zu geben (m). Dann wurden im
Allgemeinen die collegia aufgehoben (n). So erſcheint denn
auch in unſren Rechtsquellen die bleibende Regel, kein
Verein dürfe ohne obrigkeitliche Erlaubniß geſtiftet wer-
den, und dieſe Erlaubniß werde nicht leicht noch häufig
ertheilt; die unerlaubte Theilnahme daran werde criminell,
und zwar als extraordinarium crimen, beſtraft (o). Die-
omnia fient in dies mitiora; ne-
que enim ipsorum conviviorum
delectationem voluptatibus cor-
poris magis, quam coetu ami-
corum et sermonibus metie-
bar.” — Festus v. Sodales giebt
mehrere Etymologieen an, woraus
für die Sache erhellt, daß es Gaſt-
mahle mit zuſammengetragenen
Speiſen waren (Pickenicks).
(m) Cicero ad Quintum fra-
trem II. 3 „Sc. factum est, ut
sodalitates decuriatique disce-
derent: lexque de iis ferretur,
ut, qui non discessissent, ea
poena quae est de vi tene-
rentur.”
(n) Asconius in Cornelianam
(p. 75 ed. Orelli) „Frequenter
tum etiam coetus factiosorum
hominum sine publica auctori-
tate malo publico fiebant: pro-
pter quod postea collegia Scto
et pluribus legibus sunt subla-
ta, praeter pauca atque certa,
quae utilitas civitatis deside-
rasset quasi, ut fabrorum ficto-
rumque” (al. lictorumque, wel-
ches beſſer ſcheint; denn fictor be-
zeichnet mehr das Abſtractum des
Bildners, die Töpfer dagegen, de-
ren Zunft allerdings uralt war,
heißen figuli. Vgl. Plinius hist.
nat. XXXV. 12). — Asconius in
Pisonianam (p. 7 ed. Orelli)
„.. qui ludi sublatis collegiis
discussi sunt. Post novem dein-
de annos, quam sublata erant,
P. Clodius trib. pl. lege lata re-
stituit collegia.”
(o) L. 1. 2. 3 de coll. et corp.
(47. 22.), L. 1 pr. quod cuj. un.
(3. 4.). Wenn eine ſolche ver-
ſuchte Verbindung misbilligt und
aufgelöſt wird, folglich als juri-
ſtiſche Perſon niemals entſteht,
ſo können natürlich die Mitglieder
den zuſammen gebrachten Fonds
II. 17
|0272 : 258|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſes Alles hat man nicht ſelten von einer allgemeinen Auf-
hebung aller Corporationen verſtanden; allein Niemand
dachte daran, z. B. die uralten Handwerkerzünfte, oder
gar die Prieſtercollegien zu verbieten. Man meynte die
factiöſen, politiſch gefährlichen Clubbs, und fand vielleicht
eine genauere Bezeichnung des verbotenen Gegenſtandes
nicht nöthig, weil ohnehin jeder wußte, wovon die Rede
fey (p). Es hatten aber jene Regeln unſrer Rechtsquel-
len einen doppelten Sinn, der nur in den Worten nicht
deutlich unterſchieden wird: erſtlich, daß überhaupt ein
Verein nicht ohne oͤffentliche Genehmigung zur juriſtiſchen
Perſon werde, und dieſer, noch in dem heutigen Recht
beſtehende wichtige Rechtsſatz iſt ganz unabhängig von dem
unſchuldigen oder bedenklichen Character des Vereins: zwey-
wieder zurücknehmen, alſo unter
ſich vertheilen. L. 3 de coll. et
corp. „.. permittitur eis, cum
dissolvuntur, pecunias commu-
nes, si quas habent, dividere” …
Mit Unrecht haben hieraus Man-
che gefolgert, daß auch wenn eine
Corporation wirklich beſtanden
habe, und nachher ſich auflöſe,
ihr Vermögen ſtets unter die Mit-
glieder vertheilt werden müſſe; in
dem Fall jener Stelle war blos
die factiſche Vereinigung Einzel-
ner diſſolvirt worden, eine Cor-
poration hatte niemals angefan-
gen. Vgl. Marezoll in Grol-
mans und Löhrs Magazin B. 4
S. 207.
(p) Vgl. über das Geſchichtli-
che dieſer Verbote Dirkſen
S. 34 — 47. — Nach Asconius
(Note n) könnte man glauben,
daß nur einige wenige Collegieen
von dem Verbot namentlich aus-
genommen, die übrigen alle auf-
gehoben worden wären. Zu buch-
ſtäblich iſt das aber wohl nicht
zu nehmen, denn es iſt kaum denk-
bar, daß irgend eine der alten
Handwerkszünfte verboten ſeyn
ſollte, von den Societäten der
Zollpächter iſt es noch unwahr-
ſcheinlicher, und von den Prie-
ſtercollegien (die doch auch unter
den Buchſtaben jener Erzählung
fallen würden) iſt es völlig un-
denkbar.
|0273 : 259|
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
tens, daß ungenehmigte Vereine verboten und ſtrafbar ſind,
und dieſes geht nur auf Vereine, die wirklich gefährlich
ſind, oder durch ihre Unbeſtimmtheit gefährlich werden
können (wobey dann die juriſtiſche Perſönlichkeit blos Ne-
benſache iſt), niemals auf blos gewerbliche Unternehmungen.
Eine ähnliche Natur mit jenen Clubbs aus der Zeit
der Republik hatten, wie es ſcheint, die weit neueren
Collegia tenuiorum, von welchen Folgendes gemeldet wird.
Solche Vereine geringer Leute ſollten zwar geſtattet ſeyn,
jedoch nur mit Einer Zuſammenkunft in jedem Monat,
wozu denn auch monatliche Beyträge gegeben wurden.
Niemand ſollte in mehreren derſelben zugleich Mitglied
ſeyn. Auch Sklaven konnten Theil nehmen, doch nur mit
Erlaubniß ihrer Herren (q).
Für alle dieſe willkührlich gebildete Corporationen gilt
die gemeinſame Bemerkung, daß ſie als Nachahmungen
der Stadtgemeinden betrachtet werden, und gleich dieſen
Vermögen und Vertreter haben, welches eben das Weſen
der juriſtiſchen Perſonen ausmacht (r). — Unter ihnen iſt
(q) L. 1 pr. § 2. L. 3 § 2 de
coll. et corp. (47. 22.). — Un-
richtig hat man mit dieſen col-
legiis tenuiorum in Verbindung
gebracht die Regel, nach welcher
die Immunitäten, welche man-
chen Handwerkszünften ertheilt
waren, nur den ärmeren Mitglie-
dern (tenuioribus) zu gut kom-
men ſollten, nicht den reichen,
die durch ihr Vermögen (noch au-
ßer ihrem Handwerk) hinreichende
Mittel beſaßen, die ſtädtiſchen La-
ſten zu tragen. L. 5 § 12 de j.
immun. (50. 6.).
(r) L. 1 § 1 quod cuj. un.
(3. 4.). „Quibus autem permis-
sum est corpus habere colle-
gii, societatis, sive cujusque al-
terius eorum nomine, propri-
17*
|0274 : 260|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
die ſchon oben (§ 86) bemerkte Verſchiedenheit wahrzu-
nehmen, daß einige auf bleibenden Bedürfniſſen, ähnlich
den Gemeinden, beruhten, wie die Prieſtercollegien, De-
curien, Handwerkszuͤnfte: andere auf vorübergehenden Be-
dürfniſſen und mehr willkührlichen Entſchließungen, wie
die Societates und Sodalitates.
Über die Benennungen iſt Folgendes zu bemerken. Ei-
nige ſpecielle Namen (decuriae, societates, sodalitates)
ſind bereits angegeben worden. Zwey Namen aber ſind
ihnen allen gemeinſchaftlich, und werden als ſolche ab-
wechslend gebraucht: collegium und corpus, wie denn auch
ſchon oben collegia templorum und collegia sodalitia nach-
gewieſen worden ſind (Note a und k). Wenn zuweilen
dieſe Ausdrücke unterſchieden zu werden ſcheinen, ſo rührt
das blos daher, daß die einzelnen Corporationen nicht
beide Namen abwechslend gebrauchten, ſondern einen aus-
ſchließend: welchen ſie aber führten, das war ganz zu-
fällig. Wenn alſo z. B. geſagt wird: neque collegium
neque corpus habere conceditur (Note h), ſo heißt das
ſo viel: die willkührliche Bildung von Vereinen iſt uner-
laubt, ſie mögen nun den Namen collegium oder corpus
führen wollen (s). Jeder dieſer Ausdrücke alſo bezeichnet
um est, ad exemplum Reipu-
blicae, habere res communes,
arcam communem, et actorem
sive Syndicum, per quem, tam-
quam in Republica, quod com-
muniter agi fierique oporteat,
agatur, fiat.”
(s) L. 1 pr. § 1 quod cuj. un.
(3. 4.) (ſ. o. Note h), rubr. tit.
Dig. de collegiis et corporibus
(47. 22.), L. 1 pr. § 1 L. 3 § 1.
2 eod., L. 17 § 3 L. 41 § 3 de
excus. (27. 1.), L. 20 de reb.
dub. (34. 5.). — Nach Stryk us.
|0275 : 261|
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
eine willkührliche Corporation, mithin den Gegenſatz gegen
ſtädtiſche Gemeinden (t).
Die einzelnen Mitglieder heißen, in wechſelſeitiger Be-
ziehung zu einander, collegae (u), auch sodales, welcher
Name alſo eine allgemeinere Bedeutung und eine ältere
Entſtehung als sodalitas hatte (v); in abſoluter Bedeu-
tung heißen ſie collegiati und corporati (w). — Bey ein-
zelnen oben erwähnten Arten ſolcher Corporationen hei-
ßen die Mitglieder Decuriati, Decuriales (Note d), Socii
(Note h).
Der gemeinſchaftliche Name für alle Corporationen,
Städte und andere, iſt Universitas (x), und im Gegenſatz
mod. XLVII. 22 § 1 heißt cor-
pus eine aus mehreren collegiis
beſtehende Corporation; dieſer
ganz unrömiſche Sprachgebrauch
gründet ſich auf den ſehr zufäl-
ligen Umſtand, daß in unſren
Univerſitäten der ganze Senat das
corpus academicum heißt, die
einzelnen Facultäten collegia.
(t) L. 1 § 7 de quaest. (48. 18.).
(u) L. 41 § 3 de excus. (27. 1.),
Fragm. Vatic. § 158.
(v) So die uralten Sodales
Titii oder Tatii, dann die So-
dales Augustales u. ſ. w. Ta-
citus ann. I. 54. — Vgl. L. 4
de coll. et corp. (47. 22.), nach
welcher Stelle es ſcheint, daß auch
ſchon die zwölf Tafeln dieſen Aus-
druck enthielten.
(w) L. un. C. de priv. corpo-
rat. (11. 14.). L. 5 C. de com-
merc. (4. 63.).
(x) rubr. Dig. Lib. 3 tit. 4, L. 1
pr. § 1. 3 L. 2 L. 7 § 2 eod. (zu
L. 2 cit. vergl. Schulting notae
in Dig.). — Es iſt nur eine un-
ter den vielen Anwendungen die-
ſes Ausdrucks, der ja jede Ge-
ſammtheit von Perſonen, Sachen
oder Rechten bezeichnet (§ 56. n),
alſo auch ganz andere Begriffe als
den einer juriſtiſchen Perſon. So
z. B. bedeutet in L. 1 C. de ju-
daeis (1. 9.) die universitas Ju-
daeorum in Antiochiensium ci-
vitate nur die Geſammtheit der
einzelnen daſelbſt wohnenden Ju-
den (universi Judaei), nicht eine
juriſtiſche Perſon; denn eine ſol-
che ſollten ſie ja gerade nach die-
ſer Stelle nicht bilden, und na-
mentlich ſollte ihnen kein gülti-
ges Legat gegeben werden kön-
nen. Vgl. Zimmern Rechts-
geſchichte B. 1 § 130.
|0276 : 262|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
derſelben heißt die natürliche Perſon, oder der einzelne
Menſch, singularis persona (y).
III. Stiftungen, oder unſichtbare juriſtiſche Perſo-
nen (§ 86). Seitdem die chriſtliche Religion herrſchend
wurde, kamen jene in der größten Ausdehnung und Man-
nichfaltigkeit vor, und wurden mit vieler Begünſtigung
behandelt. Einen gemeinſamen Namen führen ſie in den
Rechtsquellen nicht, und erſt die Neueren haben dafür den
Ausdruck pia corpora erfunden (z). Um ihr eigentliches
Weſen durch den Gegenſatz klarer hervor treten zu laſſen,
wird es zuträglich ſeyn, zuvor den Zuſtand des vorchriſt-
lichen Roms zu betrachten.
In der früheren Zeit ſind ſolche juriſtiſche Perſonen
außerordentlich ſelten, und es kommt davon nur Folgen-
des vor, welches ſich lediglich auf religiöſe Auſtalten be-
zieht. Einige beſtimmte Götter hatten ausnahmsweiſe das
Vorrecht bekommen, daß ſie zu Erben eingeſetzt werden
durften (aa). Darauf iſt es denn auch ohne Zweifel zu
beziehen, wenn gültige, einem Tempel angewieſene, Fidei-
commiſſe (bb), und wenn Sklaven und Freygelaſſene, die
(y) L. 9 § 1 quod metus. (4. 2.).
(z) Viele derſelben finden ſich
zuſammen geſtellt in L. 23 C. de
SS. eccl. (1. 2.), L. 35. 46 C. de
ep. et cler. (1. 3). — Vgl. über-
haupt Mühlenbruch T. 1 § 201.
Schilling Inſtitutionen B. 2
§ 49. — Allerdings ſteht in L. 19
C. de SS. eccles. (1. 2.) „dona-
tiones super piis causis factae;”
allein dieſer Ausdruck bezeichnet
den frommen Zweck der Schen-
kung, nicht die juriſtiſche Perſon
als Donatar.
(aa) Ulpian. XXII. § 6. „Deos
heredes instituere non possu-
mus, praeter eos quos Scto,
constitutionibus Principum, in-
stituere concessum est: sicuti
Jovem Tarpejum” etc.
(bb) L. 20 § 1 de annuis leg.
(33. 1.). Es war den Prieſtern
|0277 : 263|
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
einem Tempel angehören, erwähnt werden, welches letzte
jedoch vielleicht als ein allgemeines Recht aller Tempel,
unabhängig von jenen Privilegien wegen der Teſtamente,
angeſehen werden mochte (cc).
Wie iſt nun dieſe Verſchiedenheit der Zeiten in der
Annahme und Behandlung ſolcher juriſtiſchen Perſonen zu
erklären? Gleichgültig gegen ihren Cultus waren die Rö-
mer in der vorchriſtlichen Zeit gewiß nicht; aber er war
Staatscultus, und die Staatskaſſe deckte ſeine großen
Ausgaben; wie in Rom, eben ſo in jeder Stadt des
Reichs. Es konnte dafür noch beſonders geſorgt ſeyn
durch gewiſſe Güter des Staats oder der Städte, deren
Ertrag für ſolche fromme Zwecke bleibend angewieſen
war, während das Eigenthum ſelbſt dennoch dem Staat
oder der Stadt gehörte (§ 87. p). Daß mit dem Chri-
und Dienern eines beſtimmten
Tempels ein Fideicommiß gege-
ben; dieſes wird für gültig er-
klärt, und ſo ausgelegt: „Re-
spondit … ministerium nomi-
natorum designatum: ceterum
datum templo.”
(cc) Varro de lingua latina
Lib. 8 (ſonſt 7) C. 41. Er will
beweiſen, daß in der Sprache
überhaupt keine Analogie beob-
achtet werde, und führt als Bey-
ſpiel an, daß manche Eigennamen
von Orten abgeleitet ſeyen, an-
dere gar nicht, oder doch nicht
auf die rechte Weiſe: „alii no-
mina habent ab oppidis; alii
aut non habent, aut non ut
debent habent. Habent pleri-
que libertini a municipio ma-
numissi; in quo, ut societatum
et fanorum servi, non serva-
runt pro portione rationem.”
Die übrige nicht geringe Schwie-
rigkeit der Stelle gehört nicht hier-
her. Vgl. auch Cicero divinat.
in Caecil. C. 17. — Gar Nichts
beweiſen für die Vermögensfähig-
keit die allerdings ſehr häufig er-
wähnten Geſchenke an Götter;
denn das ſo Geſchenkte wurde ge-
wiß meiſt conſecrirt, ſtand alſo
nun außer allem Eigenthum, und
ſetzt daher gar nicht die Eigen-
thumsfähigkeit des ſo beſchenkten
Gottes voraus.
|0278 : 264|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſtenthum eine andere Anſicht geltend wurde, erklärt ſich
aus ſeiner Einheit und Selbſtſtändigkeit, und beſonders
aus der weit größeren Macht, die es über die Gemüther
ausübte. — Was aber die Anſtalten der Wohlthätigkeit
betrifft, ſo hatten dieſe zur Zeit der Republik weniger ei-
nen menſchlichen, als einen politiſchen Character; ſo der
ungeheuere Aufwand, wodurch für die Erhaltung und das
Vergnügen der geringen Klaſſen der Einwohner, theils
aus Staatskaſſen, theils von den einzelnen Obrigkeiten,
geſorgt wurde. Wenn ſpäter von manchen Kaiſern Wohl-
thätigkeit geübt wurde, wie von Trajan durch ſeine groß-
artige Stiftung für arme Kinder in Italien, ſo beruhte
dieſes auf vereinzelter, vorübergehender perſönlicher Will-
kühr. Es war dem Chriſtenthum vorbehalten, die Men-
ſchenliebe an ſich zu einem wichtigen Gegenſtand der Thä-
tigkeit zu erheben, und in dauernden, unabhängigen An-
ſtalten gleichſam zu verkörpern.
Seitdem nun, unter der Herrſchaft chriſtlicher Fürſten,
die kirchlichen Inſtitute als juriſtiſche Perſonen auftreten,
welches iſt hier der Punkt, wohin wir die Perſönlichkeit
zu verſetzen haben, oder wie haben wir uns genau das
Subject der ihnen zuſtehenden Vermoͤgensrechte zu denken?
Vor Allem iſt hierin folgender Gegenſatz gegen die frühere
Zeit unverkennbar. Die alten Götter wurden gedacht als
individuelle Perſonen, ähnlich den einzelnen, ſichtbar um-
her wandelnden Menſchen; Nichts war natürlicher, als
daß Jeder derſelben ſein eigenes Vermögen haben konnte,
|0279 : 265|
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
und es war nur eine Fortſetzung deſſelben Gedankens,
wenn auch der in einem einzelnen Tempel verehrte Gott
wieder eine beſondere juriſtiſche Perſon vorſtellte, ja ſelbſt
eigene Privilegien erhielt (dd). Die chriſtliche Kirche da-
gegen beruht auf dem Glauben an Einen Gott, und ſie
iſt durch den gemeinſamen Glauben an dieſen Einen Gott
und deſſen beſtimmte Offenbarung zu Einer Kirche ver-
bunden. Es lag alſo ſehr nahe, dieſe Einheit auch auf
die Vermögensverhältniſſe zu übertragen, und dieſe Auf-
faſſung findet ſich in ganz verſchiedenen Zeitaltern, ſowohl
in der Lehre von Schriftſtellern, als in dem Gefühl und
der Ausdrucksweiſe einzelner Urheber von Stiftungen. So
geſchah es alſo ganz gewöhnlich, daß als Eigenthümer
des Kirchengutes bald Jeſus Chriſtus, bald die allgemeine
chriſtliche Kirche, oder auch deren ſichtbares Oberhaupt,
der Pabſt, bezeichnet wurde. Allein bey genauerer Be-
trachtung mußte man ſich überzeugen, daß auf dem, an
ſich nothwendig beſchränkten, Rechtsgebiet dieſe Auffaſſung
völlig unbrauchbar ſey, und daß an ihre Stelle die An-
nahme individueller juriſtiſcher Perſonen, auch in Bezie-
hung auf das Kirchengut, geſetzt werden müſſe.
In dieſem Sinn enthält ſchon ein Geſetz von Juſti-
nian folgende Beſtimmungen (ee). Wenn ein Teſtator Je-
ſus Chriſtus zum Erben einſetzt, ſo iſt darunter die Kirche
ſeines Wohnorts zu verſtehen. Setzt er einen Erzengel
(dd) Ulpian. XXII. § 6
(ee) L. 26 C. de SS. eccles. (1. 2.); die Stelle iſt nicht gloſſirt.
|0280 : 266|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
oder einen Märtyrer zum Erben ein, ſo iſt die demſelben
gewidmete Kirche des Wohnorts, oder (wenn ſich da eine
ſolche nicht findet) der Hauptſtadt der Provinz als ein-
geſetzter Erbe gemeynt. Bleibt nach dieſen Regeln eine
Ungewißheit unter mehreren Kirchen übrig, ſo hat dieje-
nige den Vorzug, zu welcher der Teſtator in ſeinem Leben
beſondere Zuneigung zeigte, und wenn auch dieſer Um-
ſtand nicht entſcheidet, die ärmſte unter jenen Kirchen. —
Subject des Erbrechts iſt alſo eine individuelle Kirchen-
gemeinde, das heißt die Corporation der zu dieſer Kirche
gehörenden Chriſten.
Derſelbe Grundſatz findet ſich in den Schriftſtellern
ganz verſchiedener Jahrhunderte: ſowohl vor der Reforma-
tion (ff), als nach derſelben; bey Katholiken (gg) eben ſo-
wohl, als bey Proteſtanten (hh). Dieſe erkennen gleichmäßig
die individuelle Kirchengemeinde als Inhaber des Kirchen-
vermögens an, namentlich alſo bey den Pfarrgütern die
(ff) Jo. Faber in Instit. § Nul-
lius, de divis. rerum; Franzöſi-
ſcher Juriſt des vierzehnten Jahr-
hunderts.
(gg) Gonzalez Tellez in
Decr. Lib. 3 Tit. 13 C. 2 „di-
cendum est dominium rerum
ecclesiasticarum residere pe-
nes ecclesiam illam particula-
rem cui talia bona applicata
sunt pro dote … Nec persona
aliqua singularis habet domi-
nium, sed sola communitas, per-
sona autem singularis non ut
talis, sed ut pars et membrum
communitatis, habet in ipsis
rebus jus utendi.” Fr. Sar-
mientus de ecclesiae reditibus
P. 1 C. 1 N. 21 „… et haec
est opinio in glossis posita.”
Sarpi de materiis beneficiariis
s. benef. ecclesiast. Jenae 1681.
16 p. 91 — 93. Sauter fundam.
j. eccles. catholicorum P. 5 Fri-
burgi 1816 § 854. 855.
(hh) J. H. Böhmer Jus eccles.
Protest. Lib. 3 Tit. 5 § 29. 30,
Jus parochiale Sect. 5 C. 3 § 3.
4. 5.
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§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
Geſammtheit der Parochianen (ii). Sie wollen damit ab-
weiſen die Meynung Derjenigen, welche entweder alles
Kirchengut überhaupt der Univerſalkirche, oder das in je-
dem biſchöfflichen Sprengel befindliche Kirchengut dieſer
Diöceſankirche, als Gemeingut zuſchreiben. Sie führen
gegen dieſe Meynung als entſcheidend den Grund an, daß
zwiſchen dem Pfarrvermögen zweyer Parochieen Rechts-
verhältniſſe aller Art vorkommen können, namentlich Er-
werb und Verluſt durch Verjährung, ſo wie die Errich-
tung von Prädialſervituten, welches nur unter Voraus-
ſetzung von zwey gänzlich getrennten Vermögensmaſſen
möglich ſey. — Es erhellt hieraus, daß der aufgeſtellte
Rechtsſatz über den wahren Inhaber des Kirchenguts kei-
nesweges unter die unterſcheidenden Lehren der Katholiken
und Proteſtanten gehört; beide ſtimmen in dieſer Indivi-
dualiſirung des Kirchenguts überein, und die Differenz
betrifft nur den Begriff und die Verfaſſung ſowohl der ein-
zelnen Kirchen, als der Kirche im Großen und Ganzen (kk).
Eine ähnliche Bewandniß, wie mit den kirchlichen In-
ſtituten, hat es mit den ſogenannten milden Stiftungen,
das heißt mit den Anſtalten bloßer Wohlthätigkeit, wo-
hin die Verſorgungshäuſer für Arme, Kranke, Pilger,
(ii) Über den eigentlichen Be-
griff der Parochianen findet ſich
eine ſehr gründliche Unterſuchung
bey J. H. Böhmer Jus paroch.
Sect. 3 C. 2 § 4 § 9 — 25.
(kk) Auf dieſe letzte Verſchie-
denheit geht die Äußerung von
G. L. Böhmer princ. j. canon.
§ 190, in welcher alſo kein Wi-
derſpruch gegen die von mir im
Text behauptete Übereinſtimmung
der beiden Kirchenparteyen ent-
halten iſt.
|0282 : 268|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Greiſe, Kinder überhaupt, Waiſenkinder insbeſondere, ge-
hören (Note z). Sobald hier Grund vorhanden iſt, die
Natur einer juriſtiſchen Perſon anzunehmen, iſt jede ein-
zelne Anſtalt dieſer Art als eine ſolche Perſon zu betrach-
ten, wie es auch in der That von den chriſtlichen Kai-
ſern geſchieht. Jedes Hoſpital alſo u. ſ. w. iſt Inhaber
eines ſelbſtändigen Vermögens, ſo gut als der einzelne
Menſch oder eine Corporation, und es iſt unrichtig, wenn
manche Neuere das Vermoͤgen jener Anſtalten dem Staat,
oder einer Stadtgemeinde, oder einer Kirche zuſchreiben.
Der allgemeinſte Grund jener Verwechslung liegt aber in
Folgendem. Wenn der Einzelne Almoſen giebt, oder der
Staat bey großer Theurung mit ſeinen Kaſſen und Ma-
gazinen zu Hülfe kommt, ſo iſt das auch eine Thätigkeit
zu jenen Zwecken, allein ſchon das Einzelne und Vorüber-
gehende der Handlung ſchließt den Gedanken an eine ju-
riſtiſche Perſon völlig aus. Wenn der Staat oder eine
Stadt bleibende Maaßregeln dieſer Art trifft, ſo haben
dieſe vielleicht einen blos adminiſtrativen, gar nicht juri-
ſtiſchen, Character; dann iſt immer nur von dem Ver-
mögen des Staats oder der Stadt die Rede, von wel-
chem ein Theil zu ſolchen Zwecken willkührlich verwendet
wird, welches eben ſo willkührlich wieder abgeändert wer-
den kann. Es kann ferner auch ein Rechtsgeſchäft zur
Grundlage ſolcher Zwecke gemacht werden, ohne daß des-
halb eine juriſtiſche Perſon entſteht; wenn z. B. ein Te-
ſtator ſeinem Erben die Verpflichtung auflegt, ſo lange
|0283 : 269|
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
er lebt, eine gewiſſe Summe in Almoſen an beſtimmten
Tagen des Jahrs zu vertheilen, ſo wird dieſe Beſtimmung,
gleich jedem anderen Modus, geſchützt (§ 128. 129); eine
juriſtiſche Perſon erſcheint dabey gar nicht, vielmehr iſt
blos von dem Vermögen des Erben, und von einer dem
Erben auferlegten Verbindlichkeit die Rede. Endlich aber
kann allerdings auch die Errichtung einer juriſtiſchen Per-
ſon ſolchen Zwecken zum Grunde gelegt werden, und es
wird gewöhnlich dadurch eine höhere Sicherheit erreicht
ſeyn; wovon dieſe Errichtung abhängt, wird ſogleich näher
beſtimmt werden (§ 89). Nun pflegt man den Ausdruck
Stiftung auf ganz verſchiedene Fälle der hier beſchrie-
benen Art anzuwenden, und die Unbeſtimmtheit dieſes Aus-
drucks hat unverkennbar die Verwirrung der Begriffe ſelbſt
ſehr befördert. Ich ſelbſt habe hier den Ausdruck Stif-
tung gebraucht, jedoch nur um eine Klaſſe der juriſtiſchen
Perſonen zu bezeichnen, alſo in der ausdrücklichen Voraus-
ſetzung, daß die Stiftung zugleich auch eine juriſtiſche
Perſon geworden ſey.
Die Conſtitutionen der chriſtlichen Kaiſer zeigen die
größte Sorgfalt, jene milden Zwecke, in welcher Geſtalt
ſie auch auftreten mögen, in Schutz zu nehmen, und von
den Hinderniſſen zu befreyen, die ihnen in den Weg tre-
ten können. Dieſes geſchieht, indem ſie als juriſtiſche Per-
ſonen anerkannt werden, wo nur immer dazu Veranlaſ-
ſung erſcheint. Wie es auch außer ſolchen Fällen ge-
|0284 : 270|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſchieht, davon finden ſich folgende entſcheidende Beyſpiele.
Wenn ein Teſtator die Armen überhaupt zu Erben oder
Legataren ernannte, ſo war die Beſtimmung ungültig we-
gen der alten Regel des Römiſchen Rechts, daß keine in-
certa persona bedacht werden könne; eine Verordnung
Valentinians III. hob die Regel in dieſer beſonderen An-
wendung auf (ll). Juſtinian erklärte ein ſolches Teſta-
ment dahin, daß die Erbſchaft dem Armenhaus, welches
der Teſtator beſonders meynte, in Ungewißheit hierüber
dem Armenhaus ſeines Wohnorts, unter mehreren Armen-
häuſern dem ärmſten derſelben, wo gar kein Armenhaus
ſey, der Kirche des Wohnorts zufallen ſolle, mit der Ver-
pflichtung, Alles für die Armen zu verwenden; eben ſo,
wenn die Gefangenen zu Erben eingeſetzt waren, ſollte die
Kirche des Orts Erbe ſeyn, mit der Verpflichtung das
ganze Vermögen zum Loskauf von Gefangenen zu verwen-
den (mm). Hier werden alſo die wohlthätigen Abſichten
dadurch unterſtützt, daß das Recht der Succeſſion auf
ſchon beſtehende juriſtiſche Perſonen übertragen wird. Au-
ßerdem aber verordnete Juſtinian, daß alle wohlthätige
Verfügungen Verſtorbener unter der beſonderen Aufſicht
der Biſchöffe und Erzbiſchöffe ſtehen ſollten, welchen alſo
die Sorge für die Ausführung allgemein übertragen wur-
de (nn). Es war dieſes eine Folge davon, daß die Ar-
(ll) L. 24 C. de episc. (1, 3.).
(mm) L. 49 C. de episc. (1.3.).
(nn) L. 46 C. de episc. (1. 3.);
dieſe Stelle iſt ungloſſirt.
|0285 : 271|
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
menverſorgung als ein weſentlicher und wichtiger Theil
kirchlicher Thätigkeit anerkannt war. — Dieſelben Grund-
ſätze finden ſich in den Beſtimmungen des canoniſchen
Rechts. Es bildete ſich hieraus die Anſicht, daß das
Vermögen der milden Stiftungen unter den allgemeinen
Begriff des Kirchenguts (bona ecclesiastica) falle. Dieſe
Bezeichnung hatte den zwiefachen Sinn, daß daſſelbe un-
ter dem Einfluß und der Aufſicht der Kirchenobern ſtehe,
und daß es an den Privilegien des Kirchenguts Theil
nehme; keinesweges aber ſollte dadurch die Selbſtändig-
keit der juriſtiſchen Perſonen dieſer Art verneint werden,
und es iſt ein Misverſtändniß neuerer Zeit, wenn man
dem Ausdruck dieſe Deutung gegeben hat (oo). Der ent-
ſcheidende Beweis für die Richtigkeit dieſer Behauptung
iſt derſelbe, welcher oben für die individuelle Perſönlich-
keit der einzelnen Kirchen, insbeſondere der Parochieen,
geführt worden iſt. Denn auch milde Stiftungen ſind
durchaus fähig, ſowohl unter einander, als mit dem
Staate, den Städten, den Kirchen, in ſo mannichfalti-
gen Rechtsverhältniſſen zu ſtehen, wie ſie nur unter Vor-
ausſetzung juriſtiſcher Selbſtſtändigkeit möglich ſind.
Sehen wir hierin endlich auf das heutige Recht, ſo
hat ſich die Grundanſicht, nach welcher die milden Stif-
(oo) Auf dieſem Wege iſt Roß-
hirt dazu gekommen, den mil-
den Stiftungen die Natur juri-
ſtiſcher Perſonen ganz abzuſpre-
chen, und ihr Vermögen als Ver-
mögen der Kirche anzuſehen. Ar-
chiv für civiliſtiſche Praxis B. 10.
Num. 13 S. 322 — 324, 327.
|0286 : 272|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
tungen zu betrachten ſind, gar nicht geändert; nur ſind
ſie mannichfaltiger geworden, und haben eben dadurch
eine andere Stellung zum Staate eingenommen. Anſtatt
daß ſie im Juſtinianiſchen Recht lediglich als Mittel er-
ſcheinen, die Armuth in ihren verſchiedenen Geſtalten zu
mildern, ſind ſie ſeit dem Mittelalter großentheils auf die
Befriedigung geiſtiger Bedürfniſſe der verſchiedenſten Art
gerichtet. Schon dadurch mußte das ausſchließende Ver-
hältniß der Stiftungen zur Kirche, wie wir es im Juſti-
nianiſchen Recht wahrnehmen, ſehr beſchränkt werden.
Allein auch das Armenweſen iſt zu einer wichtigen und
ausgebildeten Thätigkeit des Staats geworden, ſo daß
ſelbſt der darauf gerichtete Theil der Stiftungen eine an-
dere Stellung gegen Staat und Kirche eingenommen hat,
als die welche in der Juſtinianiſchen Geſetzgebung erſcheint.
Aus dieſem Allen geht hervor, daß auch im heutigen
Recht die milden Stiftungen eben ſo individuelle juriſti-
ſche Perſonen bilden, wie die Corporationen; daß es aber
irrig wäre, ſie ſelbſt als Corporationen auzuſehen, oder
auch die den Corporationen angemeſſenen Einrichtungen
ſchlechthin auf ſie anwenden zu wollen.
IV. Fiscus. — Zur Zeit der Republik wurde der
Staat, als Inhaber von Vermögensrechten, durch den
Namen aerarium bezeichnet, indem ſich alle jene Rechte,
inſoweit ſie in den lebendigen Verkehr fielen, zuletzt in
Einnahmen oder Ausgaben der Staatskaſſe aufloͤſten.
|0287 : 273|
§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)
Gleich bey dem Anfang der Kaiſerregierung wurde zwi-
ſchen dem Senat (als Vertreter der alten Republik) und
dem Kaiſer eine Theilung der Provinzen, und zugleich
der wichtigſten Einnahmen und Ausgaben des Staats vor-
genommen. Das Senatsvermögen behielt den alten Na-
men aerarium, das Vermögen des Kaiſers (pp) wurde
fiscus genannt, welche Benennung folgenden Urſprung
hatte. Urſprünglich hieß fiscus ein Korb, ein Behältniß
von Flechtwerk, und da die Römer Körbe gebrauchten,
um größere Geldſummen aufzubewahren und zu transpor-
tiren, ſo wurde der Name auf jede Kaſſe übertragen, und
ſo hieß auch des Kaiſers Kaſſe: Caesaris fiscus. Weil
aber nun von dieſem fiscus häufiger als von jedem an-
dern die Rede war, ſo gebrauchte man bald auch den
bloßen Namen fiscus als Bezeichnung der Kaiſerlichen
Kaſſe. Und als ſich nach nicht langer Zeit alle Gewalt
in dem Kaiſer concentrirte, ſo hieß nun fiscus das in des
Kaiſers Händen wieder vereinigte Staatsvermoͤgen, das
heißt der Ausdruck nahm nun dieſelbe Bedeutung an, welche
urſprünglich das Wort aerarium gehabt hatte (qq).
(pp) Nämlich dasjenige Ver-
mögen, welches er als Kaiſer
hatte, wovon ſein Privatvermö-
gen (res privata Principis) noch
verſchieden war.
(qq) Die Verſchmelzung der
beiden öffentlichen Kaſſen zu ei-
ner einzigen geſchah wahrſchein-
lich allmälig, und iſt wenigſtens
chronologiſch nicht genau nachzu-
weiſen. Bis auf Hadrian wird
noch Sache und Name genau un-
terſchieden. Tacitus ann. VI. 2.
Plinius panegyr. C. 42. Spar-
tianus Hadrian. C. 7. Und doch
nennt ſchon ein Sc. unter Ha-
II. 18
|0288 : 274|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
drian den Fiscus, da wo man
beſtimmt das Ärarium erwarten
möchte, nämlich bey dem Recht
auf caduca. L. 20 § 6 de pet.
her. (5. 3.). Späterhin werden
beide Ausdrücke mit willkührli-
cher Abwechslung gebraucht, um
die einzige öffentliche Kaſſe, die
des Kaiſers, zu bezeichnen. § 13
J. de usuc. (2. 6.), L. 13 pr.
§ 1. 3. 4 L. 15 § 5 de j. fisci
(49. 14.), L. 1 § 9 ad L. Corn.
de falsis (48. 10.), L. 3 C. de
quadr. praescr. (7. 37.). — Merk-
würdig iſt in der Rubrik von Pau-
lus V. 12 die Erwähnung des al-
ten Gegenſatzes: de jure fisci et
populi; nur folgt daraus nicht,
daß zu ſeiner Zeit noch eine reelle
Trennung beider Kaſſen exiſtirt
hätte, vielmehr konnte er dieſen
Ausdruck auch mit bloßer Hin-
ſicht auf die frühere Zeit ge-
brauchen.
|0289 : 275|
§. 89. Juriſtiſche Perſonen. Entſtehung und Untergang.
§. 89.
Juriſtiſche Perſonen. — Entſtehung und Untergang.
Nicht bey allen juriſtiſchen Perſonen iſt eine poſitive
Regel über die Bedingungen ihrer rechtsgültigen Entſtehung
nöthig. Die meiſten Gemeinden ſind ſo alt, ja älter als
der Staat (§ 86), und die ſpäteren werden ſtets durch
einen politiſchen Akt gegründet (nach R. R. durch die co-
loniae deductio), nicht nach einer privatrechtlichen Regel.
Auch bey dem Fiscus wird Niemand nach der Art ſeiner
Entſtehung fragen.
Bey den übrigen aber iſt es Regel, daß ſie nicht durch
die bloße Willkühr mehrerer zuſammentretenden Mitglieder,
oder eines einzelnen Stifters, den Character juriſtiſcher
Perſonen erhalten können, ſondern daß dazu die Genehmi-
gung der höchſten Gewalt im Staate noͤthig iſt, welche
nicht nur ausdrücklich, ſondern auch ſtillſchweigend, durch
wiſſentliche Duldung und thatſächliche Anerkennung, ertheilt
werden kann. Dieſer Satz iſt allgemein: das Verbot und
die Strafbarkeit des Verſuchs, ungenehmigte juriſtiſche
Perſonen zu gründen, iſt nicht ſo allgemein, ſondern geht
nur auf gewiſſe Arten derſelben, namentlich nicht auf ge-
werbliche Genoſſenſchaften und auf Stiftungen (§ 88. o).
Für die collegia insbeſondere, das heißt für die willkühr-
lichen Corporationen (§ 88), gilt die Regel, daß drey Mit-
18*
|0290 : 276|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
glieder dazu erforderlich ſind (a). Das hat jedoch lediglich
den Sinn, daß ſie nur unter Vorausſetzung einer ſolchen
Zahl anfangen können: denn fortdauern kann jede einmal
gegründete universitas auch noch in einem einzigen Mit-
glied (b).
Die hier aufgeſtellte Behauptung, daß keine juriſtiſche
Perſon ohne den genehmigenden Willen des Staats ent-
ſtehen könne, iſt jedoch in neuerer Zeit von mehreren Sei-
ten angefochten worden. Zwar für die Corporationen hat
man ſie zugegeben, theils wegen mancher Stellen des Rö-
miſchen Rechts, theils wegen der möglichen Gefahr, die
dem Staat durch die willkührliche Bildung von Corpora-
tionen entſtehen könne. Dagegen iſt ſie beſtritten worden
für die milden Stiftungen, aus folgenden Gründen. Erſt-
lich weil ſchon das Römiſche Recht die willkührliche Er-
(a) L. 85 de V. S. (50. 16.)
„Neratius Priscus tres facere
existimat collegium: et hoc ma-
gis sequendum est.” Es giebt
wenige Ausſprüche des R. R., die
ſo ſehr auch unter Nichtjuriſten
in Umlauf gekommen ſind wie
dieſer. — Eben ſo wurde auch
unter familia in der Regel nur
eine Anzahl von wenigſtens drey
Sklaven verſtanden (L. 40 § 3
de V. S. 50. 16), ausnahmsweiſe
aber galt bey dem Int. de vi
(„aut familia tua dejecit”) auch
ſchon ein einziger Sklave als fa-
milia. L. 1 § 17 de vi (43. 16.).
(b) L. 7 § 2 quod cuj. un. (3.4.)
„.. si universitas ad unum redit,
magis admittitur, posse eum et
convenire et conveniri: cum jus
omnium in unum reciderit, et
stet nomen universitatis.” —
Alſo die juriſtiſche Perſon dauert
in einem ſolchen Fall fort, und
behält ſogar ihren Namen, es
wird daher keinesweges das Cor-
porationsvermögen nunmehr Pri-
vatvermögen des einzigen übrigen
Mitgliedes; das Beſondere (wor-
auf jene Stelle aufmerkſam ma-
chen will) liegt nur darin, daß
dieſer Einzelne jetzt ohne Weiteres
im Prozeß auftreten kann, ohne
der künſtlichen Vertretung durch
einen actor oder Syndicus zu
bedürfen.
|0291 : 277|
§. 89. Juriſtiſche Perſonen. Entſtehung und Untergang.
richtung ſolcher Inſtitute durch den Privatwillen zulaſſe,
zweytens weil Anſtalten dieſer Art durchaus löblich und
ungefährlich ſeyen; und zwar nimmt man dieſe freye Will-
kühr nicht blos für Armenanſtalten in Anſpruch, ſondern
auch für alle auf geiſtige Entwicklung abzweckende Stif-
tungen (c). Das Römiſche Geſetz kann hier nicht entſchei-
den, theils weil es ungloſſirt iſt (d), theils weil es blos
von Stiftungen für die Kirche oder die Armen redet, und
die Aufſicht und Genehmigung der Kirche vorausſetzt, deren
Verhältniß zu den Stiftungen aber im heutigen Recht ein
ganz anderes geworden iſt (§ 88). Der zweyte Grund für
jene freye Privatwillkühr wird in folgender Betrachtung
ſeine Erledigung finden. Die Nothwendigkeit der Staats-
genehmigung zur Entſtehung jeder juriſtiſchen Perſon hat,
unabhängig von politiſchen Rückſichten, einen durchgreifen-
den juriſtiſchen Grund. Der einzelne Menſch trägt ſeinen
Anſpruch auf Rechtsfähigkeit ſchon in ſeiner leiblichen Er-
ſcheinung mit ſich: weit allgemeiner als bei den Römern,
deren zahlreiche Sklaven eine ſo wichtige Ausnahme bil-
deten. Durch dieſe Erſcheinung weiß jeder Andere, daß
(c) Dieſe Meynung iſt beſon-
ders, bey Gelegenheit des Rechts-
ſtreits über das Städelſche Kunſt-
inſtitut in Frankfurt a. M., von
den Vertheidigern dieſes Inſtituts
aufgeſtellt worden. Gegen dieſelbe
hat damals Mühlenbruch (Be-
urth. des Städelſchen Beerbungs-
falles, Halle 1828) die richtige
Lehre von der Entſtehung juri-
ſtiſcher Perſonen in Schutz ge-
nommen. Übrigens war dieſes
nur Ein Moment in der Beur-
theilung jenes Rechtsfalles; die
übrigen Momente gehören eben
ſo wenig hierher, als das Reſultat
derſelben.
(d) Es iſt die ungloſſirte L. 46
C. de episc. (1. 3.).
|0292 : 278|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
er in ihm eigene Rechte zu ehren, jeder Richter, daß er in
ihm ſolche Rechte zu ſchützen hat. Wird nun die natürliche
Rechtsfähigkeit des einzelnen Menſchen durch Fiction auf ein
ideales Subject übertragen, ſo fehlt jene natürliche Be-
glaubigung gänzlich; nur der Wille der höchſten Gewalt
kann dieſelbe erſetzen, indem er künſtliche Rechtsſubjecte
ſchafft, und wollte man dieſelbe Macht der Privatwillkühr
überlaſſen, ſo würde unvermeidlich die höchſte Ungewißheit
des Rechtszuſtandes entſtehen, ſelbſt abgeſehen von dem
großen Misbrauch, der durch unredlichen Willen möglich
wäre. Zu dieſem durchgreifenden juriſtiſchen Grund treten
aber noch politiſche und ſtaatswirthſchaftliche Gründe hinzu.
Die mögliche Gefährlichkeit der Corporationen giebt man
zu; allein die Stiftungen, in der eben erwähnten Ausdeh-
nung, ſind keinesweges unbedingt heilſam und unbedenklich.
Wenn eine reiche Stiftung zur Verbreitung ſtaatsgefähr-
licher, irreligiöſer, ſittenloſer Lehren oder Buͤcher gemacht
würde, ſollte der Staat dieſe dulden? (e) Ja ſelbſt die
Errichtung von Armenanſtalten dürfte nicht unter allen
Umſtänden der bloßen Willkühr zu überlaſſen ſein. Wenn
z. B. in einer Stadt, deren Armenweſen wohl geordnet
und hinreichend dotirt iſt, ein reicher Teſtator, aus mis-
(e) In unſeren Tagen wird
Niemand ſagen, daß dergleichen
unmöglich ſey. Es gab reiche
Leute unter den Saint-Simoni-
ſten, und warum ſollte nicht Ei-
ner derſelben auf den Gedanken
kommen, eine große Stiftung zur
Beförderung ſeiner Lehre zu ma-
chen? Vielleicht war es niemals
nöthig, durch Geſetz oder Rich-
teramt gegen ſolches Treiben zu
kämpfen; aber gewiß ſollte doch
nicht der Staat ſeine Macht zur
Beförderung deſſelben herleihen.
|0293 : 279|
§. 89. Juriſtiſche Perſonen. Entſtehung und Untergang.
verſtandener Wohlthätigkeit, eine Stiftung von Almoſen-
ſpenden machte, wodurch die heilſamen Folgen der öffent-
lichen Armenanſtalt geſtört und geſchwächt würden, ſo
hätte wenigſtens der Staat keinen Grund, dieſer Stiftung,
durch Ertheilung der Rechte einer juriſtiſchen Perſon, grö-
ßere Conſiſtenz zu geben. Hierzu kommt nun, ſelbſt bey
unſchädlichen Stiftungen, die Rückſicht auf die vielleicht
übertriebene Vermehrung des Vermoͤgens in todter Hand.
Allerdings kann eine ſolche Vermehrung auch in Beziehung
auf ſchon beſtehende und genehmigte Stiftungen Statt
finden; allein eine Aufſicht darauf wird ganz unmöglich,
wenn es unbedingt der Privatwillkühr überlaſſen bleibt,
ſtets neue zu errichten.
Eben ſo kann die Auflöſung der einmal begründeten ju-
riſtiſchen Perſonen nicht durch die Willkühr der gegenwär-
tigen Mitglieder allein, von deren Daſeyn ja die juriſtiſche
Perſon ſelbſt unabhängig iſt (§ 86), beſtimmt werden, ſon-
dern es iſt auch dazu die Genehmigung der höchſten Ge-
walt nöthig. Dagegen können ſie durch den einſeitigen
Willen des Staates, wider den Willen der Mitglieder,
aufgehoben werden, wenn ſie der Sicherheit oder dem
Wohl des Staates nachtheilig werden. Dieſes kann ge-
ſchehen bey ganzen Klaſſen von Corporationen, deren Thä-
tigkeit eine gefährliche Richtung genommen hat, alſo ver-
mittelſt einer geſetzlich aufgeſtellten allgemeinen Regel (§ 88):
außerdem aber auch durch einen politiſchen Akt, alſo in
einem einzelnen vorübergehenden Fall, ohne bleibende Re-
|0294 : 280|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
gel (f). — Bey ſolchen Stiftungen, welche die Natur von
Staatsanſtalten haben (§ 88), kann die Aufhebung noch
weit mehr nach freyem Ermeſſen geſchehen; nämlich nicht
blos weil ſich etwa die beſtehende Anſtalt gefährlich oder
ſchädlich erwieſen hat, ſondern ſchon deshalb, weil der
allgemeine Zweck in der Form einer neuen Anſtalt voll-
ſtändiger erreicht werden kann.
Aus der oben aufgeſtellten Regel, daß jede Corporation
auch in einem einzigen Mitglied fortdauern könne (Note b),
folgern Manche ganz irrig, daß der Tod aller Mitglieder
die Corporation nothwendig auflöſen müſſe; wo ihr ein
dauernder Zweck, von öffentlichem Intereſſe, zum Grund
liegt (§ 88), muß dieſes durchaus verneint werden. Wenn
z. B. in einer Stadt durch Seuchen alle Mitglieder einer
Handwerkszunft kurz nach einander hinſterben, ſo wäre es
ſehr irrig, die Zunft für erloſchen, und ihr Vermögen für
herrenlos oder für Staatsgut zu halten.
Allerdings ſind die hier aufgeſtellten Regeln über den
Anfang und das Ende einzelner juriſtiſcher Perſonen nicht
ganz ausreichend, allein dieſe Unvollſtändigkeit iſt in der
Natur des Gegenſtandes ſelbſt gegründet. Alles was mehr
in das Einzelne eingeht, hängt mit der Verfaſſung und
den Verwaltungsformen der einzelnen Staaten zuſammen,
und liegt alſo außer den Gränzen des bloßen Privatrechts.
(f) L. 21 quib. modis ususfr.
(7. 4.) „Si ususfructus civitati
legetur, et aratrum in eam
inducatur, civitas esse desinit,
ut passa est Carthago: ideo-
que quasi morte desinit habere
usumfructum.”
|0295 : 281|
§. 90. Juriſtiſche Perſonen. Rechte.
§. 90.
Juriſtiſche Perſonen. — Rechte.
Die Rechte der juriſtiſchen Perſonen ſind von zweyer-
ley Art. Einige betreffen das Weſen derſelben, ſo daß
ſie überhaupt nur juriſtiſche Perſonen ſind, dadurch daß
ſie die Fähigkeit zu dieſen Rechten haben. Andere, von
mehr zufälliger und poſitiver Art, beſtehen in beſonderen
Begünſtigungen (jura singularia), welche manchen juriſti-
ſchen Perſonen verliehen ſind: und zwar theils den juri-
ſtiſchen Perſonen ſelbſt, für die ihnen zugehörenden Rech-
te (a), theils den einzelnen Mitgliedern derſelben (b). Dieſe
Begünſtigungen hier zuſammen zu ſtellen, würde wenig be-
lehrend ſeyn, da ſie nur in Verbindung mit den Rechts-
inſtituten, worauf ſie ſich als einzelne Ausnahmen bezie-
(a) Dahin gehören die zahlrei-
chen Vorrechte des Fiscus, z. B.
deſſen ſtillſchweigende und ſelbſt
privilegirte Generalhypothek, fer-
ner die Stellung der Stadtge-
meinden mit ihren Forderungen
in der vierten Klaſſe der Con-
curscreditoren, eben ſo der An-
ſpruch auf allgemeine Reſtitution,
den das R. R. den Stadtgemein-
den giebt, das neuere Recht aber
viel weiter ausdehnt.
(b) So haben nach R. R. die
einzelnen Mitglieder mehrerer
gemeinnützlicher Corporationen
manche Immunitäten, beſonders
die excusatio von Vormundſchaf-
ten. L. 17 § 2 L. 41 § 3 de ex-
cus. (27. 1.). Fragm. Vaticana
§ 124. § 233—237. — L. 5 § 12
de j. immun. (50. 8.). — Ulpian.
III. § 1. 6. — Wie ſich aber im
ſpäteren Reich ſo Vieles kaſten-
mäßig ausbildete, ſo auch dieſe
Corporationen. Die Theilnahme
an denſelben wurde zu einem erb-
lichen Recht, zugleich aber auch
zu einer erblichen Verpflichtung,
auf ähnliche Weiſe wie die Theil-
nahme an der ſtädtiſchen Curie.
L. 4 C. Th. de privil. corpor.
(14. 2.), tit. C. Th. de pistor.
(14. 3.).
|0296 : 282|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
hen, richtig verſtanden werden können. Dagegen iſt für
die Darſtellung der regelmäßigen Rechte hier die richtige,
ja die einzig mögliche Stelle.
Den rechten Standpunkt für dieſe regelmäßigen Rechte
giebt aber der Begriff der juriſtiſchen Perſonen ſelbſt (§ 85),
als vermögensfähiger Rechtsſubjecte. Vermögens-
rechte nämlich können, abgeſehen von beſonderen Familien-
verhältniſſen und einigen einzelnen minder wichtigen Fällen,
nicht von ſelbſt entſtehen, ſondern nur durch Handlungen
erworben werden (c). Allein Handlungen ſetzen ein den-
kendes und wollendes Weſen, einen einzelnen Menſchen,
voraus, was eben die juriſtiſchen Perſonen als bloße Fic-
tionen nicht ſind. Und ſo erſcheint hier der innere Wider-
ſpruch eines der Vermoͤgensrechte fähigen Subjects, wel-
ches doch die Bedingungen zum Erwerb derſelben nicht er-
füllen kann. Ein ähnlicher Widerſpruch (wiewohl in ge-
ringerem Grade) findet ſich auch bey vielen natürlichen
Perſonen, insbeſondere bey Unmündigen und Wahnſinni-
gen; denn auch dieſe haben die ausgedehnteſte Rechtsfä-
higkeit neben gänzlicher Handlungsunfähigkeit. Überall
nun, wo ſich dieſer Widerſpruch findet, muß er durch eine
(c) Die necessarii heredes er-
werben die Erbſchaft, alſo Ver-
mögen, ipso jure, ohne ihr Zu-
thun; alle andere Erbſchaften wer-
den nur durch den Willen des Er-
ben erworben. Eben ſo kann Ei-
genthum zwar erweitert werden
ohne Zuthun des Eigenthümers
(durch ſogenannte accessio), aber
nicht zuerſt begründet. Desglei-
chen iſt die regelmäßige, für den
Verkehr wichtige, Erwerbung von
Schuldforderungen nur durch den
Willen des Creditors möglich; wo
ſie ohne den Willen vor ſich geht,
wie durch erlittene Rechtsverletzun-
gen, da iſt die Erwerbung meiſt be-
denklich und unwillkommen.
|0297 : 283|
§. 90. Juriſtiſche Perſonen. Rechte.
Vertretung, als künſtliche Anſtalt, aufgelöſt werden.
Dieſes geſchieht bey den handlungsunfähigen natürlichen
Perſonen durch die Vormundſchaft; bey den juriſtiſchen
Perſonen geſchieht es durch ihre Verfaſſung.
Wenn aber hier die natürliche Handlungsunfähigkeit
der juriſtiſchen Perſonen, als Grund eines nothwendigen
künſtlichen Surrogats, behauptet worden iſt, ſo iſt dieſelbe
ganz buchſtäblich zu nehmen. Manche haben ſich die Sache
ſo gedacht, als wäre die gemeinſchaftliche Handlung aller
einzelnen Mitglieder einer Corporation in der That die
Handlung der Corporation ſelbſt, und ein Surrogat würde
blos nöthig durch die große Schwierigkeit, alle Mitglieder
zum gemeinſamen Wollen und Handeln zu vereinigen. So
iſt es aber in der That nicht; vielmehr iſt die Totalität
der Mitglieder von der Corporation ſelbſt ganz verſchie-
den (§ 86), und ſelbſt wenn alle Einzelne, ohne Aus-
nahme, gemeinſchaftlich handeln, ſo iſt dieſes nicht ſo an-
zuſehen, als ob das ideale Weſen, welches wir die juri-
ſtiſche Perſon nennen, gehandelt hätte (vgl. § 91. q, § 93.
b und h). Die Corporation iſt einem Unmündigen zu ver-
gleichen; die Vormundſchaft derſelben führen in der uni-
versitas ordinata (§ 86) die künſtlich conſtituirten Gewal-
ten, in der inordinata die gegenwärtigen Mitglieder. Dieſe
letzten ſind alſo mit der Corporation ſelbſt eben ſo wenig
identiſch, als der Vormund mit ſeinem Pupillen.
Demnach wird der Gang der folgenden Unterſuchung
dieſer ſeyn müſſen. Es iſt zuerſt von den Rechten ſelbſt
|0298 : 284|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
zu reden, dann von der Verfaſſung der juriſtiſchen Per-
ſonen. Für dieſe letzte aber muß gleich hier der wahre
Geſichtspunkt feſtgeſtellt werden. Die Verfaſſung, inſofern
ſie die juriſtiſchen Perſonen als ſolche, d. h. als Inhaber
von Privatrechten betrifft (denn ſie hat oft auch ganz an-
dere, und zum Theil wichtigere Zwecke), iſt lediglich dazu
vorhanden, um die zum Vermögensverkehr unentbehrlichen
Handlungen vertretungsweiſe moͤglich zu machen, das heißt
diejenigen Handlungen, welche dazu führen, Vermögen zu
erwerben, zu erhalten, zu benutzen, oder in ſeinen Be-
ſtandtheilen zu verändern.
Indem nunmehr die einzelnen Vermoͤgensrechte, als den
juriſtiſchen Perſonen zugänglich, dargeſtellt werden ſollen,
iſt nur noch ein wichtiger gemeinſamer Grundſatz anzu-
geben, der allerdings ſchon aus dem Begriff der juriſti-
ſchen Perſon folgt, darum aber nicht weniger verkannt
werden kann. Alle dieſe Vermögensrechte beziehen ſich nur
ganz und ungetheilt auf die juriſtiſche Perſon als Einheit,
mithin (wo von Corporationen die Rede iſt) keinesweges
theilweiſe auf die einzelnen Mitglieder derſelben. Dieſer
Grundſatz wird erſt in der Anwendung auf einzelne Arten
der Rechtsverhältniſſe ſeine volle Anſchaulichkeit erhalten
können.
|0299 : 285|
§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
§. 91.
Juriſtiſche Perſonen. — Rechte. (Fortſetzung.)
I. Eigenthum.
Juriſtiſche Perſonen können Eigenthum an Sachen aller
Art haben (a). Sie konnten es ſogar, ſelbſt nach dem
ſtrengen alten Recht, durch feyerliche Handlungen, z. B.
durch Mancipation, erwerben, vorausgeſetzt daß ſie dabey
durch einen bereits in ihrem Eigenthum befindlichen Skla-
ven vertreten wurden (b). — Dieſes Eigenthum bezieht
ſich, ſo wie jedes ihrer Rechte, ungetheilt auf die juriſtiſche
Perſon als Einheit, und die einzelnen Mitglieder haben
daran keinen Theil (c). Dieſes zeigte ſich bei den Römern
unter andern in folgender merkwürdigen Anwendung. Bey
einer Eriminalunterſuchung durften, nach einer allgemeinen
Regel, die Sklaven des Inquiſiten nicht gegen ihn als
(a) L. 1 § 1 quod cuj. un. (3. 4.)
„Quibus autem permissum est
corpus habere .... proprium est,
ad exemplum Reipublicae, ha-
bere res communes, arcam com-
munem” (§ 88. r).
(b) Taciti ann. II. 30 „Ne-
gante reo, agnoscentes servos
per tormenta interrogari pla-
cuit. Et, quia vetere Scto quae
stio in caput domini prohibe-
batur, callidus et novi juris
repertor Tiberius, mancipari
singulos actori publico jubet:
scilicet ut in Libonem, salvo
Scto, quaereretur.” Plinius
epist. VII. 18 „Deliberas me-
cum, quemadmodum pecunia,
quam municipibus nostris in
epulum obtulisti, post te quo-
que salva sit .... Equidem nihil
commodius invenio, quam quod
ipse feci. Nam pro quingentis
millibus numûm .. agrum ex
meis longe pluris actori publi-
co mancipavi” etc. — In beiden
Fällen iſt der actor publicus ein
zu Geſchäften gebrauchter Sklave,
deſſen Eigenthümer im erſten Fall
der Römiſche Staat, im zweyten
eine Stadtgemeinde iſt.
(c) L. 6 § 1 de div. rerum
(1. 8.).
|0300 : 286|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Zeugen abgehört werden (welches bey Sklaven ſtets auf
der Folter geſchah). War nun der Bürger einer Stadt-
gemeinde in Criminalunterſuchung, ſo durften die der Stadt
zugehörenden Sklaven gegen ihn als Zeugen gebraucht wer-
den, weil er an dieſen nicht den geringſten Antheil hatte (d).
Bezog ſich das Eigenthum auf Sklaven, ſo konnten
dieſe, wie alle andere Sklaven, freygelaſſen werden, und
die juriſtiſche Perſon erwarb dadurch volles Patronats-
recht, namentlich auch das patronatiſche Erbrecht. Dieſe
Sätze ſind für die Zeit der ausgebildeten Rechtswiſſenſchaft
unzweifelhaft, und zwar in Anwendung ſowohl auf Stadt-
gemeinden, als auf alle andere Arten juriſtiſcher Perſonen (e).
Die Geſchichte derſelben iſt weniger klar. Aus der Zeit
von Trajan wird eine Lex vectibulici angeführt, welche
den Italiſchen Städten die Freylaſſung ihrer Sklaven ge-
ſtattet haben ſoll: ein Senatusconſult unter Hadrian dehnte
dieſelbe auf die Provinzialſtädte aus (f). Marc Aurel ge-
ſtattete endlich auch den Collegien die Freylaſſung ihrer
Sklaven und die Erwerbung des Patronats (g). Nach
dieſen Angaben könnte man glauben, vor Trajan hätten
juriſtiſche Perſonen gar nicht manumittiren können. Allein
ſchon Varro erwähnt Freygelaſſene des Römiſchen Staats,
der Municipien, der Societates, und der fana, als etwas
(d) L. 1 § 7 de quaest. (48. 18.)
(ſ. o. § 87. c).
(e) L. 1. 2. 3 de manumission.
quae servis (40. 3.), L. un. de
libertis univ. (38. 3.), L. 10 § 4
de in j. voc. (2. 4.), L. 25 § 2
de adquir. vel om. her. (29. 2.).
(f) L. 3 C. de servis reipub.
(7. 9.). — Bach Trajanus p. 152,
Bach hist. juris p. 380 ed. 6.
(g) L. 1. 2 de manumission.
quae servis (40. 3.).
|0301 : 287|
§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
ganz Gewoͤhnliches und allgemein Bekanntes (h), ſo daß
nach ſeinem Ausdruck die Ungültigkeit ſolcher Freylaſſungen
unmöglich angenommen werden kann. Dieſe ſcheinbar wi-
derſprechende Zeugniſſe ſind nur auf folgende Weiſe zu
vereinigen. Die Freilaſſung durch vindicta war eine legis
actio, die Jeder nur in eigener Perſon, nicht durch Stell-
vertreter, vornehmen konnte (i). Dazu war eine juriſtiſche
Perſon unfähig, und daher konnten ihre Freygelaſſenen in
früherer Zeit nur den faktiſchen Beſitz der Freyheit, ſeit
der Lex Junia nur die Latinität erwerben. Von dieſem
unvollkommenen Zuſtand der Manumiſſion iſt die Stelle
des Varro zu verſtehen. Die Geſetze des Trajan und ſei-
ner Nachfolger geſtatteten den juriſtiſchen Perſonen, ab-
weichend von dem alten jus civile, ihren Sklaven die volle
Freyheit mit Civität zu geben (k). — Auch bey dieſem
Patronatsrecht bewährt ſich die Regel, daß die einzelnen
Mitglieder einer Corporation keinen Theil daran haben.
So z. B. hatte der Freygelaſſene einer Stadtgemeinde gegen
die einzelnen Bürger keinesweges Rückſichten unterwürfiger
Ehrfurcht, wie gegen einen Patron, zu beobachten (l).
(h) Varro de lingua lat. Lib. 8
C. 41 (ſ. o. § 88. cc.)
(i) L. 123 pr. de R. J. (50. 17.).
L. 3 C. de vindicta (7. 1.)
(k) L. 3 C. de servis reip.
(7. 9.) „.. Si itaque secundum
legem vectibulici .... manumis-
sus, civitatem Romanam con-
secutus es” etc. L. 2 eod. —
Dieſe Vereinigung der angeführten
Stellen findet ſich ſchon bey Bach
Trajanus p. 156. — Als poſitire
Form, anſtatt der ſtets unmögli-
chen vindicta, wurde nun in den
Provinzialſtädten vorgeſchrieben
der Beſchluß des Stadtſenats und
die Genehmigung des Präſes der
Povinz. L. 1. 2 C. de servis reip.
(7. 9.).
(l) L. 10 § 4 de in j. voc. (2. 4.).
|0302 : 288|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Der wichtigſte Gegenſtand dieſes Eigenthums beſteht
hier, wie überall, in Grundſtücken. Dabey aber findet
ſich folgender wichtige Unterſchied. Das Grundeigenthum
der Corporationen kann benutzt werden entweder zu den
Zwecken der Corporation, durch Verpachtung oder eigene
Verwaltung; oder aber zu den Zwecken der einzelnen Mit-
glieder (m); endlich kann auch eine gemiſchte Benutzung
eintreten, wenn die Einzelnen für ihre Benutzung eine (ge-
woͤhnlich ſehr mäßige) Abgabe an die Corporationskaſſe
entrichten. In dem zweyten dieſer Fälle (bey der aus-
ſchließenden Benutzung durch die Einzelnen) iſt freylich das
Eigenthum einer Fiction ähnlich, und mehr ein Schutzrecht
für die wahrhaft berechtigten Einzelnen; dennoch muß es
juriſtiſch als Eigenthum angeſehen und behandelt werden (n).
(m) Eich horn deutſch. Privatr.
§ 372. — In deutſchen Städten heißt
das erſte häufig Kämmereyver-
mögen, das zweyte Bürger-
vermögen. Dahin gehört z. B.
der Bürgerwald, d. h. ein Wald
im Eigenthum der Stadt, deſſen
Holz jährlich unter die einzelnen
Bürger vertheilt wird. Eben da-
hin gehören in Städten und Dör-
fern die Gemeindeweiden. End-
lich auch noch andere Rechte als
Eigenthum, z. B. die Bürgerjagd,
die von allen einzelnen Bürgern
benutzt wird, anſtatt daß die
Stadtjagd zum Vortheil der Stadt-
kaſſe verpachtet wird. Unſrem neu-
eren Bürgervermögen ähnlich war
der altrömiſche ager publicus, der
auch von Einzelnen benutzt wurde.
— Die Benutzung kann auch blos
einzelnen Klaſſen der Corpora-
tionsmitglieder zuſtehen, wie z. B.
die des Römiſchen ager publicus
urſprünglich den Patriciern, ſpä-
terhin den Optimaten ausſchlie-
ßend geſtattet wurde. — Welches
dieſer Rechtsverhältniſſe wahrhaft
begründet iſt, kann oft ſehr zwei-
felhaft ſeyn, und beſonders bey
Veränderungen in der Verfaſſung
zweifelhaft werden. Solche Zwei-
fel waren es, woraus hauptſächlich
vor einigen Jahren der bittere
Streit im Canton Schwyz zwiſchen
den Hornmännern und Klauen-
männern hervorgegangen iſt.
(n) Kori a. a. O., S. 17. 18.
|0303 : 289|
§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
— Von allen dieſen Fällen aber ſind wohl zu unterſcheiden
diejenigen, worin das Recht einzelnen Individuen oder auch
ganzen Klaſſen unter den Corporationsmitgliedern zukommt;
denn nun iſt lediglich Miteigenthum vorhanden, und gar
nicht mehr Eigenthum der Corporation (o).
II. Servituten.
In der Natur mancher Servituten liegen Gründe, wo-
durch ſie auf juriſtiſche Perſonen unanwendbar werden.
Der ususfructus iſt auf ſie völlig anwendbar, weil in
ihm der Eigenthumserwerb an den Früchten das Vorherr-
ſchende iſt. Er dauert bey ihnen in der Regel Hundert
Jahre, welcher Zeitraum hier die Stelle der möglichſt lange
angenommenen Lebensdauer der natürlichen Perſonen ver-
treten ſoll (p). Ausnahmsweiſe hört er auf, wenn die
juriſtiſche Perſon ſelbſt zerſtört wird (q). Er konnte ihnen
nach dem älteren Recht durch Legat (jedoch nur durch ein
vindicationis legatum) vollſtändig, das heißt ipso jure,
erworben werden: nicht durch Mancipation, weil dieſe bey
dem ususfructus überhaupt nicht gilt; eben ſo wenig durch
in jure cessio, weil gerade dieſe jedem Sklaven (durch
welchen allein ſie bey einer juriſtiſchen Perſon bewirkt
werden könnte) verſagt iſt (r). Im neueſten Recht werden
(o) Kori a. a. O. S. 33—39,
und S. 18. in der Note.
(p) L. 56 de usufr. (7. 1.),
L. 8 de usu et usufr. leg. (33. 2.),
ſ. u. Note r.
(q) L 21 quib. modis ususfr.
(7. 4.), ſ. o. §. 89. f.
(r) Gajus II. § 96. — Es
konnte alſo den juriſtiſchen Per-
ſonen inter vivos kein ususfru-
ctus jure constitutus gegeben
werden, ſondern nur eine pos-
sessio ususfructus (vgl. über
dieſen Gegenſatz L. 3 si ususfr.
II. 19
|0304 : 290|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
die Servituten überhaupt auf mehr natürliche Weiſe (durch
bloßen Vertrag) errichtet, weshalb nunmehr die Form der
Errichtung gar keine Schwierigkeit mehr macht.
Der usus iſt auf ſie unanwendbar, da er nur in dem
eigenen, perſönlichen Gebrauch des Berechtigten beſteht,
welcher bey der juriſtiſchen Perſon undenkbar iſt.
Prädialſervituten jeder Art können ſie haben, weil dieſe
blos Erweiterungen ihres Grundeigenthums ſind. Erwer-
ben konnten ſie dieſelben zu allen Zeiten durch Legat: nie-
mals durch in jure cessio (Note r): dagegen allerdings
durch Mancipation an ihren Sklaven, vorausgeſetzt daß
die Servitut eine ländliche, nicht ſtädtiſche, war (s). Im
neueren Recht iſt auch hier dieſe auf die Form des Er-
werbs bezügliche Schwierigkeit verſchwunden.
III. Beſitz.
Bey dem Beſitz wurde die Anwendbarkeit auf juriſtiſche
7. 6.). Darauf deutet denn auch
unverkennbar L. 56 de usufr.
(7. 1.) „An ususfructus nomine
actio municipibus dari debeat,
quaesitum est .... Unde sequens
dubitatio oritur, quousque tu-
endi essent in eo usufructu mu-
nicipes? Et placuit, centum an-
nis tuendos esse municipes, quia
is finis vitae longaevi hominis
est.” Allerdings finden ſich ähn-
liche Ausdrücke in L. 8 de usu
et usufr. leg. (33. 2.), die von
einem Legat redet; wahrſchein-
lich aber war daſelbſt ein dam-
nationis legatum gemeynt, wel-
ches immer wieder zu demſelben
unvollſtändigen Erfolg führen
mußte.
(s) Gajus II. § 29, Ulpian.
XIX. § 1. — Eine unverkennbare
Hindeutung auf dieſen Unterſchied
enthält L. 12 de serv. (8. 1.)
„Non dubito quin fundo muni-
cipum per servum recte servi-
tus adquiratur.” Nämlich dem
fundus konnte der Sklave einen
Weg oder eine Waſſerleitung durch
die Mancipation erwerben, die bey
einem Gebaude zum Erwerb einer
Servitut unzuläſſig war.
|0305 : 291|
§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
Perſonen bezweifelt wegen der ganz factiſchen Natur deſ-
ſelben, die nicht ſo wie eigentliche Rechtsverhältniſſe mit
einer bloßen Fiction (welches die juriſtiſche Perſon aller-
dings iſt) vereinbar ſchien. Deswegen nahmen Manche
an, es ſey hier ein Beſitz nur ausnahmsweiſe durch Skla-
ven, und zwar nur an den zum Peculium gehörenden Sa-
chen möglich: Andere läugneten ſelbſt dieſes, weil die ju-
riſtiſche Perſon an dem Sklaven ſelbſt keinen Beſitz habe,
alſo auch nicht durch ihn beſitzen könne (t). Zur Zeit der
ausgebildeten Rechtswiſſenſchaft war es entſchieden, daß
Städte und alle andere juriſtiſche Perſonen, ſowohl durch
Sklaven als durch freye Stellvertreter, Beſitz erwerben
koͤnnen (u).
Indeſſen iſt es nicht unwahrſcheinlich, daß jener Zwei-
fel von jeher nur in theoretiſchen Unterſuchungen erhoben,
in der Anwendung aber niemals beachtet wurde. Der
Grund liegt darin, daß außerdem die Erwerbung irgend
eines Vermögensrechts für die juriſtiſchen Perſonen nach
dem ſtrengen alten Recht völlig unerklärlich bleiben würde.
(t) L. 1 § 22 de adqu. vel am.
poss. (41. 2.) „Municipes per se
nihil possidere possunt, quia
universi (al. uni) consentire non
possunt.” Die letzten Worte wol-
len nicht ſagen, es ſey gar zu
ſchwierig, ſie Alle zu dieſem Zweck
zuſammen zu bringen, was doch
gewiß nicht mit der Unmöglichkeit
einerley iſt; ſondern ſelbſt wenn
alle Einzelne conſentirten, ſo wäre
es doch nicht die Corporation ſelbſt,
als ideale Einheit (universi), wel-
che wollte, alſo fände ſich nicht der
ganz unentbehrliche animus pos-
sidendi in der Perſon des wah-
ren Beſitzers (§ 90. § 93. b. h.).
— Vgl. auch Gajus II. § 89. 90.
(u) L. 2 de adqu. vel am. poss.
(41. 2.), L. 7 § 3 ad exhib. (10. 4.).
Vgl. Savigny Recht des Be-
ſitzes § 21 (am Anfang) § 26
S. 354. 358. 367 der 6. Ausg.
19*
|0306 : 292|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Allerdings konnten ſie durch ihre Sklaven erwerben, aber
wie ſollten ſie jemals zu dem Eigenthum des erſten Skla-
ven gelangen? Dafür bleibt doch kein anderer Weg übrig,
als die Uſucapion; war aber ohne dieſe der Anfang ei-
nes Vermögens unmöglich, ſo muß ihnen die Praxis von
jeher auch die Fähigkeit zum Beſitz zuerkannt haben, in-
dem ohne Beſitz keine Uſucapion moͤglich iſt.
Der Beſitzerwerb juriſtiſcher Perſonen geſtaltet ſich nun
auf folgende Weiſe. Rechte überhaupt konnten ſie von
jeher erwerben, indem ihnen die juriſtiſchen Handlungen
ihrer Vertreter als ihre eigene Handlungen angerechnet
wurden; darin beſteht eben ihr Weſen. Bey dem Beſitz
fand das Schwierigkeit, weil er wegen ſeiner rein facti-
ſchen Natur mit einer ſolchen Fiction nicht vereinbar
ſchien. Als man ſich über dieſe Schwierigkeit hinweg-
ſetzte, geſchah dieſes dadurch, daß man die allgemeinen
Vertreter oder Vorſteher der juriſtiſchen Perſon, auch in
Anſehung des Beſitzerwerbes, an die Stelle der juriſtiſchen
Perſon treten ließ. Jetzt muß alſo in der phyſiſchen Per-
ſon des Vorſtehers alles Das vorgehen, was bey einem
gewöhnlichen Beſitzerwerb in der Perſon des Beſitzers vor-
gehen muß; er ſelbſt muß das Bewußtſeyn des Beſitzes
haben, und die Apprehenſion muß entweder durch ihn,
oder durch einen von ihm Beauftragten (bey den Roͤmern
auch durch einen Sklaven) geſchehen. Dabey bleibt alſo
immer die Abweichung von der ſonſt geltenden Regel des
Beſitzerwerbs, daß der Beſitzer ſelbſt (hier die juriſtiſche
|0307 : 293|
§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
Perſon als ſolche) beſitzen kann, ohne eigenes Bewußt-
ſeyn des Beſitzes. Die Schwierigkeit, ſo wie die Art ih-
rer Beſeitigung, iſt alſo völlig dieſelbe, wie wenn das
Kind durch ſeinen Tutor, der Wahnſinnige durch ſeinen
Curator, Beſitz erwerben ſoll (v).
(v) Gegen dieſe, im Weſentli-
chen ſchon in meinem Buch über
den Beſitz aufgeſtellte, Lehre hat
Widerſpruch erhoben Warnkö-
nig, Archiv XX. S. 412 — 420,
indem er behauptet, juriſtiſche
Perſonen könnten, eben ſo wie
phyſiſche, nur mit ihrem Bewußt-
ſeyn Beſitz erwerben. Er hat ſich
offenbar das Weſen der juriſti-
ſchen Perſonen nicht klar gemacht,
und daß er gerade hierin das
Misverſtändniß ſo vieler anderen
Schriftſteller theilt, erhellt aus der
Stelle S. 420: „der Grundſatz,
daß die Beſchlüſſe der Majorität
der Mitglieder den Willen der
Corporation ſelbſt bilden, iſt
ein ausgemachter Satz.“ Von
dieſem Standpunkt aus bleibt es
ja unerklärlich, wie die Römer
bey dem Beſitzerwerb der juriſti-
ſchen Perſonen mehr Schwierig-
keit finden konnten, als bey dem
der phyſiſchen, oder als bey dem
Erwerb anderer Rechte.
|0308 : 294|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 92.
Juriſtiſche Perſonen. — Rechte. (Fortſetzung.)
IV. Obligationen.
Durch Verträge ihrer verfaſſungsmäßigen Vertreter kön-
nen ſie Forderungen erwerben und mit Schulden belaſtet
werden. Der Form nach trat im älteren R. R. der Un-
terſchied ein, daß einer juriſtiſchen Perſon durch die Sti-
pulationen ihres Sklaven Forderungen ipso jure, alſo durch
directe Klagen, erworben werden konnten (a): durch die
Verträge freyer Stellvertreter nur vermittelſt einer utilis
actio (b). Dieſer beſchränkende Unterſchied iſt im neueſten
Recht verſchwunden. — Dagegen hat ſich die nicht in der
bloßen Form gegründete Beſchränkung erhalten, daß ver-
tragsmäßige Schulden, die auf einem Geben beruhen, wie
bey dem Darlehen, nur inſofern die juriſtiſche Perſon ver-
pflichten, als das Gegebene auch wirklich in ihren Vor-
theil verwendet wurde (c). — Die minder häufigen und
wichtigen Obligationen, welche auch ohne Wollen und
Handeln entſtehen, kommen bey juriſtiſchen Perſonen, wie
bey natürlichen, ganz auf gleiche Weiſe vor (d).
(a) L. 11 § 1 de usuris. (22. 1.).
(b) L. 5 § 7. 9 de pecunia con-
stit. (13. 5.).
(c) L. 27 de reb. cred. (12. 1.).
(d) So z. B. familiae hercis-
cundae, finium regundorum,
aquae pluviae actio. L. 9 quod
cuj. un. (3. 4.). — Eben ſo aber
auch, nach Römiſchem Recht, die
Noxalklagen, wenn der Sklave
einer juriſtiſchen Perſon ein Ver-
brechen begieng.
|0309 : 295|
§. 92. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
Die größte Meynungsverſchiedenheit aber herrſcht über
die Obligationen aus Delicten, inſofern darin eine juri-
ſtiſche Perſon Schuldner werden ſoll; denn ihre Forderun-
gen aus Delicten ſind weder zweifelhaft, noch von denen
der natürlichen Perſonen verſchieden. Da aber dieſe Frage
mit der ganz ähnlichen Frage wegen eigentlicher Verbre-
chen der juriſtiſchen Perſonen unzertrennlich verbunden iſt,
ſo ſoll ſie auch in Verbindung mit dieſer behandelt wer-
den (§ 94).
Auch bey den Obligationen bewährt ſich wieder der
im § 90 aufgeſtellte allgemeine Grundſatz. Ihre Forde-
rungen und Schulden betreffen lediglich ſie ſelbſt als künſt-
liche Einheit: die einzelnen Mitglieder werden davon gar
nicht berührt (e). Damit iſt es aber wohl vereinbar, daß
die Corporation ihre eigenen Mitglieder noͤthigen kann,
Beyträge zur Bezahlung der Corporationsſchulden zu ge-
ben; ein ſolcher Anſpruch gründet ſich auf das innere Ver-
hältniß der Corporation zu ihren Mitgliedern, und iſt von
dem nach außen gerichteten Schuldverhältniß ganz unab-
hängig.
V. Klagenrecht.
Die Rechtsfähigkeit der juriſtiſchen Perſonen würde
einen ſehr unvollkommenen Erfolg haben, wenn ihnen nicht
die Fähigkeit mitgetheilt worden wäre, als Kläger und
(e) L. 7 § 1 quod cuj. un. (3. 4.).
„Si quid universitati debetur,
singulis non debetur: nec, quod
debet universitas, singuli de-
bent.”
|0310 : 296|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Beklagte im Prozeß aufzutreten. Dieſe Fähigkeit iſt da-
her auch als allgemeiner Grundſatz ausgeſprochen (f). Die
Ausführung kann dadurch vermittelt werden, daß die ju-
riſtiſche Perſon für den einzelnen Fall einen actor beſtellt,
der dann die gewöhnlichen Rechte eines Procurators hat.
Es iſt jedoch auch dadurch möglich, daß ein ſolcher blei-
bender Vertreter für alle ihre Rechtsſtreitigkeiten beſtellt
wird, der dann den Namen Syndicus führt; dieſe Form
war im neueren Roͤmiſchen Recht bey Stadtgemeinden die
gewöhnliche (g). — Nicht blos zu eigentlichen Klagen iſt
eine ſolche Vertretung zuläſſig, ſondern auch zu anderen
auf die Rechtsverfolgung abzweckenden Handlungen, wie
Cautionen, operis novi nuntiatio u. ſ. w. (h). Ein ſol-
cher Vertreter iſt dann nicht als ein von den Einzelnen,
folglich von mehreren Perſonen, beſtellter Procurator zu
betrachten, ſondern wie der Procurator eines Einzelnen,
der juriſtiſchen Perſon als Einheit (i). — Sind angen-
blicklich die Mitglieder einer Corporation bis auf Einen
weggeſtorben, ſo kann dieſer die Prozeßführung unmittel-
bar übernehmen, wobey er jedoch immer nicht in eigenem
Namen, ſondern nur als Vertreter der Corporation auf-
tritt (k). Außerdem kann auch Jeder, der es gut findet,
die Vertretung einer juriſtiſchen Perſon (eben ſo wie die
einer natürlichen) als defensor übernehmen (l).
(f) L. 7 pr. quod cuj. un. (3. 4.).
(g) L. 1 § 1 L. 6 § 1. 3 L. 3
quod cuj. un. (3. 4.).
(h) L. 10 quod cuj. un. (3. 4.).
(i) L. 2 quod cuj. un. (3. 4.).
(k) L. 7 § 2 quod cuj. un.
(3. 4.), ſ. o. § 89. b.
(l) L. 1 § 3 quod cuj. un. (3. 4.).
|0311 : 297|
§. 92. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
Wird eine juriſtiſche Perſon verurtheilt, ſo geſchieht
die Execution durch dieſelben Mittel, wie gegen eine na-
türliche Perſon: durch missio in possessionem, Concurs,
Verkauf ihres Vermögens, Einziehung ihrer Forderungen
von den Schuldnern (m).
Eine beſondere Schwierigkeit entſteht, wenn eine juri-
ſtiſche Perſon in ihrem eigenen Rechtsſtreit einen Eid zu
ſchwören hat, da der Eid eigentlich nicht auf die juriſti-
ſche, ſondern auf die rein menſchliche Perſönlichkeit der
Partey (die Gewiſſenhaftigkeit des einzelnen Menſchen) be-
rechnet iſt. Das Römiſche Recht erwähnt dieſen Fall des
Prozeßeides nicht; allein in dem ganz ähnlichen Fall eines
durch Teſtament auferlegten Eides beſtimmt es, daß der-
ſelbe, wenn er einer Stadtgemeinde (alſo einer Corpora-
tion mit ausgebildeter Verfaſſung) auferlegt wird, von
ihren Vorſtehern geſchworen werden ſoll (n). Die neueren
Praktiker nehmen an, der Eid müſſe ſtets von einigen
Mitgliedern der Corporation geſchworen werden; über die
Anzahl derſelben, ſo wie über die Art ihrer Auswahl,
(m) L. 7 § 2 L. 8 quod cuj.
un. (3. 4.).
(n) L. 97 de condit. (35. 1.).
„Municipibus, si jurassent, le-
gatum est: haec conditio non
est impossibilis. Paulus: quem-
admodum ergo pareri potest?
Per eos itaque jurabunt, per
quos municipii res geruntur.“
— Ganz in demſelben Sinn ſagt
L. 14 ad munic. (50. 1). „Mu-
nicipes intelliguntur scire, quod
sciant hi, quibus summa Rei-
publicae commissa est.“ — Der
Landfriede von 1521. VII. 9 ver-
ordnet, der Reinigungseid einer
geiſtlichen oder weltlichen Com-
mune müſſe von zwey Dritthei-
len der Commun-Räth ge-
leiſtet werden; es iſt im Weſent-
lichen die Römiſche Beſtimmung,
nur etwas näher ausgebildet.
|0312 : 298|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſind die Meynungen der Schriftſteller und die Beſtimmun-
gen neuerer Geſetze verſchieden (o).
(o) Linde, Archiv für civil.
Praxis, B. 10 S. 18—36. Er
ſelbſt nimmt an, eigentlich müß-
ten (abgeſehen von der entſchie-
den entgegenſtehenden Praxis)
alle Mitglieder der Corporation
ſchwören, oder wenigſtens Dieje-
nigen, die für den Eid geſtimmt
haben; dieſe Meynung hängt mit
ſehr verbreiteten Anſichten über
die Verfaſſung der juriſtiſchen
Perſonen zuſammen, wovon wei-
ter unten die Rede ſeyn wird.
|0313 : 299|
§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
§. 93.
Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
V. Erbrecht.
Die Inſtitute des Erbrechts ſind bey den juriſtiſchen
Perſonen weit ſpäter anerkannt worden, als die des übri-
gen Vermögensrechts, und dieſer Unterſchied hat ſeinen
Grund in der allgemeinen Natur des Erbrechts ſelbſt, ver-
glichen mit dem Weſen der juriſtiſchen Perſonen. Für
jeden Inhaber eines Vermoͤgens ſind die Regeln, nach
welchen er beerbt wird, höchſt wichtig und weſentlich, weil
nur die Rückſicht auf künftige Erben der Sammlung eines
Vermoͤgens bleibenden Reiz zu geben vermag; juriſtiſche
Perſonen aber werden nicht beerbt, weil ſie nicht ſterben.
Umgekehrt iſt der Erwerb durch die Beerbung eines An-
dern, mit Ausnahme der nächſten Verwandten (die aber
für juriſtiſche Perſonen nicht vorhanden ſind), etwas ſo
Zufälliges und Unberechenbares, daß für den freyen und
mannichfaltigen Verkehr im Vermoͤgen ein dringendes Be-
dürfniß dazu nicht behauptet werden kann, und daß eine
Lücke in demſelben nicht vorhanden iſt, wenn auch für jene
Erwerbungen keine Anſtalten getroffen ſeyn ſollten. Da
nun juriſtiſche Perſonen überhaupt nur die Beſtimmung
haben, in den lebendigen Vermögensverkehr, den natürli-
chen Perſonen gleich, einzugreifen (§ 85), ſo iſt es ganz
erklärlich, wenn das Recht derſelben im Allgemeinen längſt
|0314 : 300|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
anerkannt und ausgebildet war, ehe man daran dachte,
ihnen auch die Erbfähigkeit mitzutheilen. Allerdings wird
für den wichtigſten Fall (die Erbeinſetzung durch Teſta-
ment) zunächſt ein formelles Hinderniß angeführt; allein
dieſes war für andere Fälle (die Legate) nicht vorhanden,
und wäre auch in jenem Fall durch eine poſitive Anord-
nung zu beſeitigen geweſen, wenn ſich ein bedeutendes
praktiſches Bedürfniß dazu von jeher gezeigt hätte.
Es ſollen nunmehr die einzelnen hierher gehörenden
Rechtsinſtitute beſonders dargeſtellt werden.
A. Inteſtaterbrecht. Der wichtigſte Rechtsgrund
deſſelben, die Verwandtſchaft, iſt für juriſtiſche Perſonen
nicht denkbar. Das Patronatsrecht konnte, nach den Re-
geln des Civilrechts, den juriſtiſchen Perſonen aus for-
mellen Gründen nicht mitgetheilt werden; als man es ih-
nen aber durch eine ganz poſitive Ausnahme von jenen
Regeln zugänglich gemacht hatte, ſo wurde nun auch das
patronatiſche Inteſtaterbrecht, als eine nothwendige Folge
des Patronats ſelbſt, unbedenklich anerkannt: zuerſt bey
den Städten, dann auch bey den übrigen juriſtiſchen Per-
ſonen (§ 91. e). — Außerdem bekamen manche Arten der
Corporationen das beſondere Privilegium, ihre eigenen
Mitglieder beerben zu duͤrfen, jedoch nur in Ermanglung
aller anderen Erben, alſo nur in dem Fall, in welchem
außerdem der Fiscus eingetreten ſeyn würde (a).
B. Teſtamentariſche hereditas. Dieſe war ſelbſt
(a) Dirkſen S. 99.
|0315 : 301|
§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
für Stadtgemeinden, um ſo mehr alſo für andere juriſti-
ſche Perſonen unmöglich. Der Grund dieſer Unmöglichkeit
wird von Ulpian darin geſetzt, daß die Erwerbung der
Erbſchaft nur durch perſönliches Wollen und Handeln des
Erben moͤglich ſey, welches bey der juriſtiſchen Perſon,
die nicht als menſchliches Individuum, ſondern nur als
eine juriſtiſche Fiction exiſtire, nicht vorkommen könne (b).
(b) Plinius epist. V. 7. „Nec
heredem institui nec praecipere
posse rempublicam constat.“ —
Beſonders aber Ulpian. XXII. § 5.
„Nec municipia, nec municipes
heredes institui possunt: quo-
niam incertum corpus est, ut
neque cernere universi, neque
pro herede gerere possint, ut
heredes fiant.“ Über die Worte
Nec municipia nec municipes
ſ. oben § 87. c. Die folgenden
Worte ſind ſo zu verſtehen: Sollte
eine Stadtgemeinde eine heredi-
tas erwerben, ſo müßte das ent-
weder durch Vertretung geſche-
hen, oder durch eigene Hand-
lung; Vertretung aber iſt bey
dem Erwerb einer hereditas über-
haupt nicht zulaſſig, ſelbſt nicht
durch einen Tutor (L. 65 § 3 ad
Sc. Treb. 36. 1., L 5 C. de j. de-
lib. 6. 30); eigenes Handeln aber
iſt für eine Stadt unmöglich, weil
ſie überhaurt nur eine fingirte
oder ideale Exiſtenz hat, alſo nicht
die natürliche Handlungsfähigkeit
eines Menſchen (quoniam incer-
tum corpus est), ſo daß die zum
Erwerb der hereditas nöthigen
Handlungen (cernere oder ge-
rere) von ihr als einer ſolchen
idealen Einheit (universi) nicht
vollbracht werden können. (Über
dieſe Erklärung des universi vgl.
§ 90. § 91. t und unten Note h).
— Gewöhnlich verſteht man das
incertum corpus von einer in-
certa persona, und das neque
.. universi .. possint von der Un-
möglichkeit, alle Bürger zu einem
ſolchen Zweck zuſammen zu brin-
gen. Dieſe Erklärung aber iſt
aus folgenden Gründen zu ver-
werfen. Erſtlich würde Ulpian
dann zwey Gründe als identiſch
behandeln, die doch in der That
ganz verſchieden wären. Zwey-
tens iſt es nicht richtig, Corpo-
rationen als incertae personae
anzuſehen (ſ u. Note q). Drit-
tens iſt auch die Unmöglichkeit,
alle einzelne Bürger zu einer ſol-
chen Handlung zuſammen zu brin-
gen, bey einer Stadt von mäßi-
gem Umfang gar nicht vorhan-
den, und bey einer bedeutenden
Erbſchaft würden ſie leicht Alle
erſcheinen, ohne daß auch nur
Einer fehlte.
|0316 : 302|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
— Ausnahmsweiſe erlaubte den Städten ein Senatuscon-
ſult, von ihren Freygelaſſenen zu Erben eingeſetzt zu wer-
den und dieſe hereditas (ohne Rückſicht auf die erwähnte
Bedenklichkeit) auch zu erwerben (c); es war dieſes nur
eine natürliche Entwicklung des für dieſen Fall zugelaſſe-
nen Inteſtaterbrechts, welches ohne die Zulaſſung der Erb-
einſetzung ganz inconſequent geblieben wäre. — Erſt K. Leo
erlaubte im J. 469 ganz allgemein, die Stadtgemeinden
zu Erben einzuſetzen (d).
Andere Corporationen (collegia, corpora) waren gleich-
falls der Erbeinſetzung in der Regel unfähig, und nur
einzelne unter ihnen waren durch individuelle Privilegien
für fähig erklärt worden (e). Eine allgemeine geſetzliche
Befähigung derſelben hat niemals ſtattgefunden. Dage-
gen muß auch bey ihnen, aus gleichem Grunde wie bey
den Städten, angenommen werden, daß ſie von ihren ei-
genen Freygelaſſenen zu Erben eingeſetzt werden durften,
ſobald ſie das Inteſtaterbrecht an deren Vermögen erlangt
hatten. — Wenn nun in den Digeſten bald von Städten,
bald von anderen Corporationen Fälle erwähnt werden, in
welchen ſie zu Erben rechtsgültig eingeſetzt, daneben aber
mit Legaten oder mit der fideicommiſſariſchen Reſtitution der
Erbſchaft belaſtet waren, ſo ſind dabey ſtets Teſtamente
der Freygelaſſenen ſolcher Corporationen voraus zu ſetzen (f).
(c) Ulpian. XXII. § 5, L. un.
§ 1 de libertis univers. (38. 3.).
(d) L. 12 C. de her. inst.
(6. 24.).
(e) L. 8 C. de her. inst. (6. 24.).
(f) Dahin gehören L. 66 § 7
de leg. 2 (31. un.), L. 6 § 4
L. 1 § 15 ad Sc. Treb. (36. 1.).
|0317 : 303|
§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
Ganz eben ſo bey den Göttern, die auch im Allgemei-
nen unfähig, durch ſpecielle Privilegien hie und da fähig
zur Erbſchaft waren (g). Bey ihnen wäre eine geſetzliche
Zulaſſung in ſpäterer Zeit ganz unmöglich geweſen, da
in Folge der Herrſchaft des Chriſtenthums die alten Göt-
ter ſelbſt aufgehoben wurden.
C. Bonorum Possessio. Bey ihr wurde dieſelbe
Schwierigkeit der Erwerbung angeregt wie bey der here-
ditas: ſie war aber hier leichter zu beſeitigen, indem die
bonorum possessio überhaupt auch durch Mittelsperſonen
erworben werden konnte, z. B. durch den Vormund, ohne
perſönliche Mitwirkung des Pupillen (h). Auch ſagen meh-
rere Stellen ausdrücklich, daß Städte und alle andere
Corporationen durchaus fähig ſeyen, eine bonorum pos-
sessio zu erwerben (i). Dadurch könnte man verleitet wer-
den anzunehmen, die ganze Unfähigkeit der juriſtiſchen Per-
ſonen zur Erbeinſetzung ſey durch die Einführung der bo-
Die letzte unter dieſen Stellen
enthält wieder eine merkwürdige
Beſtätigung der Regel, daß die
Rechte der Corporationen ihre ein-
zelnen Mitglieder gar Nichts an-
gehen; es wird darin geſagt, daß
die zur Erbin eingeſetzte Corpo-
ration gültig verpflichtet werden
könne, die Erbſchaft als Fidei-
commiß an eines ihrer Mitglie-
der zu reſtituiren.
(g) Ulpian. XXII. § 6.
(h) Dieſer Unterſchied zwiſchen
hereditas und bonorum posses-
sio iſt ſcharf bezeichnet in L. 65
§ 3 ad Sc. Treb. (36. 1.). Daß
man aber auch hier zuerſt daſſelbe
Bedenken fand, wie bey der he-
reditas, ſagt deutlich L. un. § 1
de libertis univers. (38. 3.) „mo-
vet enim, quod consentire non
possunt.“ Über die Bedeutung
dieſer Worte vergl. die ganz ähn-
lichen Stellen in § 91. t und § 93.
b, in welchen nur noch dabey ſteht:
universi .. non possunt aber
ganz in demſelben Sinn wie hier
ohne universi. Vgl. oben § 90.
(i) L. 3 § 4 de bon. poss. (37.1.).
|0318 : 304|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
norum possessio praktiſch beſeitigt worden, indem nun
die eingeſetzte Corporation nur nöthig gehabt habe, die
bonorum possessio zu agnoſciren; Ulpians Grund gegen
die Erbeinſetzung der Städte (Note b) ſcheint dieſer Mey-
nung günſtig zu ſeyn. Dennoch muß dieſelbe gänzlich ver-
worfen werden. Denn er ſagt ganz beſtimmt: Nec mu-
nicipia, nec municipes heredes institui possunt. Dieſer
unbedingte Ausſpruch iſt mit der Aufrechthaltung der Erb-
einſetzung durch bonorum possessio unvereinbar; um ſo
mehr, als er ſelbſt die Ausnahme der Teſtamente ihrer
Freygelaſſenen, und die mögliche Umgehung des Verbots
durch Fideicommiß, ſogleich hinzufügt, ohne die bonorum
possessio zu erwähnen, die hier unmöglich verſchwiegen
werden konnte, wenn ſie überhaupt gegen das Verbot hätte
helfen können. Auch wäre ſonſt die Aufhebung des Ver-
bots durch K. Leo praktiſch ganz überflüſſig geweſen. In
der That alſo wollte Ulpian nur den Grund ausdrücken,
welcher urſprünglich allein ſchon jene Erbeinſetzung ver-
hindern mußte, ohne darum dieſen Grund ſchlechthin für
den einzigen ausgeben zu wollen. Daher ſind jene Stel-
len, welche den Corporationen die bonorum possessio ge-
ſtatten (Note i), im Sinn ihrer Verfaſſer nur unter Vor-
ausſetzung eines überhaupt begründeten Erbrechts zu ver-
ſtehen, alſo unter Vorausſetzung der geſetzlichen oder teſta-
mentariſchen Erbfolge in das Vermögen eines Freyge-
laſſenen dieſer Corporation. Durch dieſe Erklärung wer-
den alle jene ſcheinbar widerſprechende Stellen voͤllig ver-
|0319 : 305|
§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
einigt, und ſie findet ihre Beſtätigung noch darin, daß
eine der angeführten Stellen die zuläſſige bonorum pos-
sessio der Corporationen ausdrücklich in Verbindung ſetzt
mit der Verlaſſenſchaft eines Freygelaſſenen (k). Seit der
Verordnung des K. Leo (Note d) kann übrigens bei Städ-
ten von dieſer Beſchränkung nicht mehr die Rede ſeyn.
D. Legate (mit Einſchluß der Singularfideicommiſſe).
Auch dieſe konnten lange Zeit nicht an juriſtiſche Perſo-
nen gegeben werden, obgleich hier durchaus kein Hinder-
niß in der Form der Erwerbung im Wege ſtand. — Spä-
terhin wurden Städte für fähig erklärt, Legate zu erwer-
ben (l). Dann auch Collegia und Tempel (m). Ein be-
(k) L. un. § 1 de libertis univ.
(38. 3.).
(l) Zuerſt von Nerva, dann
vollſtändiger von Hadrian. Ul-
pian. XXIV. § 28, L. 117. 122
pr. de leg. 1 (30. un.). Eine An-
wendung dieſer Fähigkeit bey Ga-
jus II. § 195. Vergl. auch noch
L. 32 § 2 de leg. 1, L. 77 § 3
de leg. 2, L. 5 pr. de leg. 3,
L. 6 L. 21 § 3 L. 24 de ann.
leg. (33. 1), L. 20 § 1 de alim.
(34. 1.), L. 6 § 2 de auro (34.
2.), L. 8 de usu leg. (33. 2),
L. 2 de reb. dub. (34. 5.). —
Plinius ſagt allerdings: nec prae-
cipere posse rempublicam con-
stat (Note b), und dieſer lebte
nach Nerva. Am einfachſten iſt
es, ſeine Stelle buchſtäblich zu
nehmen, von einem praeceptio-
nis legatum, welches freylich da-
mals einer Stadt nicht gegeben
werden konnte, da es mit der ihr
verſagten heredis institutio un-
zertrennlich verbunden war. Dirk-
ſen S. 134 verwirft dieſe Erklä-
rung (ohne Gründe), und erklärt
die Stelle des Plinius aus der
Unzulänglichkeit der Verordnung
von Nerva.
(m) L. 20 de reb. dub. (34. 5.).
Senatusconſult unter Marcus, in
Beziehung auf alle erlaubte Col-
legien. — Anwendung auf die De-
curionen einer beſtimmten Stadt.
L. 23 de ann. leg. (33. 1.). Auf
das Collegium eines Tempels.
L. 38 § 6 de leg. 3. — Eben ſo
auch Legate an Tempel ſelbſt ge-
ſtattet. L. 20 § 1 de ann. leg.
(33. 1.), L. 38 § 2 de auro
(34. 2.).
II. 20
|0320 : 306|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſonderes Reſcript geſtattete dieſen Erwerb auch den Dör-
fern (n). Man kann daher wohl dieſe Fähigkeit nun all-
gemein allen juriſtiſchen Perſonen zuſchreiben. — Die Aus-
drücke der angeführten Stellen, und namentlich die des
Ulpian (Note l), ſind ſo allgemein, daß die frühere Un-
fähigkeit auf alle Arten von Legaten bezogen werden muß,
und nicht etwa auf das vindicationis legatum beſchränkt
werden darf. Allerdings kommen ſchon frühe gültige Le-
gate an das Römiſche Volk vor, allein deren Gültigkeit
iſt nicht aus der dabey gewählten Form per damnationem
zu erklären (die dann auch bey anderen Legataren gültig
geweſen wäre), ſondern daraus, daß überhaupt das Ära-
rium in ſeinen Erwerbungen mehr adminiſtrativ verfuhr,
ohne durch beſchränkende Regeln des ſtrengen Civilrechts
gebunden zu ſeyn. Eben ſo, und aus demſelben Grunde,
wurde es auch für gültig gehalten, wenn mehrmals das
Römiſche Volk von Königen zum Erben eingeſetzt wurde (o).
E. Fideicommiſſe. Den Städten wurde durch ein
beſonderes Senatusconſult geſtattet, Erbſchaften durch fidei-
commiſſariſche Reſtitution zu erwerben (p). Gültige Fidei-
(n) L. 73 § 1 de leg. 1 (30. un.).
Reſcript von Marcus.
(o) Dirkſen S. 135 nimmt
an, per damnationem ſeyen alle
Legate an Städte von jeher gül-
tig geweſen, und erklärt daraus
die Gültigkeit vieler Legate an
den Römiſchen Staat. Jedoch bey
den Erbeinſetzungen des Römi-
ſchen Staats durch verſchiedene
Könige nimmt auch er an, dieſe
ſeyen unabhängig von den Re-
geln des jus civile geweſen, und
nach jus gentium beurtheilt wor-
den. Ich erkläre die Gültigkeit
dieſer Erbeinſetzungen wie jener
Legate, ohne Rückſicht auf die Ci-
vität oder Peregrinität der Te-
ſtatoren, lediglich aus der ganz
eigenthümlichen Stellung des po-
pulus (§ 101).
(p) Ulpian. XXII. § 5, L. un.
|0321 : 307|
§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
commiſſe zum Vortheil von Prieſtercollegien ſind ſchon
oben (§ 88. a und 88. bb) erwähnt worden.
Alle dieſe Beſchraͤnkungen der Erbfähigkeit juriſtiſcher
Perſonen werden von mehreren neueren Schriftſtellern auf
den Grundſatz zurückgeführt, nach welchem vor Juſtinian
jede incerta persona unfähig war, Erbſchaften oder Le-
gate zu bekommen; dieſe Ableitung aber kann nicht als
richtig angenommen werden. Incerta heißt diejenige Per-
ſon, welche der Erblaſſer gar nicht als eine individuell
beſtimmte denkt, ſondern nur durch eine allgemeine Eigen-
ſchaft bezeichnet, welche zufällig den verſchiedenſten Indi-
viduen zukommen kann (q). Dieſer Begriff paßt durchaus
nicht auf die juriſtiſche Perſon, die ja der Teſtator in be-
ſtimmter Individualität kennt und denkt, ohne dabey dem
Zufall irgend Etwas zu überlaſſen. Anders würde es
ſeyn, wenn z. B. ein Legat ſämmtlichen einzelnen Bürgern
hinterlaſſen wäre, die zur Zeit des Todes zu dieſer Stadt
gehören würden: dieſes wären in der That incertae per-
sonae, weil der Erblaſſer nicht wiſſen kann, wer bey ſei-
nem Tod Bürger jener Stadt ſeyn wird. Aber gerade
dieſer Fall kam nicht leicht vor; denn waren im Teſta-
ment als Legatare die municipes genannt, ſo hieß das
von ſelbſt ſo viel als municipium (§ 87. b); eben ſo
wurde ein den cives einer Stadt angewieſenes Legat ſo
§ 1 de libertis univ. (38. 3.),
L. 26. 27 pr. ad Sc. Treb. (36. 1.).
(q) So z. B. wenn die zwey
Perſonen zu Erben oder zu Le-
gataren ernannt werden, auf wel-
che die erſte Conſulnwahl nach
Abfaſſung des Teſtaments fallen
wird. § 25 J. de legatis (2. 20.).
20*
|0322 : 308|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
interpretirt, als wäre es der civitas hinterlaſſen (r). Ver-
anlaſſung zu der hier widerlegten Meynung hat ein Aus-
druck Ulpians gegeben, der aber in der That einen ande-
ren Sinn hat, und nicht von der incerta persona ver-
ſtanden werden darf (Note b).
Die bisher aufgeſtellten Regeln über die Erbfähigkeit
bezogen ſich auf diejenigen juriſtiſchen Perſonen, welche
ſchon den alten Juriſten bekannt waren. Sobald aber
das Chriſtenthum herrſchend wurde, traten für die kirch-
lichen Stiftungen im weiteſten Sinn (pia corpora) ganz
neue Grundſätze ein. Ihnen allen ſollten jetzt Erbſchaften
und Legate auf die freyeſte Weiſe zugewendet werden dür-
fen. Ja nicht blos auf wahre juriſtiſche Perſonen be-
ſchränkte ſich dieſe neu geſtattete Freyheit in der Verfü-
gung durch letzten Willen, ſondern es ſollte auch Alles
gültig ſeyn, was zu frommen und milden Zwecken ange-
wieſen wäre, ohne durch die damals noch geltende Be-
ſchränkung der incertae personae gehindert zu ſeyn. Wenn
z. B. Jemand den Armen ſeiner Stadt ein Legat ausſetzt,
ſo geht das auf die zur Zeit des Todes vorhandenen Ar-
men; dieſe bilden gewiß keine Corporation, ſie ſind wahre
incertae personae, dennoch wurde das Legat als gültig
anerkannt, und zwar lange vor Juſtinians neuer Beſtim-
mung über die incertae personae (s). — Das canoniſche
(r) L. 2 de rebus dub. (34. 5.).
(s) L. 1. 26 C. de SS. eccl.
(1. 2.), L. 24. 49 C. de episc.
(1. 3.).
|0323 : 309|
§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
Recht hat dieſe günſtigen Beſtimmungen der chriſtlichen
Kaiſer nicht blos beſtätigt, ſondern noch auf mancherley
Weiſe erweitert, indem es die Teſtamente dieſes Inhalts
von manchen außerdem geltenden geſetzlichen Beſchränkun-
gen befreyt, und dadurch ſehr erleichtert hat (t). Neuere
Geſetzgebungen haben nicht ſelten die Erwerbungen der
todten Hand wieder beſchränkt; allein dieſe aus politiſchen
und ſtaatswirthſchaftlichen Gründen entſprungenen Be-
ſchränkungen ſind niemals Beſtandtheile des gemeinen
Rechts geworden.
(t) G. L. Böhmer princ. j. canon. § 615. Eichhorn Kirchenrecht
B. 2 S. 765.
|0324 : 310|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 94.
Juriſtiſche Perſonen. — Rechte (Fortſetzung.)
VI. Criminalrecht und Obligationen aus
Delicten.
Die Frage, ob juriſtiſche Perſonen Verbrechen begehen
und Strafen erleiden können, iſt von jeher ſehr beſtritten
geweſen.
Mehrere haben die Frage aus dem Grunde verneint (a),
weil die juriſtiſche Perſon nur ein künſtliches Daſeyn durch
Privilegium des Landesherrn habe, welches aber nur für
erlaubte Zwecke gegeben ſey; wenn ſie daher ein Verbre-
chen begehe, ſo ſey ſie in dieſem Augenblick gar nicht ju-
riſtiſche Perſon, könne alſo auch nicht als ſolche einer
Strafe unterworfen werden.
Andere bejahen die Frage, indem ſie von einer abſo-
luten Rechts- und Willensfähigkeit der juriſtiſchen Perſon
ausgehen, welche für dieſen einzelnen Fall durch keine po-
ſitive Ausnahme beſchränkt ſey (b). Freylich giebt man
(a) Dahin gehören von neueren
Schriftſtellern beſonders Zacha-
riae l. c. p. 88. Haubold l. c.
C. 4 § 15. Feuerbach Crimi-
nalrecht § 28 ed. 12.
(b) Stieber zu Haubold opus-
cula Vol. 2 p. LXXIII. Müh-
lenbruch I. §. 197. Sintenis de
delictis et poenis universitatum
Servestae 1825. Dieſer letzte
nimmt jedoch Verbrechen der Cor-
porationen nur in den mit ihren
wahren Zwecken zuſammenhän-
genden Geſchäften an, z. B. wenn
eine Stadt das Münzrecht hat,
und dieſes durch Beſchluß von ⅔
ihrer Mitglieder zum Falſchmün-
zen misbraucht wird (p. 28. 32).
Dieſe Einſchränkung ſcheint ganz
inconſequent, denn wenn über-
|0325 : 311|
§. 94. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
zu, daß manche Verbrechen und manche Strafen ausge-
ſchloſſen bleiben müßten; denn es wird doch Niemand eine
Stadt des Ehebruchs, oder ein Hoſpital der Bigamie be-
ſchuldigen wollen; eben ſo würde bey einer Dorfgemeinde
die Strafe der Landesverweiſung, bey einer Kirche oder
einem Armenhaus die Gefängnißſtrafe, unüberſteigliche
Schwierigkeiten haben; weniger Schwierigkeit macht die
Todesſtrafe, welche hier in der Geſtalt der Vernichtung
der juriſtiſchen Perſon angewendet werden koͤnnte. — Allein
es iſt mit Recht bemerkt worden, daß ſolche Ausnahmen
möglicher Anwendung die Anwendung nicht im Allgemei-
nen ausſchließen können.
Gegen den für die erſte Meynung angeführten Grund
iſt mit Recht eingewendet worden, daß er zu viel beweiſe.
Denn auch wenn ein einzelner Fremder in den Staat auf-
genommen wird und in dem Unterthaneneid Gehorſam ge-
gen die Geſetze verſpricht, verletzt er durch jedes Verbre-
chen die Bedingung ſeiner Aufnahme; dennoch verliert er
dadurch nicht ſeine Perſoͤnlichkeit und am wenigſten ſeine
Straffähigkeit. Ja man könnte aus jenem ſtreng durch-
geführten Grunde ſogar folgern, daß eine juriſtiſche Per-
ſon überhaupt nicht verklagt werden könne, weil jede Klage
in dem Beklagten eine Rechtsverletzung vorausſetzt, auf
welche aber (nach Jenen) das Exiſtenzprivilegium der ju-
haupt der Wille der ⅔ dieſe ver-
pflichtende Kraft hat, ſo iſt nicht
einzuſehen, warum nicht die Stadt
als Dieb oder Räuber beſtraft
werden ſollte, wenn die ⅔ be-
ſchließen, zum Vortheil der Stadt-
kaſſe zu ſtehlen und zu rauben.
|0326 : 312|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
riſtiſchen Perſon nicht gerichtet iſt. Dennoch iſt dieſe Mey-
nung die wahre, und ſelbſt der eben beſtrittene Grund hat
nur ein falſches Element in die richtige Anſicht einge-
miſcht. Die Richtigkeit dieſer Meynung ergiebt ſich aus
dem Weſen des Criminalrechts, zuſammen gehalten mit
dem Weſen der juriſtiſchen Perſonen.
Das Criminalrecht hat zu thun mit dem natürlichen
Menſchen, als einem denkenden, wollenden, fühlenden We-
ſen. Die juriſtiſche Perſon aber iſt kein ſolches, ſondern
nur ein Vermoͤgen habendes Weſen, liegt alſo ganz au-
ßer dem Bereich des Criminalrechts. Ihr reales Daſeyn
beruht auf dem vertretenden Willen beſtimmter einzelner
Menſchen, der ihr, in Folge einer Fiction, als ihr eige-
ner Wille angerechnet wird. Eine ſolche Vertretung aber,
ohne eigenes Wollen, kann überall nur im Civilrecht, nie
im Criminalrecht, beachtet werden.
Damit ſteht nicht im Widerſpruch die Fähigkeit der
juriſtiſchen Perſonen, verklagt zu werden, da doch jede
Klage eine Rechtsverletzung vorausſetzt. Denn dieſe, die
Klage bedingende Verletzung, hat eine blos materielle Na-
tur, und iſt in den meiſten und wichtigſten Anwendungen
ganz unabhängig von der Geſinnung. Die dem Civilrecht
angehörenden Klagen ſind nur dazu da, die wahren Grän-
zen der individuellen Rechtsverhältniſſe zu erhalten oder
durch Ausgleichung herzuſtellen; eine ſolche Einwirkung
aber iſt bey dem Vermoͤgen der juriſtiſchen, wie der na-
türlichen Perſonen gleich möglich, ja überall unentbehrlich,
|0327 : 313|
§. 94. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
wo nur ein Vermögen angenommen werden ſoll. — Eben
ſo iſt es nicht inconſequent (wie man wohl behauptet hat)
anzunehmen, daß eine juriſtiſche Perſon zwar kein Ver-
brechen begehen, wohl aber durch das Verbrechen eines
Andern verletzt werden könne; denn zu dieſer Verletzbar-
keit iſt ſchon das Daſeyn eines Vermögens hinreichend,
welches bey der juriſtiſchen Perſon keinen Zweifel hat:
Denken und Wollen des Inhabers iſt dabey gleichgültig.
Ja ſelbſt die gegen eine juriſtiſche Perſon mögliche In-
jurie iſt kein Einwurf, da dieſe nur an die verletzte Per-
ſönlichkeit, nicht gerade an die verletzte Empfindung, ge-
knüpft iſt.
Alles, was man als Verbrechen der juriſtiſchen Per-
ſonen anſieht, iſt ſtets nur das Verbrechen ihrer Mitglie-
der oder Vorſteher, alſo einzelner Menſchen oder natürli-
cher Perſonen; auch iſt es dabey ganz gleichgültig, ob
etwa das Corporationsverhältniß Beweggrund und Zweck
des Verbrechens geweſen ſeyn mag. Wenn daher der Be-
amte einer Stadt aus verkehrtem Eifer Geld ſtiehlt, um
die Roth der Stadtkaſſe zu erleichtern, ſo iſt darum nicht
weniger er perſönlich ein Dieb. Wollte man nun irgend
ein Verbrechen an der juriſtiſchen Perſon beſtrafen, ſo
würde dadurch ein Grundprincip des Criminalrechts, die
Identität des Verbrechers und des Beſtraften, verletzt
werden.
Der Irrthum Derjenigen, welche ein Verbrechen juri-
ſtiſcher Perſonen für möglich halten, hat eine zwiefache
|0328 : 314|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Wurzel. Die erſte Wurzel beſteht in der leeren Abſtraction
einer abſoluten Willensfähigkeit, die bey ihnen ganz ohne
Grund angenommen wird. Ihre fingirte Willensfähigkeit
gilt nur in den durch ihren Begriff beſtimmten engen Grän-
zen, das heißt nur ſo weit ſie nöthig iſt, um ſie an dem
Verkehr im Vermögen Theil nehmen zu laſſen (§ 85);
dazu iſt die Fähigkeit zu Verträgen, Traditionen u. ſ. w.
ganz unentbehrlich, das Begehen von Verbrechen iſt dazu
ſo wenig nöthig, daß vielmehr der ganze Verkehr im Ver-
moͤgen weit fruchtbarer wäre, wenn gar keine Verbrechen
begangen würden. Die irrige Annahme einer abſoluten
Rechts- und Willens-Fähigkeit läßt ſich auch noch von
einer andern Seite anſchaulich machen. Wäre ſie wahr,
ſo müßte ſie auch in der Erzeugung von Familienver-
hältniſſen wirkſam ſeyn; eine Zunft z. B. müßte durch
Adoption väterliche Gewalt über ein Krankenhaus erlan-
gen können. Daß dieſes nicht möglich iſt, folgt lediglich
daraus, daß das Familienverhältniß ganz außer den Grän-
zen des Gebiets liegt, für welches allein die Fiction der
juriſtiſchen Perſonen gemacht worden iſt. — Und hierin
liegt denn auch das wahre Element, welches dem oben
verworfenen, von manchen Schriftſtellern für die richtige
Meynung angegebenen Grund zugeſchrieben werden muß.
Die juriſtiſche Perſon (ſagen Jene) kann deswegen kein
Verbrechen begehen, weil ſie in der dazu nöthigen Thä-
tigkeit gar nicht mehr juriſtiſche Perſon iſt. Das iſt wahr,
aber nicht deswegen weil dieſe Thätigkeit unerlaubt, ſon-
|0329 : 315|
§. 94. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
dern weil ſie dem Begriff und der ausſchließenden Be-
ſtimmung der juriſtiſchen Perſon fremd iſt.
Die zweyte Wurzel jenes Irrthums liegt in der völli-
gen Verwechslung der juriſtiſchen Perſon mit ihren ein-
zelnen Mitgliedern, eine Verwechslung, welcher ſich das
Römiſche Recht in ſo vielen Anwendungen auf das Be-
ſtimmteſte widerſetzt (§ 86). Der Einfluß dieſer Verwechs-
lung auf jene falſche Meynung wird beſonders durch die
Wahrnehmung einleuchtend, daß man die Fähigkeit zu
Verbrechen doch nicht bey allen juriſtiſchen Perſonen durch-
führt; man behauptet ſie in der That nur bey Corpora-
tionen, nicht bey Stiftungen, wenngleich dieſer Unterſchied
nicht ausgeſprochen zu werden pflegt. Inconſequent iſt er
gewiß, denn wenn überhaupt juriſtiſche Perſonen Verbre-
chen begehen können, weil ſie allgemeine Willensfähigkeit
haben, ſo müſſen dazu auch Kirchen und Waiſenhäuſer,
vertreten durch ihre Vorſteher, fähig ſeyn. Dieſe Incon-
ſequenz aber erklärt ſich daraus, daß die Handlungen der
meiſten Bürger einer Stadt, oder aller Meiſter einer Zunft,
leicht dafür angeſehen werden können, als wäre es die
Stadt oder die Zunft welche handelte; oder mit anderen
Worten, ſie erklärt ſich aus der eben gerügten Verwechs-
lung der einzelnen Mitglieder mit der Corporation.
Folgende Vergleichung kann dazu dienen, die Wahr-
heit der aufgeſtellten Behauptungen noch anſchaulicher zu
machen. Wahnſinnige und Unmündige haben mit den ju-
riſtiſchen Perſonen die Ähnlichkeit, daß ſie rechtsfähig ſind,
|0330 : 316|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
daneben aber die natürliche Handlungsfähigkeit entbehren,
weshalb ihnen in der Perſon von Vertretern ein künſtli-
cher Wille verſchafft wird. Bey dieſen wie bey jenen iſt
völlig gleicher Grund vorhanden, einem ſolchen fingirten
Willen unbegränzte Ausdehnung zu geben, und alſo das
Verbrechen des Vormundes an dem Pupillen zu beſtrafen,
wenn er es in ſeiner Eigenſchaft als Vormund begeht, in-
dem er etwa zum Vortheil des Pupillen ſtiehlt oder be-
trügt. In dieſem Fall hat meines Wiſſens noch Niemand
die Möglichkeit eines Verbrechens durch Vertretung be-
hauptet; allein die Inconſequenz dieſer verſchiedenen Be-
handlung der juriſtiſchen Perſonen und der Unmündigen
iſt einleuchtend.
|0331 : 317|
§. 95. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
§. 95.
Juriſtiſche Perſonen. — Rechte. (Fortſetzung.)
Bisher war von Verbrechen und deren criminalrecht-
lichen Folgen die Rede. Ganz daſſelbe gilt aber auch von
den Obligationen aus Delicten, die wegen dieſer inneren
Verwandtſchaft oben, bey der allgemeinen Betrachtung der
Obligationen (§ 92), einſtweilen übergangen worden ſind.
Denn jedes wahre Delict ſetzt dolus oder culpa voraus,
mithin Geſinnung und Zurechnung, kann alſo bey juriſti-
ſchen Perſonen eben ſo wenig angenommen werden, als
bey Unmündigen und Wahnſinnigen. — Anders verhält
es ſich, wenn in Contractsverhältniſſen der juriſtiſchen
Perſon, ihres Stellvertreters Dolus oder Culpa in Be-
tracht kommt. Denn dieſes iſt eine von der Hauptobliga-
tion unzertrennliche Modification, wobey die Geſinnung
der juriſtiſchen Perſon eben ſo gleichgültig iſt, wie die ei-
ner phyſiſchen Perſon, deren Bevollmächtigter des Dolus
oder der Culpa in einem Contract ſich ſchuldig macht.
Nachdem nun für Verbrechen und Delicte mit ihren
Folgen die Unanwendbarkeit auf juriſtiſche Perſonen dar-
gethan worden iſt, muß noch bemerkt werden, daß aller-
dings bey Verbrechen und Delicten ihrer Vorſteher oder
Mitglieder eine zwiefache Rückwirkung auf ſie ſelbſt ein-
treten kann, welche leicht den Schein annimmt, als wür-
den ihnen die Verbrechen oder Delicte ſelbſt zugerechnet.
|0332 : 318|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Die Anerkennung ſolcher indirecten Einwirkungen wird
vielleicht dazu beytragen, die Wiederkehr falſcher Behaup-
tungen über dieſe Frage noch ſicherer zu verhüten.
Erſtlich kann bey ſolchen Corporationen, welche poli-
tiſcher Natur ſind (z. B. den Gemeinden) Etwas eintre-
ten, das einer Strafe ähnlich ſieht, und dennoch einen
weſentlich verſchiedenen Character hat. So ließe es ſich
denken, daß eine Stadt, in Folge einer Verrätherey ge-
gen den Feind, zerſtört würde und als Corporation ver-
ſchwände; oder auch, daß ſie nur gewiſſe Vorrechte oder
Ehrentitel verlöre. Eben ſo geſchieht es wohl, daß einem
Regiment im Kriege die Fahnen entzogen werden, bis es
ſie durch neue Auszeichnung wieder gewinnt. Allein die-
ſes ſind politiſche Akte, Handlungen der Regierungsge-
walt, nicht des Richters; ſie ſind dazu beſtimmt, auf
Schuldige und Fremde einen großen Eindruck zu machen,
und das Übel, welches ſie zufügen, wird faſt immer auch
unſchuldige Individuen treffen, wie es bey einer wahren,
vom Richter ausgeſprochenen, Strafe nie ſeyn könnte.
Sie haben alſo vielmehr eine ähnliche Natur wie die Auf-
hebung einer Corporation, wenn dieſelbe Anfangs geneh-
migt war, hinterher aber ſich als gemeinſchädlich zeigt
(§ 89); welches letzte ſogar geſchehen kann, ohne daß ir-
gend ein Verbrechen begangen worden iſt.
Zweytens ſteht neben der obligatio ex delicto oft eine
von ihr ganz verſchiedene obligatio ex re, ex eo quod ad
aliquem pervenit, und dieſe kann unſtreitig die juriſtiſche
|0333 : 319|
§. 95. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
Perſon eben ſowohl, als den Unmündigen, treffen. Wenn
alſo die Vorſteher in dem Geſchäft der Corporation einen
Betrug verüben, ſo ſind nur ſie ſelbſt aus dem dolus ver-
pflichtet; iſt aber die Kaſſe der Corporation durch den
Betrug bereichert, ſo muß ſie dieſen Gewinn herauszah-
len. — Eine ähnliche Bewandniß hat es mit den Prozeß-
ſtrafen, die eigentlich keine wahre Strafen, ſondern, gleich
den Prozeßkoſten und den Cautionen, weſentliche Beſtand-
theile des Prozeßmechanismus ſind. Dieſen muß ſich die
juriſtiſche Perſon unterwerfen, wenn ſie überhaupt an den
Vortheilen des Prozeßganges Theil nehmen will (a).
Uber die Frage, welche bis jetzt nur mit Rückſicht auf
die allgemeine Natur der juriſtiſchen Perſonen behandelt
worden iſt, ſollen nun auch ſpecielle Beſtimmungen des
poſitiven Rechts zuſammengeſtellt werden.
Das Römiſche Recht beſtätigt vollkommen die hier ent-
wickelten Grundſätze. Ganz beſtimmt ſpricht ſich eine Stelle
dahin aus, eine Stadtgemeinde könne nicht mit der doli
actio belangt werden, weil ſie des dolus ihrer Natur nach
unfähig ſey; ſey ſie durch Betrug ihrer Verwaltungsbe-
amten bereichert, ſo müſſe ſie dieſen Gewinn herausgeben;
die doli actio ſelbſt aber geht gegen die Einzelnen, die
den Betrug verübten, z. B. gegen die einzelnen Decurio-
nen (b). — Wenn Jemand den Beſitzer eines Grundſtücks
mit Gewalt herauswirft, und zwar im Namen einer Stadt-
(a) Haubold l. c., p. 604.
(b) L. 15 § 1 de dolo (4. 3.), ſ. o. § 87. g.
|0334 : 320|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
gemeinde, ſo geht gegen dieſe das Interdict de vi, voraus-
geſetzt daß ſie in Folge jener Handlung Etwas in ihrem
Beſitz hat (c). — Zweydeutiger ſind die Ausdrücke einer
anderen Stelle. Wenn Jemand durch Drohungen zu ei-
nem nachtheiligen Rechtsgeſchäft beſtimmt wird, ſo hat
dieſer eine actio quod metus causa zur Wiederherſtellung
ſeines früheren Zuſtandes. Nun ſagt Ulpian (in demſel-
ben Buch des Commentars über das Edict, worin er die
Unfähigkeit einer Corporation zum dolus behauptet), es
ſey einerley wer die Drohung verübe, ein Einzelner, oder
ein populus, curia, collegium, corpus; zur Beſtätigung
führt er aus ſeiner Praxis folgendes Beyſpiel an: die
Bürger von Capua hatten von einem Einzelnen irgend ein
ſchriftliches Verſprechen (cautio pollicitationis) erpreßt;
deshalb ſollte gegen die Stadt Capua Klage oder Excep-
tion gegeben werden, wie es der Gezwungene begehren
würde (d). Hier iſt es klar, daß die Corporation als
ſolche ſollte verklagt werden können, allein dieſes gründet
ſich darauf, daß die erwähnte Klage nicht blos gegen den
Zwingenden geht, ſondern auch gegen jeden dritten Be-
ſitzer, welcher in der Lage iſt, die Wiederherſtellung be-
wirken zu können (e). Ein ſolcher Dritter war hier die
Stadt Capua, weil ſie als Corporation durch die (wiewohl
(c) L. 4 de vi (43. 16.). „Si
vi me dejecerit quis nomine
municipum, in municipes mihi
Interdictum reddendum Pom-
ponius ait, si quid ad eos per-
venit.” Es iſt oben gezeigt wor-
den, daß der Ausdruck munici-
pes ſtets die Corporation als ſol-
che bezeichnet. § 87. b. c.
(d) L. 9 § 1. 3 quod metus
(4. 2.).
(e) L. 9 § 8 quod metus (4. 2.).
|0335 : 321|
§. 95. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
erzwungene) pollicitatio in der That eine ipso jure rechts-
gültige Forderung erworben hatte; der Gezwungene be-
durfte einer Exception, um ſich gegen die Klage der Stadt
zu ſchützen, einer Klage um von ſeiner Schuld ipso jure
frey zu werden (f). — Der beſtimmteſte Ausſpruch aber
findet ſich in einem Geſetz von Majorian, nach welchem
niemals eine Curie als Ganzes verurtheilt werden ſoll,
ſondern immer nur die ſtrafbaren einzelnen Mitglieder (f¹).
In der Römiſchen Geſchichte finden ſich nicht wenige
Beyſpiele von hart behandelten Stadtgemeinden. Das
merkwürdigſte derſelben iſt das der Stadt Capua, welche
im zweyten Puniſchen Kriege von Rom abgefallen war.
Nach ihrer Wiedereroberung wurden nicht nur die ange-
ſehenſten Bürger hingerichtet, ſondern der Stadt ſelbſt
wurde jede Spur ſtädtiſcher Verfaſſung gänzlich entzo-
gen (g). Augenſcheinlich war dieſes, wie alles Ähnliche
in der Römiſchen Geſchichte, eine blos politiſche Hand-
lung, keine Anwendung der Criminalgeſetze durch richter-
liche Gewalt.
Abweichend von den Grundſätzen des R. R. verordnete
(f) Über die Klagbarkeit der
Pollicitationen vgl. L. 1. 3. 4. 7
de pollicitat. (50. 12.). Daß ein
erzwungnes Verſprechen ipso jure
klagbar iſt, und nur per excep-
tionem entkräftet wird, darüber
vgl. § 1 J. de except. (4. 13.).
(f¹) Nov. Majoriani Tit. 7
(in Hugo’s Jus civile antejust.
p. 1386 § 11): „Nunquam curiae
a provinciarum rectoribus ge-
nerali condemnatione mulcten-
tur, cum utique hoc et aequi-
tas suadeat et regula juris an-
tiqui, ut noxa tantum caput
sequatur, ne propter unius for-
tasse delictum alii dispendiis
affligantur.”
(g) Livius Lib. 26 C. 16.
II. 21
|0336 : 322|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
K. Friedrich II., jede Gemeinde die ſich gegen eine Kirche
Erpreſſungen erlaube, ſolle den dreyfachen Werth vergü-
ten und in den Kirchenbann verfallen; bleibe dieſer ein
Jahr lang beſtehen, ſo falle ſie in des Kaiſers Bann (h).
Hier wird offenbar Verbrechen und Strafe auf die Cor-
poration als ſolche irrigerweiſe bezogen.
Das canoniſche Recht iſt ſich bey dieſer Frage nicht
gleich geblieben. P. Innocenz IV. ſtellte, übereinſtimmend
mit dem R. R., die Regel auf, der Kirchenbann ſolle nie
gegen eine Corporation als Ganzes, ſondern nur gegen
die ſtrafbaren einzelnen Mitglieder, gerichtet werden (i).
Später aber gieng P. Bonifaz VIII. davon wieder ab, in-
dem er in dem Fall einer einzelnen Art von Bedrückung
gegen Geiſtliche doch wieder den Corporationen als ſol-
chen das Interdict androhte (k).
Auch mehrere deutſche Reichsgeſetze enthalten Straf-
drohungen, welche an Corporationen als ſolche gerichtet
ſind: Geldſtrafen, und Verluſt der Freyheiten oder Privi-
legien (l). Es ſind aber darin lediglich Verbrechen gegen
die Sicherheit und Ruhe des Reichs bezeichnet, als Land-
friedensbruch und Conföderation oder Conſpiration. Eben
ſo werden darin Fürſten und Städte neben einander ge-
ſtellt. Es werden alſo auch in dieſen Geſetzen eigentlich
(h) Auth. Item nulla und Item
quaecunque C. de episc. (1. 3.).
(i) C. 5 de sent. excommu-
nicat. in VI. (5. 11.).
(k) C. 4 de censibus in VI.
(3. 20.)
(l) Aurea bulla C. 15 § 4. —
Landfriede von 1548 Tit. 2 Tit. 14
Tit. 29 § 4. — Kammergerichts-
ordnung von 1555 II. 10. § 1.
|0337 : 323|
§. 95. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)
nur politiſche Handlungen des Reichs gegen ſeine einzel-
nen Glieder angekündigt, wenngleich dieſe Handlungen, nach
der eigenthümlichen Verfaſſung des deutſchen Reichs, die
Form wirklicher Criminalſtrafen annahmen, und von den
Reichsgerichten als Strafen ausgeſprochen wurden. Auch
in dieſen Geſetzen alſo iſt über die Straffähigkeit der Cor-
porationen überhaupt, abgeſehen von jenem beſonderen
politiſchen Verhältniß, kein Ausſpruch enthalten.
Zu einer entſchiedenen Praxis endlich über die hier er-
örterte Frage iſt es in Deutſchland niemals gekommen.
Die meiſten und wichtigſten Fälle, welche in dieſer Art
vorgekommen ſind, tragen augenſcheinlich einen mehr po-
litiſchen als criminalrechtlichen Character an ſich, und be-
ſtätigen ganz das, was ſo eben über den Inhalt der hier
einſchlagenden Reichsgeſetze geſagt worden iſt (m).
(m) Fälle aus der Praxis finden ſich zuſammengeſtellt bey Sintenis
p. 60 sq.
21*
|0338 : 324|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 96.
Juriſtiſche Perſonen. — Verfaſſung.
Um den Begriff der juriſtiſchen Perſonen in das wirk-
liche Leben einzuführen, bedarf es für ſie einer regelmä-
ßigen Vertretung, wodurch die ihnen fehlende Handlungs-
fähigkeit künſtlich erſetzt werden muß, und zwar lediglich
zu dem Zweck, den Verkehr im Vermögen ihnen zugäng-
lich zu machen; dieſe Vertretung wird begründet durch
ihre Verfaſſung (§ 90). Da ſie aber ſtets auch noch an-
dere Beziehungen haben, und zwar ſolche, welche oft weit
wichtiger ſind als ihre privatrechtliche Perſönlichkeit, und
durch welche gleichfalls ſchon eine beſtimmte Verfaſſung
nöthig wird, ſo werden dann die Organe dieſer allgemei-
nen Verfaſſung zugleich zur Erfüllung jenes privatrechtli-
chen Zwecks hinreichen. — Bey den Römern konnte ein
Theil dieſer privatrechtlichen Vertretung auch noch auf ei-
nem anderen Wege bewirkt werden. Wenn nämlich eine
juriſtiſche Perſon auch nur einen einzigen Sklaven im Ei-
genthum hatte, ſo konnte ihr dieſer jedes Vermögensrecht
(Eigenthum und Schuldforderungen) ſchon nach den ſtren-
gen Regeln des alten Civilrechts erwerben (§ 65). Darauf
aber beſchränkte ſich dieſe Vertretung; ſie war nicht an-
wendbar auf Veräußerungen und Verpflichtungen, alſo
auch nicht auf die häufigſten und wichtigſten aller Rechts-
|0339 : 325|
§. 96. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung.
geſchäfte, welche (ſo wie der Kauf) aus gegenſeitigem
Geben und Nehmen beſtehen; ferner nicht auf gerichtliche
Geſchäfte aller Art; endlich nicht auf die obere Leitung
der Geſchäfte, ſondern nur auf ihre Vollziehung im Ein-
zelnen. Dennoch war dieſe Art der Vertretung von gro-
ßer Wichtigkeit, weil dadurch von jeher der unmittelbare
Erwerb des Eigenthums durch feyerliche Rechtsgeſchäfte
bewirkt werden konnte, welcher außerdem für dieſen Fall
ganz unmöglich geblieben wäre.
Bey der ungemeinen Verſchiedenheit der juriſtiſchen
Perſonen unter einander, würde es ein ganz fruchtloſes
Unternehmen ſeyn, poſitive Grundſätze der Verfaſſung auf-
ſtellen zu wollen, die für ſie gemeinſchaftlich anwendbar
wären. Nur dieſes läßt ſich allgemein behaupten, daß
dem Staate über ſie alle, aus gleichem Grunde wie bey
den Unmündigen, Schutz und Aufſicht zukommt. Für
manche derſelben beſchränkt ſich hierauf der Einfluß des
Staats, da außerdem ihr Daſeyn dem Staate nicht wich-
tiger iſt, als das Daſeyn jeder Vermögen habenden na-
türlichen Perſon; bey vielen aber tritt ein hoͤheres und
unmittelbares Staatsintereſſe hinzu, weil ſie für dauernde
allgemeine Zwecke zu wirken beſtimmt ſind, oder wohl gar
(wie die Gemeinden) die Grundbeſtandtheile des Staates
ſelbſt bilden. Dieſer zwiefache Einfluß des Staates auf
die juriſtiſchen Perſonen iſt aber entſchiedener und mannich-
faltiger in neuerer Zeit, als im Römiſchen Recht, ſeitdem
ſich überhaupt die centrale Gewalt mehr entwickelt und
|0340 : 326|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
befeſtigt hat (a). — Ganz verſchieden von dieſem poſitiven
Einfluß des Staats iſt der negative, der auf die Verhin-
derung ſchädlicher und gefährlicher Corporationen abzweckt.
Dieſes Beſtreben findet ſich im Römiſchen Recht ſogar
noch ſtärker und häufiger, als in der neueren Zeit, und
es iſt darüber ſchon oben (§ 88) geſchichtliche Nachricht
gegeben worden.
Nach dieſen allgemeinen Betrachtungen ſoll nunmehr
unterſucht werden, was das Römiſche Recht über die
Verfaſſung der juriſtiſchen Perſonen beſtimmt. Die Rö-
miſchen Juriſten hatten zu viel praktiſchen Sinn, um all-
gemeine Regeln hierüber aufzuſtellen, die bey der großen
Mannichfaltigkeit jener Perſonen doch nur ſehr beſchränkte
Anwendbarkeit gehabt haben würden. Was wir bey ihnen
finden, bezieht ſich gar nicht auf die juriſtiſchen Perſonen
überhaupt, ja nicht einmal auf alle Corporationen, ſon-
dern lediglich auf die Stadtgemeinden, d. h. urſprünglich
auf die Municipien und Colonieen in Italien, dann aber
auch auf die Provinzialſtädte. Die Italiſchen Städte nun
hatten, während der freyen Republik, Verfaſſungen die
der Römiſchen ſehr ähnlich waren: die öffentliche Gewalt
war, hier wie dort, getheilt unter die Volksverſammlung,
den Senat, und einzelne Obrigkeiten. Unter den Kaiſern
verſchwand bald die Volksgewalt gänzlich, alle Gewalt
concentrirte ſich in dem Senat (ordo oder curia), und
auch die Magiſtrate waren nur als Beſtandtheile deſſelben
(a) Eichhorn deutſches Privatrecht § 372.
|0341 : 327|
§. 96. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung.
anzuſehen (b): dadurch wurden zugleich die Städte in Ita-
lien den Provinzialſtädten immer ähnlicher. Dieſe neuere
Städteverfaſſung iſt es, welche ſchon zur Zeit der ausge-
bildeten Rechtswiſſenſchaft vorhanden war, und welche
uns in den Juſtinianiſchen Rechtsbüchern dargeſtellt wird.
— Die Grundzüge dieſer Verfaſſung ſind folgende. Alle
öffentliche Gewalt ruht in dem ordo, welcher aber nur
als verfaſſungsmäßig handelnd angeſehen wird, wenn we-
nigſtens zwey Drittheile ſeiner überhaupt vorhandenen Mit-
glieder verſammelt ſind. Sind alſo dieſe verſammelt, ſo
ſtellt eine ſolche Verſammlung den ganzen ordo vor, und
man ſoll nicht etwa die Anweſenheit einer noch größeren
Zahl, oder gar Aller, fordern, weil ſonſt die Verhinde-
rung mehrerer Decurionen alle Geſchäfte hemmen könnte;
fehlt es an jener Anzahl, ſo gilt die Verſammlung nicht
als ordo, und kann keine gültige Beſchlüſſe faſſen (c). In
jeder ſolchen geſetzmäßigen Verſammlung aber entſcheidet
die Stimmenmehrheit unter den Anweſenden (d). Dieſe
(b) Savigny Geſchichte des
Römiſchen Rechts im Mittelalter
B. 1 § 8. 87.
(c) L. 2. 3 de decretis ab or-
dine faciendis (50. 9.). „Illa
decreta, quae non legitimo nu-
mero decurionum coacto facta
sunt, non valent.” — „Lege
autem municipali cavetur, ut
ordo non aliter habeatur, quam
duabus partibus adhibitis.” —
L. 46 C. de decur. (10. 31.) (d. h.
L. 142 C. Th. de decur. 12. 1.)
„.. ne paucorum absentia ..
debilitet, quod a majore parte
ordinis salubriter fuerit consti-
tutum: cum duae partes or-
dinis in urbe positae, totius
curiae instar exhibeant.” In
dieſen letzten Worten iſt ganz un-
zweydeutig geſagt, daß jede Ver-
ſammlung von ⅔ aller Mitglie-
der, für die ganze Curie, den
ganzen ordo, angeſehen wer-
den ſolle.
(d) L. 46 C. de decur. (Note b)
|0342 : 328|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Regel, die in den angeführten Stellen von öffentlichen
Stadtgeſchäften überhaupt aufgeſtellt wird, gilt insbeſon-
dere auch von der Wahl eines actor, der vor Gericht für
die Stadt auftreten ſoll: auch dazu iſt noͤthig die Anwe-
ſenheit von wenigſtens zwey Drittheilen der Decurionen,
und die Wahl wird durch die Stimmenmehrheit unter die-
ſen Anweſenden entſchieden (e).
„a majore parte ordinis” L. 19
ad municip. (50. 1.). „Quod
major pars curiae effecit, pro
eo habetur, ac si omnes ege-
rint.” (Curia aber heißt, nach
Note b, eine Verſammlung von
wenigſtens ⅔ aller Mitglieder). —
L. 2. 3 C. de praed. decur. (10.
33.), „totius vel majoris partis
intercedente decreto,” „curia-
lium vel majoris partis curiae.”
L. 19 pr. de tutor. et curat.
(26. 5.). „Ubi absunt hi qui
tutores dare possunt, decurio-
nes jubentur dare tutores: dum-
modo major pars conveniat” etc.
Das conveniat iſt zweydeutig; es
könnte im materiellen Sinn ge-
nommen werden (für zuſammen-
kommen), dann würde es mit der
Regel der ⅔ (Note b) im Wider-
ſpruch ſtehen: daher muß es in
dem eben ſo gewöhnlichen tropi-
ſchen Sinn genommen werden
(für übereinkommen), und iſt
dann wieder nur die Regel der
Entſcheidung durch Stimmen-
mehrheit.
(e) L. 3. 4 quod cuj. un. (3. 4.)
. nisi .. ordo dedit, cum duae
partes adessent, aut amplius
quam duae.” Auch hier wieder
gilt der ganze ordo als handelnd,
wenn eine Verſammlung von ⅔
thätig iſt. Neuerlich iſt die Vor-
ſchrift der ⅔ für alle Verſamm-
lungen der Decurionen ſo gedeu-
tet worden, als hätte der Beſchluß
gefaßt werden müſſen von der
Mehrzahl — nicht der Anweſen-
den in dieſer Verſammlung, ſon-
dern — aller Decurionen über-
haupt, woneben alſo die noth-
wendige Anweſenheit der ⅔ nur
eine unnütze Erſchwerung gewe-
ſen wäre. (Lotz a. a. O., S. 115
— 120). Dieſer Annahme wider-
ſprechen ſchon die Worte der an-
geführten Stellen; außerdem aber
iſt zu bedenken, daß hier von ei-
nem Geſchäftscollegium die Rede
iſt, und zugleich von Gegenſtän-
den laufender Verwaltung, die
in irgend einer Art abgemacht
werden mußten: dabey iſt eine
andere Majorität als die der ge-
rade anweſenden Verſammlung
eben ſo fremdartig und unnatür-
lich, wie ſie es z. B. in unſren
Juſtizcollegien ſeyn würde.
|0343 : 329|
§. 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
§. 97.
Juriſtiſche Perſonen. — Verfaſſung. (Fortſetzung.)
Neuere Schriftſteller haben über die Verfaſſung der
Corporationen (nicht der juriſtiſchen Perſonen überhaupt)
folgende allgemeine Grundſätze aufgeſtellt.
Die Corporation beſteht aus der Totalität aller vor-
handenen Mitglieder. Als Wille der Corporation aber
gilt nicht blos der’ übereinſtimmende Wille aller Mitglie-
der, ſondern auch ſchon der Wille ihrer Mehrzahl: daher
muß der Wille der Majorität aller vorhandenen Mitglie-
der als das eigentliche Subject der Corporationsrechte an-
geſehen werden. Dieſe Regel iſt gegründet im Naturrecht,
weil, wenn man Einſtimmigkeit fordern wollte, ein Wol-
len und Handeln der Corporation ganz unmöglich ſeyn
würde. Sie wird aber auch beſtätigt durch das Römiſche
Recht; zum Beweis dieſes letzten Satzes werden dann die
Stellen über die Stimmenmehrheit unter den Decurionen
angeführt (a).
Dieſer allgemeine, im Naturrecht begründete, und im
Römiſchen Recht anerkannte Grundſatz (ſagt man) wird
nun noch modificirt und für die Anwendung erleichtert
durch eine ganz poſitive Beſtimmung des Römiſchen Rechts.
(a) Zachariae p. 63. 64. Thi-
baut a. a. O. S. 389. 390, und:
Pandektenrecht § 132. Haubold
C. 3 § 2. — Eine einzelne An-
wendung dieſer Sätze auf den
gerichtlichen Eid iſt ſchon oben
(§ 92. o) vorgekommen.
|0344 : 330|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Nach dieſer wird nämlich nicht die Übereinſtimmung der
Mehrheit aller Mitglieder erfordert, ſondern nur derjeni-
gen, die ſich in einer gehörig berufenen Verſammlung ein-
finden: vorausgeſetzt nur, daß dieſe Anweſenden nicht we-
niger als zwey Drittheile aller Mitglieder überhaupt aus-
machen (b).
Indem jetzt dieſe Lehre geprüft werden ſoll, iſt es nö-
thig mit demjenigen Theil derſelben anzufangen, dem eine
relative Wahrheit zugegeben werden kann, nämlich der be-
haupteten Kraft der Stimmenmehrheit. Überall, wo der
Wille einer Verſammlung zu entſcheiden hat, iſt Einſtim-
migkeit zu erreichen zwar nicht unmöglich (denn bey den
Engliſchen Geſchwornen z. B. wird ſie gefordert und er-
reicht), aber doch ſo ſchwierig und ſo von Zufällen ab-
hängig, daß die lebendige Wirkſamkeit der Verſammlung
dadurch ungemein gehemmt werden muß, und daß es als
räthlich und zweckmäßig anzuſehen iſt, die Macht des ge-
meinſamen Willens auch ſchon irgend einer Mehrheit bey-
zulegen. Soll aber dieſes geſchehen, ſo iſt es dann das
Einfachſte und Natürlichſte, die einfache Mehrheit, das
heißt jede, die reine Hälfte überſteigende, Mehrheit, als
Träger des gemeinſamen Willens anzuerkennen, indem jede
andere Quote, z. B. ¾ oder 6/7, einen ſo willkührlichen
Character hat, daß es ohne poſitive Beſtimmung niemals
zu einer allgemeinen Anerkennung kommen wird. So be-
trachtet die Sache auch das Römiſche Recht, indem es
(b) Thibaut Pandektenrecht § 131. Mühlenbruch § 197.
|0345 : 331|
§. 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
nicht blos in der Decurionenverſammlung die Stimmen-
mehrheit entſcheiden läßt (§ 96), ſondern auch in der Ver-
ſammlung der Provinzialen (c); ja es findet ſich ſogar
eine Stelle, welche die Kraft der Stimmenmehrheit als
ein abſtractes Princip für alle denkbaren Fälle auszuſpre-
chen ſcheint, wenngleich der urſpüngliche Zuſammenhang
der Stelle vielleicht keinen Zweifel darüber laſſen mochte,
daß dem Verfaſſer nur irgend eine einzelne Anwendung
vor Augen ſtand (d).
Allein mehr als dieſe partielle Wahrheit können wir
jener Lehre nicht einräumen, und es iſt damit für ihre
Wahrheit im Ganzen gar nichts gewonnen. Denn gerade
die Grundannahme iſt verwerflich, daß, in den Angele-
genheiten der Corporation, der Totalität der Mitglieder
eine wahre Allmacht zukomme, worauf dann die Majori-
tät nur als eine natürliche Modification fortgebaut wer-
den ſoll. So ſeltſam es nun lautet, daß wir der Ge-
ſammtheit beſtreiten, was wir der größeren Hälfte gewiſ-
ſermaßen einräumten, ſo hat dieſes dennoch guten Grund,
und darf keinesweges als inconſequent angeſehen werden.
Denn wir ließen die Majorität irgend einer Verſammlung
gelten, vorausgeſetzt daß der Verſammlung ſelbſt das
Recht irgend einer Verfügung zukomme. Daß aber die
(c) L. 5 C. de legation. (10.
63.). — Andere, ähnliche Anwen-
dungen der Stimmenmehrheit fin-
den ſich in L. 3 C. de vend. reb.
civ. (11. 31.) (ſ. u. § 100 h), und
Nov. 120 C. 6 § 1. 2.
(d) L. 160 § 1 de R. J. (50.
17.). „Refertur ad universos,
quod publice fit per majorem
partem.” Vgl. Haubold p. 563.
|0346 : 332|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Verſammlung aller Mitglieder an ſich ſelbſt befugt ſey,
mit unbegränzter Macht über die Corporation zu verfü-
gen, das iſt es was wir beſtreiten.
Die Vertheidiger jener Lehre ſtreiten für die Stimmen-
mehrheit gegen die Einſtimmigkeit, gerade als ob dieſes
der einzige Gegenſatz wäre, mit welchem wir zu ſchaffen
hätten, und der uns nöthigen könnte eine Wahl zu tref-
fen, da hier doch ganz andere und wichtigere Gegenſätze
in Betracht kommen. Der letzte Grund jener Lehre be-
ſteht alſo in der überall wiederkehrenden Verwechslung
ſämmtlicher einzelnen Mitglieder mit der Corporation ſelbſt,
eine Verwechslung gegen welche das Römiſche Recht ſo
oft warnt, und zwar zunächſt bey der Frage nach dem
wahren Subject der Corporationsrechte (§ 86), aber auch
bey der Frage nach dem wahren Subject der Corpora-
tionshandlungen (§ 90, § 91. t, § 93. b. h). Jene Lehre
beruht alſo zuletzt auf der ſtillſchweigenden, ganz willkühr-
lichen Vorausſetzung einer abſoluten Demokratie in der
Verfaſſung aller Corporationen. Es iſt mithin im We-
ſentlichen die publiciſtiſche Lehre von der Volksſouveräni-
tät, übertragen auf die juriſtiſchen Perſonen im Pri-
vatrecht.
Die ganz anderen Gegenſätze aber, die hier in der
That in Betracht kommen, und die ſchon durch jene Stel-
lung der Streitfrage (ob Majorität oder Einſtimmigkeit
gelten ſolle) völlig verdeckt werden, ſind folgende.
Der erſte Gegenſatz bezieht ſich auf einen ſchon oben
|0347 : 333|
§. 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
(§ 86) angedeuteten Unterſchied in dem Zuſtand der Cor-
porationen. Viele derſelben haben nämlich zu anderen
Zwecken, unabhängig von ihrer privatrechtlichen Perſön-
lichkeit (§ 96), eine künſtlich ausgebildete Verfaſſung, mit
verſchiedenen Organen der oͤffentlichen Gewalt in einer
ſolchen Corporation. Indem nun von den Vertheidigern
jener Lehre, der Totalität der Mitglieder (im Gegenſatz
jener conſtituirten Organe der öffentlichen Gewalt), eine
unbegränzte Macht zugeſchrieben wird, müſſen ſie dieſe
Organe entweder ignoriren, oder blos als untergeordnete
und abhängige Werkzeuge der laufenden Verwaltung an-
ſehen: beides mit völlig grundloſer Willkühr. Durch fol-
gendes Beyſpiel einer der häufigſten und wichtigſten Cor-
porationen wird dieſes anſchaulicher werden. In den deut-
ſchen Städten findet ſich von ſehr alter Zeit her eine Ver-
faſſung mit Bürgermeiſter und Rath, daneben auch ſehr
gewöhnlich eine (zuweilen noch mannichfaltig eingerichtete)
Bürgervertretung. Die Vertheidiger jener Lehre müſſen
nun annehmen, daß in den deutſchen Städten Bürgermei-
ſter, Rath und Bürgervertretung nur beſchränkte Verwal-
tungsrechte haben, untergeordnet der allmächtigen Totali-
tät der einzelnen Bürger; und in Vergleichung mit dieſer
Annahme iſt offenbar die Frage, ob, bey der Ausmittlung
des Willens dieſer Totalität, Einſtimmigkeit oder Stim-
menmehrheit gelten ſoll, von untergeordneter Natur. Wollte
man nun der erwähnten Lehre einige Haltung und Wahr-
ſcheinlichkeit geben, ſo hätte man dieſelbe von der Anwen-
|0348 : 334|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
dung auf ſolche, mit ausgebildeten Verfaſſungen verſe-
hene, Corporationen ganz ausſchließen, und nur für die
übrigen Corporationen aufſtellen müſſen. Für dieſe Un-
terſcheidung hatte man ſogar gangbare Kunſtausdrücke in
Bereitſchaft, universitas ordinata und inordinata (§ 86);
allein man machte davon keinen Gebrauch, begnügte ſich
ſie anzugeben, und ſtellte dennoch den Grundſatz der All-
macht der einzelnen Mitglieder, als einen für alle Corpo-
rationen allgemein gültigen, daneben. — Dieſe Anwen-
dung der unrichtigen Grundanſicht war übrigens am we-
nigſten dazu geeignet, in das wirkliche Leben überzuge-
hen, und ſo die Praxis zu verderben, weil die hier vor-
ausgeſetzten ausgebildeten Verfaſſungen durch ihre innere
Lebenskraft einen natürlichen und wirkſamen Widerſtand
leiſten mußten; anders war es bey den nachfolgenden An-
wendungen, welche in das Leben einzuführen ſchon die
bloße Meynung der Gerichte (unter dem Einfluß einer irri-
gen Theorie) völlig hinreichend war.
Der zweyte Gegenſatz, der durch jene Lehre vernach-
läſſigt, ja ganz ignorirt wird, iſt der Gegenſatz von Mit-
gliedern überhaupt, und von Mitgliedern verſchiedener,
ungleich berechtigter Klaſſen. In einem großen Theil von
Deutſchland finden ſich in den Dorfgemeinden Vollbauern
und Halbbauern, neben den Bauern auch Koſſäthen und
Häusler. Dieſe wichtigen Unterſchiede, deren Einfluß auf
die Ermittlung des Willens der Corporation ſo natürlich
iſt, müſſen völlig verſchwinden, ſobald durch einen allge-
|0349 : 335|
§ 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
meinen Grundſatz den einzelnen Mitgliedern aller Corpo-
rationen ein blos numeriſches Daſeyn zugeſchrieben wird,
von welchem die abſolute Gleichheit der Einzelnen unzer-
trennlich iſt.
Ein dritter Gegenſatz endlich, der bey jener Lehre un-
beachtet bleibt, iſt der zwiſchen der Totalität der (jetzt-
lebenden) Mitglieder, und der Corporation ſelbſt, die eine
unvergängliche Dauer hat, unabhängig von dem Wechſel
der Individuen (§ 86). Hier nun befinden wir uns in
einem Gebiet, auf welchem, im öffentlichen wie im Pri-
vatrecht, der heftigſte Streit geführt wird, mit einſeitiger
Übertreibung von Seiten beider Parteyen. Die lebendige
Gegenwart hat ihre eigenthuͤmlichen Anſprüche, und ſie
ſoll weder durch den Willen der Vergangenheit unbedingt
gebunden, noch dem Intereſſe der Zukunft geopfert wer-
den. Aber ſie ſoll ihre vorübergehende Herrſchaft über
dauernde Güter und Zwecke mit Weisheit und Mäßigung
ausüben, nicht aus Beſchränktheit und Selbſtſucht den
nachfolgenden Geſchlechtern die Mittel eines erfreulichen
Zuſtandes entziehen. Durch jene Lehre wird den jetztle-
benden Mitgliedern eine ſchrankenloſe Macht eingeräumt,
ohne alle Rückſicht auf den Zuſtand einer ſpäteren Zeit.
Sucht man ſich den möglichen und wahrſcheinlichen Er-
folg dieſer Lehre, in Beziehung auf den hier dargeſtellten
Gegenſatz, klar zu machen, ſo wird uns derſelbe je nach
zufälligen Umſtänden mehr oder minder gefährlich erſchei-
nen. Bey Gemeinden gefährlicher als anderswo, wegen
|0350 : 336|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ihrer groͤßeren Wichtigkeit für den Staat überhaupt; min-
der gefährlich, weil die Sorge für die eigenen Nachkom-
men, die faſt immer in das Gemeindeverhältniß eintreten,
viele der Corporation nachtheilige Beſchlüſſe abwehren
wird: eine Sicherung, die z. B. bey Zünften nicht auf
gleiche Weiſe eintritt.
Außer der behaupteten Allgewalt der gegenwärtig le-
benden Mitglieder einer Corporation (wovon bis jetzt die
Rede war) iſt aber in jener Lehre auch noch ein zweyter,
an ſich weit weniger verderblicher, Irrthum zu bemerken,
welcher darin beſteht, daß ſie die nothwendige, zugleich
aber hinreichende, Anweſenheit von zwey Drittheilen aller
Mitglieder annimmt, wenn durch Stimmenmehrheit ein
Corporationsbeſchluß gefaßt werden ſoll. Alle berufen ſich
dabey auf die oben (§ 96. c. e) angeführten Stellen des
Roͤmiſchen Rechts, ohne zu bedenken, daß ſie auf zweyer-
ley Weiſe dieſen Stellen einen ihnen ganz fremdartigen
Sinn unterſchieben. Denn erſtlich reden jene Stellen nicht
von Corporationen überhaupt, ſondern lediglich von Stadt-
gemeinden: zweytens aber (was weit wichtiger iſt) nicht
von zwey Drittheilen der Corporationsglieder, ſondern der
Decurionen, alſo einer blos repräſentativen Verſammlung
innerhalb einer universitas ordinata, anſtatt daß zu den
wahren Mitgliedern der Corporation auch alle Grundei-
genthümer des Stadtgebietes (possessores) gehörten (e). —
(e) Savigny Geſchichte des
R. R. im Mittelalter B. 1 § 21.
— Die erſte dieſer beiden Ver-
wechslungen wird von einigen
|0351 : 337|
§. 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
Auch hier wäre es vor Allem räthlich geweſen, die uni-
versitas ordinata von jener angeblichen Regel auszuneh-
men, und in der That hat ſich die Praxis gegen dieſe
falſche Theorie von ſelbſt geholfen. Denn obgleich die
Lehre von den ⅔ der Mitglieder, als unzweifelhaft gültig
für alle Corporationen, bey den Schriftſtellern überall vor-
getragen wurde, ſo hat man doch in den deutſchen Städ-
ten, weder auf die Bürgerſchaft, noch auf den Stadtrath
(bey welchem ſich am erſten eine Analogie des wahren
Römiſchen Grundſatzes behaupten ließe), Anwendung da-
von gemacht. Sieht man genau zu, was von dem Grund-
ſatz der ⅔ der Mitglieder in die Praxis übergegangen iſt,
ſo iſt es lediglich die Beſtellung eines Procurators zur
Prozeßführung von Seiten der Dorfgemeinden, die ſtets
eine höchſt unvollkommene Verfaſſung haben, alſo univer-
sitates inordinatae ſind. Hier müſſen ⅔ der Mitglieder
verſammelt ſeyn, um den Procurator zu beſtellen, welche
Handlung man (abweichend von dem wahren Römiſchen
Sprachgebrauch) die Errichtung eines Syndicats zu nen-
nen pflegt (f).
neueren Schriftſtellern erkannt
und beſtritten: die zweyte, wich-
tigere, haben dieſelben nicht be-
achtet. Lotz S. 119. Kori
S. 3 — 5.
(f) Über die Abfaſſung eines
Syndicats iſt die vorherrſchende
Meynung neuerer Schriftſteller
die, daß ⅔ der Mitglieder zuſam-
men kommen müßten bey einer
universitas inordinata (Dörfer,
Zünfte), nicht bey einer ordi-
nata (Städte, Univerſitäten), de-
ren regelmäßige Vorſteher für ſich
allein den gerichtlichen Procura-
tor beſtellen könnten. Glück B. 5
II. 22
|0352 : 338|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§ 413. Martin Proceß § 78
ed. 11. Als Ausdruck der Praxis
mag das gelten; inſofern man da-
bey Römiſche Stellen anführt, iſt
es ganz inconſequent, da gerade
die Decurionen (wofür allein das
R. R. die ⅔ vorſchreibt) einer
universitas ordinata angehörten.
— Struben Bedenken I. Num.80
behauptet, die ⅔ würden überhaupt
nur erfordert bey Syndicaten,
nicht bey anderen Beſchlüſſen: nach
R. R. gewiß unrichtig. — Der
Ausdruck Syndicus wird im R.
R. nur bey ſtädtiſchen Procura-
toren gebraucht, und zwar nur
bey ſolchen, die im Allgemeinen
für alle Prozeſſe der Stadt be-
ſtellt werden; der ſtädtiſche Pro-
curator für einen einzelnen Rechts-
ſtreit heißt actor.
|0353 : 339|
§. 98. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
§. 98.
Juriſtiſche Perſonen. — Verfaſſung. (Fortſetzung.)
Der Einfluß der hier dargeſtellten entgegengeſetzten Mey-
nungen über die Verfaſſung wird noch anſchaulicher wer-
den durch die Betrachtung der verſchiedenartigen Thätig-
keit, worin die juriſtiſchen Perſonen auftreten können.
Dieſe Thätigkeit kann ſich auf zweyerley Gegenſtände be-
ziehen: Erſtlich ſolche, die zur laufenden Verwaltung ge-
hören; Zweytens andere, welche in den Zuſtand der ju-
riſtiſchen Perſon ſelbſt und ihres Vermögens verändernd
eingreifen. Zwiſchen beiden läßt ſich jedoch keine ſo ſcharfe
Gränze ziehen, daß nicht mancherley Übergänge dabey
wahrzunehmen wären.
Bey den Geſchäften der laufenden Verwaltung iſt je-
ner Gegenſatz der Meynungen weniger merklich, theils
wegen ihrer geringeren Erheblichkeit, theils weil ſie gro-
ßentheils von der Art ſind, daß ſie auf irgend eine Weiſe
abgemacht werden müſſen, und auch öfter wiederkehren.
Daher wird faſt überall eine regelmäßige Form ſolcher
Geſchäfte, entweder geſetzlich oder durch Herkommen, feſt-
geſtellt ſeyn, und ſchon dadurch wird der Einfluß jener
Theorieen ausgeſchloſſen oder vermindert werden (a). Es
(a) Kori S. 23 — 25 macht
die richtige Bemerkung, daß bey
manchen Geſchäften ſolcher Art,
die durchaus zu einer Entſchei-
dung gebracht werden müſſen, ſo-
gar die abſolute Majorität in der
zur Entſcheidung berufenen Ver-
ſammlung nicht immer zu erlan-
gen möglich, und dann auch nicht
nöthig ſey.
22*
|0354 : 340|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
gehört dahin vor Allem die Beſorgung laufender Geldein-
nahmen und Ausgaben; die neue Verpachtung ſchon frü-
her verpachteter Grundſtücke; die Wahl von Vorſtehern
und Beamten. Gewiſſermaßen gehört dahin auch die Auf-
nahme neuer Mitglieder (b); ferner die Führung von Pro-
zeſſen. Doch kann dieſe letzte nach Umſtänden auch zu
den zweifelhafteren und bedenklicheren Geſchäften gehoͤren,
weshalb ſie bey Dorfgemeinden durch neuere Geſetze häufig
von der Erlaubniß vorgeſetzter Staatsbehoͤrden abhängig
gemacht worden iſt (§ 100).
Anders verhält es ſich mit den in den bleibenden Zu-
ſtand eingreifenden Geſchäften. Denn durch ſie kann zu-
weilen nicht nur dieſer Zuſtand weſentlich verdorben, ſon-
dern ſelbſt das Daſeyn der Corporation vernichtet oder
gefährdet werden. Ferner ſind ſie meiſt von der Art, daß
ſie auch wohl ganz unterbleiben können, und daß ſie nicht
regelmäßig wiederkehren, ſondern nur ſelten, vielleicht nur
ein einzigesmal vorkommen, ſo daß für ſie weder eine ge-
ſetzliche Beſtimmung, noch ein Herkommen, die Regel feſt-
geſtellt hat. Aus allen dieſen Gründen wird eine herr-
ſchende Theorie auf Geſchäfte dieſer Art großen Einfluß
erlangen können, und dieſer Einfluß wird gerade hier be-
ſonders wichtig und bedenklich ſeyn. Die wichtigſten Fälle
dieſer Art ſind etwa folgende.
(b) Die Entlaſſung bisheriger
Corporationsmitglieder kann nicht
dahin gerechnet werden, weil in
der Regel der Austritt jedem
Einzelnen frey ſteht, und nur
etwa durch Abfindung von man-
chen gemeinſchaftlich getragenen
Verpflichtungen bedingt iſt.
|0355 : 341|
§. 98. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
1) Abfaſſung neuer Statuten, die ja für das Wohl,
und ſelbſt für das Daſeyn der Corporation auf der einen
Seite, ſo wie auf der andern für das Recht und die Si-
cherheit der einzelnen Mitglieder, von dem gefährlichſten
Einfluß ſeyn können.
2) Eine ganz ähnliche Natur hat die Beſteuerung der
einzelnen Mitglieder zu den Zwecken der Corporation, die
ja auch nur ein einzelner Zweig der Geſetzgebung inner-
halb der Corporation iſt.
3) Die Auflöſung der Corporation. Daß dieſe nicht
ohne Genehmigung des Staats geſchehen kann, iſt ſchon
oben bemerkt worden (§ 89). Allein davon unabhängig
iſt die Frage, wer innerhalb der Corporation die Auflö-
ſung beſchließen, und auf jene Genehmigung antragen kann.
— Dieſer Fall übrigens, der unter allen der wichtigſte
ſcheint, iſt praktiſch gerade der unbedeutendſte. Bey Ge-
meinden kann er ohnehin nicht vorkommen, ſondern nur
bey willkührlichen Corporationen, am meiſten bey gewerb-
lichen Geſellſchaften, welche das Corporationsrecht erlangt
haben (§ 88), und bey dieſen wird man nicht leicht un-
terlaſſen, ſchon bey der Errichtung dieſen Fall voraus zu
beſtimmen.
4) Veränderungen in der Subſtanz des Corporations-
vermoͤgens. Auch dieſe können oft mehr die Natur der
laufenden Verwaltung annehmen, ſo z. B. wenn ausſte-
hende Kapitalien abgetragen und dann im Namen der
Corporation neu angelegt werden, oder wenn erſpartes
|0356 : 342|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Geld ausgeliehen oder zum Ankauf von Grundſtücken ver-
wendet wird. Allein andere dahin gehörende Fälle ſind
von mehr bedenklicher Art, und, da ſie ſo häufig vor-
kommen, geradezu das Wichtigſte, welches überhaupt hier
zu beachten iſt. Es gehören dahin beſonders folgende Fälle.
A. Totale Veräußerung von Vermögensſtücken durch
Schenkung. Gegen Fremde wird eine ſolche Freygebig-
keit nicht leicht vorkommen, wohl aber gegen die eigenen
Mitglieder, wenn z. B. ein Kämmereygut oder ein einge-
zogenes Geldkapital unter die Einzelnen vertheilt wird.
Die Natur einer ſolchen Handlung als einer wahren
Schenkung kann dadurch leicht überſehen werden, weil
man, nach einer häufigen Verwirrung der Begriffe, das
Eigenthum der Corporation ohnehin ſchon als Eigenthum
der Mitglieder zu betrachten gewohnt iſt.
B. Veräußerung ſolcher Stücke an die Einzelnen,
woran bisher das Eigenthum der Corporation, die Be-
nutzung den Einzelnen zuſtand (§ 91), wie ein Bürger-
wald und eine Gemeindeweide. Dieſer Fall iſt vom vo-
rigen nur dem Grade nach verſchieden, da auch hier in
der That Eigenthum aufgegeben wird, wenngleich ein ſehr
beſchränktes. Eben weil hier der Verluſt für die Corpo-
ration weniger augenſcheinlich iſt, hat man oft gar kein
Bedenken dabey finden wollen; zugleich iſt kein Fall ſo
häufig, und daher praktiſch ſo wichtig, als dieſer. —
Man hat dabey zuweilen theils fremdartige, theils unrich-
tige Anſichten eingemiſcht, wodurch das wahre Sachver-
|0357 : 343|
§. 98. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
hältniß verdunkelt wird. So z. B. hat man wohl beſon-
dere Wichtigkeit darauf gelegt, daß zuweilen auch noch
die Corporation einigen Vortheil von ſolchem Vermögen
zog, z. B. wenn Jeder, der die Gemeindeweide benutzen
wollte, eine kleine Abgabe an die Gemeindekaſſe entrich-
ten mußte (c). Allein dieſer Umſtand iſt minder wichtig,
weil der Ausfall einer ſolchen Geldeinnahme leicht auf
andere Weiſe vollſtändig gedeckt werden kann, z. B. durch
einen auf das vertheilte Land gelegten Grundzins. — Eben
ſo wenig kann die Betrachtung entſcheidend ſeyn, daß ei-
gentlich ein ſolches Eigenthum, welches ſchon bisher der
Corporation keinen Ertrag gab, ein leerer Name, ohne
Weſen, ſey (d). Dagegen iſt zu bedenken, daß dieſes
unfruchtbare Corporationseigenthum vielleicht den Wohl-
ſtand künftiger Mitglieder ſichert (wobey die unvergäng-
liche Corporation wohl ein Intereſſe hat), anſtatt daß das
vertheilte Gut durch den Leichtſinn der gegenwärtigen Mit-
glieder für immer aufgezehrt werden kann. Bleibt z. B.
der Bürgerwald Eigenthum der Corporation, ſo wird ihn
dieſe beſſer als die Einzelnen verwalten können, und die
Nachkommen werden noch Holz finden, anſtatt daß nach
(c) Kori S. 15.
(d) Kori S. 17. 18, der je-
doch das Eigenthum der Corpo-
ration, als durch poſitives Geſetz
begründet, auch in dieſem Fall
reſpectirt haben will. Er grün-
det aber auf den ganz zufälligen
und untergeordneten Umſtand, ob
die Gemeinde einen Geldvortheil
bezog oder nicht, die Regel, daß
im erſten Fall Einſtimmigkeit, im
zweyten nur Stimmenmehrheit
zur Vertheilung an die Einzelnen
nöthig ſey; ich halte dieſe Unter-
ſcheidung für grundlos.
|0358 : 344|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
der Vertheilung vielleicht alles Holz verſchwendet wird,
und blos ein verwüſteter Boden für mehrere Geſchlechter
übrig bleibt.
C. Verwandlung der bloßen Benutzung, die bisher
der Corporation zuſtand, und nun an die einzelnen Mit-
glieder übergehen ſoll (§ 91). — Obgleich hier das Ei-
genthum ſelbſt der Corporation verbleibt, ſo iſt doch auch
dieſe Veränderung höchſt wichtig und bedenklich, nicht blos
wegen des ausfallenden Geldertrags, ſondern auch weil
dieſelbe, nach den unter B. gemachten Bemerkungen, leicht
auch zu einer wirklichen Vertheilung des Eigenthums führt.
D. Umgekehrte Verwandlung (des Bürgervermögens
in Kämmereyvermögen). — Dieſe Veränderung iſt ganz
unbedenklich für die Corporation, die dabey nur gewinnt,
aber um ſo nachtheiliger für die Einzelnen, welche da-
durch ihr ganzes Nutzungsrecht verlieren.
E. Verſchuldung durch Anleihen. — Zwar iſt an ſich
das Darlehen ein tauſchartiges Geſchäft, indem für die
übernommene Verbindlichkeit ein gleich großer Werth an
Eigenthum von baarem Geld gewonnen wird. Da aber
dieſes Eigenthum durch unzweckmäßige Verwendung leicht
ſpurlos verſchwindet, während die Schuld ſicher fort-
dauert, ſo gehört auch das hier genannte Geſchäft zu den
eventuellen Verminderungen der Vermögensſubſtanz.
|0359 : 345|
§. 99. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
§. 99.
Juriſtiſche Perſonen. — Verfaſſung. (Fortſetzung.)
Nachdem nun die bedeutendſten Geſchäfte dargeſtellt
worden ſind (§ 98), worauf eine Anwendung der oben
im Allgemeinen geprüften Theorie (§ 97) möglich und
wichtig iſt, ſoll gegenwärtig dieſe Anwendung auf die ein-
zelnen Geſchäfte ſelbſt durchgeführt und geprüft werden.
Zuvor muß jedoch bemerkt werden, daß jene Theorie
bey neueren Schriftſtellern in verſchiedenen Graden der
Strenge vorkommt. Einige behaupten die Allmacht der
Majorität ohne Unterſchied der Gegenſtände, und laſſen
nur eine Einſchränkung mit Rückſicht auf das Staats-
wohl eintreten, wenn etwa durch einen Beſchluß der Ma-
jorität der Ruin einer Gemeinde herbeygeführt werden
würde (a). Andere dagegen legen in die Ausführung des
Grundſatzes eine zwiefache große Milderung; ſie fordern
für die wichtigſten der im § 98. angegebenen Geſchäfte
Einſtimmigkeit anſtatt Majorität, und ſie berückſichtigen
bey denſelben die Verſchiedenheit der Theilnehmungsrechte
Einzelner (§ 97), woraus verſchiedene Klaſſen der Mit-
glieder hervorgehen (b). Rechnet man dieſe zwiefache Mil-
(a) Thibaut a. a. O., S. 395.
397, Pandekten § 132. Die Be-
rückſichtigung der verſchiedenen
Theilnehmungsrechte verwirft er
S. 397 ausdrücklich, und verlangt
bey jeder an ſich feſtſtehenden Thei-
lung des Corporationseigenthums,
wenn man ſich über den Maas-
ſtab nicht einigen könne, die glei-
che Theilung nach der Kopfzahl
der Mitglieder.
(b) Haubold C. 4 § 4 sq. Kori
S. 11 — 20 S. 26.
|0360 : 346|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
derung ab, wodurch allerdings viele der bedenklichſten Fol-
gen des Grundſatzes abgewendet werden, ſo bleiben noch
folgende unrichtige Seiten jener Lehre übrig:
I. Die vernachläſſigte Beachtung der eigenthümlichen
Natur der universitas ordinata, worauf die Allgewalt der
Majorität der Mitglieder gar nicht paßt (§ 97). — Die-
ſer Punkt jedoch iſt praktiſch weniger erheblich, als in der
allgemeinen Betrachtung, da die Vertheidiger jener Lehre,
trotz ihres allgemeinen Ausdrucks, in der That doch nur
an universitates inordinatae, namentlich an Dorfgemein-
den, zu denken pflegen, und da mir keiner bekannt iſt, der
den Grundſatz auch auf die Städte, ohne Rückſicht auf
deren beſondere Verfaſſung, anzuwenden verſuchte.
II. Die Regel von den zwey Drittheilen der Mitglie-
der, deren Verſammlung das Recht der Totalität ſoll
ausüben können (§ 97). — Auch dieſe Regel iſt, obgleich
in der Ausdehnung, die ihr dort gegeben wird, völlig ver-
werflich (c), dennoch praktiſch minder wichtig. Denn in
den meiſten wirklich erheblichen Fällen wird ſich in der
(c) Im § 97. iſt nachgewieſen
worden, daß die Regel von den
⅔ nie auf die Mitglieder irgend
einer Corporation, ſondern bey
den Römern nur auf den die Cor-
poration verwaltenden Stadtſenat
(die Decurionen) angewendet wor-
den iſt. Selbſt eine Ausdehnung
durch Analogie würde ganz un-
ſtatthaft ſeyn; denn bey den De-
curionen wurden die ⅔ zugelaſſen,
weil dieſelben für die unaufhalt-
ſame Beſorgung laufender Ge-
ſchäfte eine ſolche Erleichterung
des Geſchäftsgangs wirklich be-
durften, anſtatt daß bey Verfü-
gungen über die Vermögensſub-
ſtanz und ähnlichen Geſchäften,
die auch wohl ganz unterbleiben
können (§ 98), eine ſolche Er-
leichterung weder nöthig noch
wünſchenswerth iſt.
|0361 : 347|
§. 99. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
That eine Meynungsverſchiedenheit unter den Mitgliedern
bereits ausgeſprochen haben, und dann wird es, in einer
Verſammlung, die über Gegenſtände von ſolcher Wichtig-
keit für die Corporation zu entſcheiden hat, nicht ſchwer
ſeyn ſämmtliche Mitglieder zuſammen zu bringen, wodurch
dann jenem Irrthum aller Einfluß ohnehin entzogen wird.
III. Als Hauptirrthum endlich bleibt noch die prak-
tiſch wichtigſte Behauptung übrig, welche die Totalität
der gegenwärtigen Mitglieder mit der Corporation ſelbſt
identificirt, und daher mit einer unbedingten Gewalt über
deren Rechte ausrüſtet; welcher Irrthum dann durch die
der bloßen Majorität eingeräumte Entſcheidung noch um
Vieles verſchlimmert, durch die für viele Fälle von man-
chen Schriftſtellern geforderte Einſtimmigkeit ſehr gemil-
dert wird.
Von dem durch dieſe Betrachtungen gewonnenen Stand-
punkte aus ſollen nunmehr die nicht zur laufenden Ver-
waltung gehörenden Geſchäfte, ſo wie ſie im § 98. zuſam-
mengeſtellt worden ſind, einzeln erwogen werden.
1) Neue Statuten.
2) Beſteurung.
In dieſen beiden Geſchäften iſt die der Majorität ein-
geräumte unbedingte Macht ganz beſonders bedenklich, in-
dem es einleuchtet, daß dadurch die willkührlichſte und un-
gerechteſte Behandlung von Individuen oder ganzen Klaſ-
ſen, die ſich in der Minorität befinden, ohne alle Abwehr
möglich wird. Dagegen iſt hierin ein einſtimmiger Be-
|0362 : 348|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſchluß aller Mitglieder wenig bedenklich, indem dadurch,
nach der Natur der Gegenſtände, ein unwiederbringlicher
Nachtheil für die Zukunft nicht leicht eintreten wird. Noch
eher kann der Staat in ſeinen eigenen Intereſſen dadurch
gefährdet werden, indem z. B. die Art und das Maas
der Communalſteuern den Staatsſteuern nachtheilig wer-
den kann. Dadurch wird ohnehin eine gewiſſe Aufſicht
nöthig, und dieſe wird denn zugleich völlig hinreichen,
auch die moͤglichen Nachtheile für die eigene Zukunft der
Corporation ſelbſt zu beachten und zu verhüten.
3) Zur Aufloͤſung der Corporation iſt ohnehin die Ge-
nehmigung des Staats erforderlich. Daneben aber kann
unmöglich ein Beſchluß der Majorität genügen, da nicht
einzuſehen iſt, warum nicht die Minorität die Corporation
ſollte fortſetzen können, während es den Mitgliedern der
Majorität frey ſtehen wird, einzeln auszutreten. Wenn
ſie dieſes nicht genügend finden, ſondern die allgemeine
Auflöſung vorziehen, ſo wird dieſes meiſt darin ſeinen Grund
haben, daß ſie zugleich eine Vertheilung des Corporations-
vermögens verlangen: dadurch fällt aber dieſer Beſchluß
mit dem gleich folgenden zuſammen, und muß daher auch
gleichen Rückſichten, wie dieſer, unterworfen werden. —
Ein einſtimmiger Beſchluß aller Mitglieder über Auflöſung
der Corporation bedarf noch immer der Genehmigung des
Staats, indem dadurch fremde Perſonen, z. B. die Cre-
ditoren, gefährdet werden koͤnnen. Iſt aber jene Geneh-
migung vorhanden, ſo kann in der Rückſicht auf die Zu-
|0363 : 349|
§. 99. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
kunft kein Hinderniß der Rechtmäßigkeit eines ſolchen auf-
löſenden Beſchluſſes liegen, da nun die Corporation keine
Zukunft hat, deren Zuſtand durch jenen Beſchluß etwa in
Nachtheil gerathen koͤnnte.
4) Veränderung in der Subſtanz des Corporations-
vermögens. Dieſer Fall iſt unter allen bey weitem der
wichtigſte, indem auf der einen Seite der Verluſt, wenn
ein ſolcher eintritt, unwiederbringlich iſt, auf der andern
aber die Gewinnſucht der einzelnen Mitglieder ſo leicht
dazu anreizt, die hülfloſe Corporation in Nachtheil zu
bringen.
Hier iſt nun vor Allem augenſcheinlich die Ungerech-
tigkeit, die aus der unbedingten Herrſchaft der Majori-
tät hervorgehen kann. Für viele Fälle freylich wird das
von Thibaut zugelaſſene Temperament abhelfen, daß nicht
das Staatsintereſſe durch den Ruin der Gemeinden ge-
fährdet werden dürfe. Allein es gieht noch manches Un-
recht ohne Ruin, und es giebt viele Corporationen, die
nicht Gemeinden ſind. Ein Beyſpiel wird dieſes anſchau-
lich machen. Geſetzt, es wandert ein Handwerker aus ei-
ner deutſchen Stadt nach Indien, erwirbt Reichthümer,
und hinterläßt ein großes Kapital der Zunft, deren Mit-
glied er vormals war. Beſteht dieſe Zunft aus Funfzehen
Meiſtern, ſo koͤnnen, nach Thibauts Regel, Acht derſel-
ben, als allmächtige Majorität, das Geld unter ſich thei-
len, und die übrigen Sieben leer ausgehen laſſen. Die von
Thibaut zugelaſſene Einſchränkung hilft hier nicht, denn
|0364 : 350|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
das Staatsintereſſe beſchränkt ſich bey der Handwerkszunft
auf den tüchtigen und redlichen Gewerbsbetrieb, und die-
ſer iſt von dem zufällig erworbenen Geldreichthum ganz
unabhängig. Aber der Staat in ſeiner richterlichen Func-
tion, als Beſchützer aller Rechte, kann hier ſo wenig als
anderwärts zugeben, daß Unrecht geſchehe. — In dieſer
Beziehung nun iſt ſelbſt durch die Meynung derjenigen,
welche Einſtimmigkeit fordern, nur die eine Seite des Un-
rechts abgewendet. Die Sieben Mitglieder werden dann
nicht mehr durch die Acht verletzt, wohl aber die Corpo-
ration durch alle Funfzehen (d). Auch hier wieder wird
die ſchon oben (§ 90) aufgeſtellte Vergleichung der Corpo-
ration mit einem Unmündigen Alles anſchaulicher machen.
Wenn ein Pupill Drey Vormünder hat, ſo ſollen nicht
Zwey derſelben das Vermögen unter ſich theilen, und den
Dritten ausſchließen; aber wenn ſie den Dritten zur Thei-
lung zulaſſen, ſo wird dadurch das Unrecht gegen den
Pupillen nicht geringer.
Eine beſondere Erwägung fordert noch der Fall, da
das Bürgervermögen in Kämmereyvermögen, oder die in-
dividuelle Benutzung in Gemeindebenutzung verwandelt wer-
den ſoll. Auch hier iſt wieder der Beſchluß der Majori-
tät voͤllig verwerflich, da überhaupt keine Gemeinde als
ſolche, durch wen ſie auch vertreten ſeyn möge, über die
(d) Recht auffallend zeigt ſich
dieſes in dem Fall, wenn durch
eine Seuche alle Meiſter einer
Handwerkszunft, bis auf Einen,
ſterben, und dieſer das Zunftver-
mögen zu ſeinem Privatvermö-
gen machen will (§ 89. b). Hier iſt
gewiß Einſtimmigkeit vorhanden.
|0365 : 351|
§. 99. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
Nutzungsrechte der Einzelnen etwas zu beſchließen hat (e);
dagegen iſt der einſtimmige Beſchluß völlig rechtmäßig,
indem nun jeder Einzelne auf ſein perſönliches Nutzungs-
recht verzichtet hat, was er unſtreitig zu thun befugt iſt.
(e) Eichhorn deutſches Privatrecht § 372. 373.
|0366 : 352|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 100.
Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
Aus der bisherigen Darſtellung ſcheint alſo hervorzu-
gehen, daß bey Corporationen jede ſubſtantielle Verände-
rung im Vermögen gänzlich unterbleiben müſſe. Dennoch
können ſehr viele Fälle kommen, worin eine ſolche nützlich
und räthlich, andere, wo ſie nothwendig iſt. Wie iſt die-
ſer Widerſpruch aufzulöſen?
Bey den Unmündigen wird die Verwaltung des Ver-
mögens zuverläſſigen Vormündern anvertraut; bey den be-
denklichſten Handlungen fügt ſchon das neuere Römiſche
Recht, noch weit mehr aber das heutige Recht der mei-
ſten Staaten, eine ganz ſpecielle Controle hinzu; endlich
wird der Unmündige regelmäßig nach wenigen Jahren
handlungsfähig, und fordert dann ſelbſt Rechenſchaft von
den Vormündern. — Die Corporationen unterſcheiden ſich
von den Unmündigen zunächſt dadurch, daß ſie nie mündig
werden, dann aber noch weit weſentlicher dadurch, daß
ſie gerade bey den hier in Frage ſtehenden Vermögens-
veränderungen ſtets in die unmittelbarſte Colliſion mit dem
perſönlichen Intereſſe ihrer eigenen Vertreter kommen (a);
(a) Namentlich geſchieht dieſes
bey jeder Vertheilung von Cor-
porationseigenthum unter die ein-
zelnen Mitglieder; am Auffallend-
ſten freylich in Dorfgemeinden
und Zünften, wo die Verthei-
lung gerade von denſelben Per-
ſonen beſchloſſen werden ſoll, die
dadurch Etwas zu empfangen ha-
ben; jedoch auch (wenngleich in
geringerem Grade) bey einer uni-
versitas ordinata, z. B. einer
|0367 : 353|
§. 100. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
eine Colliſion, die zwiſchen dem Pupillen und dem Vor-
mund gewöhnlich gar nicht vorhanden iſt, und da, wo
ſie zufällig eintrit, augenblicklich die Subſtitution eines an-
dern Vertreters veranlaßt (b).
Aus dieſer Vergleichung folgt alſo, daß bey Corpora-
tionen die rechtliche Möglichkeit, Handlungen der oben be-
ſchriebenen Art vorzunehmen, durch das obervormund-
ſchaftliche Schutzrecht gegeben iſt, welches der Staat über
alle ſchutzbedürftige Perſonen, alſo auch über die Corpo-
rationen, ausüben darf und ſoll. Der Staat alſo er-
ſcheint hier thätig, nicht ſowohl um ſein eigenes Intereſſe
wahrzunehmen, welches er bey vielen, ja bey den wich-
tigſten Corporationen allerdings auch hat, ſondern in Kraft
eines Rechts, welches ihm über alle gleichmäßig zuſteht
(§ 96).
Über dieſe Einwirkung des Staats auf die Corpora-
tionen iſt in neueren Zeiten ungemein viel geſchrieben und
geſtritten worden: weniger aus dem privatrechtlichen, als
aus dem politiſchen Geſichtspunkt: nicht blos in Deutſch-
land, ſondern auch in Frankreich (c). Die Gegner jeder
Stadtgemeinde. Denn die Mit-
glieder der Stadtbehörde, welche
die Vertheilung beſchließen, ſte-
hen doch nicht außer der Gemein-
de, und ſind dem Intereſſe der
Vertheilung nicht in ähnlicher Art
fremd, wie der Vormund dem
Intereſſe der Handlungen, die er
für den Pupillen vornimmt.
(b) § 3 J, de auctor. tut. (1. 21.).
(c) Unter die ausgezeichnetſten
Franzöſiſchen Arbeiten über die-
ſen Gegenſtand gehören: Fiévée
correspondance politique et ad-
ministrative, lettre première
(überſetzt von Schloſſer Frank-
furt 1816), und die Rede von
Martignac über das Commu-
nalgeſetz, gehalten in der Depu-
tirtenkammer.
II. 23
|0368 : 354|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ſolchen Einwirkung ſind darum noch keinesweges gleicher
Meynung über den letzten Erfolg; Einige ſcheinen denſel-
ben mehr poſitiv zu denken, ſo daß die gewöhnlichen Ver-
treter der Corporationen ſollen thun können was ihnen
beliebt; Andere mehr negativ, ſo daß in dem Vermoͤgen
der Corporationen überhaupt jede eingreifende Anderung
ſchlechthin unterbleiben müßte. Beide Geſtalten jener Mey-
nung gehen von entſchiedenem Wohlwollen für die Corpo-
rationen aus, aber beide, in ihrer ſtrengen Conſequenz,
können denſelben ſehr verderblich werden.
Bey unbefangener Betrachtung iſt nicht zu verkennen,
daß durch die Übertreibung vormundſchaftlicher Einwir-
kung des Staats auf die Corporationen (beſonders die
Gemeinden) vielfach gefehlt worden iſt. Bald war es
Fiscalität, bald verkehrte Herrſchſucht der Staatsbeam-
ten, die den Gemeinden großen Nachtheil brachte, indem
ſelbſt viele laufende Geſchäfte unter die fortwährende, oft
hemmende ſpecielle Einwirkung des Staats geſtellt wur-
den, die man weit beſſer der unabhängigen Communal-
verwaltung überlaſſen hätte, nur mit dem natürlichen Vor-
behalt einer allgemeinen, in den Geſchäften ſelbſt wenig
merklichen Aufſicht. Solche Misbräuche in der Ausfüh-
rung ſind nicht durch aufgeſtellte Regeln zu verhuͤten, ſon-
dern nur durch die Einſicht und den guten Willen der Be-
hörden; die Richtigkeit des Princips kann durch ſie nicht
zweifelhaft werden. Iſt in den Behörden der richtige
Sinn vorhanden, ſo wird die Einwirkung des Staats auf
|0369 : 355|
§. 100. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
die oben dargeſtellten wichtigeren Geſchäfte nur zum größ-
ten Vortheil der Corporationen gereichen können; ſie wird
nicht nur das Intereſſe der Nachkommen wahrnehmen,
ſondern auch das der Einzelnen, die durch den eigennützi-
gen Willen der Mehrheit verletzt werden könnten; ſie wird
zwar bey allen Gemeinden, alſo auch den ſtädtiſchen, ſtatt
finden (d), jedoch am häufigſten und ſichtbarſten bey den-
jenigen, die wie die Dorfgemeinden keine ausgebildete Ver-
faſſung haben, und bey welchen daher das Intereſſe der
Corporation mit dem Eigennutz der Einzelnen in die un-
mittelbarſte Colliſion kommt.
Unter allen oben angegebenen Geſchäften, worauf eine
Einwirkung des Staats räthlich ſeyn kann, iſt keines, das
durch häufiges und gleichförmiges Vorkommen eine ſolche
Wichtigkeit hätte, wie die Gemeinheitstheilung, das
heißt die Vertheilung ſolcher Corporationsgrundſtücke an
die Einzelnen, welche auch bisher ſchon von den Einzel-
nen benutzt wurden (§ 98 Num. 4. B); mehrere der oben
angeführten allgemeineren Schriften ſind zunächſt durch
das wichtige Intereſſe dieſes Gegenſtandes veranlaßt. Die
unbedingte Macht der Majorität kann hier, wie in ande-
ren Fällen, zu der ſchreyendſten Ungerechtigkeit führen;
(d) In der Preußiſchen revi-
dirten Städteordnung von 1831
§ 117 — 123 wird zu folgenden
Geſchäften der Städte die Ein-
willigung der vorgeſetzten Staats-
behörde erfordert: Veräußerung
von Grundſtücken, Gemeinheits-
theilungen, Veräußerung von
Sammlungen, Anleihen, Ankauf
von Grundſtücken, Auflagen, Ver-
wandlung von Bürgervermögen
in Kämmereyvermögen. Geſetz-
ſammlung 1831 S. 28—30.
23*
|0370 : 356|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
aber ſelbſt die Einſtimmigkeit verhütet nicht alle Gefahren,
wie an dem oben angeführten Beyſpiel eines Bürgerwal-
des gezeigt worden iſt. Manche neuere Schriftſteller ha-
ben daher alle Gemeinheitstheilungen für ungerecht, ja für
revolutionär erklärt; gewiß mit der einſeitigſten Übertrei-
bung. Wenn die bisherige Art der Bodennutzung Jahr-
hunderte lang dem Bedürfniß genügte, ſo iſt unſtreitig
eine Zeit eingetreten, worin die größere Energie aller ge-
werblichen Thätigkeit Keinem erlaubt, ſich davon völlig
auszuſchließen, ohne daß ihm die alte Gewohnheit ver-
derblich würde. Niemand aber wird bezweifeln, daß der
als Gemeindeweide ſehr ſpärlich genutzte Boden durch die
Vertheilung zu einem ungleich höheren Ertrag gebracht
werden kann. Im Allgemeinen alſo ſind die Regierungen
wegen der Förderung der Gemeinheitstheilungen nur zu
loben, wenngleich im Einzelnen auch hier manches Ver-
kehrte geſchehen ſeyn mag. Die Aufſicht aber, wodurch
in dieſem Geſchäft der Staat ſowohl von den Einzelnen,
als von den Nachkommen im Ganzen, jede Verletzung ab-
zuwenden ſuchen muß, kann großentheils ſchon auf allge-
meine Regeln zurückgeführt werden, und wird in dieſer
Geſtalt ſogar noch größere Gewähr völliger Unparteylich-
keit mit ſich führen: dieſes iſt der Urſprung der Gemein-
heitstheilungsordnungen (e).
(e) Aus denſelben ſtaatswirth-
ſchaftlichen Gründen, woraus die
Gemeinheitstheilungsordnungen
hervorgegangen ſind, hat die neue-
re Geſetzgebung ſehr häufig auch
in die Rechtsverhältniſſe der Ein-
zelnen eingegriffen, indem ſie die
einſeitige Befugniß zu Separa-
|0371 : 357|
§. 100. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
Eine beſondere Erwähnung verdient noch an dieſer
Stelle die Prozeßführung für die den juriſtiſchen Perſonen
zuſtehenden Rechte. An ſich ſelbſt gehört dieſe zu den un-
bedenklichen Geſchäften der laufenden Verwaltung (§ 98).
Dennoch können zwey Rückſichten entgegengeſetzter Art be-
ſondere Vorſichtsmaasregeln nöthig machen, vornämlich
bey den universitates inordinatae, und namentlich den
Dorfgemeinden. Erſtlich kann eine leichtſinnige Prozeß-
führung leicht zu nutzloſen Ausgaben führen, alſo den
Character der Verſchwendung annehmen. Daher hat die
Praxis die Errichtung eines förmlichen Syndicats erfor-
dert (§ 97), und neuere Geſetze binden häufig alle Klagen
der Dorfgemeinden an eine beſondere Genehmigung der
Regierung. — Zweytens wenn die einzelnen Mitglieder
einer Dorfgemeinde das Gemeindevermögen an ſich ziehen
und verſchleudern wollen, ſo brauchen ſie nur als Ein-
zelne daſſelbe eigenmächtig in Beſitz zu nehmen, und dann
durch Verweigerung eines Syndicats jede petitoriſche und
poſſeſſoriſche Klage der Gemeinde gegen ſie als einzelne
Verletzer zu verhindern. Da es nun widerſinnig wäre,
wenn man zulaſſen wollte, daß auf dieſe indirecte Weiſe
den Gemeinden aller Rechtsſchutz entzogen würde, ſo bleibt
für ſolche Fälle keine andere Aushülfe übrig, als daß die
Regierung irgend einem Beamten den Auftrag gebe, die
tionen und zur Ablöſung von Ser-
vituten und Reallaſten zugelaſ-
ſen hat, welches hier nur bey-
läufig erwähnt wird. Vgl. Eich-
horn deutſches Privatrecht § 373.
|0372 : 358|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Klage im Namen der Gemeinde anzuſtellen. Wollte man
der Regierung die Ausübung dieſes obervormundſchaftli-
chen Rechts verſagen, ſo würde man damit den Einzel-
nen die Macht einräumen, die willkührlichſte und regello-
ſeſte Gemeinheitstheilung zu erzwingen (f).
Über die hier verhandelten Gegenſtände enthält das
Römiſche Recht ungemein wenig. In den Stadtgemein-
den war in der Kaiſerzeit eine faſt unbeſchränkte Gewalt
den Decurionen eingeräumt (§ 96). Doch findet ſich auch
dabey ſchon eine merkwürdige Einſchränkung in einer Con-
ſtitution des K. Leo. Wenn eine Stadt Gebäude, Grund-
renten, oder Sklaven (g) verkaufen will, ſo wird dazu in
(f) Für den einfachen Fall, daß
in der That alle oder faſt alle
Einzelne in dieſem Conflict mit
der Gemeinde erſcheinen, iſt die
Sache ſo klar, daß die hier auf-
geſtellte Behauptung nicht leicht
Widerſpruch finden möchte. Allein
öfter erſcheint ſie in folgender et-
was verwickelteren Geſtalt. Wenn
nämlich nur ein Theil der Ge-
meindeglieder die ausſchließende
Nutzung eines Gemeindewaldes
hat, ſo geſchieht es wohl, daß
eben dieſe Waldbeerbte den Be-
ſitz als Einzelne an ſich reißen,
und dann vorgeben, es könne
nicht anders gegen ſie geklagt
werden, als vermittelſt eines von
den Übrigen errichteten Syn-
dicats. Auch das iſt illuſoriſch;
denn da dieſe Übrigen gar kein
Intereſſe bey der Sache haben,
ſo können ſie leicht durch ganz
geringe Geldvortheile abgefunden
werden, ſo daß auch ſie das Syn-
dicat verweigern. Der Fall iſt
alſo von jenem erſten, einfachſten
Fall doch nicht weſentlich ver-
ſchieden. — Fälle ſolcher verſchie-
denen Arten ſind in neuerer Zeit
öfter in den oſtrheiniſchen (vor-
mals Naſſauiſchen) Theilen des
Preußiſchen Staats vorgekommen,
und der Rheiniſche Reviſionshof
in Berlin hat dieſelben, ſeit einer
Reihe von Jahren, ſtets nach den
hier aufgeſtellten Grundſätzen be-
urtheilt.
(g) L. 3 C. de vend.reb. civ. (11.
31.) „domus, aut annonae civiles,
aut quaelibet aedificia vel man-
cipia.” Annonae civiles ſind
|0373 : 359|
§. 100. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)
Conſtantinopel die kaiſerliche Genehmigung erfordert, in
jeder andern Stadt die Genehmigung einer Verſammlung,
die aus der Mehrzahl der Decurionen, der Honorati und
der Poſſeſſoren dieſer Stadt beſtehen muß, und worin
jedes einzelne Mitglied ſeine Stimme beſonders abzugeben
hat (h). — Für die collegia enthielten ſchon die zwoͤlf Ta-
feln die (aus den Soloniſchen Geſetzen übertragene) Be-
ſtimmung, daß ſie ſelbſt Statuten für ſich zu machen be-
rechtigt ſeyn ſollten: es wird aber dabey nicht bemerkt,
ob dieſe nur einſtimmig, oder auch ſchon durch Stimmen-
mehrheit, beſchloſſen werden koͤnnten (i).
Reallaſten, die in Fruchtabgaben
beſtehen, die alſo von Colonen
oder von Emphyteuten entrichtet
werden. Vgl. L. 14 C. de SS.
eccl. (1. 2.), und Jac. Gotho-
fredus in L. 19 C. Th. de pa-
ganis (16. 10.). Der Name be-
zeichnet den Gegenſatz gegen die
militaris annona, oder die den
Grundeigenthümern obliegende
Naturallieferung zur Verpflegung
des Heeres.
(h) l. c. „praesentibus omni-
bus, seu plurima parte, tam
curialium quam honoratorum
et possessorum civitatis.” Ob
die Stimmenmehrheit der Anwe-
ſenden, oder die aller vorhande-
nen Mitglieder jener Klaſſen über
den Verkauf zu entſcheiden habe,
ſagt das Geſetz nicht. Über die
Bedeutung der genannten Klaſ-
ſen vergl. Savigny Geſchichte
des R. R. im Mittelalter B. 1
§ 21.
(i) L. 4 de coll. et corp. (47.
22.) aus Gajus lib. 4 ad Leg. XII.
tab. „Sodales sunt qui ejus-
dem collegii sunt. His autem
polestatem facit Lex, pactio-
nem quam velint sibi ferre, dum
ne quid ex publica lege cor-
rumpant.”
|0374 : 360|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 101.
Juriſtiſche Perſonen. — Fiscus.
Digest. XLIX. 14 de jure fisci.
Cod. Just. X. 1 de jure fisci.
Cod. Theod. X. 1 de jure fisci.
Paulus V. 12 de jure fisci et populi.
Die Art, wie der Staat in ſeinen privatrechtlichen
Verhältniſſen thätig erſcheint, das heißt die Verfaſſung
des Fiscus, gehört nicht hierher, ſondern in das öffent-
liche Recht; daher haben denn auch die von den Römern
hierin getroffenen Einrichtungen für uns nur ein geſchicht-
liches Intereſſe.
Die privatrechtliche Seite des Fiscus beſteht theils in
ſeinen äußerſt zahlreichen Privilegien, theils in ſeiner ju-
riſtiſchen Perſönlichkeit ſelbſt. Die Darſtellung der ein-
zelnen Privilegien iſt für dieſe Stelle unſres Rechtsſyſtems
ſchon oben als unzweckmäßig abgelehnt worden (§ 90).
Nur einige allgemeine Bemerkungen mögen hier zur Sprache
gebracht werden. Auf die zahlreichen eigenthümlichen Er-
werbungen, worauf der Fiscus in Folge beſonderer Pri-
vilegien Anſpruch hatte, bezogen ſich eigens organiſirte
Anzeigen (Nunciationes), die dem Anzeigenden mancherley
Vortheil bringen konnten (a). Die Klagen aus dieſen ei-
(a) L. 1 pr. L. 13 L. 15 § 3 L. 16. 42. 49 de j. fisci (49 14.).
|0375 : 361|
§. 101. Juriſtiſche Perſonen. Fiscus.
genthümlichen Erwerbungen waren in der Regel einer
zwanzigjährigen Verjährung unterworfen (b), bey herren-
loſen Erbſchaften aber ausnahmsweiſe einer vierjähri-
gen (c). — Von dem Fiscus iſt das Privatvermögen des
Fürſten an ſich in allen Staaten verſchieden (§ 88. pp):
im Römiſchen Recht jedoch ſind die Privilegien des Fis-
cus auch auf das Privatvermoͤgen des Kaiſers, ja ſelbſt
der Kaiſerin, ausgedehnt worden (d).
Bey der juriſtiſchen Perſönlichkeit des Fiscus ver-
ſchwinden die bey den Corporationen erwähnten Zweifel
und Irrthümer gänzlich, indem das Recht zur Vertretung
des Fiscus, vermittelſt einzelner Perſonen oder ganzer
Behörden, lediglich durch die, dem öffentlichen Rechte je-
des Staats angehörende, Verfaſſung des Fiscus be-
ſtimmt wird.
Eine allgemeine Bemerkung über dieſe Seite des Fis-
cus muß aber hier ihre Stelle finden. Der Fiscus un-
terſcheidet ſich von allen anderen juriſtiſchen Perſonen durch
eine ganz eigenthümliche Stellung (§ 86. 87. 88). Im äl-
teren Römiſchen Recht war bey natürlichen, wie bey ju-
riſtiſchen Perſonen, die Rechtsfähigkeit, nach Gegenſtän-
den und Graden, mannichfach beſtimmt. Namentlich wurde
den Corporationen lange Zeit die Erbfähigkeit verſagt, und
die alten Juriſten ſuchten dieſe mangelnde Fähigkeit aus
(b) L. 1 § 3. 4. 5 de j. fisci
(49. 14.).
(c) L. 1 § 1. 2 de j, fisci
(49. 14.).
(d) L. 6 § 1 de j. fisci (49. 14.).
|0376 : 362|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
der beſonderen Natur der Corporationen zu erklären. Dieſe
Gründe paßten völlig eben ſo auf das Ararium (populus)
und den Fiscus (e); dennoch werden dieſelben bey dieſer
Gelegenheit gar nicht erwähnt, weder als mit derſelben
Unfähigkeit wie die Corporationen behaftet, noch als da-
von urſprünglich frey, oder in irgend einer ſpäteren Zeit
befreyt. Daneben aber finden ſich nicht wenige Fälle, in
welchen das Ärarium Erbſchaften und Legate wirklich er-
warb, ohne Spur eines Zweifels an der rechtlichen Moͤg-
lichkeit dieſer Erwerbung (§ 93. D). Dieſe Erſcheinungen
erklären ſich aus der erwähnten eigenthümlichen Natur des
Staatsvermögens. Der populus, von welchem alles Recht
überhaupt ausgieng, konnte unmoͤglich irgend eine Art der
Rechtsfähigkeit entbehren. So mußte es ſeyn zu jeder
Zeit, und von einer beſonderen Verleihung einer ſolchen
Fähigkeit konnte nicht die Rede ſeyn. Die alten Juriſten
aber ſcheinen dieſes Alles ſo natürlich und nothwendig zu
finden, daß es ihnen gar nicht in den Sinn kam, Regeln
darüber aufzuſtellen, und insbeſondere den weſentlichen Un-
terſchied zwiſchen dem Fiscus und den Corporationen be-
merklich zu machen.
(e) Ohne Zweifel paſſen auf
den populus ebenſowohl wie auf
jedes Municipium, Ulpians Worte
(XXII. § 5): „quoniam incertum
corpus est, ut neque cernere
universi, neque pro herede ge-
rere possint, ut heredet fiant.”
|0377 : 363|
§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.
§. 102.
Juriſtiſche Perſonen. — Erbſchaften.
Nach der gewöhnlichen Lehre unſrer Rechtslehrer ſoll
auch eine noch unerworbene oder ruhende Erbſchaft (he-
reditas jacens) unter die juriſchen Perſonen gehören, folg-
lich mit den Corporationen auf gleiche Linie zu ſtellen ſeyn.
In der That ſcheint auch eine Stelle des Florentinus dieſe
Zuſammenſtellung unmittelbar zu beſtätigen (a). Wir ha-
ben aber zu unterſuchen, in welchem Sinn dieſelbe für
wahr zu halten ſey.
Zuvörderſt könnte man ſich die Sache ſo denken wol-
len, als ob nach dem Antritt des Erben deſſen Herrſchaft
über das Vermögen erſt von dem Zeitpunkt dieſes Antritts
anzurechnen wäre, ſo daß zwiſchen dem Tod und dem
Antritt ſtets ein Zeitraum übrig bliebe, in welchem ledig-
lich ein fingirter Herr des Vermögens, die Erbſchaft ſelbſt,
angenommen werden könnte. So iſt es aber in der That
nicht; vielmehr wird das Recht des Erben, welcher an-
getreten hat, gerade ſo betrachtet, als hätte es unmittel-
bar nach dem Tode angefangen, ſo daß überhaupt kein
Zeitpunkt anzunehmen iſt, worin das Vermögen nicht un-
ter der Herrſchaft entweder des Erblaſſers, oder des Er-
(a) L. 22 de fidejuss. (46. 1.).
„Mortuo reo promittendi, et
ante aditam hereditatem fide-
jussor accipi potest: quia he-
reditas personae vice-fungitur,
sicuti municipium, et decuria,
et societas.” (vgl. § 85. h).
|0378 : 364|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ben, wirklich geſtanden hätte (b). Wenn ſich daher manche
Stellen ſo ausdrücken, als wäre die unerworbene Erb-
ſchaft herrenlos (c), ſo iſt das nur ſo zu verſtehen, daß
wir den wirklichen Herrn nicht kennen; in jener ganzen
Zwiſchenzeit alſo hat zwar die Erbſchaft einen Herrn, aber
für unſer Bewußtſeyn iſt er nicht vorhanden.
Eine andere Deutung jener Zuſammenſtellung wäre
folgende. Jenes Vermoͤgen hat einen unbekannten Herrn,
iſt alſo ohne Schutz. Daher wird ihm einſtweilen ein
Curator geſetzt, der es eben ſo vertritt, wie eine juriſti-
ſche Perſon von ihren Vorſtehern vertreten wird. — Allein
auch dieſe Deutung muß verworfen werden. Die Ernen-
nung eines Curators für die unerworbene Erbſchaft iſt
zwar auch nach Römiſchem Recht nicht undenkbar, aber
weder nothwendig, noch gewöhnlich; die zahlreichen Stel-
len, worin das beſondere Recht der unerworbenen Erb-
ſchaften vorkommt, ſetzen ſo wenig einen ſolchen Curator
voraus, daß vielmehr keine derſelben ihn erwähnt. Auch
für das Vermögen eines Abweſenden kann nach Bedürf-
niß ein Curator angeordnet werden, ohne daß dabey an
eine juriſtiſche Perſon zu denken wäre. Zu einer bloßen
(b) L. 193 de R. J. (50. 17.).
„Omnia fere jura heredum pe-
rinde habentur, ac si continuo
sub tempus mortis heredes ex-
stitissent.” L. 138 pr.eod. „Om-
nis hereditas, quamvis postea
adeatur, tamen cum tempore
mortis continuatur.” L. 54 de
adquir. vel omit. her. (29. 2.).
L. 28 § 4 de stip. serv. (45. 3.).
(c) L. 13 § 5 quod vi (43. 24.).
„.. cum praedium interim nul-
lius esset … postea dominio
ad aliquem devoluto .. utputa
hereditas jacebat, postea adiit
hereditatem Titius … quod eo
tempore nemo dominus fuerit.”
|0379 : 365|
§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.
Fiction wird weder der Abweſende durch ſeine Abweſen-
heit, noch der künftige Erbe durch ſeine augenblickliche
Verborgenheit: beide bleiben einzelne Menſchen, natürliche
Perſonen. Wollte man die Behandlung der unerworbe-
nen Erbſchaft als einer juriſtiſchen Perſon ſtrenge durch-
führen, ſo müßte man ſie in Rechtsverhältniſſe aller Art
eintreten laſſen, ja man koͤnnte ſo weit gehen, zu geſtatten,
daß der ruhenden Erbſchaft unmittelbar wieder ein frem-
der Teſtator Erbſchaften oder Legate zuwendete; dieſes
Alles aber iſt den Römiſchen Juriſten nie in den Sinn
gekommen.
Die einfachſte und natürlichſte Behandlung dieſes Falles
wäre ohne Zweifel die, daß man von dem Tode an die
Erbſchaft als das Vermoͤgen eines noch unbekannten Herrn
anſähe, der aber doch einmal bekannt werden muß, und
auf welchen dann Alles zu beziehen iſt, was ſich in der
Zwiſchenzeit mit dieſem Vermoͤgen etwa zutragen mag.
Dieſe natürliche Behandlung der Sache iſt es, welche das
Römiſche Recht nicht gelten laſſen will, indem es an de-
ren Stelle eine Fiction unter zwey verſchiedenen Aus-
drücken ſetzt. Bald wird geſagt, die Erbſchaft ſelbſt ſtelle
eine Perſon vor, und habe die Herrſchaft über das Ver-
mögen, alſo über ſich ſelbſt (d); bald, die Erbſchaft ſtelle
(d) L. 22 de fidej. (46. 1.),
(Note a), L. 15 pr. de usurp.
(41. 3.) „nam hereditatem in
quibusdam vice personae fungi
receptum est.” — L. 13 § 5 quod
vi (43. 24.) „dominae locum ob-
tinet,” L. 15 pr. de interrog.
(11. 1.) „domini loco habetur,”
L. 61 pr. de adqu. rer. dom.
(41. 1.) „pro domino habetur,”
L. 31 § 1 de her. inst. (28. 5.)
ſ. u. Note f.
|0380 : 366|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
den Verſtorbenen vor, nicht den noch unbekannten Erben (e).
Beide Ausdrücke aber ſind ohne Zweifel voͤllig gleichbe-
deutend (f), und bilden blos den Gegenſatz gegen das oben
erwähnte natürliche Verhältniß, nach welchem die Erb-
ſchaft ſchon jetzt dem unbekannten Erben wirklich gehört,
folglich mit ihm identiſch iſt (g).
Zu dieſer Fiction aber wurden die Römer durch fol-
gende Betrachtung bewogen. Wenn zu der Erbſchaft auch
Sklaven gehörten (welches wohl ſelten ganz fehlen mochte),
ſo konnte durch dieſe das Vermögen, auch in ſeinem jetzt
ruhenden Zuſtand, dennoch vermehrt werden, indem über-
haupt der Sklave ſeinem Herrn Vermögen, ſelbſt ohne
deſſen Wiſſen, erwerben konnte. Allein es gab Erwer-
bungsarten, bey welchen es wegen ihrer ſtreng civilen
(e) pr. J. de stip. serv. (3. 17).
„personae defuncti vicem su-
stinet,” § 2 J. de her. inst. (2.
14.) „personae vicem sustinet
non heredis futuri, sed de-
functi,” L. 34 de adqu. rer.
dom. (41. 1.). „Hereditas enim
non heredis personam sed de-
functi sustinet,” L. 33 § 2 eod.
„ex persona defuncti vires as-
sumit.” — Einiger Zweifel könnte
entſtehen aus L. 24 de novat.
(46. 2.) „transit ad heredem,
cujus personam interim here-
ditas sustinet.” Allein der Wi-
derſpruch dieſer Stelle, nach der
hier abgedruckten Florentiniſchen
Leſeart, mit den vorhergehenden
Stellen, iſt ſo augenſcheinlich und
unauflöslich, daß deshalb die die-
ſen Widerſpruch beſeitigende Vul-
gata: „transit ad heredem il-
lius, cujus personam” unbedenk-
lich vorzuziehen iſt.
(f) Dieſe Identität beider Aus-
drücke wird beſonders klar aus
einer Stelle, worin beide zuſam-
menſtehen, ſo daß offenbar einer
den andern nur erklären und nä-
her beſtimmen ſoll. L. 31 § 1 de
her. inst. (28. 5.) „quia credi-
tum est hereditatem dominam
esse, (et) defuncti locum ob-
tinere.”
(g) Dieſer Gegenſatz iſt in zwey
Stellen (Note e) geradezu aus-
geſprochen.
|0381 : 367|
§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.
Natur mit der Rechtsfähigkeit des Erwerbers beſonders
ſtreng genommen wurde; ſollten dieſe von einem Sklaven
ausgehen, deſſen Erwerbsfähigkeit überhaupt von der ſei-
nes Herrn abhieng, ſo wurde ein bekannter und fähiger
Herr vorausgeſetzt, wenn nicht der Erwerb ungültig oder
wenigſtens in ſeiner Gültigkeit zweifelhaft bleiben ſollte.
Unter dieſe ſtreng civilen Erwerbungen gehörte nun die
Erbeinſetzung des Sklaven, indem deren Gültigkeit davon
abhieng, daß der Sklave einen zur Zeit des errichteten
Teſtaments einſetzungsfähigen Herrn hatte (h). Eben ſo
verhielt es ſich mit dem Erwerb einer Forderung durch
die Stipulation eines Sklaven; gewiß auch eben ſo mit
dem Erwerb des Eigenthums, wenn ſich der Sklave eine
Sache mancipiren ließ, nur daß dieſer Fall im Juſtinia-
niſchen Recht nicht mehr berührt wird. Um dieſer, durch
die ſtrenge Rechtsform beſchränkten, Erwerbungen willen
hatten die Römer jene Fiction eingeführt, die es möglich
machte die Gültigkeit der Handlung mit Sicherheit zu be-
urtheilen, indem dieſelbe nun von der Rechtsfähigkeit des
bekannten Erblaſſers abhieng, anſtatt daß die Fähigkeit des
noch unbekannten Erben ungewiß war. Einige Beyſpiele
werden dieſes praktiſche Intereſſe jener Fiction anſchaulich
machen. Wenn ein teſtamentsfähiger Römer ohne Teſta-
ment ſtarb, und nun ein Dritter einen Sklaven dieſer ru-
(h) Ulpianus XXII. § 9 L. 31
pr. de her. inst. (28. 5.). Hier
wird dieſer Satz in unmittelbarer
Verbindung mit unſrer Fiction
vorgetragen.
|0382 : 368|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
henden Erbſchaft zum Erben einſetzte, ſo war die Ein-
ſetzung kraft unſrer Fiction gültig, weil ſie auf den ein-
ſetzungsfähigen Verſtorbenen bezogen wurde; ohne die
Fiction wäre ihre Gültigkeit ungewiß geweſen, weil der
noch unbekannte Inteſtaterbe ein Inteſtabilis ſeyn konnte,
welcher keine Einſetzungsfähigkeit hatte (i). Wenn ein
Soldat mit Hinterlaſſung eines Teſtaments ſtirbt, dieſes
iſt noch uneröffnet, alſo die Erbſchaft noch unerworben,
ſo kann jeder Dritte einen zu dieſer Erbſchaft gehörenden
Sklaven mit Sicherheit zum Erben einſetzen, weil die Ein-
ſetzung, nach unſrer Fiction, auf den Verſtorbenen bezogen
wird; ohne die Fiction wäre die Einſetzung von ungewiſ-
ſer Gültigkeit, weil der noch unbekannte Teſtamentserbe
des Soldaten ein Peregrine ſeyn kann (k), welcher mit
jenem dritten Teſtator keine testamentifactio hat. Ganz
eben ſo verhält es ſich, wenn in demſelben Fall der Erb-
ſchaftsſklave eine Stipulation mit der Formel spondes?
spondeo ſchließt; denn dieſe iſt durch die Beziehung auf
den Verſtorbenen gültig, anſtatt daß ſie, bezogen auf den
peregrinen Teſtamentserben, ungültig ſeyn würde (l). —
Daneben hat nun die Fiction auch die ganz conſequente
Folge, daß, wenn der erwerbende Erbſchaftsſklave ſelbſt
legirt iſt, der Erwerb dennoch bey der Erbſchaft bleibt,
(i) L. 18 § 1 L. 26 qui test.
(28. 1.). Wenigſtens nach dem
älteren Recht konnte der Inte-
ſtabilis auch nicht zum Erben ein-
geſetzt werden. Vgl. Marezoll
bürgerliche Ehre S. 90.
(k) L. 13 § 2 de test. mil.
(29. 1.).
(l) Gajus III. § 93.
|0383 : 369|
§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.
und nicht etwa, zugleich mit dem Sklaven, an den Legatar
fällt: welcher Satz jedoch bey dem Erwerb durch das Le-
gat eines Uſusfructus eine Ausnahme leidet (Note r).
Solche Fälle ſind es, um deren willen allein jene
Fiction erfunden worden iſt. Von ihnen ſprechen die mei-
ſten und beſtimmteſten der über die Fiction bereits an-
geführten Stellen (m). Allerdings finden ſich auch einige
Stellen, worin davon Gebrauch gemacht wird bey man-
chem Sklavenerwerb, der nicht unter der ſtrengen Regel
des jus civile ſtand, wie z. B. durch bloße Tradition oder
durch einen bonae fidei contractus (n): andere Stellen,
worin ſie ſogar angewendet wird ohne Rückſicht auf den
Erwerb durch Sklaven (o). Allein dieſes ſind durchaus
(m) Von dem Erwerb des Skla-
ven überhaupt: L. 61 pr. de adqu.
rer. dom. (41. 1.). — Von der
Stipulation des Sklaven: pr. J.
de stip. serv. (3. 17.), L. 33 § 2
L. 34 de adqu. rer. dom. (41. 1).
Vgl. L. 18 pr. § 2 de stip. serv.
(45. 3.). — Von der Erbeinſetzung
des Sklaven: § 2 J. de her. inst.
(2. 14.), L. 31 § 1 L. 52 de her.
inst. (28. 5.), L. 61 pr.de adqu.
rer. dom. (41. 1.). — War ein
Erbe eingeſetzt, der zwar testa-
mentifactio hatte, aber die Ca-
pacität ganz oder theilweiſe ent-
behrte (coelebs oder orbus), ſo
konnte ein Erbſchaftsſklave die ihm
legirte Sache dennoch unbedingt
der Erbſchaft erwerben; wer dieſe
Sache, ſo wie die ganze Erbſchaft,
am Ende bekommen würde, das
mußte ſich dann zur Zeit des An-
tritts der Erbſchaft zeigen. L. 55
§ 1 de leg. 2 (31. un.).
(n) L. 16 de O. et A. (44. 7.)
(vgl. Arndts Beiträge I. 208),
L. 33 § 2 de adqu. rer. dom.
(41. 1.), L. 1 § 5 de adqu. poss.
(41. 2.), L. 29 de captiv. (49.
15.), L. 15 pr. de usurp. (41.
3.), L. 11 § 2 de acceptilat. (46.
4.). — Vgl. auch folgende Stel-
len, welche von der Regel An-
wendung machen, ohne ſie gera-
dezu auszuſprechen: L. 1 § 6 de
injur. (47. 10.), L. 21 § 1 L. 3
pr. § 6 de neg. gestis. (3. 5.),
L. 77 de V. O. (45. 1.), L. 1
§ 29 depos. (16. 3.).
(o) L. 22 de fidejuss. (ſ. oben
Note a), L. 24 de novat. (46. 2.),
L. 13 § 5 quod vi (43. 24.) (wo
II. 24
|0384 : 370|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
nur zufällige Anwendungen einer zu ganz anderen Zwecken
erfundenen Regel. Dieſes wird dadurch unzweifelhaft, daß
unter allen dieſen Fällen kein einziger iſt, für welchen die
Fiction irgend einen praktiſchen Werth hätte, das heißt
kein einziger, in welchem nicht ganz derſelbe Erfolg be-
hauptet werden koͤnnte, man möge während der ruhenden
Erbſchaft den Verſtorbenen, oder aber den künftigen Er-
ben (der es eigentlich jetzt ſchon iſt) als gegenwärtigen
Herrn des Vermögens betrachten.
An der Richtigkeit dieſer Behauptung könnte man viel-
leicht durch diejenigen Stellen irre werden, worin jene
Fiction in ſo allgemeinen Ausdrücken vorgetragen wird,
daß dazu die eben behauptete beſchränkte Anwendung we-
nig zu paſſen ſcheint (p). Allein die in dieſen unbeſtimm-
ten Ausdrücken angedeutete Allgemeinheit der Regel iſt
doch nur ſcheinbar; dieſes beweiſen einige andere, genauer
redende Stellen, welche der Fiction ausdrücklich nur eine
relative, alſo beſchränkte, Wirkſamkeit zuſchreiben (q). —
Ja ſelbſt in den Fällen des Erwerbs durch Sklaven, wo-
für ſie eigentlich eingeführt iſt, gilt ſie nicht ganz ohne
dieſer Grund nur neben anderen
geltend gemacht wird), L. 15 pr.
de interrog. (11. 1.). Vgl. auch
Beylage IV. Note b.
(p) Dieſer ſcheinbar allgemeine
Ausdruck der Fiction findet ſich
in: L. 22 de fidej. (Note a),
L. 24 de novat. (46. 2.), L. 13
§ 5 quod vi (43. 24.), L. 15 pr.
de interrog. (11. 1.), L. 31 § 1
de her. inst. (28. 5.), L. 34 de
adqu. rer. dom. (41. 1.), § 2 J.
de her. inst. (2. 14.).
(q) pr. J. de stip. serv. (3. 17.)
„in plerisque,” L. 61 pr. de
adqu. rer. dom. (41. 1.) „in mul-
tis partibus juris,” L. 15 pr. de
usurp. (41. 3.) „in quibusdam.”
|0385 : 371|
§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.
Ausnahmen (r); dadurch aber wird es um ſo einleuchten-
der, daß der allgemeine Ausdruck der oben angeführten
Stellen (Note p) nicht zu buchſtäblich genommen wer-
den darf.
Allerdings findet ſich noch ein merkwürdiger, praktiſch
wichtiger Rechtsſatz außer dem Sklavenrecht, auf welchen
jene Fiction im älteren Recht einigen Einfluß hätte ha-
ben können. Wenn ein Erblaſſer eine angefangene, un-
vollendete Uſucapion hinterläßt, ſo müßte der Strenge
nach die Uſucapion unterbrochen ſeyn, da die Erbſchaft
keines Beſitzes fähig iſt. Da dieſes aber zu empfindliche
Folgen gehabt hätte, ſo nahm man als jus singulare an,
die Uſucapion gehe nicht nur ununterbrochen fort, ſondern
ſie könne ſelbſt vor dem Antritt der Erbſchaft vollendet
werden (s). Dieſen praktiſch wichtigen Satz konnte man
verſuchen durch unſre Fiction zu begründen, und dieſes
konnte vor Juſtinian in dem oben angeführten Beyſpiel
eines Soldatenteſtaments wichtig werden; denn wurde die
(r) Wenn der Erbſchaftsſklave
ſtipulirt, ſo gilt die Stipulation
nur als eine bedingte, und wird
erſt dann erworben, wenn irgend
Jemand die Erbſchaft antritt.
L. 73 § 1 de V. O. (45. 1.). —
Wenn dem Erbſchaftsſklaven et-
was legirt wird, ſo wird zwar in
der Regel dieſes Legat ſogleich der
Erbſchaft erworben; iſt aber ein
Uſusfructus legirt, ſo tritt der Er-
werb erſt zu der Zeit ein, wo der
Sklave, in Folge des Antritts
der Erbſchaft, einen beſtimmten
Herrn erhält: es ſey nun dieſer
Herr der antretende Erbe ſelbſt,
oder aber Derjenige, dem der
Sklave legirt iſt, da denn der
Erwerb niemals an die Erbſchaft
kommt. L. 1 § 2 quando dies
ususfr. (7. 3.). L. 16 § 1 quan-
do dies leg. (36. 2.).
(s) L. 31 § 5 L. 40 L. 44 § 3
de usurp. (41. 3.), L. 30 pr. ex
quib. causis maj. (4. 5.).
24*
|0386 : 372|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Uſucapion auf den Verſtorbenen bezogen, ſo war ihre
Vollendung möglich, bezog man ſie auf den peregrinen
Teſtamentserben (der perſoͤnlich nicht uſucapiren konnte),
ſo war ſie unmöglich. Dennoch wird in keiner der eben
angeführten Stellen jene Fiction zu Hülfe genommen, ſon-
dern es wird vielmehr der die Uſucapion betreffende Rechts-
ſatz als ein ganz für ſich beſtehender dargeſtellt; ohne
Zweifel deswegen, weil die ganze Fiction überhaupt nur
reine Rechtsverhältniſſe zum Gegenſtand hatte, alſo nicht
ſolche Verhältniſſe, die ein menſchliches Bewußtſeyn und
Handeln unmittelbar vorausſetzen, wohin gerade der Be-
ſitz gehört (t).
Die Reſultate dieſer, die Erbſchaft als juriſtiſche Per-
ſon betreffenden, Unterſuchung laſſen ſich in folgende Sätze
zuſammenfaſſen.
Erſtlich: Die ruhende Erbſchaft war, auch im Sinn
der Römmer, keine juriſtiſche Perſon, und wenn ſie in
einer Stelle mit Corporationen verglichen wird (Note a),
ſo hat das blos den Sinn, daß ſowohl bey ihr, als bey
jenen, eine Fiction angewendet wird. Dieſe Fiction hat
jedoch in jedem der erwähnten zwey Fälle andere Gründe
und andere Folgen, mithin eine verſchiedene Natur.
(t) L. 1 § 15 si is qui test.
(47. 4.), L. 61 pr. § 1 de adqu.
rer. dom. (41. 1.), L. 26 de stip.
serv (45. 3). (Dieſe letzte Stelle
hat ſich nun auch noch an ei-
nem andern Orte wiedergefunden.
Fragm. Vat. § 55). — Eine Folge
der Beſitzesunfähigkeit der Erb-
ſchaft war es, daß ſie nicht be-
ſtohlen werden, alſo auch nicht
die furti actio erwerben konnte.
L. 68. 69. 70 de furtis (47. 2.),
L. 2 expil. hered. (47. 19.).
|0387 : 373|
§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.
Zweytens: Die eigenthümliche Behandlung der ruhen-
den Erbſchaft vermittelſt einer Fiction beſchränkte ſich bey
den Römern auf die Erleichterung gewiſſer Erwerbungen
durch die zu der Erbſchaft gehörenden Sklaven.
Drittens: Es iſt daher nicht zu rechtfertigen, wenn
jene Eigenthümlichkeit der ruhenden Erbſchaft als Beſtand-
theil des heutigen Rechts dargeſtellt wird, indem daſſelbe
den Erwerb durch Sklaven überhaupt nicht kennt.
|0388 : 374|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
§. 103.
Verſchiedenheiten in der Verknüpfung der Rechts-
verhältniſſe mit den Perſonen.
Bisher iſt in dieſem Abſchnitt unterſucht worden, wer
überhaupt Subject eines Rechtsverhältniſſes ſeyn könne:
und zwar zuerſt nach der allgemeinen Natur der Rechts-
verhältniſſe ſelbſt, dann nach poſitiven Rechtsregeln, wo-
durch jene natürliche Rechtsfähigkeit theils eingeſchränkt,
theils künſtlich erweitert wird. Dieſe Beſtimmungen vor-
ausgeſetzt, entſteht nun die fernere Frage, wie die Rechts-
verhältniſſe mit den an ſich dazu fähigen Subjecten ver-
knüpft werden. Dieſe Verknüpfung geſchieht regelmäßi-
gerweiſe durch irgend ein das beſtimmte Individuum be-
treffendes Ereigniß, alſo durch menſchliches Handeln oder
Leiden. So kann ein Jeder Eigenthum erwerben durch
Tradition oder Occupation, durch Verträge Glaubiger
oder Schuldner werden, Schuldner auch durch die Delicte
die er begeht, Glaubiger durch die welche gegen ihn ver-
übt werden. Dieſes Alles iſt auch wahr von den juriſti-
ſchen Perſonen, nur mit dem Unterſchied, daß als ihre
Handlungen die Handlungen ihrer Vertreter angeſehen wer-
den. Die allgemeine Natur der zu dieſer regelmäßigen
Verknüpfung der Rechtsverhältniſſe mit den Perſonen füh-
renden Thatſachen wird der Gegenſtand des folgenden
Abſchnitts ſeyn.
|0389 : 375|
§. 103. Verknüpfung der Rechtsverhältniſſe mit der Perſon.
Allein es giebt auch eine abweichende, mehr künſtliche,
Verknüpfungsweiſe, die ſich nicht auf das menſchliche Thun
und Leiden einer individuell beſtimmten Perſon gründet,
ſondern auf eine allgemeine, mit den verſchiedenſten In-
dividuen vereinbare Eigenſchaft. Dieſe ungewoͤhnlichere
Verknüpfungsweiſe wird bey manchen Arten der Rechts-
verhältniſſe durch ihre beſondere Natur herbeygeführt: bey
anderen kann es durch individuelle Willkühr in einzelnen
Fällen der Anwendung geſchehen. Eine ſolche individuelle
Willkühr aber wird ſeltner in Verträgen vorkommen, welche
meiſt ein deutlich gedachtes und genau beſtimmtes In-
tereſſe der Gegenwart befriedigen ſollen: häufiger in ei-
nem letzten Willen, in deſſen Natur es ohnehin liegt, auf
eine nicht genau beſtimmbare Zukunft einzuwirken, und
der ſich daher leichter auch in das ganz Unbeſtimmte und
Gränzenloſe verliert: eben ſo auch in Beſtimmungen der
höchſten Gewalt, die in der Form von Privilegien erlaſ-
ſen werden. Der letzte Wille aber, der an allgemeine
Eigenſchaften, anſtatt an eine beſtimmt gedachte Perſoͤn-
lichkeit (persona incerta), ein Succeſſionsrecht knüpfen
ſollte, war im älteren Römiſchen Recht unterſagt, und
erſt Juſtinian hat denſelben für gültig erklärt (§ 93. q).
Die allgemeine Eigenſchaft ſelbſt, woran in dieſen ab-
weichenden Fällen ein Rechtsverhältniß zunächſt angeknüpft
wird, um durch ſie der Perſon anzugehören, in welcher
ſich dieſe Eigenſchaft findet, kommt beſonders in folgen-
den Geſtalten vor:
|0390 : 376|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
I. Als ein ſtaatsrechtliches Verhältniß. Wenn z. B.
in Rom ein Legat dem Kaiſer hinterlaſſen war (Quod
principi relictum est), ſo wurde das ſo ausgelegt, als
wäre nicht gerade der Kaiſer zur Zeit der Abfaſſung des
Teſtaments gemeynt, ſondern Jeder, der zur Zeit der Er-
werbung des Legats Kaiſer ſeyn würde. Dieſes war nun
eigentlich eine incerta persona, mithin ungültig: daß man
es dennoch ſchon in der älteren Zeit gelten ließ, erklärt
ſich aus der auf die Perſon des Kaiſers übertragenen
Exemtion des Fiscus von allen gewoͤhnlichen Beſchrän-
kungen des Privatrechts (§ 101). Eben daher war es
auch anders bey einem der Kaiſerin hinterlaſſenen Legat.
Dieſes wurde nur bezogen auf die zur Zeit des Teſta-
ments vorhandene Kaiſerin, ſo daß es öfter als das dem
Kaiſer gegebene gar nicht zur Ausführung kam: ohne
Zweifel deswegen, weil es, in jener freyeren Weiſe aus-
gelegt, durch das allgemeine Verbot der incerta persona
ungültig geweſen ſeyn würde (a). — Ein ähnlicher Fall
kommt vor bey einem Fideicommiß, welches dem Prieſter
und den Dienern eines beſtimmten Tempels eine Rente
anwies. Dieſes wurde ausgelegt als eine jährliche Rente
auf ewige Zeiten, zahlbar an die jedesmal in jenen Func-
tionen ſtehenden Perſonen. Gegen das Verbot der incerta
persona wurde es dadurch geſchützt, daß man als eigent-
lichen Succeſſor den Tempel ſelbſt anſah, der zwar eine
juriſtiſche Perſon, aber als ſolche eine certa persona
(a) L. 56. 57 de leg. 2 (31. un.).
|0391 : 377|
§. 103. Verknüpfung der Rechtsverhältniſſe mit der Perſon.
war (§ 93. m), ſo daß durch die ausdrücklich genannten
Perſonen (Prieſter und Diener) nur die Art der Verwen-
dung des Geldes bezeichnet ſeyn ſollte (b). — Eben ſo
würde es anzuſehen ſeyn, wenn heutzutage ein öffentlicher
Beamter eine Jahresrente ſtiftete, welche jeder ſeiner Nach-
folger im Amte beziehen ſollte.
II. Als ein privatrechtliches Verhältniß. Dahin ge-
hören, nicht nach individueller Willkühr, ſondern nach der
allgemeinen Natur des Rechtsinſtituts ſelbſt, die Prädial-
ſervituten (c); eben ſo auch die nach der Analogie derſel-
ben behandelte aqua ex castello, die keine Servitut iſt,
da ſie nicht durch Privatwillkühr, ſondern durch die Ver-
fügung einer öffentlichen Gewalt begründet wird (d); end-
lich auch das Recht des Eigenthümers eines Colonats ge-
gen die durch ihre Geburt zu demſelben gehoͤrenden Colo-
nen (§ 54).
Weit häufiger und wichtiger iſt dieſe Art der Ver-
knüpfung im deutſchen Recht. Es gehören dahin die mei-
ſten Reallaſten, ſowohl von Seiten des Berechtigten, als
des Verpflichteten (e); eben ſo auf Seiten des Berechtig-
(b) L. 20 § 1 de ann. leg.
(33. 1.). „Respondit, secundum
ea quae proponerentur, mini-
sterium nominatorum designa-
tum (nicht die zur Zeit des Te-
ſtaments lebenden Individuen),
caeterum datum templo.”
(c) Nämlich die Prädialſervi-
tuten in Beziehung auf den Be-
rechtigten, indem die Berechtigung
dem jedesmaligen Eigenthümer ei-
nes Grundſtücks als ſolchem zu-
ſteht; nicht in Beziehung auf den
Verpflichteten, da die Servitut
gar nicht blos von dem Eigen-
thümer des praedium serviens,
ſondern ganz auf gleiche Weiſe
von jedem anderen Menſchen, an-
erkannt und geachtet werden muß.
(d) L. 1 § 43 de aqua (43. 22.).
(e) Das Recht auf die Real-
laſten iſt meiſt annexum eines
|0392 : 378|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
ten die Bannrechte, die ſtets mit einem Grundeigenthum
verbunden ſind; endlich auch das Recht der Leibeigen-
ſchaft. — Das Preußiſche Recht bezeichnet dieſelben als
dingliche Rechte in Beziehung auf das Subject, und un-
terſcheidet ſie durch dieſen Zuſatz von den wahren dingli-
chen Rechten, die es dingliche Rechte in Anſehung ihres
Gegenſtandes, oder Rechte auf die Sache, nennt (f).
Aber auch durch individuelle Willkühr kann eine An-
knüpfung dieſer Art vorgenommen werden. Dahin gehört
z. B. die Grundſteuerfreyheit, die durch Privilegium einem
einzelnen Grundſtück, oder auch einer Klaſſe von Grund-
ſtücken ertheilt wird, das heißt allen Denjenigen, welche
künftig das Eigenthum dieſer Grundſtücke haben werden.
III. Als ein blos faktiſches Verhältniß. — Dahin ge-
hören im Römiſchen Recht die Verpflichtungen eines Je-
den, der zufällig in der Lage iſt, etwas reſtituiren oder
exhibiren zu können, alſo das Beklagtenverhältniß in den
actiones in rem scriptae (wie quod metus causa und ad
Grundeigenthums, nicht immer,
denn es giebt z. B. viele perſön-
liche Zehentrechte, und in man-
chen Gegenden perſönliche Dienſt-
rechte. — Die Verpflichtung zu den
Reallaſten iſt gleichfalls meiſt eine
mit einem Grundeigenthum ver-
knüpfte Obligation, ſo z. B. die
Grundabgaben in Geld oder Früch-
ten, imgleichen die Dienſte; nicht
ſo die Zehentlaſt, die vielmehr
ſehr gewöhnlich ein reines jus in
re iſt, nämlich das Recht, von
beſtimmten Äckern die zehente Gar-
be abzuholen, ohne poſitive Ver-
pflichtung des Zehentpflichtigen,
von ſeiner Seite irgend etwas
zu thun.
(f) A. L. R., Th. I. Tit. 2 § 125
— 130, mit dem Zuſatz, daß in
Geſetzen, welche von dinglichen
Rechten ohne nähere Beſtimmung
reden, die oben angegebene zweyte
Bedeutung des Ausdrucks (als die
gewöhnlichere) anzunehmen ſey.
|0393 : 379|
§. 103. Verknüpfung der Rechtsverhältniſſe mit der Perſon.
exhibendum). — Im deutſchen Recht die Bannrechte auf
Seiten des Verpflichteten, die für jeden Bewohner eines
beſtimmten Bezirks (ohne Rückſicht auf irgend ein Rechts-
verhältniß deſſelben) die negative Verpflichtung begrün-
den, gewiſſe gewerbliche Leiſtungen von keinen anderen Ver-
käufern als dem Bannberechtigten zu beziehen. — Dieſe
Fälle bezogen ſich wiederum auf die allgemeine Natur der
hier erwähnten Rechtsinſtitute. Eben ſo aber kann auch
durch individuelle Willkühr, namentlich durch landesherr-
liches Privilegium, an ein ſolches blos faktiſches Verhaͤlt-
niß irgend ein Recht angeknüpft werden.
Die hier zuſammengeſtellten Arten der Verknüpfung von
Rechtsverhältniſſen mit beſtimmten Perſonen ſind neuerlich
als juriſtiſche Perſonen dargeſtellt worden (g): wie ich
glaube, mit Unrecht. Denn bey der an eine gewiſſe Be-
amtenſtelle angewieſenen jährlichen Rente, ſo wie bey der
(g) Heiſe Grundriß B. 1 § 98
Note 15: „Juriſtiſche Perſon iſt
Alles außer den einzelnen
Menſchen, was im Staat als
ein eignes Subject von Rechten
anerkannt iſt. Jede ſolche muß
aber irgend ein Subſtrat haben,
welches die juriſtiſche Perſon bil-
det oder vorſtellt. Dies Subſtrat
kann nun beſtehen: 1) aus Men-
ſchen, und zwar a) aus einem
Einzelnen zur Zeit (bey öffentli-
chen Beamten) .... 2) aus Sa-
chen, nemlich a) aus Grund-
ſtücken (bey Servituten und un-
ſern deutſchen ſubjectiv-dinglichen
Rechten)“ u. ſ. w. — Man kann
die aufgeſtellte Definition zuge-
ben, und dennoch dieſe Subſum-
tion von Fällen verwerfen, weil
das Subject einer Prädialſervitut
u. ſ. w. in der That ſtets ein ein-
zelner Menſch, alſo nicht Etwas
außer den einzelnen Men-
ſchen iſt. — Eben ſo ſagt Haſſe,
„daß z. B. der Princeps von den
Römiſchen Juriſten als eine ju-
riſtiſche Perſon angeſehen wurde,
nämlich dies ſucceſſiv gedacht, er-
hellet aus L. 56 D. de legat. II.”
(Archiv B. 5 S. 67).
|0394 : 380|
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.
Prädialſervitut, iſt der Berechtigte jederzeit ein einzelner
Menſch, alſo eine natürliche Perſon; nur die Art, wie
dieſer Inhaber des Rechts für jeden Zeitpunkt ermittelt
wird, alſo der Weg auf welchem man zu dieſem Recht
gelangt, iſt hier auf eigenthümliche, von den gewöhnlichen
Regeln abweichende Weiſe beſtimmt. Von einer Vertre-
tung, die von jeder juriſtiſchen Perſon unzertrennlich iſt,
findet ſich hier keine Spur. Der Inhaber einer Prädial-
ſervitut z. B. verfügt über dieſes, wie über jedes andere
Vermögensrecht, mit der freyeſten Willkühr; er kann es
zum Vortheil des dadurch beſchränkten Nachbars durch
Schenkung oder Verkauf aufgeben. Eben ſo kann der
Beamte über die ihm angewieſene Rente für ſeine Dienſt-
zeit frey verfügen, da er ſie nicht für eine fingirte Per-
ſon verwaltet, ſondern ſelbſt in ſeinem Vermoͤgen hat, ſo
wie jedes andere Recht. Daß er die Rente ſeinen Nach-
folgern nicht vergeben kann, iſt eine ganz ähnliche Be-
ſchränkung, wie die des Legatars, der das legirte Haus
bey ſeinem Tode einem Fideicommiſſar reſtituiren ſoll; in
beiden Fällen liegt keine Veranlaſſung, das Subject des
Rechts als eine juriſtiſche Perſon anzuſehen.
Auf die Verſchiedenheiten in der Verknüpfung der
Rechtsverhältniſſe mit den Perſonen bezieht ſich auch die
Frage nach der möglichen Vervielfältigung der Subjecte
in einem und demſelben Rechtsverhältniß. Hierin nun
|0395 : 381|
§. 103. Verknüpfung der Rechtsverhältniſſe mit der Perſon.
findet ſich unter dieſen die größte Mannichfaltigkeit. Viele
können ſich durchaus nur auf Eine Perſon als ihr Sub-
ject beziehen: ſo die Ehe, der Uſus, die Prädialſervitu-
ten (h). Andere können nach Willkühr auch auf Mehrere
bezogen werden, jedoch nur theilweiſe: ſo das Eigenthum,
der Niesbrauch, die Emphyteuſe. Noch andere mit freye-
rer Willkühr, ſowohl theilweiſe, als ſolidariſch: ſo die
Obligationen, und das Pfandrecht. Eine ſo allgemeine
Angabe der vorkommenden verſchiedenen Fälle muß an
dieſer Stelle genügen, da jede genauere Erörterung die-
ſes Gegenſtandes nur bey den einzelnen Rechtsinſtituten
ſelbſt auf zweckmäßige Weiſe unternommen werden kann.
(h) Nämlich wenn mehrere
Nachbarn eine Wegeſervitut auf
demſelben Grundſtück haben, ſo
ſind ſie nicht (partielle oder ſoli-
dariſche) Inhaber eines und deſ-
ſelben Rechts, ſondern jeder Ein-
zelne hat ſeine Servitut als ein
vollſtändiges, für ſich beſtehendes
Recht, ohne Zuſammenhang mit
der Servitut der übrigen; daß
dieſe Rechte auf denſelben Gegen-
ſtand beſtehen können, ohne mit
einander in Colliſion zu kommen,
liegt in der Art, wie überhaupt
Wege benutzt werden, alſo in
der faktiſchen Beſchaffenheit gerade
dieſer Servitut.
|0396 : [382]|
|0397 : [383]|
Beylagen.
III. — VII.
|0398 : [384]|
|0399 : [385]|
Beylage III.
Die Vitalität eines Kindes, als Bedingung
ſeiner Rechtsfähigkeit.
(Zu § 61 Note t).
Es iſt eine ſehr gewöhnliche Behauptung unſrer Rechts-
lehrer, zur Rechtsfähigkeit eines Kindes reiche die leben-
dige Geburt nicht hin, ſondern es müſſe noch die Le-
bensfähigkeit oder Vitalität hinzu kommen. Damit
aber meynen ſie Folgendes. Es gebe einen gewiſſen Zeit-
raum der Schwangerſchaft, vor deſſen Ablauf zwar eine
lebendige Geburt zuweilen vorkomme, jedoch ſo, daß ein
ſolches Kind höchſtens einige Stunden oder Tage leben
könne. Wegen dieſer Unfähigkeit zur längeren Fortſetzung
des Lebens müſſe demſelben alle Rechtsfähigkeit, ſelbſt für
die kurze Zeit, worin es wirklich lebe, ganz abgeſprochen
werden. Um dieſe Behauptung prüfen zu können, iſt es
nöthig, zuvor einen ganz anderen, dem Familienrecht an-
gehörenden, Grundſatz darzuſtellen (a), welcher zu jener
Lehre die unſchuldige Veranlaſſung geweſen iſt.
(a) Es wird alſo hier, zum
Behuf der Unterſuchung über die
Vitalität, etwas vorweg abgehan-
delt, deſſen eigentliche Stelle erſt
in dem ſpeciellen Rechtsſyſtem,
und zwar bey der Entſtehung der
väterlichen Gewalt, geweſen wäre.
II. 25
|0400 : 386|
Beylage III.
Nach Römiſchem Recht tritt ein Kind mit der Geburt
in die väterliche Gewalt ein, wenn ſeine Erzeuger zur
Zeit der Erzeugung in einer nach Civilrecht gültigen Ehe
lebten (b). Dieſe faktiſche Bedingung der väterlichen Ge-
walt, von welcher ſo viele andere Rechte abhängen, läßt
ſich in folgende Elemente auflöſen: 1) natürliche Paterni-
tät, d. h. die Thatſache, daß ein beſtimmter Mann der
wahre Erzeuger des Kindes iſt, 2) natürliche Maternität,
3) gültige Ehe zwiſchen dem wahren Vater und der wah-
ren Mutter, 4) Daſeyn dieſer Ehe im Augenblick der Er-
zeugung. Von dieſen Vier Elementen macht das zweyte
und dritte keine Schwierigkeit: beide Thatſachen werden
in den ſeltenſten Fällen bezweifelt werden, und wo ſie
ſtreitig ſind, da iſt ein gewöhnlicher Beweis, ſo wie bey
jeder anderen ſtreitigen Thatſache, möglich und nöthig.
Anders verhält es ſich mit dem erſten und vierten Ele-
ment. Denn die Erzeugung iſt ein Naturgeheimniß, wel-
ches erſt nach geraumer Zeit in ſeinen Wirkungen zur Er-
ſcheinung kommt, und wofür ein eigentlicher Beweis nicht
etwa ſchwierig und ſelten, ſondern ganz undenkbar iſt (c).
Wie war nun dieſe Schwierigkeit im poſitiven Recht zu
behandeln? Man konnte etwas vorſchreiben, das einem
Beweiſe ähnlich ſah, wenn man den Richter anwies, nach
(b) pr. J. de patria pot. (1.
9.). Ulpian. V. § 1.
(c) Namentlich kann nicht das
Geſtändniß des Vaters, folglich
auch nicht die Eidesdelation (de
veritate), als Beweis gelten, weil
ja ſelbſt für den Vater ein ei-
gentliches Wiſſen dieſer Thatſache
nicht möglich iſt, ſondern nur
Glaube und Vertrauen, die im
Rechtsſtreit keine Beachtung fin-
den.
|0401 : 387|
Vitalität.
allen Umſtänden zu beſtimmen, von welchem Vater und
zu welcher Zeit das Kind wahrſcheinlich erzeugt ſeyn
möchte. Dieſe Behandlung aber erſcheint durch folgende
Betrachtungen als höchſt bedenklich. Erſtlich wegen der
großen Unſicherheit. Es moͤgen wohl Fälle vorkommen, in
welchen die äußerlichen Wahrſcheinlichkeitsgründe für oder
wider die Paternität ſo ſtark ſind, daß ſie auch einem Un-
befangenen faſt als Gewißheit erſcheinen müſſen. Allein dieſe
Fälle ſind da, wo überhaupt die Paternität Gegenſtand
eines Streites wird, gerade die ſeltneren, gewöhnlicher
wird eine ſo große Ungewißheit zurück bleiben, daß die
Entſcheidung nicht ohne ſehr freye richterliche Willkühr er-
folgen könnte (d). Zweytens aber wäre dieſe Willkühr
hier um ſo gefährlicher und unpaſſender, als es ſich gar
nicht um das perſönliche Intereſſe handelt, ſondern zu-
gleich um allgemeinere ſittliche Intereſſen: um die Ruhe
ganzer Familien, und um die Ehre der Frauen. Deswe-
gen hat das Römiſche Recht jenen Weg individueller Aus-
mittlung nach Wahrſcheinlichkeit gänzlich aufgegeben, und
(d) Man könnte einwenden,
dieſes beweiſe zu viel, denn bey
der in der Praxis angenomme-
nen Alimentenklage werde ja doch
ein ſolcher Beweis zugelaſſen, und
es gehe damit ganz gut. Dieſe
Behauptung aber wäre ganz irrig,
denn was bey dieſer Alimenten-
klage bewieſen werden ſoll, iſt gar
nicht die Erzeugung, ſondern die
davon völlig verſchiedene, ſehr
wohl erweisliche, Thatſache des
Beyſchlafs. Dieſe Thatſache für
ſich gilt nun als Grund der Obli-
gation, und nicht etwa, weil da-
durch eine Präſumtion der Er-
zeugung begründet wäre: denn
wollte man dieſe Präſumtion an-
nehmen, ſo würde man etwas
Unmögliches, folglich Widerſinni-
ges, präſumiren, nämlich daß daſ-
ſelbe Kind wahrhaft von mehre-
ren Vätern erzeugt ſeyn könne.
25*
|0402 : 388|
Beylage III.
dagegen folgenden Weg eingeſchlagen. Man geht aus
von der möglichen Dauer der Schwangerſchaft bis zur
Geburt eines lebenden Kindes. Dabey wird, nach Erfah-
rungsſätzen, angenommen, ein Kind könne lebendig gebo-
ren werden ſchon am 182ſten Tage nach der Erzeugung,
eben ſo aber auch weit ſpäter, und bis zum Ablauf des
zehenten Monats (e). Auf den Grund dieſer phyſiologi-
ſchen Regel wird nun von dem ſicheren Tag der Geburt
zurückgerechnet, zuerſt 182 Tage, dann Zehen Monate.
Dadurch entſteht ein Zwiſchenraum von Vier Monaten.
(e) L. 3 § 11. 12 de suis (38.
16.) „Post decem menses mor-
tis natus, non admittetur ad le-
gitimam hereditatem. — De eo
autem, qui centesimo octoge-
simo secundo die natus est,
Hippocrates scripsit, et D. Pius
pontificibus rescripsit, justo
tempore videri natum: nec vi-
deri in servitute conceptum,
cum mater ipsius ante cente-
simum octogesimum secundum
diem esset manumissa.” Die
zehen Monate gründen ſich auf die
XII Tafeln (Gellius III. 16),
und man hat ſie in die vierte
Tafel aufgenommen. Die 182
Tage werden in der Stelle ſelbſt
durch Hippokrates und ein Re-
ſcript von Antonin gerechtfertigt.
Man hat gefragt, was mit die-
ſer Sache die pontifices zu ſchaf-
fen hatten? Cujacius meynt, dieſe
hätten die Aufſicht buf ächte Ge-
burten gehabt (in L. 38 de V.
S. Opp. VIII. 519), was mir eine
zu moderne Anſicht ſcheint. Die
Stelle ſelbſt ſagt ja aber deut-
lich, daß von dem Sohn einer
Sklavin die Rede war: ohne
Zweifel wollte dieſer einen Opfer-
dienſt oder eine Prieſterwürde an-
nehmen, wozu nur Freygeborene
fähig waren. Über die Zahl 182
vgl. unten § 181 Note h. — L. 12
de statu hom. (1. 5.). „Septi-
mo mense nasci perfectum
partum, jam receptum est pro-
pter auctoritatem doctissimi
viri Hippocratis: et ideo cre-
dendum est, eum qui ex justis
nuptiis septimo mense natus
est, justum filium esse.” Per-
fectus partus kann in dieſem Zu-
ſammenhang nur heißen, ein
wirkliches, lebendes Kind, im Ge-
genſatz des abortus; was es au-
ßerdem noch heißen könnte, wird
unten (Note y) angegeben wer-
den. — Endlich beweiſt dafür die
alte Rechtsregel, daß die Wittwe
erſt zehen Monate nach des Man-
|0403 : 389|
Vitalität.
Wenn innerhalb dieſer Vier Monate, oder innerhalb eines
Theiles derſelben, die erweisliche Mutter eines Kindes in
einer Ehe gelebt hat, ſo iſt der Ehegatte der präſumtive
Vater des Kindes, außerdem hat dieſes Kind, juriſtiſch
zu reden, keinen Vater (f). Das iſt der wahre Sinn der
wichtigen Rechtsregel: Pater is est quem nuptiae demon-
strant (g). Dieſe Präſumtion gilt für und wider den Va-
ter, ſo daß jeder Theil ſich darauf berufen kann, der ein
nes Tod eine neue Ehe ſchließen
dürfe, weil ſonſt eine sanguinis
turbatio zu befürchten wäre. L. 11
§ 1 de his qui not. (3. 2.). L. 2
C. de sec. nupt. (5. 9.). — Eine
einzelne Anwendung findet ſich
noch in Nov. 39 C. 2, worin Ju-
ſtinian in den ſtärkſten Ausdrük-
ken die Wittwe zurückweißt, die
ein elf Monate nach des Mannes
Tod gebornes Kind vorbrachte.
(f) Nämlich nach der reinen
Regel des älteren Rechts. Das
neuere Recht hat hierin zwey, die
Legitimität erleichternde, Modi-
ficationen angenommen: 1) Wenn
das Kind auch früher, als 182
Tage nach geſchloſſener Ehe, ge-
boren iſt, ſo ſoll es dennoch als
legitim gelten; das heißt, in die-
ſem Fall ſoll des Ehegatten An-
erkennung den mangelnden Zeit-
raum erſetzen. L. 11 C. de nat.
liberis (5. 27.). 2) Concubinen-
kinder (naturales) werden durch
nachfolgende Ehe legitimirt; auch
hier alſo erſetzt die Anerkennung
die ſonſt nur durch jenen Zeit-
raum zu begründende Präſum-
tion. L. 10. 11 C. de natur. li-
beris (5. 27.).
(g) L. 5 de in jus vocando
(2. 4.). Es heißt alſo nicht, wie
es Manche ganz unrichtig aus-
drücken: Pater is est quem ju-
stae nuptiae demonstrant. Man
hat hierbey eine zwiefache, ganz
verſchiedene, Einwirkung der Ehe
auf den Zuſtand der Kinder ver-
wechſelt. 1) Die in einer gewiſ-
ſen Zeit vorhandene Ehe begrün-
det die Thatſache der Paternität,
und dabey iſt es gleichgültig, ob
es justae nuptiae ſind oder nicht,
ſo daß z. B. auch der Römiſche
Bürger, der eine peregrina zur
Ehe nahm, als wahrer Vater ſei-
ner ehelichen Kinder galt. Nur
verboten darf die Ehe nicht
ſeyn, z. B. wegen Inceſt, denn
ſonſt iſt ſie nichtig, d. h. ſie exi-
ſtirt nicht, und die Kinder ſind
nicht dieſes Mannes Kinder. § 12
J. de nupt. (1. 10.). 2) Iſt die
Ehe zugleich auch Civilehe, ſo tritt
die wichtigere Folge hinzu, daß
die Kinder in väterlicher Gewalt
gehoren werden.
|0404 : 390|
Beylage III.
Intereſſe dabey hat. Durch die aus den Umſtänden her-
vorgehende Wahrſcheinlichkeit braucht ſie nicht unterſtützt
zu werden, es iſt aber auch nicht zuläſſig, ſie deshalb
anzufechten. Vielmehr gilt ſie allein als vollſtändiger Be-
weis, und ſie kann nur entkräftet werden durch den Be-
weis der völligen Unmöglichkeit, welche namentlich aus
einer langen, ununterbrochenen Abweſenheit des Mannes
hervorgeht (h). — Ob nun die phyſiologiſchen Voraus-
ſetzungen jener Regel richtig ſind, kann hier natürlich nicht
unterſucht werden. Für höchſt wohlthätig aber muß man
die in ihr liegende Abwehr individueller Beurtheilung er-
kennen, wenn man ſieht, wie ſchwankend und widerſpre-
chend die ſowohl in theoretiſchen Schriften, als in Gut-
achten mediciniſcher Facultäten, ausgeſprochenen Meynun-
gen der Phyſiologen ſind (i). Zu loben iſt beſonders auch
(h) Wäre alſo z. B. ein am
182ſten Tage geborenes Kind völ-
lig ausgewachſen, ſo daß man
ſeine Erzeugung vor der Ehe an-
nehmen könnte, ſo müßte es den-
noch als Kind dieſes Ehegatten
gelten; wäre es umgekehrt vor je-
nem Zeitpunkt geboren, ſo brauchte
derſelbe es nicht als ſein Kind an-
zuerkennen, ſelbſt wenn die Ärzte,
wegen des ſehr unreifen Zuſtan-
des, eine Erzeugung in der Ehe
für möglich hielten. Eben ſo,
wenn ein Kind beynahe Zehen
Monate nach des Ehemannes Tod
geboren wird, ſo kann der un-
reife Zuſtand deſſelben nicht als
Grund gegen die eheliche Erzeu-
gung gelten. — Die gewöhnliche
Meynung iſt dieſen Behauptun-
gen ganz entgegen. Hofacker
T. 1 § 544. Struben rechtl.
Bedenken B. 5 Num. 86. Vol-
lends kann der Beweis eines be-
gangenen Ehebruchs jene Präſum-
tion gar nicht entkräften.
(i) Unter anderen darf man ſich
auch nicht dadurch täuſchen laſſen,
daß manche mediciniſche Schrift-
ſteller irgend einen Zeitraum, vor
welchem eine vitale Geburt un-
möglich ſey, als völlig gewiß an
die Spitze ſtellen; denn hinterher
nehmen ſie doch oft an, daß es
Abnormitäten gebe, Fälle in wel-
chen ein ſehr unreifes Kind durch
|0405 : 391|
Vitalität.
der bedeutende Umfang des angenommenen Zeitraums.
Zwar kann unter deſſen Schutz manches wirklich unehe-
liche Kind die Rechte eines ehelichen erlangen; allein
theils iſt die Gefahr eines entgegengeſetzten Unrechts an
ſich wichtiger, theils iſt jene Gefahr doch nur gering in
Vergleichung mit der Gefahr, daß mitten in einer Ehe
Kinder in der That von einem fremden Vater erzeugt
werden, die dennoch als ehelich gelten: und dieſer letzten,
größeren Gefahr kann und ſoll nicht entgegengearbeitet
werden, weil jeder Verſuch dazu weit größere Übel mit
ſich führen würde.
Dieſes Alles iſt nun in unſren Rechtsquellen klar und
ſicher beſtimmt, und auch unſre Schriftſteller haben es
nie völlig verkannt, obgleich nicht ſelten durch mangel-
ganz ungewöhnliche, künſtliche
Sorgfalt gerettet worden ſey. So
erzählt Oeltze de partu vivo vi-
tali § 37 aus namhaften Schrift-
ſtellern zwey ſehr merkwürdige
Fälle; in einem derſelben hatte
eine Frau ein Kind geboren, und
genau Sechs Monate ſpäter ein
zweytes, das am Leben erhalten
wurde; dieſes war doch gewiß we-
niger als 182 Tage im Mutter-
leibe geweſen. Über die ſehr aus
einander gehenden Meynungen der
Ärzte vgl. Glück B. 28 S. 129 fg.
— Beſonders erfreulich iſt mir
die Übereinſtimmung der hier dar-
gelegten Anſichten mit der Mey-
nung eines der geachtetſten medi-
ciniſchen Schriftſteller: A. Henke
von den Früh- und Spät-Gebur-
ten, Abhandlungen aus dem Ge-
biet der gerichtlichen Medicin B. 3
p. 241—307. Zwar ſtellt er nor-
male Gränzen möglicher Schwan-
gerſchaft auf (p. 265. 284), allein
er räumt ein, daß anomaliſche
Fälle vorkämen, wodurch alle Ge-
wißheit zerſtört werde (p. 271.
292 fg.). Sein Reſultat iſt das
entſchiedendſte Lob der Geſetzge-
bung, namentlich des Römiſchen
Rechts, worin durch poſitive Re-
geln die Unſicherheit individueller
Beurtheilung ausgeſchloſſen wird
(p. 271—274, 303—304). Ins-
beſondere billigt er auch die an-
ſehnliche Ausdehnung des im R.
R. angenommenen Zeitraums.
|0406 : 392|
Beylage III.
hafte Sonderung der in einander greifenden Begriffe und
Regeln ohne Noth verdunkelt, oder auch durch Ausnah-
men in einzelnen Fällen zu ſchwächen verſucht. Aber ſie
ſind dabey nicht ſtehen geblieben, ſondern ſie haben in fol-
genden Sätzen darauf weiter fortgebaut. Wenn es ein-
mal vorkäme, ſagen ſie, daß ein Kind vor dem 182ſten
Tage nach ſeiner Erzeugung dennoch lebend geboren würde,
ſo würde es, wenigſtens nach der geſetzlich anerkannten
phyſiologiſchen Regel, unfähig ſeyn, das Leben längere
Zeit fortzuſetzen, und daher können wir ihm auch keine
Rechte zuſchreiben. Zur Rechtsfähigkeit gehört alſo nicht
nur Leben des Geborenen, ſondern auch Lebensfähig-
keit oder Vitalität, ſo daß das wegen Unreife nicht
lebensfähige Kind keine Rechte hat, vielmehr einem todt
geborenen, einem abortus, gleich zu achten iſt (k). —
Bevor dieſe Lehre von Grund aus geprüft werden
kann, iſt es nöthig, noch eine beſondere Modification
derſelben zu erwähnen. Sie iſt nämlich zuweilen noch
dahin weiter ausgebildet worden, daß man ſagte, die
im ſiebenten Monat geborenen Kinder ſeyen lebensfähig,
die im achten wieder nicht (l). Doch iſt dieſe neue Ver-
(k) So wird es geradezu aus-
gedrückt von Haller Vorleſun-
gen über die gerichtl. Arzneiwiſ-
ſenſchaft B. 1. Bern 1782 Kap. 9
§ 3. 7, und von Oeltze de partu
vivo vitali § 15. 19.
(l) Cujacius in Paulum IV. 9
§ 5: „Qui ante septimum, vel
octavo mense prodeunt, imper-
fecti sunt nec vitales. Nono
autem, et decimo, et undecimo
a conceptionis die legitimi par-
tus fiunt.” Er ſieht es als prak-
tiſches Recht an, und bezieht es
offenbar auch auf die Rechtsfä-
higkeit. — Wie dieſes einmal in
|0407 : 393|
Vitalität.
wicklung in ſpäteren Zeiten meiſt aufgegeben wor-
den (m).
Ich will nun verſuchen zu zeigen, daß jene Lehre von
der Vitalität als Bedingung der Rechtsfähigkeit in un-
ſrem Recht durchaus keinen Grund hat.
Sie muß verworfen werden nach dem allgemeinen Be-
griff der Rechtsfähigkeit. Denn dieſe iſt gebunden an das
bloße Daſeyn jedes lebenden Menſchen, ohne Rückſicht auf
deſſen Ausſicht, dieſes Daſeyn länger oder kürzer fortzu-
ſetzen. Welches wäre der Grund einer Einſchränkung von
dieſer Seite, und wo wäre die Gränze?
Sie iſt verwerflich, wenn wir auf den Inhalt unſrer
Rechtsquellen ſehen. Die Veranlaſſung dazu war augen-
ſcheinlich die wirklich Römiſche Regel von den 182 Ta-
gen, aber eine Rechtfertigung jener Lehre liegt in dieſer
Regel gewiß nicht. Denn die Römer wenden die 182
Tage lediglich an, um die Vermuthung der Paternität zu
begründen, aber gar nicht, wie jene Rechtslehrer wollen,
um manche lebende Menſchen von dem Genuß menſchli-
cher Rechte auszuſchließen. Die Stellen, die offenbar un-
ſre Frage am nächſten berühren, ſind die L. 2. 3 C. de
posthumis (6. 29.). Dieſe ſagen, das Kind habe Rechts-
fähigkeit unmittelbar nach der vollendeten Geburt, auch
ſelbſt wenn es im nächſten Augenblick (illico) ſterbe, z. B.
noch in den Händen der Geburtshelferin. Hier lag es
Rom Gegenſtand eines Rechts-
ſtreits wurde, wird unten aus
Gellius bemerkt werden.
(m) Haller a. a. O. § 9.
|0408 : 394|
Beylage III.
doch gewiß ſehr nahe zu unterſcheiden, ob dieſer ſchnelle
Tod erfolge aus Mangel innerer Lebenskraft (Vitalität),
oder aus äußeren Urſachen: von dieſer Unterſcheidung aber
finden wir kein Wort, alſo war ſie gewiß auch nicht im
Sinn des Geſetzgebers. — Die Gründe, welche von den
Gegnern aus den Quellen angeführt werden, ſind unge-
mein ſchwach, und beruhen meiſt auf einem augenſchein-
lichen Zirkel: es wird davon noch unten, bey der Über-
ſicht der Schriftſteller, die Rede ſeyn.
Jene Lehre entbehrt ferner ſelbſt die Möglichkeit einer
wahren, eigentlichen Anwendung. Nicht lebensfähig, ſagt
man, iſt das Kind, das früher als 182 Tage nach ſeiner
Erzeugung geboren wird. Aber woher erfahren wir denn
den Tag der Erzeugung? Gerade weil wir ihn nicht
wiſſen können, haben die Römer das Zurückrechnen von
dem bekannten, gewiſſen Tag der Geburt vorgeſchrieben.
Um aus dieſem offenbaren Zirkel heraus zu kommen, ha-
ben Jene nur Ein Mittel, welches auch gewiß in ihrer
Meynung liegt. Sie müſſen die Ärzte herzu rufen, und
dieſe müſſen erklären: Das Kind ſieht ſo unreif aus, daß
es nicht 182 Tage im Mutterleibe geweſen ſeyn kann,
und daraus ſchließen wir, daß es nicht lebensfähig iſt.
Bey dieſer Behandlung der Sache iſt aber die Zahl der
Tage ganz unnütz in die Mitte geſchoben, ſie dient nur
dazu, die voͤllige Willkührlichkeit zu verhüllen, und es
wäre viel natürlicher, die Ärzte gleich unmittelbar erklä-
ren zu laſſen: das Kind ſieht ſo unreif aus, daß es we-
|0409 : 395|
Vitalität.
gen dieſer ſeiner ſichtbaren Beſchaffenheit unmoͤglich lange
leben kann; ja das ärztliche Zeugniß iſt mit jener ge-
nauen Zeitbeſtimmung unvereinbar, und kann daher un-
möglich in der Abſicht der Urheber unſrer Rechtsregel ge-
legen haben. Denn welcher Arzt möchte wohl die An-
maßung haben zu bezeugen, das ihm vorgezeigte Kind ſey
genau 181 Tage im Mutterleibe geweſen, nicht 182 oder 183?
Nach dieſer neuen Wendung wird es aber auch recht klar,
welche gefährliche und ſchwankende individuelle Beurthei-
lung ganz ohne Noth in die Sache hinein gezogen wird:
alſo gerade dasjenige Übel, welches im Römiſchen Recht
in einer anderen Beziehung durch die Vermuthung der Pa-
ternität recht abſichtlich abgewehrt werden ſollte. Man
wende nicht ein, das Leben des Kindes müſſe doch, auch
nach unſrer Behauptung, bewieſen werden, warum nicht
die Lebensfähigkeit? Gerade hierin iſt der Unterſchied
recht auffallend. Das Leben iſt meiſt Gegenſtand ſinnli-
cher Wahrnehmung, kann alſo wie jede andere Thatſache
durch gewöhnliches Zeugniß ohne Gefahr erwieſen wer-
den; das Urtheil über die Lebensfähigkeit müßte nach wiſ-
ſenſchaftlichen Regeln gefällt werden, über welche die
Ärzte ſelbſt im höchſten Grade uneinig ſind. — Dabey iſt
noch zu bemerken, daß Jene bey der Anwendung ihrer
Regel immer noch ſtillſchweigend die Bedingung hinzu den-
ken müſſen, daß das Kind nun auch wirklich gleich nach-
her geſtorben ſey. Denn wenn z. B. gleich nach der Ge-
burt ein genauer Thatbeſtand aufgenommen und an eine
|0410 : 396|
Beylage III.
mediciniſche Facultät zum Gutachen eingeſchickt würde,
nach mehreren Monaten gienge dieſes Gutachten ein, wel-
ches dem Kinde die Vitalität und Rechtsfähigkeit ab-
ſpräche, durch außerordentliche künſtliche Pflege aber wäre
in der That das Kind erhalten worden, das dann ſelbſt
ein höheres Alter erreichte, ſo würde doch wohl Niemand
die Vertheidigung jener Lehre ſo weit treiben wollen, ei-
nen Menſchen für rechtlos wegen mangelnder Lebensfähig-
keit zu erklären, der dieſe Fähigkeit durch die That be-
wieſen hätte (n).
Außerdem machen ſich viele Vertheidiger der Lehre von
der Vitalität noch folgender auffallenden Inconſequenz
ſchuldig. Geſetzt, es wird ein völlig reifes, ausgetrage-
nes Kind geboren, dieſes giebt auch die deutlichſten Le-
benszeichen, ſtirbt aber gleich nachher. Bey der Öffnung
der Leiche findet ſich ein ſolcher organiſcher Fehler, der
die längere Fortſetzung des Lebens völlig unmöglich machte.
Hier wird vielleicht der Mangel der Vitalität weit gewiſ-
ſer ſeyn, als bey bloßer Unreife, und doch wird für je-
nen Fall die Rechtsfähigkeit von den Meiſten nicht be-
ſtritten. Wollte man nun der Conſequenz wegen auch
hier jene Lehre durchführen, ſo würde dadurch freylich
die Gefahr der Willkühr, alſo die Rechtsunſicherheit, noch
um Vieles vermehrt werden.
Zu dieſer Inconſequenz geſellt ſich endlich noch eine
zweyte, nicht minder augenſcheinliche, welche ſich auf das
(n) Vgl. die oben in Note i erwähnten Fälle.
|0411 : 397|
Vitalität.
Verhältniß des Civilrechts zum Criminalrecht bezieht. Faßt
man die Sache ganz einfach auf, ſo müſſen Diejenigen,
welche im Civilrecht Lebensfähigkeit fordern, und außer
derſelben das Geborene als todt anſehen, auch im Crimi-
nalrecht die Möglichkeit eines Verbrechens gegen daſſelbe
gänzlich läugnen, da man an einem Leichnam kein Ver-
brechen begehen kann. Wer alſo im Civilrecht die Vita-
lität erfordert, und dennoch im Criminalrecht bey der
Tödtung eines nicht vitalen Kindes irgend eine Strafe
(wenngleich nicht die ordentliche Strafe der Toͤdtung) ein-
treten läßt, der iſt offenbar inconſequent. Im Criminal-
recht nun hat die Unterſuchung aus zwey Gründen eine
beſondere Wendung genommen. Erſtlich wegen des in
der Carolina vorkvmmenden Ausdrucks der Gliedmäßigkeit
(art. 131), welchen man ſehr häufig von der Vitalität
verſtanden hat. Zweytens weil man Gründe zu haben
glaubte, den eigentlichen Kindermord (d. h. die von der
Mutter unter gewiſſen Umſtänden verübte Tödtung) von
anderen Tödtungen zu unterſcheiden, und gelinder zu be-
handeln; daher wurde beſonders auch die mangelnde Vi-
talität benutzt, um von der Mutter die Strafe abzuwen-
den, zugleich aber verſäumt, die Frage auch für andere
Fälle der Tödtung neugeborener Kinder (z. B. durch die
Geburtshelferin) zu beantworten. Daß neuerlich manche
Criminaliſten die Vitalität von einem beſtimmten Zeitraum
unabhängig machen wollten, iſt nicht als etwas Beſonde-
res zu betrachten, da auch im Civilrecht, wie oben be-
|0412 : 398|
Beylage III.
merkt, der Zeitraum nur ſcheinbar, und das ärztliche Ur-
theil allein das wirkliche Moment iſt.
Im Einzelnen haben ſich die Meynungen der Crimi-
naliſten ſo geſtellt: Das eine Extrem geht dahin, die Le-
bensfähigkeit als einen weſentlichen Beſtandtheil des cor-
pus delicti anzunehmen, ſo daß bey dem Mangel derſel-
ben alle Strafe wegfallen müſſe. So lehrt Feuerbach,
jedoch nur bey dem eigentlichen Kindermord, und nur we-
gen des Ausdrucks der Carolina (o): wie er andere, ähn-
liche Fälle behandeln würde, läßt ſich nicht erſehen. Auf
die äußerſte Spitze getrieben iſt dieſe Meynung von Mit-
termaier (p). Ihm ſind lebensunfähig alle, die ihr Le-
ben nicht lange fortſetzen können, mag dieſes von frühzei-
tiger Geburt, oder von organiſchen Fehlern herrühren:
er rechnet dahin auch ſolche, die in einzelnen, von ihm
ſelbſt angeführten Fällen ihr Leben auf Vier, ja auf Zehen
Tage wirklich gebracht haben: jedes Kind dieſer Art kann
nicht „ein wahrhaft lebendiges genannt werden,“ es hat
nur „Erſcheinungen eines ſcheinbaren Lebens:“ „hier iſt
„es gewiß, daß ihm kein Leben geraubt wurde.“ Dieſer
Lehre, die ſich gar nicht auf den eigentlichen Kindermord
beſchränkt, iſt innerer Zuſammenhang nicht abzuſprechen;
aber ich muß zweifeln, ob ſich Mittermaier die ſehr weit
reichendr praktiſche Conſequenz derſelben deutlich gedacht
(o) Feuerbach § 237.
(p) Mittermaier, neues
Archiv des Criminalrechts B. 7
S. 316—323, beſonders S. 318
— 320.
|0413 : 399|
Vitalität.
hat. Um die ſchonende Rückſicht gegen die Kindermörde-
rinnen zu beſeitigen, wodurch die eigentliche Frage nur
verdunkelt werden kann, wollen wir annehmen, die Ge-
burtshelferin, von habſüchtigen Seitenverwandten gewon-
nen, habe das ganz ausgewachſene, unzweifelhaft lebende
Kind erdroſſelt. Dieſe muß, nach der eben dargeſtellten
Lehre, vor dem Criminalrichter völlig ſtraflos bleiben, ſo-
bald die Ärzte erklären, das Kind habe einen ſolchen or-
ganiſchen Fehler gehabt, daß es auch ohne den Zutritt je-
ner Handlung nicht lange hätte leben können; ſie kann
höchſtens disciplinariſch von der Medicinalbehörde beſtraft
werden. — Andere wollen im Fall der fehlenden Vitalität
nur die ordentliche Strafe ausſchließen, und auch dieſes
nur im Fall des eigentlichen Kindermords: an Straflo-
ſigkeit zu denken, alſo dem nicht vitalen Kind allen Schutz
der Geſetze zu entziehen, ſind ſie weit entfernt. Dahin
gehört beſonders Carzov, der eine mildere Behandlung
für dieſen Fall nur inſoweit eintreten läßt, daß die Kin-
desmoͤrderin mit einer härteren Strafe als der des Schwer-
tes verſchont werden könne (q). — Noch Andere endlich
nehmen auf die Lebensfähigkeit gar keine Rüchſicht, ſo daß
ſie bey der Tödtung des nicht vitalen Kindes ſelbſt die
ordentliche Strafe eintreten laſſen (r). — Nun iſt das Ver-
(q) Carpzov. pract.rer. crim.,
quaest. 11. Num. 37—43. Von
Neueren gehört dahin Püttmann
j. crim. § 339.
(r) Dahin gehören Folgende:
Martin Criminalrecht § 107.
122. Hencke Lehrbuch § 165.
Jarcke Handbuch B. 3 S. 277.
Spangenberg, neues Archiv
des Criminalrechts, B. 3 S. 28.
— Es ſcheint, daß man in dieſer
Unterſuchung nicht immer hinrei-
|0414 : 400|
Beylage III.
hältniß derjenigen Rechtslehrer, die im Civilrecht den nicht
vitalen Kindern die Rechtsfähigkeit abſprechen, zu dieſen
verſchiedenen Meynungen der Criminaliſten, folgendes. Neh-
men ſie Mittermaiers Meynung an, ſo ſind ſie conſequent:
laſſen ſie dagegen bey der Tödtung irgend eine Strafe zu,
ſey es die ordentliche oder eine außerordentliche, ſo ſind
ſie inconſequent, und das iſt die neue Inconſequenz, welche
hier hervorgehoben werden ſollte.
Wenn nun aus allen dieſen Gründen die Annahme der
Vitalität als Bedingung der Rechtsfähigkeit gänzlich ver-
worfen werden muß, ſo möchte man glauben, ſie wäre
überhaupt nur eine Erfindung neuerer Rechtslehrer, und
die Römer hätten daran gar nicht gedacht. Dieſes aber
läßt ſich nicht behaupten, vielmehr haben ſie dieſe Lehre
wohl gekannt. Dabey kann es am wenigſten auffallen,
wenn die nichtjuriſtiſchen Römiſchen Schriftſteller die hier
einſchlagenden Fragen nicht immer gehörig ſondern, na-
mentlich die zwey Fragen: wie viele Tage nach der Er-
chend unterſchieden hat: 1. den
Thatbeſtand, 2. den geſetzwidrigen
Willen. Wenn man das nicht vi-
tale Kind einem Leichnam gleich
achtet, ſo iſt Mittermaiers Mey-
nung richtig, und der Wille iſt
gleichgültig. Hält man es dage-
gen für einen lebenden Menſchen,
ſo kommt es nun noch auf den
Willen an. Wenn nämlich der
Handelnde die Lebensunfähigkeit
kannte, ſo hat allerdings ſein
Wollen einen milderen Character,
als im Fall der Lebensfähigkeit,
wo er mit Bewußtſeyn die ganze
fernere Entwicklung eines Men-
ſchenlebens zerſtört; von dieſem
Geſichtspunkt aus könnte Carp-
zov’s Meynung gegen den Vor-
wurf einer blos vermittelnden
Willkühr vertheidigt werden.
|0415 : 401|
Vitalität.
zeugung noͤthig ſeyen, damit das lebendig geborene Kind
fortleben könne? und wie lange ſich die Schwangerſchaft
überhaupt ausdehnen könne? Die Stellen der alten Schrift-
ſteller über dieſe Fragen, ſo weit ſie das Recht berühren,
ſind folgende.
Plinius hist. nat. Lib. 7 C. 4 (al. 5.): „Ante septimum
mensem haud unquam vitalis est. Septimo nonnisi
pridie posteriore plenilunii die aut interlunio con-
cepti nascuntur. Tralatitium in Aegypto est et oc-
tavo gigni. Jam quidem et in Italia tales partus
esse vitales, contra priscorum opiniones .... Masu-
rius auctor est, L: Papirium praetorem, secundo he-
rede lege agente, bonorum possessionem contra eum
dedisse, quum mater partum se XIII. mensibus di-
ceret tulisse, quoniam nullum certum tempus pa-
riendi statum videretur.”
Hier kommt zweymal der Ausdruck vitalis vor, ich
glaube aber nicht, daß er in unſrem Sinn gebraucht iſt,
nämlich für die Fähigkeit eines Lebenden, das Leben fort-
zuſetzen. Denn der Ausdruck ſteht ſo willkührlich abwechs-
lend mit nasci und gigni, daß er gewiß natürlicher von
der lebenden Geburt überhaupt (ohne jene feinere Unter-
ſcheidung) zu verſtehen iſt. Plinius will alſo ſagen: Kin-
der können lebendig geboren werden niemals vor dem ſie-
benten Monat nach der Erzeugung: im ſiebenten nur wenn
die Zeugung an gewiſſen, durch den Mondwechſel beſtimm-
ten, Tagen ſtatt fand: ob auch im achten, iſt zweifelhaft;
II. 26
|0416 : 402|
Beylage III.
in Ägypten hat man es ſtets angenommen, in Italien
erſt in neueren Zeiten. — Der Ausſpruch des Prätors
Papirius endlich gehört zu der ganz anderen Frage, wie
weit von der Geburt eines Kindes längſtens zurück ge-
rechnet werden dürfe, um noch die eheliche Erzeugung an-
zunehmen. — Nach dieſer Erklärung berührt die ganze
Stelle unſre gegenwärtige Streitfrage gar nicht.
Gellius Lib. 3 C. 16: „de partu humano .. hoc quo-
que venisse usu Romae comperi: Feminam bonis
atque honestis moribus, non ambigua pudicitia, in
undecimo mense, post mariti mortem, peperisse;
factumque esse negotium propter rationem tempo-
ris, quasi marito mortuo postea concepisset, quo-
niam decemviri in decem mensibus gigni hominem,
non in undecimo scripsissent: sed D. Hadrianum,
causa cognita, decrevisse in undecimo quoque mense
partum edi posse; idque ipsum ejus rei decretum
nos legimus .... Memini ego Romae accurate hoc
atque solicite quaesitum, negotio non rei tunc par-
vae postulante, an octavo mense infans ex utero vi-
vus editus et statim mortuus jus trium liberorum
supplevisset; quum abortio quibusdam, non partus,
videretur mensis octavi intempestivitas.” (Hierauf
folgt denn noch wörtlich angeführt die Stelle aus
Plinius über den Prätor L. Papirius).
Der Rechtsſtreit über den elften Monat berührt wie-
der nicht unſre Frage: dagegen iſt ſehr merkwürdig der
|0417 : 403|
Vitalität.
über den achten. Denn hier iſt genau unſer Fall bezeich-
net: ein lebendes, alsbald verſtorbenes Kind, wovon eine
Partey behauptete, es ſey als Achtmonatkind nicht lebens-
fähig geweſen, und deswegen gar nicht als lebendige Ge-
burt anzurechnen. Die Entſcheidung erzählt er leider nicht.
Vorzüglich bemerkenswerth iſt aber noch der Umſtand, daß
der Rechtsſtreit gar nicht die Rechtsfähigkeit des Kindes,
ſondern das jus liberorum der Mutter, zum Gegenſtand
hatte. Ja wir können dieſe Angabe mit ziemlicher Sicher-
heit noch ergänzen: der Rechtsſtreit wird ſich nicht bezo-
gen haben auf eine Strafabwendung fuͤr die Mutter (denn
dabey wurden ſelbſt monstra mitgerechnet, alſo gewiß auch
todtgeborene Kinder) (s), ſondern auf eine an das jus li-
berorum geknüpfte Belohnung.
Die wichtigſte Stelle endlich iſt die des Paulus, worin
er die Bedingungen aufzählt, unter welchen die Frauen
durch das jus liberorum zur Erbfolge nach dem Sc. Ter-
tullianum (einer der wichtigſten Belohnungen) fähig werden.
Paulus Lib. 4 Tit. 9 ad Sc. Tertullianum § 1. „Matres
tam ingenuae, quam libertinae, ut jus liberorum con-
secutae videantur, ter et quater peperisse sufficiet,
dummodo vivos, et pleni temporis pariant.”
§ 5. „Septimo mense natus matri prodest: ratio enim
Pythagorei numeri hoc videtur admittere, ut aut
septimo pleno, aut decimo mense partus maturior (t)
videatur.”
(s) S. v. § 61. Note s.
(t) Die ed. princeps. (Paris.
26*
|0418 : 404|
Beylage III.
Dieſe Stelle bezieht ſich ganz auf die Vitalität, da
ſie vivos et pleni temporis fordert, alſo die Möglichkeit
lebendiger und doch unreifer (nicht vitaler) Kinder voraus-
ſetzt. Man kann auch nicht etwa ſagen, das pleni tem-
poris deute an, daß ſogar superstites zur Zeit der Erb-
folge gefordert würden, denn das wird anderwärts ent-
ſchieden verneint (u): eben ſo wenig, daß eheliche Kinder
verlangt würden, und daß ſich das plenum tempus auf
die Vermuthung der Zeugung in der Ehe bezöge, denn
auf die Legitimität der Kinder wurde bey dem jus libero-
rum der Frauen überhaupt nicht geſehen, und namentlich
nicht bey dem gegenſeitigen Erbrecht zwiſchen der Mutter
und ihren Kindern (v). — Paulus will alſo ohne Zweifel
ſagen, jedes der drey Kinder müſſe nicht blos lebendig
geboren, ſondern auch, nach der Zeit der Schwanger-
ſchaft, vital (pleni temporis) geweſen ſeyn, damit ſich
die Mutter darauf berufen könne. Er ſetzt alſo offenbar
voraus, daß die vielleicht kürzere Zeit der Schwanger-
ſchaft entweder durch das Gutachten der Sachverſtändi-
gen ausgemittelt werde, oder durch das eigene Geſtänd-
niß der Mutter, dem man zu ihrem Nachtheil wohl glau-
ben müßte. Aber welches iſt nun jene Zeit, die er als
plenum tempus fordert? Das ſagt er deutlich im § 5:
das Kind muß wenigſtens im ſiebenten Monat geweſen
1525) lieſt maturus, was einfacher
und natürlicher iſt als maturior;
auf unſre Frage hat das keinen
Einfluß.
(u) Paulus IV. 9 § 9.
(v) Paulus IV. 10 § 1.
|0419 : 405|
Vitalität.
ſeyn, das heißt die Schwangerſchaft muß über Sechs
volle Monate gedauert haben, und dieſe Angabe über das
praktiſche Recht ſtimmt vollkommen überein mit dem Mi-
nimum, welches bey der Vermuthung der Paternität von
Ulpian und von Paulus ſelbſt in anderen Stellen ange-
geben wird (Note e), nämlich mit den 182 Tagen. So
weit iſt Alles klar und zuſammenhängend; es entſteht aber
eine große Schwierigkeit dadurch, daß Paulus im § 5.
die Angabe des ſiebenten Monats durch die Autorität des
Pythagoras unterſtützen will; denn nach Pythagoras, ſagt
Paulus, werde ein reifes Kind geboren ant septimo pleno,
aut decimo mense. Dieſes ſtimmt nicht mit den vorher-
gehenden Worten, noch mit der oben angegebenen Regel,
nach welchen ſchon der Anfang des ſiebenten Monats hin-
reicht. Deswegen hat Noodt folgende mäßige Emenda-
tion vorgeſchlagen, die ſeitdem noch durch eine verglichene
alte Handſchrift unterſtützt worden iſt: ut aut septimo,
aut pleno decimo mense (w); dadurch entſteht eine ſchein-
bare Übereinſtimmung mit der Regel Ulpians von dem
Zwiſchenraum zwiſchen 182 und 300 Tagen. Aber doch
nur eine ſcheinbare, da pleno decimo mense nicht heißt:
im ganzen Lauf des zehenten Monats (ſey es im Anfang,
in der Mitte, oder am Ende deſſelben), wie es der Re-
gel Ulpians gemäß ſeyn würde, ſondern genau am Ende
deſſelben (ſo viel als completo decimo mense), ſo daß
(w) Noodt ad Pandectas Lib. 1
Tit. 6. — Die Leſeart der Hand-
ſchrift iſt angegeben in der Bonner
Quartausgabe, appendix p. 187.
|0420 : 406|
Beylage III.
ein Kind aus der Mitte des zehenten Monats nicht gelten
würde. — In der That liegt die Loͤſung der Schwierig-
keit auf einem andern Punkte. Das aut septimo pleno,
aut decimo mense giebt Paulus gar nicht als praktiſches
Recht an, ſondern lediglich als die Meynung des Pytha-
goras. Dieſe Meynung nun kennen wir glücklicherweiſe
ſehr genau aus einem anderen Schriftſteller (x). Nach
ihr kann ein Kind lebendig geboren werden nur an zwey
einzelnen Tagen, durchaus nicht in der Zwiſchenzeit, näm-
lich nur am 210ten Tage ſeit der Zeugung (aut septimo
pleno), und am 274ſten Tage (aut decimo mense); das
eine iſt der minor partus oder septemmestris, das andere
der major oder decemmestris. Dieſes beweiſt er durch
eine ſehr wunderliche, verwickelte Rechnung, die aber in
ſich ſelbſt ſo genau zuſammenhängt, daß an ein Misver-
ſtändniß dabey gar nicht zu denken iſt. Daß auch Pau-
lus dieſe Lehre eben ſo aufgefaßt hat, ergiebt ſich aus der
Übereinſtimmung der Reſultate, und insbeſondere auch aus
dem aut-aut bey Paulus, welches ſehr gut zu zwey ein-
zelnen alternativ gültigen Tagen, aber gar nicht zu zwey
Endpuncten mit einem eben ſo gültigen langen Zwiſchen-
raum paßt. Vergleicht man nun aber die Regel des Py-
thagoras mit der auch von Paulus anerkannten Regel des
Römiſchen Rechts, ſo zeigt ſich eine völlige Verſchieden-
(x) Censorinus de die natali
Cap. 11. Ich verdanke dieſe Er-
klärung des Paulus aus Cenſo-
rinus (der bey Schulting zwar
citirt aber nicht benutzt war) der
Mittheilung meines Freundes
Lachmann.
|0421 : 407|
Vitalität.
heit, indem Pythagoras eine lebendige Geburt erſt mit
dem 210ten Tage als möglich annimmt, das Römiſche
Recht aber (und gerade Paulus ſelbſt, in dieſer unſrer
Stelle) ſchon einen vollen Monat früher, und zwar ohne
Beſchränkung auf einen beſtimmten einzelnen Tag. Hier-
aus folgt alſo, daß bey Paulus die Berufung auf die
Autorität des Pythagoras Nichts iſt, als eine unnütze,
ja ſelbſt verkehrt angebrachte Gelehrſamkeit: verkehrt, weil
die Regel des Römiſchen Rechts und die des Pythagoras
in der That ganz verſchieden ſind, und auch nach der
Angabe des Paulus Nichts mit einander gemein haben,
als die gleichlautenden (aber in verſchiedenem Sinn ge-
brauchten) Worte septimo mense.
Aus dieſer Unterſuchung ergiebt ſich Folgendes. Paulus
ſagt, ein zwar lebendes, aber nicht lebensfähiges (d. h.
nicht wenigſtens ſiebenmonatliches) Kind kann nicht mitge-
rechnet werden unter die drey Kinder, durch welche die
Mutter einen Anſpruch auf das Sc. Tertullianum erwirbt.
Man könnte zweifeln, ob dieſes etwa nur eine Meynung
dieſes einzelnen Juriſten geweſen ſey; ich glaube dieſes
nicht, weil Gellius von einem Rechtsſtreit erzählt, der
ſogar ein Kind des achten Monats betraf; es ſcheint alſo
vielmehr, daß die Anfangs ſchwankende Meynung ſich zu-
letzt zu der feſten Regel ausgebildet hat, wodurch nur die
vor dem Anfang des ſiebenten Monats der Schwangerſchaft
geborenen Kinder nicht mitzählen ſollten. Aber bey Paulus
und bey Gellius betrifft jene Regel lediglich die Begrün-
|0422 : 408|
Beylage III.
dung des jus liberorum, und zwar bey Paulus gewiß (was
bey Gellius unentſchieden bleibt) nur bey Veranlaſſung der
Belohnungen. Dagegen haben wir durchaus keinen Grund
anzunehmen, daß Paulus oder irgend ein anderer Juriſt
das Erforderniß der Vitalität auch auf die eigene Rechts-
fähigkeit des lebend geborenen Kindes ſelbſt angewendet
hätte (y).
Was folgt nun aus dieſem Allen für die gewöhnliche
Lehre von der Vitalität in Beziehung auf das Juſtinianiſche
Recht? Nicht das Geringſte, vielmehr noch ein neuer Grund
gegen dieſelbe. Von dem jus liberorum war jetzt ohnehin
nicht mehr die Rede. Bey der Rechtsfähigkeit des Kindes
war auch früher das Erforderniß der Vitalität, ſo viel
wir wiſſen, nicht aufgeſtellt worden. Hätten es aber auch
einige ältere Juriſten behauptet, ſo wäre es nur um ſo
gewiſſer, daß die Compilatoren dieſe Lehre mit Abſicht
verworfen hätten, indem dieſelbe in unſere Rechtsbücher
nicht aufgenommen iſt, und ihr vielmehr der ganz allge-
meine Ausdruck der entſcheidendſten Stellen des Codex ge-
radezu entgegen ſteht (z).
(y) Wenn derſelbe Paulus an-
derwärts ſagt: septimo mense
nasci perfectum partum (Note e),
ſo iſt das perfectum partum an
ſich zweydeutig, da es ſowohl für
vivum (fähig zur lebendigen Ge-
burt) als für vitalem (fähig zur
längern Fortſetzung des Lebens)
gebraucht ſeyn könnte; allein
aus den folgenden Worten iſt es
klar, daß er dort jene Regel le-
diglich wegen der Vermuthung der
Paternität aufſtellt, bey welcher
ohnehin von Vitalität gar nicht
die Rede iſt.
(z) L. 2. 3 C. de posthumis
(6. 29.).
|0423 : 409|
Vitalität.
Die Meynungen und Gründe der Rechtslehrer über
dieſe Streitfrage darzuſtellen, iſt deswegen ſchwierig, weil
die Meiſten ſelbſt keine klare Vorſtellung von der Sache
gehabt haben. Sie verwirren nämlich ſtets die Vitalität
als Bedingung der Rechtsfähigkeit mit der Vermuthung
für die Paternität, und unterſcheiden daher nicht den zwie-
fachen Einfluß, den man dem Urtheil der Arzte möglicher-
weiſe einräumen kann: erſtlich, wenn die Frage entſteht,
ob ein gleich nach der Geburt verſtorbenes Kind Rechte
gehabt hat; zweytens, wenn bey einem fortlebenden Men-
ſchen die eheliche Erzeugung beſtritten wird (aa). Nach
unſrer Meynung haben in beiden Fällen die Ärzte gar
nicht mitzuſprechen: nicht im erſten Fall, weil das Kind,
das nur einen Augenblick nach der Geburt wirklich lebte,
immer Rechte hat; nicht im zweyten Fall, weil das poſitive
(aa) Bey einem Rechtsſtreit
über die eheliche Erzeugung wird
die Vitalität gewöhnlich gar nicht
zur Sprache kommen, weil meiſt
von einem ſolchen Kind die Rede
ſeyn wird, das in der That län-
ger fortgelebt hat, ja vielleicht den
gegenwärtigen Rechtsſtreit in ei-
gener Perſon führt; einem ſolchen
die Vitalität zu beſtreiten würde
einigermaßen lächerlich ſeyn. Da-
gegen können allerdings ſeltnere
Fälle vorkommen, worin beide
Streitfragen zugleich zu entſchei-
den ſind. Wir wollen annehmen,
daß ein Mann heirathet, wenige
Monate nachher ſtirbt, und kurz
darauf die Wittwe ein Kind zur
Welt bringt, welches nur einen
Tag lebt. Wenn jetzt die Wittwe
behauptet, die Erbſchaft des Man-
nes ſey ipso jure dem Kinde
erworben, und ſie wolle nun das
Kind beerben, ſo können die bei-
den Fragen neben einander vor-
kommen: 1) war das Kind vital,
alſo rechtsfähig? 2) iſt nach der
Zeit ſeiner Geburt die eheliche
Erzeugung zu vermuthen, ſo daß
das Kind den Verſtorbenen beer-
ben konnte? Allein beide Fragen
ſind dennoch auch in einem ſolchen
Falle von einander unabhängig,
und ihre Beantwortung muß aus
ganz verſchiedenen Gründen er-
folgen.
|0424 : 410|
Beylage III.
Recht darüber feſte Regeln aufgeſtellt hat, ohne Zweifel
gerade um die Gefahr individueller Beurtheilung auszu-
ſchließen (bb). Aber welche Meynung man auch über beide
Fragen annehmen möge, ſo iſt doch unläugbar, daß ohne
genaue Sonderung dieſer Fragen ſelbſt eine gründliche Ein-
ſicht nicht gewonnen werden kann.
In der hier gerügten Verwirrung der Begriffe werden
alle Anderen weit übertroffen von Glück, der ſich aber
hier, wie gewöhnlich, ſehr brauchbar zeigt durch die reich-
haltige Angabe von Schriftſtellern, ſowohl mediciniſchen
als juriſtiſchen (cc).
Als ſichere Vertheidiger der Lehre von der Vitalität
können Folgende genannt werden:
1) Alph. a Caranza de partu naturali et legitimo
Cap. 9. Er ſetzt ſtillſchweigend, ohne Unterſuchung, voraus,
die Vitalität ſey Bedingung der Rechtsfähigkeit, und un-
terſucht blos die Frage, mit welchem Monat der Schwan-
gerſchaft die Rechtsfähigkeit anfange. Ganz willkührlich
nimmt er vielfachen Widerſtreit der alten Juriſten unter
ſich, und des neueren Rechts mit dem älteren an, und
nachdem er ſich höchſt ſchwerfällig dieſer ſelbſtgeſchaffenen
Schwierigkeiten zu erwehren geſucht hat, kommt er endlich
Num. 37. 38 auf das überraſchendſte Reſultat, Kinder im
fünften und ſechſten Monat der Schwangerſchaft geboren
(bb) S. o. Rote h. — Bey
neueren Schriftſtellern freylich ge-
hen auch hier die Meynungen ſehr
aus einander, wobey meiſt dieſe
Frage mit der Frage nach der
Vitalität verwirrt wird.
(cc) Glück B. 2 § 115. 116.
B. 28 § 1287 e.
|0425 : 411|
Vitalität.
ſeyen vital und rechtsfähig, die im dritten und vierten
aber nicht.
2) G. E. Oeltze de partu vivo vitali et non vitali
Jenae 1769. Er vertheidigt beſtimmt die Regel, daß das
nicht vitale, d. h. das vor dem ſiebenten Monat geborene
Kind keine Rechte habe; man findet bey ihm klare Begriffe,
und manches ſchätzbare literariſche Material. Aber die
Beweiſe für ſeine Behauptung ſind freylich unglaublich
ſchwach. Ich will ſie kurz zuſammenſtellen:
a) Ein nicht vitales Kind kann ſeinen Nebenmenſchen
Nichts nützen, iſt daher einem todtgeborenen gleich (§ 15).
b) L. 12 de statu hom. (1. 5.). Hier erklärt er das
septimo mense nasci perfectum partum durch vitalem,
was den Worten nach angehen würde, aber durch den
Schluß der Stelle völlig widerlegt wird (S. oben Note y).
Dieſer Widerlegung ſucht er dadurch zu entgehen, daß er
am Schluß das justum filium esse von der Rechtsfähig-
keit des Sohnes verſteht, da es doch offenbar nur die
Legitimität deſſelben, die Geburt ex justis nuptiis, bezeich-
nen kann (§ 16).
c) L. 2 C. de posthumis (6. 29.) ſagt, ein abortus
habe keine Rechte; da nun das nicht vitale Kind ein abor-
tus ſey, ſo habe es keine Rechte (§ 19).
d) L. 3 C. de posthumis (6. 29.) macht die Bedingung:
si vivus perfecte natus est; das heiße ein vitales Kind
(§ 21). Aber perfecte natus bezeichnet nicht den Gegen-
ſatz gegen das unreife Kind, ſondern gegen dasjenige, wel-
|0426 : 412|
Beylage III.
ches noch in der Geburt, vor der völligen Trennung von
der Mutter, ſtirbt. Läge das nicht ſchon in dem Wort
ſelbſt, ſo würde es außer Zweifel geſetzt durch die gleich
folgende Wiederholung in den Worten: si vivus ad orbem
totus processit.
3) Haller (ſ. Note k) nimmt als entſchieden das Er-
forderniß der Vitalität an, aber offenbar nur auf die Ver-
ſicherung mehrerer Juriſten, daß dieſes wahr ſey, und wie
es ſcheint mit einigem eigenen Widerſtreben. Zugleich führt
er (p. 321 Note q) eine ganze Anzahl von Vertheidigern
der entgegengeſetzten Meynung an.
4) Hofacker T. 1 § 237 ſpricht dem nicht vitalen
Kinde die Rechtsfähigkeit entſchieden ab, und ſetzt es einem
nicht geborenen völlig gleich.
Dagegen finden ſich auch in verſchiedenen Zeiten ſehr
beſtimmte Vertheidiger der richtigen Meynung. Sieht man
auf das rein praktiſche Reſultat, ſo müßte ſchon der oben
für die entgegengeſetzte Meynung angeführte Caranza
hierher gerechnet werden, welcher zwar den Worten nach
die nicht vitalen Kinder von der Rechtsfähigkeit ausſchließt,
in der That aber in allen wirklich ſtreitigen Fällen die
Rechtsfähigkeit dadurch einräumt, daß er die Kinder des
fünften und ſechſten Monats für vital erklärt. — Allein
es fehlt auch nicht an ſolchen Schriftſtellern, welche gera-
dezu, und auch den Worten nach, annehmen, daß zur
Rechtsfähigkeit lediglich die lebendige Geburt, durchaus nicht
die Vitalität, erforderlich ſey. Dahin gehören folgende:
|0427 : 413|
Vitalität.
Aus der älteren Zeit: Carpzov. jurisprudentia forensis
P. 3 Const. 17. defin. 18.
Aus der neueren Zeit: J. A. Seiffert Erörterungen
einzelner Lehren des Roͤmiſchen Privatrechtes Abtheil. 1.
Würzburg 1820. S. 50—52. Hier wird der Unterſchied
zwiſchen der Vermuthung der Paternität und den Bedin-
gungen der Rechtsfähigkeit richtig nachgewieſen, und die
Vitalität als eine ſolche Bedingung beſtimmt verworfen:
aber es geſchieht ohne Entwicklung dieſer Behauptung
in ihren Gründen und Gegenſätzen, wodurch es allein
möglich wird, der ſteten Wiederkehr des alten Irrthums
vorzubeugen.
Eben ſo erklärt ſich für die richtige Meynung Van-
gerov Pandekten S. 55.
In neueren Geſetzbüchern findet ſich hierüber Folgendes.
Das Preußiſche Landrecht kennt den Begriff der Vitalität
nicht, und knüpft vielmehr überall die Rechtsfähigkeit le-
diglich an die Geburt eines lebenden Kindes. So im Ci-
vilrecht (I. 1. §. 12. 13.); ebenſo aber auch im Criminal-
recht, bey den Strafen des Kindermords (II. 20. §. 965.
968. 969.). — Der Code civil hat die Vitalität als Be-
dingung der Rechtsfähigkeit aufgenommen. Wird ein Kind
zwar lebend geboren, aber nicht viable, ſo kann ihm weder
durch Inteſtaterbfolge, noch durch Schenkung oder Teſta-
ment, Vermoͤgen erworben werden (art. 725. 906.). Der
Ehegatte kann in der Regel die Anerkennung eines Kindes
|0428 : 414|
Beylage III.
verweigern, wenn daſſelbe weniger als 180 Tage nach
geſchloſſener Ehe geboren wird; dieſe Verweigerung gilt
nicht „si l’enfant n’est pas déclaré viable” (art. 314.). —
Der Code pénal nimmt auf die Vitalität keine Rückſicht.
Mit den hier behandelten Fragen ſtehen zwey andere
in naher Verwandtſchaft, die ich blos deswegen bis jetzt
nicht berührt habe, weil es mir darauf ankam, den Zuſam-
menhang der vorſtehenden Unterſuchung nicht zu unterbrechen.
Die erſte dieſer Fragen betrifft die Anwendung des im
Roͤmiſchen Recht aufgeſtellten präſumtiven Zeitraums der
Schwangerſchaft auf uneheliche Kinder. Zwar im Roͤmi-
ſchen Recht ſelbſt konnte davon gar nicht die Rede ſeyn,
weil daſſelbe in juriſtiſchem Sinn uneheliche Kinder eines
Mannes überhaupt nicht anerkennt, und namentlich durch-
aus nicht als Cognaten des Vaters behandelt. Nur in
ganz beſchränkten Beziehungen nimmt das neuere Recht
auf Concubinenkinder eines Mannes Rückſicht, und dann
ſtets unter der Vorausſetzung, daß er ſelbſt dieſes wünſche,
alſo ſie anerkenne; von einer Vermuthung der Paternität
war alſo auch dabey nicht die Rede. Allein in neueren
Staaten hat die Praxis, abweichend vom Römiſchen Recht,
auch den unehelichen Kindern Anſprüche gegen den Vater
zugeſtanden. Nun verſuchten die Rechtslehrer, die Prä-
ſumtion des Römiſchen Rechts auch hierauf anzuwenden,
indem ſie die Regel aufſtellten: wenn gegen einen Mann
durch Geſtändniß oder Beweis feſtgeſtellt iſt, daß er in
|0429 : 415|
Vitalität.
den vier Monaten zwiſchen dem 182. und 300. Tage vor
der Geburt irgend einmal vertrauten Umgang mit der
Mutter gehabt hat, ſo wird dem Kind der Anſpruch gegen
ihn, wie gegen einen Vater, geſtattet, und daran knüpfen
ſich zugleich Anſprüche der Mutter. Daß man dieſes an-
nahm, war unvermeidlich, als Nothbehelf, weil ſich kein
anderer Ausweg zeigte. Nur muß man ſich nicht täuſchen,
als ob hierin eine wirkliche Analogie des Römiſchen Rechts
angewendet würde. Denn die Vermuthung des Römiſchen
Rechts gründet ſich auf die Heiligkeit der Ehe, die ihre
Würde auf Alles verbreitet, was waͤhrend ihrer Dauer
vorgeht. Voͤllig verſchieden davon iſt die Vermuthung ei-
nes Cauſalzuſammenhangs zwiſchen einem erwieſenen ein-
zelnen Beyſchlaf und einer nach 182 bis 300 Tagen er-
folgten Niederkunft. Ja dieſe letzte Vermuthung zeigt ſich,
conſequent durchgeführt, ganz unhaltbar, indem ſie darauf
führt, daß ein Kind in der That von vielen Vätern er-
zeugt ſeyn koͤnne (Note d). Man muß alſo nur anerkennen,
daß jene Vermuthung bey unehelichen Kindern eine will-
kührliche, aber unvermeidliche Annahme iſt.
Die zweyte Frage betrifft die Behandlung deſſelben
Gegenſtandes in neueren Geſetzgebungen. Dieſe haben meiſt
die Vermuthung des Römiſchen Rechts angenommen, nur
mit einigen Modificationen.
Das Franzöſiſche Geſetzbuch ſchließt ſich am engſten
an das Roͤmiſche Recht an. Die Vermuthung ſetzt es
zwiſchen 180 und 300 Tage, und läßt nur, als Gegenbe-
|0430 : 416|
Beylage III.
weis, den Beweis der Unmöglichkeit zu. Wenn jedoch der
Ehemann die Unächtheit eines vor 180 Tagen geborenen
Kindes behauptet, ſo wird er von dieſer Behauptung durch
gewiſſe früher vorgekommene anerkennende Handlungen aus-
geſchloſſen (art. 312—315.). Uneheliche Kinder haben ge-
gen den Vater gar keine Anſprüche.
Das Öſterreichiſche Geſetzbuch ſetzt die Vermuthung,
wie das Römiſche Recht, zwiſchen Sechs und Zehen Mo-
nate, ohne zu ſagen (was jedoch wohl die Meynung iſt),
daß dagegen nur der Beweis der Unmöglichkeit gelte. Allein
es beſtimmt, daß auch bei einem früher oder ſpäter gebo-
renen Kinde die Ächtheit durch ärztliches Gutachten dar-
gethan werden könne (§ 138. 155. 157.). Eine ähnliche
Vermuthung ſoll auch bey unehelichen Kindern gelten, wenn
die Geburt zwiſchen Sechs uad Zehen Monaten nach dem
erwieſenen Beyſchlaf erfolgte (§ 163.).
Das Preußiſche Landrecht weicht am ſtärkſten von dem
Roͤmiſchen Recht ab, und in dem Hauptpunkt, wie es
ſcheint, weniger mit Abſicht, als aus Misverſtändniß der
Römiſchen Regel. Die Vermuthung für die Ächtheit des
Kindes gründet ſich darauf, daß das Kind „während einer
„Ehe erzeugt oder geboren worden“ (II. 2 § 1). Dieſe
Vermuthung gilt alſo eben ſowohl, die Geburt mag Einen
Monat oder Neun Monate nach geſchloſſener Ehe erfolgt
ſeyn (dd). Sie wird nur ausgeſchloſſen durch den Beweis,
daß der Mann in dem ganzen Zeitraum zwiſchen 302 und
(dd) Daß es wirklich ſo gemeynt iſt, und wirklich blos aus Mis-
|0431 : 417|
Vitalität.
210 Tagen vor der Geburt, der Frau „nicht ehelich bei-
„gewohnt habe,“ welcher Beweis, wie die nachfolgenden
Erläuterungen zeigen, auf die Unmöglichkeit des Beyſchlafs
zu richten iſt (ib. § 2—6). Wird nach des Mannes Tod
ein Kind geboren, ſo können die Erben die auf den 302.
Tag gegründete Vermuthung durch ärztliches Zeugniß ent-
kräften (§ 21). Bey zwey ſchnell nach einander folgenden
Ehen wird auf den 270. Tag geſehen (§ 22. 23). Bey
unehelichen Kindern wird die Paternität vermuthet, wenn
erweislich zwiſchen 210 und 285 Tagen vor der Geburt
der Beyſchlaf ſtattgefunden hat; doch auch bey weniger
als 210 Tagen, wenn noch das ärztliche Zeugniß hinzu
tritt (II. 1. § 1077. 1078).
verſtändniß des R. R., ergiebt
ſich aus folgender Bemerkung von
Suarez, Vol. 80 fol. 81 der
Materialien: „Der Satz: Pater
„est quem justae nuptiae de-
„monstrant paßt ſo gut auf Kin-
„der die 24 Stunden, als die 6
„Monat nach der Hochzeit gebo-
„ren werden.“ Freylich iſt dane-
ben wieder nicht ſorgfältig gewählt
der Ausdruck am Schluß des § 2,
indem der Mann den Gegenbeweis
gegen jene Vermuthung darauf zu
richten hat, „daß er der Frau in
„dem Zwiſchenraume vom 302.
„bis zum 210. Tage vor der Ge-
„burt des Kindes nicht ehelich
„beigewohnt habe.“ Wird
das Kind „24 Stunden nach der
Hochzeit“ geboren, ſo ergiebt ſich
die Unmöglichkeit der ehelichen
Beiwohnung vor 210 Tagen aus
dem Datum des Taufſcheins. Was
man eigentlich meynte und ſagen
wollte, war daß in jenem Zeit-
raum kein Beyſchlaf ſtattgefunden
habe. — Man könnte nun die
Regel des Landrechts dadurch zu
rechtfertigen verſuchen, daß bey
einer bald nach der Ehe erfolg-
ten Niederkunft der Mann die
Schwangerſchaft gewußt haben
müſſe, weshalb in der dennoch
geſchloſſenen Ehe eine Anerken-
nung des Kindes liege. Allein
dieſe Vorausſetzung kann nicht
zugegeben werden, vielmehr ſind
in dieſer Hinſicht ſchon ſehr grobe
Täuſchungen vorgekommen: be-
ſonders ſind ſolche leicht denkbar,
wenn die Geburt erſt im fünften
oder ſechſten Monat nach geſchloſ-
ſener Ehe erfolgt.
II. 27
|0432 : 418|
Beylage IV.
Beylage IV.
Über die Wirkſamkeit der von Römiſchen
Sklaven contrahirten Obligationen.
(Zu § 65 Note i).
Wenn ein Römiſcher Sklave ſolche Handlungen vor-
nahm, aus welchen für einen Freyen Obligationen ent-
ſtanden ſeyn würden, ſo konnte die Wirkſamkeit derſelben
unter ganz verſchiedenen Umſtänden zur Sprache kommen:
während des Sklavenſtandes, und nach der Freylaſſung.
Während des Sklavenſtandes war ſchon an ſich unmög-
lich eine civilis obligatio, da ein Sklave durchaus nicht
vor Gericht ſtehen konnte, weder als Kläger noch als Be-
klagter: eine naturalis obligatio war in dieſem Zuſtand
allerdings denkbar. Nach der Freylaſſung dagegen war
eben ſowohl eine civilis, als eine naturalis obligatio denk-
bar. Um nun zu beſtimmen, was die Römer hierüber
wirklich angenommen haben, iſt es nöthig, zwey Haupt-
fragen zu unterſcheiden: Konnte der Sklave Forderungen
erwerben? Konnte er Schulden auf ſich nehmen? Oder
was daſſelbe ſagt: Konnte er Glaubiger, konnte er
Schuldner werden?
I. Forderungen der Sklaven.
Dieſe waren in der Regel deswegen unmoͤglich, weil
der Sklave durch ſeine juriſtiſche Handlungen ſtets dem
|0433 : 419|
Obligationen der Sklaven.
Herrn Rechte erwarb und erwerben mußte, ſo daß kein
Erwerb auf ihn ſelbſt fallen konnte. Dieſer Grund machte
ihn eben ſo unfähig, in einer naturalis (a) als in einer
civilis obligatio Glaubiger zu werden. Wo aber dieſer
Grund nicht vorhanden war, da mußte auch der Sklave
ausnahmsweiſe Glaubiger ſeyn können. Eine ſolche Aus-
nahme trat ein erſtlich bey dem herrenloſen Sklaven, zwey-
tens bey einem Vertrag mit dem Herrn ſelbſt, indem die-
ſer nun der Schuldner war, und alſo nicht zugleich Glau-
biger ſeyn konnte. In beiden Fällen erwarb der Sklave
ſelbſt eine naturalis obligatio, die auch nach der Freylaſ-
ſung naturalis blieb und ſich nicht etwa in eine civilis
verwandelte. Von dieſen Ausnahmen können wir nur die
zweyte beweiſen, die erſte aber darf eben ſo unbedenklich
nach dem ganzen Zuſammenhang der hier einſchlagenden
Rechtsregeln angenommen werden. — Ich will nunmehr
die wichtigſten Stellen angeben, worin theils die Regel
ſelbſt, theils die erwähnte Ausnahme, anerkannt wird.
Die Regel findet ſich ausgeſprochen nur in einer
Stelle, welche davon Anwendung macht auf die Beurthei-
lung eines merkwürdigen Rechtsfalls, nämlich in L. 7 § 18
de pactis (2. 14.). Ein Sklave war in einem Teſtament
bedingungsweiſe freygelaſſen und zum Erben eingeſetzt wor-
(a) Einige Stellen, woraus
Zweifel gegen dieſen Theil un-
ſrer Regel, der auch die natu-
ralis obligatio als Recht des
Sklaven ausſchließt, hergenom-
men werden könnten, werden un-
ten erklärt werden, Note b.
27*
|0434 : 420|
Beylage IV.
den. Während die Bedingung noch unentſchieden, er alſo
noch Sklave war, ſchloß er mit den Glaubigern des Ver-
ſtorbenen einen Nachlaßvertrag; wenn nun die Bedingung
eintrat, und er dadurch Erbe wurde, konnte er den Glau-
bigern aus jenem Vertrag die exceptio pacti entgegen
ſetzen? Ulpian verneint dieſes aus dem Grunde „quoni-
„am non solet ei proficere, si quid in servitute egit, post
„libertatem: quod in pacti exceptione admittendum est.”
Hier iſt unſre Regel unmittelbar ausgeſprochen, und auf
den Erwerb einer bloßen Exception, durch naturalis obli-
gatio, angewendet; dann folgt aber die merkwürdige Er-
klärung, die für den praktiſchen Erfolg gerade das Ge-
gentheil feſtſtellt: unter der Form der doli exceptio könne
der Sklave nach erworbener Freyheit ſeinen Zweck den-
noch erreichen. Dieſes wird beſtätigt durch das Beyſpiel
des Sohnes, der noch bey des Vaters Leben mit deſſen
Creditoren den Erlaßvertrag geſchloſſen habe, und gleich-
falls zwar nicht die pacti, wohl aber die doli exceptio,
nachdem er ſpäterhin Erbe des Vaters geworden, gebrau-
chen könne. „Idem probat, et si filius vivo patre cum
„creditoribus paternis pactus sit: nam et huic doli excep-
„tionem profuturam. Immo et in servo doli exceptio
„non est respuenda.” Damit ſoll nun ohne Zweifel ge-
ſagt werden, der Sklave habe die doli exceptio, ſelbſt
wenn er während des Lebens ſeines Herrn den Vertrag
geſchloſſen habe: um ſo mehr alſo, wenn dieſes erſt nach
deſſen Tod, aber vor erfüllter Bedingung der Freyheit
|0435 : 421|
Obligationen der Sklaven.
und Erbeinſetzung, geſchehen ſey (b). Darin nun, daß
der Juriſt die doli exceptio zuläßt, könnte man einen
Widerſpruch gegen unſre Regel, oder wenigſtens eine Aus-
nahme derſelben, wahrnehmen wollen: wie ich glaube,
Beides mit Unrecht. Denn der einzige Grund der pacti
exceptio iſt das im Sklavenſtand geſchloſſene pactum, wel-
ches hier unwirkſam bleiben mußte, weil ſonſt (gegen un-
ſre Regel) der Sklave eine Forderung erworben haben
würde. Gründete ſich nun die doli exceptio auf eine zur
Zeit jenes Vertrags, alſo gleichfalls während des Skla-
venſtandes, begangene Unredlichkeit, ſo würde auch die
doli exceptio unzuläſſig ſeyn, weil damals der Sklave
keinerley Recht, alſo auch nicht das aus einer doli obli-
gatio herzuleitende, erwerben konnte. Allein die Unred-
(b) Darauf geht der Fall in
den Anfangsworten der Stelle,
wovon Ulpians ganze Unterſuchung
ausgegangen war: „Sed si ser-
vus sit, qui paciscitur prius-
quam libertatem et heredita-
tem adipiscatur, quia sub cou-
ditione heres scriptus fuerat,
non profuturum pactum Vin-
dius scribit.” (Die Bedingung
muß aber auch auf die Freyheit
gegangen ſeyn, weil es nachher
heißt: „Sed si quis, ut supra
retulimus, in servitute pactus
est.”) Da nun dieſer bedingungs-
weiſe eingeſetzte Sklave, wenn er
ex asse eingeſetzt iſt, einſtweilen
als herrenloſer Sklave betrachtet
werden könnte, ſo dürfte hieraus
ein Zweifel hergenommen werden
gegen die erſte, oben im Text
behauptete Ausnahme, nach wel-
cher der herrenloſe Sklave Glau-
biger ſeyn kann. Dieſem Zwei-
fel läßt ſich auf zweyerley Weiſe
begegnen: 1) Ulpian ſagt gar
nicht, daß der Sklave ex asse
eingeſetzt war: ſtand aber neben
ihm ein freyer Miterbe, ſo war
dieſer einſtweilen der wahre, ge-
genwärtige Herr des Sklaven.
2) Aber auch wenn er ex asse
Erbe ſeyn ſollte, ſo konnte wohl
einſtweilen die Erbſchaft ſelbſt als
Herr des Sklaven angeſehen wer-
den, von welcher Anſicht bey den
juriſtiſchen Perſonen gehandelt
wird (§ 102).
|0436 : 422|
Beylage IV.
lichkeit, worauf hier die Exception gegründet werden ſoll,
beſteht darin, daß der Glaubiger, der einen Nachlaß durch
Vertrag zugeſagt hatte, nun dennoch das Ganze einklagt.
Dieſe Thatſache aber fällt in eine Zeit, worin der frühere
Sklave ſchon frey, alſo zur Erwerbung jeder Obligation
fähig iſt; die Unredlichkeit aber als ſolche, als reine That-
ſache von unſittlichem Character, wird dadurch nicht aus-
geſchloſſen, daß der frühere Vertrag durch die ganz po-
ſitive Rechtsunfähigkeit der Sklaven juriſtiſch unwirkſam
geblieben war.
Die Ausnahme, nach welcher der Sklave eine natura-
lis obligatio erwerben ſoll, wenn darin der Herr ſelbſt
als Schuldner auftritt, zeigt ſich auf zweyerley Weiſe in
merkwürdigen Anwendungen. Erſtlich noch während des
Sklavenſtandes, wenn im Verhältniß zu fremden Glau-
bigern die Frage entſteht, wie groß das Peculium iſt.
Nach einer allgemeinen, für Kinder und Sklaven gelten-
den Regel, ſollten dem Peculium hinzugerechnet werden
die Schulden des Herrn an den Sklaven, umgekehrt aber
ſollten abgerechnet werden die Schulden des Sklaven an
den Herrn (c). Bey dieſer Regel alſo wurden die gegen-
ſeitigen Obligationen als völlig gültige (jedoch nur als
(c) L. 5 § 4 L. 9 § 2 de pe-
culio (15. 1.). — Eine Anwen-
dung dieſer deductio auf den
filiusfamilias liegt der berühm-
ten L. Frater a fratre (L. 38 de
cond. ind. 12. 6.) zum Grunde.
— Eine Anwendung derſelben
noch außer der actio de pecu-
lio, nämlich auf die Geldzahlung,
die ein statuliber aus ſeinem Pe-
culium machen darf, um dadurch
frey zu werden, findet ſich in L. 3
§ 2 de statulib. (40. 7.).
|0437 : 423|
Obligationen der Sklaven.
naturales obligationes) vorausgeſetzt, und es wurde das
Peculium gerade ſo berechnet, wie wenn dieſe Schulden
ſchon baar bezahlt geweſen wären. Dabey mußte natür-
lich alle Willkühr des Herrn ausgeſchloſſen bleiben, und
es wurde daher das Daſeyn und die Gültigkeit der Schul-
den nach denſelben Regeln, wie bey gewoͤhnlichen Civil-
obligationen, beurtheilt (d). — Zweytens nach der Frey-
laſſung zeigte ſich jene Ausnahme wirkſam, indem die
Zahlung einer ſolchen Schuld von Seiten des Patrons
an den Freygelaſſenen niemals als indebitum angefochten
werden konnte, ſelbſt wenn der Patron dabey im Irrthum
geweſen ſeyn ſollte (e). — Nur Ein Vertrag ſollte in ſolchen
(d) L. 49 § 2 de peculio (15.
1.). „Ut debitor vel servus do-
mino, vel dominus servo in-
telligatur, ex cuusa civili com-
putandum est: ideoque si do-
minus in rationes suas referat,
se debere servo suo, cum om-
nino neque mutuum acceperit,
neque ulla causa praecesserat
debendi, nuda ratio non facit
eum debitorem.”
(e) L. 64 de cond. indeb. (12
6.). „Si, quod dominus servo
debuit, manumisso solvit, quam-
vis existimans ei aliqua teneri
actione, tamen repetere non po-
terit, quia naturale agnovit de-
bitum.” — L. 14 de O. et A.
(44. 7.). „Servi ex delictis qui-
dem obligantur, et si manumit-
tuntur obligati remanent: ex
contractibus autem civiliter qui-
dem non obligantur, sed natu-
raliter ct obligantur et obli-
gant. Denique si servo, qui
mihi mutuam pecuniam dede-
rat, manumisso solvam, libe-
ror.” In dieſer Stelle muß das
et obligant, aus den im Text
ausgeführten Gründen, in einge-
ſchränkterer Anwendung verſtan-
den werden, als das et obligan-
tur, ſo daß es nur auf die For-
derungen an den eigenen Herrn,
nicht an andere Perſonen, bezo-
gen werden darf (Note a). Eben
ſo muß in dem Beyſpiel am
Schluß der Stelle zu si servo
hinzugedacht werden meo. — Gar
nicht hierher gehören L 18. 19.
32. 35 de solut. (46. 3.), nach
welchen der Schuldner frey wird,
wenn er dem Freygelaſſenen zahlt,
ohne von deſſen Manumiſſion zu
wiſſen. Das geſchieht nicht we-
gen einer naturalis obligatio zu
|0438 : 424|
Beylage IV.
Fällen ganz nichtig ſeyn: der Verkauf einer Sache von
Seiten des Herrn an ſeinen Sklaven (f). Denn da der
Verkauf einer Sache ſtets auf Übergabe gerichtet iſt, die
Übergabe an den Sklaven aber immer dem Herrn Rechte
verſchafft, ſo iſt es, als ob der Herr ſeine Sache an ſich
ſelbſt verkauft hätte, was den Grundregeln des Kaufs
widerſpricht (g).
II. Schulden der Sklaven.
Hier fällt das oben erwähnte Bedenken gegen die For-
derungen gänzlich weg, weil der Sklave durch ſeine Hand-
lungen den Herrn nur reicher, nicht ärmer machen konnte,
die Schulden alſo ſich ohnehin nicht auf den Herrn bezo-
gen, wenn nicht beſondere Gründe (z. B. ein anvertrau-
tes Peculium) dieſe Beziehung rechtfertigten. Der Sklave
konnte alſo durch ſeine Handlungen ſowohl gegen ſeinen
Herrn, als gegen einen Fremden, Schuldner werden, aber
in beiden Fällen war dieſe Schuld nur eine naturalis obli-
gatio, und blieb eine ſolche auch nach der Freylaſſung (h).
dieſem Freygelaſſenen, ſondern
weil der Schuldner nach den vor-
ausgeſetzten Umſtänden hinrei-
chende Urſache hatte zu glauben,
der Freygelaſſene empfange die
Zahlung noch als Sklave und
zwar nach dem Willen des wah-
ren und einzigen Glaubigers.
Hierin irrt Zimmern Rechts-
geſchichte I. § 183 S. 673 (vergl.
Note a).
(f) L. 14 § 3 de in diem ad-
dict. (18. 2.).
(g) L. 16 pr. de contr. emt.
(18. 1.). „Suae rei emtio non
valet … nulla obligatio fuit.”
L. 45 pr. de R. J. (50. 17.). —
Auch von anderer Seite betrach-
tet, iſt das Geſchäft ungültig,
weil überhaupt Niemand an ſich
ſelbſt verkaufen kann: und dieſe
Regel würde den Kauf ſelbſt dann
ungültig machen, wenn der ver-
kaufende Herr zufällig nicht Ei-
genthümer der Sache wäre. L. 10
C. de distr. pign. (8. 28.). Vgl.
Paulus II. 13 § 3. 4.
(h) L. 14 de O. et A. (44. 7.).
|0439 : 425|
Obligationen der Sklaven.
Hat alſo der Sklave gegen ſeinen Herrn eine Schuld
contrahirt, ſo tritt dabey die ſchon oben erwähnte deductio
von dem Peculium ein, und es ſind dabey dieſelben Regeln,
wie für den umgekehrten Fall, zu beobachten (Note c. d).
Eben ſo aber auch, wenn ſich der Sklave einem Frem-
den verpflichtete. Anwendungen und Beſtätigungen dieſer
Regel finden ſich in vielen Stellen. Schließt der Sklave
einen Contract, ſo kann er daraus auch nach der Frey-
laſſung nicht verklagt werden (i). Dagegen wirken alle
ſeine Schulden vor und nach der Freylaſſung inſoweit,
daß eine Zahlung nie mit der condictio indebiti angefoch-
ten werden kann, und daß dafür Bürgen und Pfänder
gültigerweiſe beſtellt werden dürfen (k). Wenn er ſelbſt
(Note e). — L. 1 § 18 depos.
(16. 3.). Nach dem Buchſtaben
einiger Stellen könnte man glau-
ben, es ſey hier für den Sklaven
gar keine obligatio, nicht einmal
eine naturalis, entſtanden. § 6
J. de inut. stip. (3. 19.). § 6 J.
de nox. act. (4. 8.). L. 43 de
O. et A. (44. 7.). L. 22 pr. de
R. J. (50. 17.). — Allein dieſe
Stellen erklären ſich völlig aus
dem auch ſonſt nicht ſeltenen
Sprachgebrauch, nach welchem die
naturales obligationes als un-
eigentliche Obligationen bezeich-
net werden, ſo daß im Fall der-
ſelben auch wohl das Daſeyn ei-
ner obligatio überhaupt verneint
wird. L. 7 § 2. 4 de pactis (2.
14.). L. 16 § 4 de fidej. (46. 3.).
Obligatio heißt dann ſo viel als
Klagbarkeit.
(i) Paulus II. 13 § 9, L. 1. 2
C. an servus (4. 14.).
(k) L. 13 pr. de cond. indeb.
(12. 6.). „Naturaliter etiam ser-
vus obligatur: et ideo si quis
nomine ejus solvat, vel ipse
manumissus, vel (ut Pomponius
scribit) ex peculio cujus libe-
ram administrationem habeat,
repeti non poterit: et ob id
et fidejussor pro servo accep-
tus tenetur: et pignus pro eo
datum tenebitur; et si servus,
qui peculii administrationem
habet, rem pignori in id quod
debeat dederit, utilis pignera-
|0440 : 426|
Beylage IV.
eine ſolche Schuld nach der Freylaſſung expromittirt, ſo
gilt das nicht etwa als Schenkung, ſondern gleich einer
wahren Zahlung (l).
Man könnte nun fragen, warum die Schulden der
Sklaven nach der Freylaſſung naturales blieben, und nicht
vielmehr klagbar wurden. Der Grund lag ohne Zweifel
darin. Da der Sklave durchaus kein Vermögen haben
konnte, ſo waren die Verträge, worin er ſich als Schuld-
ner verpflichtete, gewiß mit Rückſicht auf ſeinen Sklaven-
ſtand, alſo auf ſeine Beziehungen zu dem Vermögen des
Herrn, geſchloſſen; es wäre alſo ſehr hart geweſen, daraus
ſpäterhin gegen ihn ſelbſt Klagen entſtehen zu laſſen: die
Folgen der naturalis obligatio konnten für ihn ſelbſt nur
in den wenigſten Fällen drückend ſeyn. Aber eben dieſer
Grund erklärt und rechtfertigt zugleich einige merkwürdige
Ausnahmen, in welchen der Freygelaſſene allerdings aus
ſeinen früher contrahirten Schulden verklagt werden konnte.
Die erſte Ausnahme betraf die actio depositi, mit welcher
titia reddenda est.” Die hier
angenommene Leſeart „vel (ut
Pomponius scribit)” iſt aus Ha-
loander: mit gleich gutem Sinn
lieſt die Vulgata „ut Pomponi-
us scribit, vel ex peculio.”
Beide Leſearten bezeichnen die
zwey verſchiedenen Fälle, wenn
der Sklave nach der Freylaſſung
zahlt, und wenn er es vorher thut
aus ſeinem Peculium, worüber
er verfügen durfte (denn ſonſt
könnte der Herr das Geld we-
nigſtens vindiciren). Sinnlos iſt
die Florentina, welche das vel an
beiden Orten wegläßt, wodurch
beide Fälle auf ganz unzuläſſige
Weiſe zu Einem verſchmolzen wer-
den. — Vgl. auch L. 24 § 2 de
act. emti (19. 1.). L. 21 § 2 de
fidej. (46. 1.). L. 84 de solut.
(46. 3.).
(l) L. 19 § 4 de donat. (39. 5.).
|0441 : 427|
Obligationen der Sklaven.
der Freygelaſſene verklagt werden konnte, wenn er die
deponirte Sache beſaß (m); denn nun konnte ſeine frühere
Vermögensloſigkeit kein Grund ſeyn, die verſprochene Re-
ſtitution zu verweigern. Eine zweyte Ausnahme betraf
die actio mandati und negotiorum gestorum, wenn ein
ſolches Geſchäft im Sklavenſtand angefangen und nach
der Freylaſſung dergeſtalt fortgeſetzt worden war, daß bey
Anſtellung der Klage die fruͤheren Theile der Geſchäfts-
führung von den ſpäteren gar nicht getrennt werden konn-
ten (n). Wichtiger und häufiger war die dritte Aus-
nahme. Wenn der Sklave ein Delict begieng, ſo konnte
er daraus nach der Freylaſſung verklagt werden (o). Der
Grund lag darin, daß er das Delict begieng, nicht aus
Rückſicht auf die Verwaltung der Geſchäfte des Herrn
(wie es bey dem Contract zu vermuthen iſt), ſondern aus
Schlechtigkeit; aus dieſer aber muß ihn die Klage treffen,
ſobald er nur überhaupt fähig wird vor Gericht zu ſte-
hen. Zu dieſem Grund tritt noch ein anderer hinzu, das
Princip der Noxalklagen. Aus dem Delict jedes Sklaven
entſtand eine Noxalklage gegen den Herrn: durch Veräu-
(m) L. 21 § 1 depositi (16.
3.). — Über den Zuſammenhang
dieſer Ausnahme vgl. § 74. r.
(n) L. 17 de neg. gestis (3.
5.). Über den Zuſammenhang
dieſer Ausnahme vgl. § 74. i.
(o) L. 14 de O. et A. (Note e).
L. 1 § 18 depositi (16. 3.). L. 4
C. an servus (4. 14.). L. 7 § 8
de dolo (4. 3.). Die Ausnahme
war ſtreng beſchränkt auf die De-
licte, ſo daß die Contractsklagen
ſelbſt im Fall des dolus nicht ge-
gen den Freygelaſſenen angeſtellt
werden konnten.
|0442 : 428|
Beylage IV.
ßerung an einen Dritten gieng dieſe gegen den neuen Er-
werber über (noxa caput sequitur): durch Veräußerung
an den Verletzten, ſo wie durch Dereliction des Sklaven
gieng ſie ganz unter (p). Es war alſo ganz conſequent,
nach der Freylaſſung eine Klage gegen den Freygelaſſenen
zu geben, der ja nun ſein eigener Herr geworden war.
Eine Anwendung findet ſich bey dem Diebſtahl, den ein
Sklave begangen hatte; gegen dieſen gieng nach der Frey-
laſſung die actio furti, aber nicht auch die condictio fur-
tiva (q); denn nur jene entſtand aus dem Delict, dieſe
vielmehr aus dem Haben der Sache ohne Grund, ein ſol-
ches Haben aber konnte man einem Sklaven niemals zu-
ſchreiben. — Merkwürdigerweiſe galt eine gerade umge-
kehrte Ausnahme, wenn der Sklave das Delict gegen den
eigenen Herrn begieng; daraus entſtand überhaupt gar
keine Obligatio, alſo auch keine Klage nach der Freylaſ-
ſung (r): ohne Zweifel deswegen, weil der Herr ohnehin
ganz andere und weit durchgreifendere Mittel hatte, die
Delicte ſeines Sklaven zu beſtrafen, als welche ihm je-
mals das Obligationenrecht hätte darbieten koͤnnen.
Eine merkwürdige Ausnahme der hier aufgeſtellten
Grundſätze wurde, wie es ſcheint, erſt in einer etwas ſpä-
teren Zeit anerkannt. Wenn der Sklave dem Herrn Geld
(p) § 5 J. de nox. act. (4. 8.).
L. 20. 37. 38 § 1. L. 42 § 2. L. 43
de nox. act. (9. 4.).
(q) L. 15 de cond. furt. (13. 1.).
(r) § 6 J. de nox. act. (4. 8.),
L. 6 C. an servus (4. 14.).
|0443 : 429|
Obligationen der Sklaven.
verſprach für die Freylaſſung, und nachher nicht zahlen
wollte, ſo ſollte der Herr eine actio in factum gegen ihn
haben (s). Ohne Zweifel betrachtete man es als einen
Innominatcontract nach der Form facio ut des, und ſetzte
ſich darüber weg, daß die Verabredung während des Skla-
venſtandes geſchloſſen war.
(s) L. 3 C. an servus (4. 14.).
— Ulpian nimmt dieſe Klage noch
nicht als möglich an, ſondern nur
eine Klage gegen den Bürgen we-
gen der naturalis obligatio. L. 7
§ 8 de dolo (4. 3.).
|0444 : 430|
Beylage V.
Beylage V.
Über die Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.
(Zu § 67.)
Ulpian ſagt von den Frauen, ſie könnten nur mit
der anctoritas ihres Tutors Schulden contrahiren; eben
ſo ſagt auch Gajus (a). Hieraus ſchließt Cujacius,
die in väterlicher Gewalt ſtehenden Töchter ſeyen über-
haupt ganz unfähig geweſen, Schulden zu haben, da der
Vater für ſie nicht auctoriren konnte, ſo daß bey ihnen
die nothwendige Bedingung niemals eintrat, woran Ulpian
die Möglichkeit der Schulden für Frauen knüpft (b). Dieſe
Behauptung wird ſcheinbar unterſtützt durch die Analogie
des Pupillen, welcher gleichfalls durch auctoritas des Tu-
tors Schulden contrahiren kann, in der väterlichen Ge-
walt aber, worin jede Möglichkeit der auctoritas fehlt,
dazu ganz unfähig iſt (c).
(a) Ulpian. XI. § 27. „Tuto-
ris auctoritas necessaria est
mulieribus quidem in his re-
bus, si lege aut legitimo ju-
dicio agant, si se obligent” etc.
Eben ſo Gajus III. § 107. 108.
I. 192.
(b) Cujacius obs. VII. 11. Ei-
gentlich ſagt er es nur von den
Ehefrauen in manu, weil ihn da-
zu die L. 2 § 2 de cap. min.
(4. 5.), die er eben erklären
wollte, unmittelbar veranlaßte.
(Vgl. § 70 Note q.) Allein eine
ſolche Ehefrau hatte ja kein an-
deres Recht, als das einer filia-
familias, es iſt alſo unzweifel-
haft, daß Cujacius ganz daſſelbe
von den wirklichen Töchtern in
väterlicher Gewalt behaupten woll-
te, auf welche auch alle ſeine Äu-
ßerungen völlig eben ſo paſſen,
wie auf die Ehefrauen in manu.
(c) L. 141 § 2 de V. O. (45.
|0445 : 431|
Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.
Allein bey genauerer Betrachtung verſchwindet das
Gewicht dieſer Analogie völlig. Denn der Pupill hat eine
natürliche Unfähigkeit zu juriſtiſchen Handlungen welche
ihn ärmer machen würden. Dieſe Unfähigkeit wird künſt-
lich gehoben durch die auctoritas des Vormundes, aber
nur ſo weit dazu ein Bedürfniß vorhanden iſt. Ein ſol-
ches Bedürfniß findet ſich in der That bey dem unabhän-
gigen Pupillen, weil derſelbe eigenes Vermögen hat, wel-
ches oft die Nothwendigkeit mit ſich führen kann, in Schuld-
verhältniſſe einzutreten. Dieſe Nothwendigkeit kann bey
dem Unmündigen in väterlicher Gewalt, welcher kein Ver-
mögen hat, nicht vorkommen, darum war fuͤr ihn kein
Bedürfniß vorhanden, der natürlichen Unfähigkeit durch
eine künſtliche Anſtalt abzuhelfen. — Alles anders bey den
mündigen Frauen. Auch dieſe waren unfähig zu vielen
Handlungen, aber ihre Unfähigkeit ſelbſt war eine blos
künſtliche, erfunden nicht in ihrem eigenen Intereſſe, ſon-
dern im Intereſſe ihrer Agnaten oder Patronen, welchen
dadurch ein Mittel gegeben werden ſollte, die Entziehung
oder Verminderung der künftigen Inteſtaterbſchaft in den
meiſten Fällen zu verhindern (d). So lange ſie nun in
1.). „Pupillus, licet ex quo
fari coeperit recte stipulari po-
test, tamen, si in parentis po-
testate est, ne auctore quidem
patre obligatur: pubes vero,
qui in potestate est, proinde
ac si paterfamilias, obligari so-
let. Quod autem in pupillo
dicimus, idem et in filiafami-
lias impubere dicendum est.”
(d) Gajus I. § 190—192. Aus
ſeiner Darſtellung geht klar her-
vor, daß die ernſtliche Bedeutung
der Geſchlechtstutel lediglich auf
den Vortheil der Agnaten und Pa-
tronen berechnet war, und daß
die übrigen Arten dieſer Tutel
nur als Ergänzung oder Milde-
|0446 : 432|
Beylage V.
väterlicher Gewalt lebten, war dieſer Grund einer will-
kührlichen Einſchränkung nicht vorhanden, es war alſo
keine Veranlaſſung da, den natürlichen Zuſtand abzuän-
dern, nach welchem die mündigen Töchter eben ſo fähig
waren Schulden zu haben, als die mündigen Söhne. —
Neuerlich iſt der Meynung des Cujacius eine beſondere
Wendung gegeben worden durch die Unterſcheidung zwi-
ſchen den ſtreng civilrechtlichen, und den freyeren Obliga-
tionen: jene ſollten an die auctoritas gebunden, und da-
her während der väterlichen Gewalt ganz unmoͤglich ſeyn,
dieſe aber nicht (e). Allein zu dieſer Unterſcheidung liegt
weder in den Worten von Gajus und Ulpian, die allge-
mein von jeder Obligirung reden, noch in der Natur und
dem Zweck der Geſchlechtsvormundſchaft irgend ein Grund.
Denn Verſchuldungen einer Frau aus einem Darlehen oder
einem Kaufcontract waren ja für das künftige Erbrecht
eines Agnaten durchaus nicht weniger gefährlich, als die
aus einer Stipulation (f). Ich glaube daher, daß unab-
rung jener beiden Fälle (der legi-
tima tutela) zu betrachten waren.
(e) Rudorff Vormundſchafts-
recht B. 1 S. 171. B. 2 S. 273. 274.
(f) Gegen dieſe Behauptung,
daß die auetoritas zu allen Ar-
ten der Verſchuldung (ſtreng oder
frey) gleich nöthig war, könnte
vielleicht ein Zweifel erhoben wer-
den aus Gajus III. § 91, wo es
von der Schuld aus einem em-
pfangenen indebitum heißt: „qui-
dam putant, pupillam aut mu-
lierem, cui sine tutoris aucto-
ritate non debitum per erro-
rem datum est, non teneri con-
dictione, non magis quam mu-
tui datione;” er ſelbſt erklärt ſich
nachher gegen dieſe Meynung.
Aber bey dieſer Frage kam es
nicht auf die hiſtoriſche Klaſſe an,
wozu die vorliegende Obligation
gehörte, ſondern darauf, daß die
auctoritas überall nur dazu die-
nen ſollte, den Willen zu ergän-
zen, hier aber die Obligation gar
|0447 : 433|
Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.
hängige Frauen zu allen Schulden (aus altem jus civile
herſtammend oder nicht) die auctoritas nöthig hatten, die
filiaefamilias dagegen in allen Fällen ſchon allein durch
ihre eigene Handlungen verpflichtet werden konnten, ſo
gut wie die Soͤhne: das heißt beide nur unter der Voraus-
ſetzung des mündigen Alters. Wenn daher in der oben
angeführten Stelle Ulpian die Verſchuldung einer Frau
an die Bedingung vormundſchaftlicher auctoritas knüpft,
ſo iſt das nur von ſolchen Frauen zu verſtehen, die über-
haupt einen Tutor haben oder wenigſtens haben können (g),
alſo nur von unabhängigen. Dieſe Einſchränkung aber
iſt ſo wenig in jene Stelle willkührlich hinein getragen,
daß ſie ja ohnehin in dem ganzen elften Titel Ulpians,
bey Unmündigen und bey Frauen, ſtets hinzu gedacht wer-
den muß, ohne daß es Ulpian auch nur nöthig fände, die-
ſes ausdrücklich zu ſagen, weil es ſich zu ſehr von ſelbſt
verſteht.
So ſteht die Sache nach allgemeiner Betrachtung; noch
entſcheidender aber müſſen einzelne Anwendungen ſeyn,
nicht ex voluntate, ſondern ex
re, entſtand. Ohnehin müßte die-
ſer Fall, wegen der condictio,
vielmehr den ſtrengen Obligatio-
nen zugezählt werden; beſonders
aber macht es die Gleichſtellung
mit dem Pupillen ganz unmög-
lich, hier an eine Eigenthümlich-
keit der Geſchlechtstutel zu den-
ken. — In dieſem ſpeciellen Fall
hat übrigens Juſtinian das Ge-
gentheil von der Meynung des
Gajus angenommen, und iſt den
Quidam beygetreten, hat aber
wörtlich den Grund des Gajus
beybehalten, ſo daß bey ihm der
rechte Zuſammenhang des Gedan-
kens fehlt, der bey Gajus ſehr
befriedigend erſcheint. § 1 J. quib.
mod. re (3. 14.).
(g) Gajus III. § 108. „Idem
juris est in feminis, quae in tu-
tela sunt.”
II. 28
|0448 : 434|
Beylage V.
woraus hervorgeht, entweder daß die Verpflichtung einer
filiafamilias moͤglich, oder daß ſie nicht möglich war.
Ohne Zweifel würden wir Stellen dieſer Art in ſolcher
Anzahl übrig haben, daß die ganze hier erörterte Frage
niemals hätte ſtreitig werden können, wenn nicht der Zu-
ſammenhang dieſer Frage mit der zu Juſtinians Zeit ver-
alteten Geſchlechtstutel Veranlaſſung geworden wäre, die
Stellen der alten Juriſten, worin dieſer Punkt berührt
war, meiſt wegzulaſſen. In der That findet ſich auch
nur ein einziges Rechtsverhältniß, worin jene Frage ganz
unmittelbar vorkommt; hier aber glücklicherweiſe ſo klar
und beſtimmt, daß die Stelle, die davon redet, allein
ſchon hinreichen müßte, jeden Zweifel zu beſeitigen. Das
Sc. Macedonianum ſprach von dem filiusfamilias, ge-
brauchte alſo wie gewöhnlich die männliche Form des
Ausdrucks (h). Darüber ſagt nun Ulpian Folgendes (i):
Hoc Sc. et ad filias quoque familiarum pertinet. Nec
ad rem pertinet, si adfirmetur ornamenta ex ea pecunia
comparasse: nam et ei quoque, qui filiofamilias credidit,
decreto amplissimi ordinis actio denegatur: nec interest
consumti sint numi, an exstent in peculio. Multo igitur
magis, severitate Scti, ejus contractus improbabitur, qui
filiaefamilias mutuum dedit. Wenn nun aus dem einer
Tochter gegebenen Gelddarlehen die Exception des Sena-
(h) L. 1 pr. de Sc. Mac. (14. 6.).
(i) L. 9 § 2 de Sc. Mac. (14.
6.). Daſſelbe, nur theils kürzer,
theils ausführlicher, ſteht in § 6.
7 J. quod cum eo (4. 7.).
|0449 : 435|
Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.
tusconſults entſtehen ſoll, ſo muß eine Klage vorhanden
geweſen ſeyn, folglich war die Tochter überhaupt fähig,
eine Schuld zu contrahiren. — Durch dieſe Stelle ſcheint
mir die ganze Frage entſchieden, ich will jedoch nicht die
möglichen Einwürfe verſchweigen, die dagegen noch etwa
verſucht werden könnten. Erſtlich dürfte man ſagen, Das
was wir hier leſen, rühre nicht von Ulpian her, ſondern
von Tribonian, der darauf ausgieng, jede Spur der Ge-
ſchlechtstutel zu vertilgen. Zwar würde wohl Niemand
ſo weit gehen, die ganze hier abgedruckte Stelle für er-
funden zu erklären: allein es wäre nicht undenkbar, daß
Ulpian ausdrücklich nur von der Exception des Vaters ge-
gen die actio de peculio geſprochen hätte, und daß dieſe
Einſchränkung von den Compilatoren weggelaſſen worden
wäre. In der Inſtitutionenſtelle freylich (Note i) wird
geradezu geſagt, die Exception gelte ſowohl für die Toch-
ter ſelbſt, als für den Vater; allein die Inſtitutionen ſind
ja überhaupt ein neues Werk. — Dieſe Annahme einer
Interpolation würde nicht unzuläſſig ſeyn, wenn wir aus
anderen Zeugniſſen wüßten, daß die Tochter ſich ſelbſt
nicht verpflichten konnte. Da aber ſolche Zeugniſſe fehlen,
und allgemeine Gründe vielmehr für die entgegeſetzte An-
nahme ſprechen, ſo wäre es doch ein ſehr unkritiſches Ver-
fahren, ganz ohne Noth die Annahme einer Interpolation
in jene ganz unverdächtig erſcheinende Stelle hinein zu
tragen, nur um eine vorgefaßte, durch andere Stellen
gar nicht begründete, Meynung zu unterſtützen. — Zwey-
28*
|0450 : 436|
Beylage V.
tens könnte man ſagen, Ulpian habe an ſolche Frauen
gedacht, die durch die Geburt von drey Kindern befreyt
waren von der Nothwendigkeit aller Tutel. Allein ſo viel
wir wiſſen, hat ſich das jus liberorum niemals auf Töch-
ter in väterlicher Gewalt bezogen; auch hätte es bey
ihnen keinen Sinn und Zweck gehabt. Unabhängige Frauen
ſollten dadurch die Fähigkeit erlangen, Mancherley zu er-
werben, ſo wie über ihr Vermögen frey zu verfügen; eine
filiafamilias aber konnte überhaupt weder Etwas für ſich
erwerben, noch über ein Vermögen (das ſie niemals hatte)
verfügen, ſo daß jenes Recht für ſie lediglich in dem ſelt-
ſamen, unwahrſcheinlichen Privilegium beſtanden hätte,
Schulden zu haben, wozu ſie nach der hier bekämpften
Meynung außerdem nicht fähig geweſen wäre.
Beyläufig kommen indeſſen außer jener Hauptſtelle auch
noch folgende Stellen in Betracht.
1) Vat. Fragm. § 99. „P. respondit: Filiamfamilias
ex dotis dictione obligari non potuisse.” Man könnte
nämlich dieſen Satz als eine bloße Anwendung der allge-
meinen Schuldenunfähigkeit betrachten, die dann dadurch
bezeugt ſeyn würde. Allein wenn man erwägt, daß die
dotis dictio ein höchſt eigenthümliches Rechtsinſtitut war,
insbeſondere daß dazu Niemand die Fähigkeit hatte, als
allein die Frau, ihr Schuldner, ihr Vater und Großva-
ter (k), ſo wird man wohl jene Argumentation für ganz
unzuläſſig erkennen müſſen.
(k) Ulpian. VI. § 2.
|0451 : 437|
Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.
2) Die Schlußworte der L. 141 § 2 de V. O. (Note c)
erklären die filiafamilias impubes für gleich unfähig zur
Verſchuldung mit dem pupillus in parentis potestate. Dieſe
Gleichſtellung entſcheidet über unſre, die mündigen Frauen
betreffende, Frage unmittelbar nicht, obgleich ſie die ohne-
hin vorhandene Wahrſcheinlichkeit verſtärkt, daß zwiſchen
beiden Geſchlechtern, da wo keine Geſchlechtstutel eintre-
ten konnte, überhaupt kein Unterſchied ſtatt fand. Neuer-
lich iſt nun aber die Behauptung aufgeſtellt worden, die
letzten Worte jener Stelle ſeyen interpolirt, und Gajus
(der Verfaſſer der Stelle) habe geſchrieben: idem et in
filiafamilias pubere dicendum est (l). In dieſer Geſtalt
würde die Stelle allerdings geradezu für die hier be-
kämpfte Meynung beweiſen, und hätten wir andere Zeug-
niſſe dafür, ſo würde jene Annahme mit vieler Wahr-
ſcheinlichkeit dazu benutzt werden können, die hier ange-
führte Stelle mit jenen anderen Zeugniſſen in unmittelba-
ren Zuſammenhang zu bringen. So lange aber ſolche
Zeugniſſe fehlen, und vielmehr die oben aufgeſtellten Gründe
dagegen ſtreiten, kann es doch nicht zuläſſig ſeyn, zuerſt
in jene Stelle ohne Noth die Annahme einer Interpola-
tion hinein zu tragen, und dann mit dem ſo umgearbeite-
ten Text einen hiſtoriſchen Beweis zu führen.
(l) Rudorff Vormundſchafts-
recht B. 1 S. 171. Er beruft ſich
beſonders darauf, daß außerdem
die Schlußworte von der filiafa-
milias impubes gar zu trivial
ſeyn würden. Allein mit dieſem
Argument ließe ſich in unzähli-
gen Stellen der Pandekten die
Ächtheit anfechten, und gewiß
ohne Grund. Gleich die oben im
Text abgedruckte L. 9 § 2 de Sc.
Mac. würde dahin gehören.
|0452 : 438|
Beylage V.
3) L. 3 § 4 commodati (13. 6.). „Si filiofamilias ser-
vove commodatum sit, dumtaxat de peculio agendum erit:
cum filio autem familias ipso et directo quis poterit.
Sed et si ancillae vel filiaefamilias commodaverit, dum-
taxat de peculio erit agendum.” — Der Hauptzweck der
Stelle geht darauf, daß nicht etwa die actio commodati
in größerer Ausdehnung als andere Klagen gegen den
Vater oder Herrn angeſtellt werden könne, ſondern immer
nur wegen eines dem Commodatar vorher anvertrauten
peculii. Daneben wird bey dem Sohn der Satz einge-
ſchaltet, daß auch er perſönlich verklagt werden könne.
Da nun dieſe Einſchaltung bey der Tochter nicht wieder-
holt wird, ſo möchte man daraus ſchließen, dieſelbe könne
nicht verklagt werden. Allein es iſt gewiß einfacher und
natürlicher anzunehmen, Ulpian habe die Einſchaltung bey
der Tochter nicht wiederholt, weil er dachte, ihre Wie-
derholung werde Jeder ohnehin hinzudenken. Hätte er
einen Gegenſatz im Sinne gehabt, ſo würde er wohl ſchwer-
lich bey der Tochter genau dieſelben Worte wie bey dem
Sohn gebraucht, und den Gegenſatz lediglich durch Weg-
laſſen der Einſchaltung angedeutet haben. Freylich könnte
man ſagen, Ulpian habe den Gegenſatz beſtimmt ausge-
drückt, und dieſer auf die Geſchlechtstutel bezügliche Zu-
ſatz ſey von den Compilatoren weggelaſſen worden. Allein
wenn in der That die Compilatoren einen ſolchen Zuſatz
vorgefunden hätten, ſo würden ſie ſich ſchwerlich mit dem
bloßen Wegſtreichen deſſelben begnügt haben, wodurch ja
|0453 : 439|
Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.
eben die jetzt vorliegende Zweydeutigkeit entſtehen mußte;
vielmehr würden ſie dann die völlige Gleichheit beider Ge-
ſchlechter geradezu ausgeſprochen haben, was ja durch
bloße Wiederholung des von Ulpian bey dem Sohn ein-
geſchalteten Zuſatzes ſo leicht zu bewirken war.
Man könnte endlich verſuchen, der hier bekämpften
Meynung noch eine neue Seite abzugewinnen, die Seite
der gerichtlichen Verfolgung. Wenn auch, könnte man
ſagen, eine filiafamilias die Fähigkeit hatte, Schuldnerin
zu ſeyn, ſo konnte ſie doch niemals verklagt werden, da
Ulpian ſagt, daß eine Frau nie anders als mit einem
Tutor in einem legitimum judicium auftreten durfte
(Note a), die filiafamilias aber niemals einen Tutor ha-
ben konnte. — Gegen dieſe prozeſſualiſche Vertheidigung
jener Meynung aber iſt Folgendes zu bemerken.
Zuerſt Daſſelbe, was ſchon oben über die Schulden ge-
ſagt worden iſt. Die Nothwendigkeit der auctoritas bezog
ſich nur auf diejenigen Frauen, die überhaupt einen Tu-
tor hatten oder haben ſollten, das heißt auf die unab-
hängigen, nicht auf die in väterlicher Gewalt lebenden.
Zweytens würden die alten Juriſten durch die Rück-
ſicht auf das legitimum judicium in keinem Fall haben
beſtimmt werden koͤnnen, eine Unfähigkeit der Frauen im
Allgemeinen zu behaupten, da zu ihrer Zeit bey weitem
die meiſten Prozeſſe im Römiſchen Reich nicht legitima
judicia waren, ſondern judicia quae imperio contineban-
|0454 : 440|
Beylage V.
tur, worauf ſich Ulpians Regel gar nicht bezog. Dahin
gehörten nicht nur alle Prozeſſe außer der Stadt Rom
und ihrer nächſten Umgebung, ſondern auch in Rom ſelbſt
ein großer Theil der Prozeſſe (m), ja es hieng bey vielen
Klagen von jeder einzelnen Partey ab, die freyere Art
des Prozeſſes herbey zu führen (n), wodurch dann auch
das Hinderniß überwunden worden wäre, welches ſich le-
diglich der Anwendung des ſtrengeren legitimum judicium
in den Weg geſtellt hätte.
Endlich drittens ſpricht Ulpian wörtlich nur von der
Frau als Klägerin nicht als Beklagten (si .. agant, nicht
si conveniantur), und es ließe ſich ſehr wohl denken, daß
man ſie in dem willkührlichen Entſchluß eine Klage anzu-
ſtellen mehr beſchränkt hätte, als in der unfreywilligen
Vertheidigung gegen die Klage eines Andern, z. B. aus
den Schulden, die aus der väterlichen Erbſchaft auf ſie
gekommen waren. Bezog ſich nun die Nothwendigkeit der
auctoritas überhaupt nicht auf die Beklagte, ſo konnte in
dieſer Nothwendigkeit auch nicht einmal ein ſcheinbarer
Grund liegen, der filiafamilias die Fähigkeit zum Beklag-
tenverhältniß zu verſagen. Geſetzt aber auch, man wollte
dem Ausdruck si agant eine weitere Bedeutung beylegen,
und darunter die Beklagte eben ſowohl, als die Klägerin
verſtehen, ſo iſt doch wenigſtens unläugbar, daß auch die
Klägerin darunter begriffen war. Ließe ſich alſo zeigen,
daß zur Zeit der alten Juriſten die filiafamilias als Klä-
(m) Gajus IV. § 104. 105.
(n) Gajus IV. § 163—165.
|0455 : 441|
Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.
gerin jemals wirklich auftreten konnte, ſo war ſie durch
jene prozeſſualiſche Rückſicht auf das legitimum judicium
nicht ausgeſchloſſen, und dieſer negative Satz darf dann
ohne Bedenken auch überall geltend gemacht werden, um
ihre angebliche Unfähigkeit zum Beklagtenverhältniß zu wi-
derlegen. Kommt nun bey den alten Juriſten die filiafa-
milias in der That als Klägerin vor? In der Regel
freylich nicht, aber aus einem materiellen Grunde, der
mit dem Geſchlechte Nichts gemein hatte, ſondern auf der
väterlichen Gewalt unmittelbar beruhte, und daher auf
Söhne und Töchter völlig gleich einwirkte. Beide konnten
in der Regel nicht als Kläger auftreten, weil ſie keine
Rechte hatten, die durch Klagen geltend zu machen wa-
ren, namentlich kein Eigenthum und keine Schuldforderun-
gen (§ 67). Ausnahmsweiſe aber konnten ſie dennoch ei-
nige einzelne Klagen anſtellen, und in dieſen ausgenom-
menen Fällen war die Fähigkeit der Tochter durchaus nicht
geringer, als die des Sohnes. So wird ausdrücklich er-
wähnt, daß in gewiſſen Fällen der beleidigte Sohn die
Injurienklage in eigenem Namen anſtellen konnte: in den-
ſelben Fällen aber auch die Tochter (o). Eben ſo wird
erwähnt, daß die filiafamilias nach Trennung ihrer Ehe
in manchen Fällen die dotis actio allein, ohne den Vater,
anſtellen konnte (p). War nun bey dieſen beiden Klagen
(o) L. 8 pr. de procur. (3. 3.).
— Vergl. über dieſen und den
gleich folgenden Fall § 73.
(p) L. 8 pr. de procur. (3. 3.).
L. 22 § 4. 10. 11 sol. matr.
(24. 3.).
|0456 : 442|
Beylage V.
die Form des legitimum judicium kein Hinderniß für die
Tochter als Klägerin, ſo kann in dieſer Form auch kein
Grund liegen, ſie zur Stellung einer Beklagten im alten
Prozeß für unfähig zu halten; vielmehr war ſie dazu eben
ſo fähig wie der Sohn, das heißt in großer Ausdehnung.
Denn der materielle Grund, der die Söhne und Töchter
in der Regel hinderte Kläger zu werden, hatte auf das
Beklagtenverhältniß keinen Einfluß, indem ſie Schulden
haben, und aus dieſen, gleich unabhängigen Perſonen,
verklagt werden konnten.
Faſſen wir alle dieſe Gründe kurz zuſammen, ſo er-
giebt es ſich, daß der angebliche Unterſchied zwiſchen Söh-
nen und Töchtern, in der Fähigkeit zu Schuldverhältniſ-
ſen, auf einer irrigen Annahme beruht, daß vielmehr eine
filiafamilias ganz eben ſo fähig war Schulden zu haben,
als ihr gleichfalls in väterlicher Gewalt lebender Bruder.
|0457 : 443|
Status und Capitis deminutio.
Beylage VI.
Status und Capitis deminutio.
(Zu § 64—68.)
I.
Im Rechtsſyſtem ſelbſt ſind die Bedingungen der Rechts-
fähigkeit, ſo wie die Abſtufungen derſelben, dargeſtellt wor-
den (§ 64—67), und hieran wurde die Lehre von der
dreyfachen Capitis deminutio (§ 68) angeknüpft. Auf
zweyerley Weiſe aber weichen von den dort aufgeſtellten
Anſichten die Meynungen der meiſten neueren Schriftſteller
ab: Erſtlich durch Einmiſchung einer beſondern Lehre vom
status, welcher Begriff in meiner Darſtellung keinen Platz
gefunden hat: Zweytens durch einen ganz verſchiedenen
Begriff der minima Capitis deminutio, wodurch zugleich
der allgemeine Begriff der Capitis deminutio überhaupt
eine andere Geſtalt erhalten mußte. Ich will hier eine
vorläufige Überſicht der bedeutendſten Schriftſteller über
beide verwandte Gegenſtände geben, um auf dieſelben in
der Folge kürzer verweiſen zu können.
Über Status:
Feuerbach civiliſtiſche Verſuche B. 1. Gieſſen 1803
Num. 6 (S. 175—190).
Löhr über den Status, Magazin für Rechtswiſſen-
ſchaft B. 4 N. 1 (S. 1—16) (1820).
|0458 : 444|
Beylage VI.
Uber Capitis deminutio:
Hotomanus Comm. ad Inst. tit. de capitis deminu-
tione (1. 16.).
Conradi parerga p. 163—193 (1737).
Glück Pandekten B. 2 § 128. (1791).
Ducaurroy, Thémis Vol. 3 p. 180—184 (1821).
Zimmern Rechtsgeſchichte I. 2 § 229 (1826).
Seckendorf de capitis deminutione minima Colon.
1828.
Niebuhr Römiſche Geſchichte B. 1 S. 606 (4te Ausg.)
B. 2 S. 460 (2te Ausg.). Hier iſt dieſer Gegen-
ſtand in Beziehung auf die alte Staatsverfaſſung,
nicht vom Standpunkt der Rechtsquellen aus, be-
trachtet.
II.
Alſo lautet die gewöhnliche Lehre der Neueren über
den Status (a). Status heißt eine Eigenſchaft, vermoͤge
deren ein Menſch gewiſſe Rechte hat. Solche Eigenſchaf-
ten aber kommen in zweyerley Arten vor: natürliche
(St. naturales) in unbegränzter Anzahl, ſo z. B. die Ein-
theilung der Menſchen in Männer und Frauen, Geſunde
und Kranke u. ſ. w.; moraliſche oder juriſtiſche (St.
civiles), deren es nicht mehr noch weniger als drey giebt:
(a) Ausführlich findet ſich die
Sache dargeſtellt bey Höpfner
Comm. über die Inſtitutionen
§ 62 und Tabelle VIa. Vgl. auch
Mühlenbruch § 182.
|0459 : 445|
Status und Capitis deminutio.
Status libertatis, civitatis, familiae. Dieſe werden von
Manchen auch wohl als principales, oder als die Status
im eigentlichen Sinn bezeichnet, ſo daß dann die natürli-
chen nur uneigentlich den Namen führen ſollen.
Wir wollen zuerſt den Status naturalis betrachten. Da-
bey liegt lediglich die Abſicht zum Grunde, ſolche Eigen-
thümlichkeiten der Menſchen, von welchen irgendwo im
Rechtsſyſtem beſondere Folgen abhängen, ſchon vorläufig
in einer allgemeinen Uberſicht zuſammen zu ſtellen. In
conſequenter Vollſtändigkeit iſt dieſer Gedanke noch von
keinem Schriftſteller durchgeführt worden (b). Auch iſt
ſehr zu bezweifeln, daß durch eine ſolche Einrichtung irgend
Etwas für die Klarheit oder Gründlichkeit der Darſtel-
lung gewonnen werden möchte, vielmehr ſcheint es gera-
thener, die Notizen, die man unter dem Namen der na-
türlichen Status zuſammen zu ſtellen pflegt, theils an den
Orten des Syſtems, wo ſie eine praktiſche Bedeutung ha-
ben, mitzutheilen, theils anderwärtsher als bekannt voraus
zu ſetzen. Schon aus dieſer Stellung der Frage geht aber
(b) So z. B. müßten unter den
Status naturales (wegen der Te-
ſtamentsform) auch die Einthei-
lungen der Menſchen in Sehende
und Blinde, in Schreibenskun-
dige und Unkundige aufgezählt
werden; ferner (wegen des Be-
weiſes bey der cond. indebiti,
L. 25 § 1 de prob.) die Eigen-
ſchaften der simplicitate gauden-
tes und der desidiae dediti. End-
lich iſt nicht einzuſehen, warum
dieſe Vorbetrachtungen auf die
menſchliche Natur beſchränkt blei-
ben ſollten; Vieles aus der Phy-
ſiologie der Thier- und Pflanzen-
welt, ferner der Unterſchied zwi-
ſchen ſtehendem und fließendem
Waſſer ꝛc. iſt ja auch nicht ohne
Eiufluß auf Rechtsverhältniſſe.
und könnte daher auch auf die
Zuſammenſtellung in einer prä-
liminären Statuslehre Anſpruch
machen.
|0460 : 446|
Beylage VI.
hervor, daß der hier angefochtenen Auffaſſung, ſelbſt von
ihren Vertheidigern, kein hiſtoriſcher Boden zugeſchrieben
wird, und daß alſo die Frage ſelbſt nicht ſowohl Rechts-
begriffe und Rechtsregeln, als vielmehr die Zweckmäßig-
keit einer gewiſſen Methode wiſſenſchaftlicher Darſtellung
zum Gegenſtand hat.
Mehr in die Sache ſelbſt geht der Tadel ein, welcher
über den oben angegebenen allgemeinen Begriff des Status
ausgeſprochen werden muß. In dieſem Begriff wird das
Rechtehaben als eine menſchliche Eigenſchaft aufgefaßt,
ſo daß z. B. der Status civitatis angegeben wird als der
Inbegriff derjenigen Rechte, welche einem Civis zukom-
men. Nimmt man nun dieſe Betrachtungsweiſe an, ſo iſt
durchaus nicht einzuſehen, warum ſie nicht conſequent
durchgeführt werden ſollte, da alle anderen Rechte eben
ſo gut, als die der Freyheit und der Civität, unter den
Begriff von Eigenſchaften des Berechtigten gebracht wer-
den können. Dann würden wir auch einen Status des
Ehegatten, des Eigenthümers und Fructuars, des Credi-
tors, des Erben u. ſ. w. annehmen müſſen, und die ganze
Rechtswiſſenſchaft wäre in der Lehre vom Status enthal-
ten. Dieſes heißt aber mit anderen Worten nur ſo viel,
daß die Lehre vom Status in der Lehre von den Rech-
ten überhaupt aufgegangen, folglich als eine beſon-
dere, ſelbſtſtändige Lehre gänzlich aufgegeben wäre (c).
(c) Sehr ſchwach iſt die Ant-
wort von Höpfner (§ 62 Note a)
auf dieſen Einwurf: „nach dem
„Redegebrauch rechnet man das
|0461 : 447|
Status und Capitis deminutio.
So zeigt ſich alſo dieſe Lehre als eine in ſich ſelbſt, aus
logiſchen Gründen, unhaltbare, wenn man ihr nicht eine
ganz andere als die gewöhnliche Bedeutung giebt, indem
man ſie auf die Rechtsfähigkeit bezieht, wovon ſo-
gleich weiter die Rede ſeyn wird.
III.
Das Wichtigſte aber iſt der Inhalt, welchen man je-
ner Lehre von den Status (den civilen nämlich) geben will,
alſo der Begriff der mit jedem der angeblichen drey Status
verbunden werden ſoll. Dabey iſt man mit den zwey er-
ſten wenig in Verlegenheit. Status libertatis, ſagt man,
bezeichnet den Umſtand, daß Jemand frey iſt, St. civi-
tatis, daß er Civis iſt, mit Einſchluß aller der Rechte,
die er als freyer Menſch oder als Civis zu genießen hat.
Dieſe Erklärung ſcheint ſo natürlich, da die Benennung
unmittelbar darauf führt: ſie iſt aber darum nicht auch
„Eigenthum nicht unter die Qua-
„litäten eines Menſchen.“ Was
geht denn uns, die wir die logi-
ſche Forderung der Conſequenz in
der Wiſſenſchaft zu befriedigen ha-
ben, der Redegebrauch des ge-
meinen Lebens an? Es iſt wohl
zu bemerken, daß er die Sache
an ſich damit rechtfertigen will,
nicht etwa hiſtoriſch die Auffaſ-
ſung der Römer erklären oder
währſcheinlich machen. — Auch die
Erwiederung auf unſren Einwurf,
als ob gerade nur die wichtigſten
Eigenſchaften in die Statuslehre
aufgenommen wären, würde un-
haltbar ſeyn. In dem Unmündi-
gen z. B. können wir zweyerley
Eigenſchaften unterſcheiden: die
eines Pflegebefohlenen, und die
eines Vermögensinhabers. Jene
pflegt in der Statuslehre erwähnt
zu werden, dieſe nicht. Wollten
wir nun ſagen, das geſchehe, weil
die erſte Eigenſchaft ſo viel wich-
tiger wäre als die zweyte, ſo wür-
den wir ja das Mittel höher ſtel-
len als den Zweck.
|0462 : 448|
Beylage VI.
eben ſo ſicher. Bey dem ſogenannten Status familiae bie-
tet ſich eine gleich unmittelbare Hinweiſung durch den
Namen nicht dar: auch haben hier die Erklärungen von
jeher zwey völlig verſchiedene Wege eingeſchlagen, deren
jeder wieder zu mancherley Verzweigungen geführt hat.
Der erſte Weg der Erklärung geht dahin, den Status
familiae auf die Geſammtheit derjenigen Perſonen zu be-
ziehen, die mit einander in Agnation ſtehen, alſo auf die
Agnatenfamilie, ſo daß der Status familiae eines Men-
ſchen deſſen Mitgliedſchaft in einer beſtimmten, einzelnen
Agnatenfamilie, bezeichnen würde, mit Inbegriff der hier-
aus entſpringenden Rechte. Dabey fällt jedoch ſogleich in
die Augen der gänzliche Mangel eines inneren Zuſammen-
hangs dieſes dritten Status mit den beiden erſten, ſo daß
gar nicht zu begreifen iſt, warum gerade dieſes Rechts-
verhältniß und kein anderes mit jenen beiden unter einen
gemeinſamen Gattungsbegriff geſtellt werden ſoll. Daß
die Agnation wichtige Rechte begründet, erklärt dieſen Um-
ſtand auf keine Weiſe; denn auch der Ehe, der väterli-
chen Gewalt, dem Patronat wird Niemand die Begrün-
dung wichtiger Rechte abſtreiten, und doch nennt Keiner
die Ehe, die väterliche Gewalt, oder den Patronat einen
Status. Man könnte verſuchen, dieſem Einwurf durch die
Wendung zu entgehen, daß der Status familiae nicht ſo-
wohl die Stellung in einer beſtimmten Agnatenfamilie, als
vielmehr die Fähigkeit zur Agnation überhaupt bezeichnen
ſollte. Allein auch dieſe Auskunft zeigt ſich als unzuläſſig,
|0463 : 449|
Status und Capitis deminutio.
da dieſe Fähigkeit mit der Civität völlig zuſammenfällt,
alſo nicht geeignet iſt, einen eigenen, von der Civität ver-
ſchiedenen, Status zu bilden.
Der zweyte Weg der Erklärung bezieht den Status fa-
miliae auf die Eintheilung der Menſchen in Abhängige
und Unabhängige (§ 67). Den Status familiae eines Men-
ſchen beſtimmen, heißt alſo nun ſo viel als angeben, ob
derſelbe sui juris oder alieni juris iſt. Und nun zeigt ſich
ſogleich die Möglichkeit, alle oben vorgebrachte Einwürfe
abzuwehren. Der dritte Status hat nun mit den beiden
erſten das Gemeinſame, daß er ſich, eben ſo wie jene, auf
die Rechtsfähigkeit bezieht. Daß es überhaupt drey
Bedingungen höherer Rechtsfähigkeit giebt: Freyheit, Civi-
taͤt, Unabhängigkeit — dieſes iſt ohnehin unzweifelhaft.
Und für dieſe unbeſtrittene Lehre hätten wir jetzt in den
drey Status einen angemeſſenen Ausdruck gefunden. Der
Status libertatis z. B. bezeichnet uns nun nicht mehr das
Freyſeyn an ſich, ſondern die durch die Freyheit bedingte
Rechtsfähigkeit: und nun erſcheint es durchaus nicht mehr
inconſequent, Freyheit, Civität und Unabhängigkeit (Fa-
milie) als Status zu bezeichnen, das Eigenthum aber, die
Ehe, das Erbrecht u. ſ. w. von dieſer Benennung auszu-
ſchließen, da der Erwerb dieſer Rechte uns zwar wichtige
Befugniſſe gewährt, aber in unſrer Rechtsfähigkeit durch-
aus keine Veränderung hervorbringt. — Auf der andern
Seite ſchließt ſich an dieſe Auffaſſung die dreyfache Capi-
tis deminutio auf die einfachſte und natürlichſte Weiſe an.
II. 29
|0464 : 450|
Beylage VI.
Jede Capitis deminutio erſcheint uns nun als Degrada-
tion in Beziehung auf einen der drey Status. Und ſo
zeigt ſich jetzt nach allen Seiten hin ein völlig befriedi-
gender innerer Zuſammenhang, anſtatt der bey der ande-
ren Erklärungsweiſe wahrgenommenen Willkührlichkeit und
Inconſequenz.
Indeſſen kann dieſer innere Zuſammenhang doch nur
als negative Rechtfertigung der zuletzt verſuchten Erklä-
rungsweiſe gelten. Das Unlogiſche kann allerdings nicht
geduldet werden, aber das logiſch Tadelloſe iſt darum noch
nicht hiſtoriſch wahr. Und ſo wird es ſich in der That
durch die nachfolgende Unterſuchung ergeben, daß auch
dieſe letzte Erklärungsweiſe, ungeachtet ihrer formalen Ta-
delloſigkeit, dennoch aufgegeben werden muß.
IV.
Hugo hat, im richtigen Gefühl der Mangelhaftigkeit
der gewöhnlichen Lehre vom Status, nicht blos die drey
Status verworfen, ſondern auch dem Ausdruck Status jede
techniſche Bedeutung abgeſprochen. Nach ihm heißt Sta-
tus, und eben ſo conditio, ſo viel als Zuſtand oder Be-
ſchaffenheit überhaupt, es wird von Juriſten ſo wie jedes
andere Wort aus dem gemeinen Leben gelegentlich ge-
braucht, iſt aber durchaus kein juriſtiſches Kunſtwort (a).
Und in der That findet ſich dieſer unbeſtimmte, nicht-
techniſche Gebrauch des Worts ſehr häufig, ſowohl bey
(a) Hugo Rechtsgeſchichte Ausg. 11. S. 118.
|0465 : 451|
Status und Capitis deminutio.
Juriſten, als bey anderen Schriftſtellern: dieſes iſt der
Fall in allen Stellen, worin der Ausdruck mit einem an-
deren Gegenſtand als einer Perſon in Verbindung geſetzt
wird, wenngleich manche dieſer Stellen durch eine ſchein-
bare Beziehung auf Perſonen, ja insbeſondere auf die
oben erwähnten drey Status der Perſonen, leicht täuſchen
können.
So z. B. wenn von einem Status facultatium oder pe-
culii die Rede iſt (b), ſo wird darunter gewiß nichts An-
deres verſtanden, als die Beſchaffenheit des Vermögens
oder des Pecnlii, das heißt ſo viel als der Umfang oder
Geldwerth derſelben. — Eben ſo ferner in der Stelle des
Cicero de legibus I. 7, die man oft mit Unrecht in die
juriſtiſche Lehre vom Status eingemiſcht hat: Agnationi-
bus familiarum distinguuntur status. Das heißt: zu je-
der Familie gehören nicht mehr und nicht weniger Men-
ſchen, als gerade mit einander im Agnationsverhältniß
ſtehen, ſo daß durch die Agnation der Umfang, die Glie-
derzahl, der Beſtand (status) einer jeden Familie beſtimmt
wird. Es iſt blos ein in den Worten liegender täuſchen-
der Schein, welcher uns verleiten kann, die hier genann-
ten Status familiarum mit dem von unſren Juriſten erfun-
denen Status familiae zu verwechſeln; denn Cicero ge-
(b) L. 2 § 1. 2. 3 ubi pupillus
(27. 2). Hier iſt abwechslend die
Rede von modus, vires und sta-
tus facultatium, welche Aus-
drücke alſo gewiß gleichbedeutend
ſind. — L. 32 § 1 de pecul. (15. 1.).
— Andere ähnliche Stellen finden
ſich bey Brissonius v. Status
num. 2.
29*
|0466 : 452|
Beylage VI.
braucht hier Status genau in demſelben Sinn, welcher
oben dem Status peculii zum Grund lag. — Endlich ge-
hört dahin auch noch eine Stelle der Digeſten, die eben
ſo oft benutzt, als zweifelhaft befunden oder misverſtan-
den worden iſt, L 5 § 1. 2 de extraord. cogn. (50. 13.):
„Existimatio est dignitatis inlaesae status … Minuitur
„existimatio, quotiens manente libertate circa statum di-
„gnitatis poena plectimur, sicuti cum relegatur quis, vel
„cum ordine movetur” etc. Daraus haben die Neueren
einen Status existimationis gemacht: wörtlich iſt hier ein
Status dignitatis genannt: in der That aber hat der
Ausdruck hier diefelbe blos faktiſche Bedeutung, wie in
den oben angeführten Stellen (c). Dignitas iſt die äußere
Stellung eines Menſchen, worin ſeine perſoͤnliche Würde
erſcheint, woran ſich alſo die öffentliche Werthſchätzung
natürlich anknüpft (d). So lange der von uns einmal er-
langte Grad oder Zuſtand dieſer dignitas unverletzt bleibt,
(c) Ganz in dieſem Sinne iſt
auch bey Brissonius v. Status
die L. 5 de eztr. cogn. unter
num. 2 geſetzt, wo die blos fak-
tiſchen Anwendungen des Aus-
drucks Status zuſammengeſtellt
ſind. — Über die L. 5 cit. vergl.
auch § 79. a.
(d) Dieſe Bedeutung des Wor-
tes dignitas wird durch folgende
Anwendungen beſonders anſchau-
lich: L. 49 § 4 de leg. 3 (32. un.).
„Parvi autem refert, uxori an
„concubinae quis leget, quae
„ejus causa emta parata sunt:
„sane enim, nisi dignitate, ni-
„hil interest.” (Das heißt: nur
die uxor nimmt Theil an dem
Rang und Stand des Mannes,
und durch dieſes äußere Kenn-
zeichen iſt dieſelbe am leichteſten
und ſicherſten von einer concu-
bina zu unterſcheiden). L. 14 pr.
de muner. (50. 4.). „Honor mu-
nicipalis est administratio rei-
publicae cum dignitatis gradu”
(nämlich weil es auch ſtädtiſche
Geſchäfte giebt, die dem, welcher
ſie beſorgt, keinen neuen Rang
geben).
|0467 : 453|
Status und Capitis deminutio.
haben wir eine reine, vollſtändige existimatio. Die exi-
stimatio kann aber vermindert oder ganz aufgehoben wer-
den durch Ehrenſtrafen, d. h. durch ſolche Strafen, welche
gerade auf Herabſetzung des Grades jener dignitas be-
rechnet ſind (quotiens circa statum dignitatis poena plecti-
mur); vermindert wird ſie ſchon durch jede Verbannung,
durch die Ausſtoßung aus einem höheren Ehrenſtand (Se-
natoren oder Decurionen), durch jede Art der Infamie;
aufgehoben wird ſie durch ſolche Strafen, die dem Ver-
brecher die Freyheit oder Civität entziehen. Schon hier
iſt es klar, daß der Status dignitatis dieſer Stelle mit den
ſogenannten drey Status gar keine Gemeinſchaft hat. Denn
er ſoll ja verändert werden können bey bleibender Frey-
heit und Civität, iſt alſo von dieſen beiden Status ganz
verſchieden; mit dem Status familiae aber hat er ganz ge-
wiß keine Berührung. Noch unzweifelhafter aber wird die
blos faktiſche Natur des hier erwähnten Status dignitatis
weiter unten hervortreten, wo gezeigt werden ſoll, daß
der wirklich juriſtiſche Status aller dignitas ſchlechthin ent-
gegen geſetzt wird.
V.
In vielen Stellen alſo findet ſich Hugo’s Erklärung des
Wortes Status bewährt: dagegen geht er wohl zu weit,
indem er ihr allgemeine Gültigkeit beylegt. Vielmehr müſ-
ſen wir anerkennen, daß die alten Juriſten, da wo ſie
von dem Status, als Eigenſchaft einer Perſon, reden, den-
|0468 : 454|
Beylage VI.
ſelben allerdings in einer techniſchen Bedeutung nehmen,
und dieſe ſoll nunmehr feſtgeſtellt und erwieſen werden.
Status heißt in dieſem techniſchen Sinn bey den Rö-
miſchen Juriſten die Stellung oder der Standpunkt, wel-
chen der einzelne Menſch im Verhältniß zu anderen Men-
ſchen einnimmt. Da nun jeder Menſch in zweyerley Ver-
hältniſſen lebt, öffentlichen und Privatverhältniſſen, ſo
koͤnnte wohl auch ein zwiefacher Status unterſchieden wer-
den, publicus und privatus. Dieſe Ausdrücke wären ganz
Römiſch gebildet, und es ſcheint blos zufällig, daß ſie
nicht gerade ſo in den erhaltenen Stellen der alten Juri-
ſten vorkommen; denn, was die Hauptſache iſt, die Be-
griffe ſelbſt ſind den Römern geläufig, die einzelnen Fälle
des Status (im techniſchen Sinn) ſind auch wirklich unter
dieſen Begriffen enthalten, und erſchöpfen dieſelben: nur
da wo dieſe Begriffe im Allgemeinen erwähnt und einan-
der entgegengeſetzt werden, ſind nicht jene präciſen Aus-
drücke gebraucht, ſondern anſtatt derſelben die allgemeine-
ren, und mehr beſchreibenden Ausdrücke: publica jura, ci-
vitatis jura, und im Gegenſatz derſelben: privata hominis
et familiae jura (a).
Dieſe Grundbegriffe nun vorausgeſetzt, ſoll unterſucht
werden, welche einzelne Verhältniſſe in conſequenter An-
wendung darunter bezogen werden können.
Unter den ſtaatsrechtlichen Status (publicus) wären
zu beziehen vor Allem die Freyheit und die Civität, als
(a) L. 5 § 2 L. 6 de cap. iminutis (4. 5.).
|0469 : 455|
Status und Capitis deminutio.
die Grundbedingungen aller zum öffentlichen Recht gehö-
renden Befugniſſe; eben ſo aber auch, wie es ſcheint, ſehr
vieles Andere, namentlich die Stellung eines Magiſtratus,
Senators, Ritters, eines Juder u. ſ. w. Allein es iſt zu
bedenken, daß es die alten Juriſten ſind, die von dieſem
Gegenſtand reden, und natürlich nur im Intereſſe ihrer
Wiſſenſchaft. Ihre Wiſſenſchaft aber iſt lediglich das Pri-
vatrecht, keinesweges alles Dasjenige, was wir Neueren
zu der Rechtswiſſenſchaft zu rechnen gewohnt ſind. Da-
her gelten ihnen denn als (publicus) Status nur diejeni-
gen perſönlichen Zuſtände des öffentlichen Rechts, welche
Einfluß auf das Privatrecht haben. Dieſes iſt der Fall
bey der Freyheit und Civität, weil durch dieſe die pri-
vatrechtliche Rechtsfähigkeit bedingt iſt, bey allen übrigen
ſtaatsrechtlichen Zuſtänden iſt es nicht der Fall. Daraus
folgt, daß zwar die Freyheit und Civität als Status be-
zeichnet werden müſſen, nicht aber die Zuſtände eines Ma-
giſtratus, Senators, Ritters, Juder. — Daß Dieſem nun
wirklich ſo iſt, das heißt daß die Römer dieſe etwas ſub-
tile Unterſcheidung nicht blos von ihrem Standpunkt aus
conſequenterweiſe vornehmen konnten, ſondern auch wirk-
lich vorgenommen haben, ſoll nunmehr durch Zeugniſſe
erwieſen werden.
L. 20 de statu hom. (1. 5.). „Qui furere coepit, et
„statum, et dignitatem, in qua fuit, et magistratum
(b)
,
(b) Man könnte einwenden, die
Magiſtratur ſey ja auch eine dig-
nitas, alſo bezeichne in dieſer
Stelle die Verbindung durch et
|0470 : 456|
Beylage VI.
„et potestatem videtur retinere, sicut rei suae do-
„minium retinet.”
§ 5 J, de cap. demin. (1. 16.). „Quibus autem digni-
„tas magis, quam status permutatur, capite non mi-
„nuuntur: et ideo Senatu motum capite non minui
„constat.”
In beiden Stellen werden Status und dignitas augen-
ſcheinlich unterſchieden und entgegengeſetzt, und es wird
namentlich die Würde eines Senators für etwas von dem
Status völlig Verſchiedenes erklärt, welches nur aus der
oben dargeſtellten Unterſcheidung begreiflich wird, ſo daß
dadurch dieſe ihre volle Beſtätigung erhält. Eben dahin
gehört auch noch folgende Stelle:
L. 6 C. ex quib. caus. inf. (2. 12.). „Ad tempus in
„opus publicum damnati pristinum quidem statum
„retinent, sed damno infamiae post impletum tem-
„pus subjiciuntur.”
Daß die Infamie eine ungemeine Veränderung in der
dignitas hervorbringt, verſteht ſich von ſelbſt, und wird
überhaupt keine Verſchiedenheit.
Man könnte noch weiter gehen
mit dieſer Bemerkung, indem ja
auch die Stelle des magistratus
eine potestas enthält. Der Ge-
dankengang ſcheint aber folgen-
der: Wahnſinn entzieht nicht den
Status; nicht die (davon verſchie-
dene) dignitas, die ja auch in
einer bloßen Ehrenauszeichnung
beſtehen kann; ſelbſt nicht (was
man am erſten erwarten könnte)
die mit einer Regierungsgewalt
verbundene dignitas des magi-
stratus; endlich auch nicht die
Privatgewalt (die väterliche). —
Allerdings hätte durch beſtimmte-
ren Ausdruck dieſer Zweifel ver-
hütet werden können; in der fol-
genden Stelle aber iſt auch dieſes
Bedenken nicht vorhanden.
|0471 : 457|
Status und Capitis deminutio.
auch in L. 5 § 2 de extr. cogn. ausdrücklich bemerkt: die
Fähigkeit zu allen oͤffentlichen Ehren und Würden geht
dadurch gänzlich verloren (c): dennoch ſoll ſie auf den
Status gar keinen Einfluß haben. Hierin liegt denn zu-
gleich die Vollendung des Beweiſes, daß bey dem Status
dignitatis der L. 5 de extr. cogn. (ſ. o. Num. IV.) der
Ausdruck Status nicht in dem techniſchen, ſondern in dem
unbeſtimmteren faktiſchen Sinn gebraucht iſt.
Es ſteht alſo feſt, daß zu dem publicus Status (wenn
dieſer Ausdruck erlaubt ſeyn ſoll) die Freyheit und die Ci-
vität zu zählen ſind, aber kein anderes perſönliches Staats-
verhältniß.
VI.
Welche perſönliche Verhältniſſe gehören nun ferner un-
ter die privatrechtlichen Status? Wenn man ſich ganz an
die Analogie der ſtaatsrechtlichen halten wollte, dürfte man
nur diejenigen dahin rechnen, welche auf die Rechtsfä-
higkeit Einfluß haben. Allein der Grund, welcher dort
auf eine ſolche Beſchränkung führte, beſtand lediglich darin,
daß nur wenige ſtaatsrechtliche Zuſtände für die Rechts-
wiſſenſchaft (das Privatrecht) Intereſſe hatten; dieſer Grund
fällt jetzt ganz hinweg, da alle hier vorkommende perſön-
liche Verhältniſſe ſchon unmittelbar ihrer eigenen Natur
wegen, nicht blos wegen ihres Einfluſſes auf die Rechts-
fähigkeit, juriſtiſche Bedeutung haben. Daher kommt es,
(c) L. 2 C. de dign. (12. 1.), und viele andere Stellen.
|0472 : 458|
Beylage VI.
daß alle privatrechtlichen Verhältniſſe der Perſon als ſol-
cher, das heißt alle Verhältniſſe des Familienrechts (§ 53
— 55), ohne Unterſchied zu den Status gerechnet werden.
Vergleichen wir ſie mit den ſtaatsrechtlichen Status, ſo
liegt darin eine ſcheinbare, aber ganz erklärliche Inconſe-
quenz. Demnach heißt Status jede Stellung des Menſchen
in den einzelnen zur Familie gehörenden Verhältniſſen.
Daß es ſich die alten Juriſten in der That ſo gedacht
haben, nicht blos ſo denken konnten, muß freylich bewie-
ſen werden. Dazu aber iſt es nöthig, zuvor die hier auf-
geſtellten Begriffe (ihre Wahrheit einſtweilen vorausge-
ſetzt), in ihrer vollſtändigen Anwendung darzuſtellen.
Demnach würden überhaupt folgende Verhältniſſe als
Status anerkannt werden müſſen:
A. Staatsrechtliche:
1) Freyheit.
2) Civität.
B. Privatrechtliche: alle Verhältniſſe der Familie, alſo
(nach § 54. 55):
1) Ehe.
2) Väterliche Gewalt.
3) Verwandtſchaft.
4) Manus.
5) Servitus.
6) Patronatus.
7) Mancipii causa.
8) Tutela und Curatio.
|0473 : 459|
Status und Capitis deminutio.
In dieſer (noch blos hypothetiſchen) Aufzählung aller
denkbaren Status kommt einer derſelben zweymal vor: die
Freyheit (oder Abweſenheit des Sklavenſtandes) als Grund-
bedingung aller Theilnahme am öffentlichen Recht, und
dann wiederum dieſelbe als Gegenſatz der Sklaverey, welche
eine eigenthümliche Art der häuslichen Abhängigkeit, alſo
ein Familienverhältniß bildet. Bey dieſer Lage der Sache
war es natürlich, einen dieſer beiden Geſichtspunkte als
den überwiegenden zu betrachten. Dann aber mußten zwey
Gründe dahin führen, dieſes Übergewicht vielmehr den
ſtaatsrechtlichen als den privatrechtlichen Status zuzuſchrei-
ben: erſtlich die größere Wichtigkeit des öffentlichen Rechts
überhaupt: zweytens, und noch mehr, die Betrachtung, daß
der Begriff des Sklavenſtandes (des Gegenſatzes der Frey-
heit) umfaſſender iſt als der Begriff der häuslichen Herr-
ſchaft über die Sklaven (dominica potestas). Denn der
Sklavenſtand umfaßt auch die herrenloſen Sklaven (§ 55. a
und § 65), die dominica potestas nur diejenigen Sklaven,
welche gerade im Eigenthum eines Herrn ſtehen. Daher
erſcheint die ſtaatsrechtliche Auffaſſung der Freyheit (mit
ihrem Gegenſatz, der Sklaverey) ſchon deshalb als vor-
herrſchend, weil durch ſie allein der Gegenſtand erſchoͤpft
wird, anſtatt daß die privatrechtliche Auffaſſung nur auf
einen einſeitigen und unvollſtändigen Begriff des Sklaven-
ſtandes führt. Von dieſer Bemerkung wird weiter unten,
bey der Capitis deminutio, Gebrauch gemacht werden.
|0474 : 460|
Beylage VI.
VII.
Nunmehr kann der Beweis unternommen werden, daß
in der That die Roͤmiſchen Juriſten unter den (privat-
rechtlichen) Status nichts Anderes verſtanden haben, als
das hier Vorausgeſetzte, nämlich:
die Stellung, welche der einzelne Menſch in den ver-
ſchiedenen Arten des Familienverhältniſſes einnimmt.
Ich fange an mit den Inſtitutionen des Gajus, als
dem reinſten und vollſtändigſten Werk, welches aus der
juriſtiſchen Literatur der Römer auf uns gekommen iſt.
Nach einer kurzen Einleitung von den Rechtsquellen giebt
er im § 8. des erſten Buchs den Inhalt des ganzen, durch
jene verſchiedenen Quellen beſtimmten Privatrechts, wo-
von ſein Werk handeln ſoll, alſo an: De juris divisione.
Omne autem jus, quo utimur, vel ad personas pertinet,
vel ad res, vel ad actiones. Sed prius videamus de per-
sonis. Dieſes jus quod ad personas pertinet füllt bey
ihm gerade das erſte Buch. Er handelt dieſen Theil der
Rechtswiſſenſchaft nach drey Eintheilungen der Menſchen
ab, welche ſo lauten:
§ 9. De condicione hominum (a). Et quidem summa
divisio de jure personarum haec est, quod omnes
homines aut liberi sunt aut servi.
(a) Bey dieſer Überſchrift muß
jedoch bemerkt werden, daß ſie zu
den wenigen bey Gajus vorkom-
menden Rubriken gehört, und daß
für alle dieſe Rubriken die Ächt-
heit zweifelhaft iſt.
|0475 : 461|
Status und Capitis deminutio.
§ 10. Rursus liberorum hominum alii ingenui sunt, alii
libertini.
§ 48. Sequitur de jure personarum alia divisio. Nam
quaedam personae sui juris sunt, quaedam alieno
juri sunt subjecti.
§ 49. Sed rursus earum personarum, quae alieno juri
subjectae sunt, aliae in potestate, aliae in manu,
aliae in mancipio sunt.
§ 50. Videamus nunc de iis, quae alieno juri sub-
jectae sint: Si cognoverimus, quae istae personae
sint, simul intellegemus, quae sui juris sint.
§ 142. Transeamus nunc ad aliam divisionem. Nam
ex his personis … quaedam vel in tutela sunt, vel
in curatione, quaedam neutro jure tenentur.
Dieſen Stellen liegt folgender Gedanke zum Grunde.
Das jus quod pertinet ad personas hat zu beſtimmen die
condicio hominum oder (wie es im Context heißt) das jus
personarum, das heißt die Stellung, welche der einzelne
Menſch in gewiſſen Verhältniſſen einnimmt. Und welches
ſind dieſe Verhältniſſe? Sie ſind enthalten unter den drey
divisiones, und werden nach deren Anleitung in folgender
Ordnung aufgeführt und abgehandelt:
1) Patronatus. Dieſer füllt die ganze erſte divisio.
Denn daß dieſelbe wörtlich den Gegenſatz der Freyen und
|0476 : 462|
Beylage VI.
Sklaven angiebt, iſt nur ſcheinbar, und ſoll nur als Ein-
leitung und Übergang zu den verſchiedenen Arten der Pa-
tronatsrechte dienen. Auf dieſen Zuſammenhang deutet
ſchon der § 10, die ganze nachfolgende Ausführung aber
macht ihn unzweifelhaft.
2) Potestas dominorum oder Servitus.
3) Patria potestas, und (als Grund und Bedingung
derſelben aufgefaßt),
4) Die Ehe.
5) Manus.
6) Mancipii causa.
Num. 2 — 6 erſchöpfen die zweyte divisio.
7) Tutela und curatio, als Inhalt der dritten divisio.
Hieraus iſt nun klar, daß Gajus als Arten des jus
personarum genau diejenigen Verhältniſſe angiebt, welche
ich oben als privatrechtliche Status aufgezählt habe. Das
einzige dieſer Verhältniſſe, welches in ſeiner Darſtellung
fehlt, iſt die Verwandtſchaft (Agnation), und es iſt merk-
würdig genug, daß es gerade dasjenige Verhältniß iſt,
welches ſo Viele unter den Neueren für den einzigen Sta-
tus familiae ausgeben. Ich bin aber weit entfernt, auf
dieſe Auslaſſung bey Gajus irgend ein Gewicht zu legen,
und ſie etwa als ein Kennzeichen anzuſehen, als ob die
Agnation von Gajus, oder gar von den alten Juriſten
überhaupt, als etwas den anderen hier genannten Ver-
hältniſſen Ungleichartiges betrachtet worden wäre. Sie
paßte ihm nur gerade nicht unter die drey divisiones, die
|0477 : 463|
Status und Capitis deminutio.
ihm zur Darſtellung des Jus quod pertinet ad personas
ſo ſehr tauglich erſchienen. Auch wird ſogleich der un-
mittelbare Beweis geführt werden, daß die Verwandt-
ſchaft von den alten Juriſten wirklich als Status bezeich-
net wurde (Num. IX.).
Die Inſtitutionen Juſtinians befolgen genau denſelben
Gang wie die des Gajus, und ſchließen ſich auch in den
Worten großentheils an die oben aufgenommenen Stellen
an. Auch ſie handeln das ganze Perſonenrecht nach den-
ſelben drey divisiones ab, welche Gajus zum Grunde legt.
Eine Abweichung betrifft den Ausdruck; die Überſchrift,
welche die erſte divisio einleitet, heißt bey Gajus: de con-
dicione hominum, bey Juſtinian: de jure personarum.
Wichtiger iſt die ſehr natürliche Abweichung, daß bey Ju-
ſtinian zwey Rechtsinſtitute weggelaſſen ſind, welche au-
ßer Gebrauch gekommen waren: Manus und Mancipii
causa.
Im erſten Buch der Digeſten iſt der fünfte Titel über-
ſchrieben: de Statu hominum. Daß nun der ſo überſchrie-
bene Titel denſelben Gedanken, welcher oben aus Gajus
mitgetheilt wurde, ausdrücken, und nur weiter ausführen
ſoll, wird gleich durch den Anfang deſſelben ganz unzwei-
felhaft. Denn die erſte und dritte Stelle des Titels be-
ſtehen gerade aus den oben aufgenommenen § 8. und 9.
des Gajus. Zwiſchen dieſen beiden Stellen (als L. 2)
ſteht eine andere aus Hermogenian, deren für unſre Un-
terſuchung weſentlichſter Theil ſo lautet:
|0478 : 464|
Beylage VI.
Cum igitur hominum causa omne jus eonstitutum sit:
primo de personarum statu … dicemus.
Dazu kommt endlich noch folgende Erklärung der mi-
nima capitis deminutio, worin mehrere Stellen wörtlich
übereinſtimmen:
Ulpian. XI. § 13. Minima capitis deminutio est, per
quam, et civitate et libertate salva, status dumtaxat
hominis mutatur.
§ 3 J. de cap. dem. (1. 16.). Minima capitis deminu-
tio est, cum et civitas et libertas retinetur, sed
status hominis commutatur.
Mit dieſer letzten Stelle ſtimmte ohne Zweifel wörtlich
überein Gajus I. § 162, worin nur die hier bedeutenden
Worte unlesbar geblieben ſind.
VIII.
Ich will nun in einzelnen Sätzen zuſammenſtellen, was
ſich aus der Vergleichung der angeführten Zeugniſſe als
gemeinſame Anſicht der alten Juriſten ergiebt.
1) Das jus quod pertinet ad personas umfaßt ſämmt-
liche, ſehr mannichfaltige Verhältniſſe der Familie.
2) Die Stellung, die jedem Menſchen in dieſen ver-
ſchiedenen Verhältniſſen zukommt, wird abwechslend durch
folgende, völlig gleichbedeutende Ausdrücke bezeichnet:
Jus personarum (Gajus und Juſtinian).
Personarum status (Hermogenian).
|0479 : 465|
Status und Capitis deminutio.
Condicio hominum (Gajus, wenn anders dieſe Stelle
ächt iſt ſ. o. VII. a).
Status hominum (Digeſten).
Status hominis (Ulpian, Juſtinian, und wahrſcheinlich
Gajus).
3) Status hominum oder hominis bezeichnet alſo nicht
unbeſtimmt einen Rechtszuſtand des Menſchen überhaupt,
ſondern gerade deſſen Familienſtellung, und bildet
daher den beſtimmten Gegenſatz gegen die Stellung im
Staate. Der Status hominis iſt die Stellung des Men-
ſchen (privata hominis et familiae jura), im Gegenſatz
der Stellung des Bürgers (publica und civitatis jura).
4) Status alſo bedeutet nicht etwa die höhere Stellung
in jenen verſchiedenen Verhältniſſen, ſondern die Stellung
überhaupt, hoch oder niedrig. Inſofern kann man auch
dem Sklaven einen Status zuſchreiben, nämlich eben ſei-
nen Sklavenzuſtand. Weil aber er unter Allen allein ganz
rechtlos, folglich ſein Zuſtand der einzige blos negative
iſt, ſo wird ihm auch wohl aller status überhaupt abge-
ſprochen (a).
5) Jus personarum bezeichnet alſo hier nicht einen Ab-
ſchnitt der Rechtswiſſenſchaft, ſondern einen gewiſſen Zu-
ſtand der einzelnen Menſchen; oder (nach dem Sprachge-
brauch mancher Neueren) es bezieht ſich auf das Recht im
ſubjectiven, nicht im objectiven Sinn (§ 54. d und § 59).
(a) L. 3 § 1 L. 4 de cap. min. (4. 5.). Vgl. unten Num. XIII.
II. 30
|0480 : 466|
Beylage VI.
IX.
Folgende in unſren Quellen vorkommende einzelne An-
wendungen ſollen dazu dienen, theils die aufgeſtellten Sätze
zu beſtätigen oder anſchaulich zu machen, theils ſie gegen
ſcheinbare Einwürfe zu vertheidigen.
Die häufigſte Anwendung unter allen iſt die in den
Ausdrücken Status quaestio, Status causa, Status contro-
versia. Dieſe Ausdrücke kommen namentlich vor, wenn
über die Agnation zu einem beſtimmten Verſtorbenen, als
Bedingung der Erbfolge, geſtritten wird (a), und dieſer
Umſtand iſt in zweyerley Rückſicht bemerkenswerth: erſtlich
als Beweis, daß jene Ausdrücke wirklich gebraucht wur-
den um den Streit über das Daſeyn von Familienver-
hältniſſen zu bezeichnen; zweytens weil es dadurch unmit-
telbar gewiß iſt, daß auch die Verwandtſchaft von den
alten Juriſten als Status bezeichnet wurde, welches nach
dem Inhalt des erſten Buchs von Gajus bezweifelt wer-
den könnte (Num. VII.).
Daneben aber iſt nicht zu verkennen, daß in ungleich
mehreren Stellen jene Ausdrücke gebraucht werden, um
den Streit über Freyheit oder Sklavenſtand, Ingenuität
oder Libertinität, zu bezeichnen, ſo daß wir in jeder Stelle
unſrer Quellen, worin die Ausdrücke unbeſtimmt gebraucht
werden, mit Wahrſcheinlichkeit annehmen können, der Ver-
faſſer habe gerade hieran gedacht. Der Grund dieſes häu-
(a) L. 3 § 6 — 11 L. 6 § 3 de Carbon. edicto (37. 10.).
|0481 : 467|
Status und Capitis deminutio.
figeren Sprachgebrauchs liegt jedoch nur in dem zufälli-
gen und faktiſchen Umſtand, daß der Rechtsſtreit über das
Daſeyn von Verwandtſchaftsverhältniſſen ungleich ſeltner
vorkam, als der über Freyheit. Auch dieſes aber läßt
ſich natürlich erklären. Denn theils wurde auf die Ver-
hältniſſe anerkannt freyer Menſchen gewiß mehr Aufmerk-
ſamkeit verwendet, als auf die faktiſche Verwandtſchaft
Derjenigen, die im wirklichen oder ſcheinbaren Sklaven-
ſtand lebten, weshalb jene ſeltener zweifelhaft und beſtrit-
ten ſeyn konnten: theils mußte die Vererbung und Veräu-
ßerung der Sklaven, ſo wie die Fortpflanzung des Skla-
venſtandes durch die Mutter, Gelegenheit zu häufigen
Streitigkeiten geben, wie ſie bey den mehr individuellen
Familienverhältniſſen kaum vorkommen konnten. Endlich
kam auch der Streit über Verwandtſchaft häufig (vielleicht
meiſtens) gar nicht als ſelbſtſtändige status quaestio vor,
ſondern nur als incidens quaestio bey Gelegenheit einer
Erbſchaftsklage (a¹). — Daß aber von einem Streit über
Civität als Status quaestio nicht die Rede iſt, erklärt ſich
aus einem anderen Grunde; darüber kam überhaupt keine
Privatklage vor.
Eine merkwürdige Beſtätigung dieſes gewöhnlichen
Sprachgebrauchs findet ſich in der aus einem Edict von
Nerva herſtammenden Rechtsregel, daß Fünf Jahre nach
dem Tod eines Menſchen keine nachtheilige Status quae-
(a¹) Vgl. L. 1 C. de ord. jud. (3. 8.).
30*
|0482 : 468|
Beylage VI.
stio über den Verſtorbenen zugelaſſen werden ſollte (b).
Nach dem allgemein gefaßten Ausdruck konnte man dieſe
Regel auch auf jeden Streit über Familienverhältniß be-
ziehen, z. B. über die Frage, ob eine vorgenommene Eman-
cipation rechtsgültig ſey oder nicht; dennoch war es an-
erkannt, daß dieſe Anwendung nicht in dem Sinn der Re-
gel liege (c), ſo daß dieſelbe lediglich auf die Beſtreitung
der Freyheit oder der Ingenuität des Verſtorbenen bezo-
gen wurde (d). In dieſer Regel bezeichnet alſo Status
nur das, was ich oben den ſtaatsrechtlichen Status ge-
nannt habe, mit Ausſchluß des privatrechtlichen.
Auf dieſen zuweilen vorkommenden engeren Sprachge-
brauch des Worts bezieht ſich auch eine Stelle, welche
von jeher große Zweifel erregt hat:
L. 1 § 8 ad Sc. Tert. (38. 17.). Capitis minutio salvo
statu contingens liberis nihil nocet ad legitimam he-
reditatem .... Proinde sive quis .. capite minuatur,
ad legitimam hereditatem admittetur: nisi magna ca-
pitis deminutio interveniat, quae vel civitatem adi-
mit, utputa si deportetur.
Hier unterſcheidet Ulpian offenbar zwiſchen der magna
(d. h. maxima oder media) und minima capitis deminutio
(b) Ne de Statu defunctorum
post quinquennium quaeratur.
Dig. XL. 15. Cod. VII. 21.
(c) L. 5 C. ne de statu (7. 21.).
(d) Daß auch der Streit über
Ingenuität, nicht blos der über
Freyheit, unter jener Regel ſtand,
ſagen ausdrücklich L. 1 § 3 ne
de statu (40. 15.). L. 6. 7. C.
eod. (7. 21.). L. 6 C. ubi de
statu (3. 22.). In dieſer letzten
Stelle hob Juſtinian die Regel
in Beziehung auf Ingenuität auf.
|0483 : 469|
Status und Capitis deminutio.
(§ 68. d), und er nennt dieſe letzte: salvo statu contin-
gens, anſtatt daß andere Stellen zu ſagen pflegen: salva
civitate (e). Er gebraucht alſo hier Status für publicus
Status, das heißt in demſelben eingeſchränkten Sinn, der
in der Zuſammenſetzung mit quaestio der gewöhnliche, au-
ßer dieſer Zuſammenſetzung aber (und auch in anderen
Stellen des Ulpian) nicht gewöhnlich iſt. Wir haben da-
her in dieſer Stelle, wie in ſo manchen anderen, mit einem
ſingulären Sprachgebrauch zu thun, dieſe Bemerkung muß
uns genügen, und zu einer Veränderung des Textes iſt
kein Bedürfniß vorhanden (f). — Ein ähnlicher Sprach-
gebrauch findet ſich in einem ſchon oben (Num. V.) mit-
getheilten Reſcript des Severus, L. 6 C. ex quib. c. inf.
Denn auch da heißt Statum retinent: ſie verlieren weder
Freyheit, noch Civität.
In mehreren Stellen kommen vor: de statu suo in-
certi, dubitantes, errantes (g). Dieſer Ausdruck geht auf
Zweifel bald über Freyheit, bald über Unabhängigkeit von
väterlicher Gewalt, beſtätigt alſo ganz unſren vorausge-
ſetzten Begriff.
Die häufigſte Anwendung von Status in der Ausdeh-
(e) L. 2 pr. L. 5 § 2 de cap.
min. (4. 5.). L. 2 de leg. tutor.
(26. 4.).
(f) Noodt observ. II. 21 will
emendiren: salvo statu c. con-
tingens, welches heißen ſoll: salvo
statu civitatis contingens. Al-
lerdings kommt nun C. als Sigle
für civitas vor: aber theils iſt
jede Annahme von Siglen in den
Digeſten ſehr mißlich, theils iſt
auch die Zuſammenſetzung status
civitatis ohne anderes Beyſpiel:
abgeſehen davon, daß überhaupt
zu irgend einer Emendation keine
Noth drängt.
(g) Ulpian. XX. § 11. L. 14.
15 qui test. (28. 1.).
|0484 : 470|
Beylage VI.
nung, die ich dem Wort beygelegt habe, findet ſich in
der Erklärung der capitis deminutio als einer Status mu-
tatio, worin offenbar Status ſowohl die Freyheit und Ci-
vität, als auch bloße Familienverhältniſſe bezeichnet. Das
Genauere hierüber wird weiter unten vorkommen.
Abwechslend mit Status wird auch condicio gebraucht,
unter andern um das Standesverhältniß in Beziehung
auf Civität zu bezeichnen (h).
Folgende Stellen endlich könnten gebraucht werden als
ſcheinbare Beſtätigungen der Annahme von Status naturales.
a) Status aetatis.
L. 77 § 14 de leg. 2 (31. un.) quamquam igitur testa-
mento cautum esset, ut cum ad statum suum fra-
ter pervenisset; ei demum solveretur etc.
L. 5 C. quando dies (6. 53.). Ex his verbis: Do, lego
Aeliae … quae legata accipere debebit, cum ad le-
gitimum statum pervenerit etc.
In beiden Stellen heißt status suus und legitimus sta-
tus nichts Anderes als Volljährigkeit; aber ein techniſcher
Sprachgebrauch kann daraus gewiß nicht abgeleitet wer-
den, da dieſe Ausdrücke hier nicht von Juriſten oder Kai-
ſern, ſondern von Teſtatoren gebraucht werden, deren ſehr
unjuriſtiſcher Ausdruck oft den alten Juriſten ſelbſt ſo große
Noth macht.
b) Status sexus. In dem Digeſtentitel de statu ho-
minum handeln L. 9 und 10 von dem Unterſchied der Män-
(h) Gajus I. § 68. Ulpian. V. § 8. VII. § 4.
|0485 : 471|
Status und Capitis deminutio.
ner, Frauen und Hermaphroditen, und Dieſes könnte man
wegen der Überſchrift des Titels für einen Status halten
wollen. Allein bey der compilatoriſchen Entſtehungsweiſe
der Digeſten kann dieſer Umſtand gewiß Nichts beweiſen.
Mag übrigens auch mancher alte Juriſt bey Gelegenheit
der Familienverhältniſſe von dem Unterſchied der Geſchlech-
ter gehandelt haben, was gar nicht unwahrſcheinlich iſt,
ſo ſtellte er denſelben dadurch noch nicht auf gleiche Linie
mit den wirklichen Rechtsverhältniſſen, die als Status be-
zeichnet werden. Überhaupt kommt in jenen beiden Stel-
len das Wort Status gar nicht vor: condicio feminarum
iſt darin allerdings genannt, aber gerade dieſes Wort wird
gewiß noch häufiger als Status in einem unbeſtimmten,
blos faktiſchen Sinn gebraucht.
X.
Die bisher angeſtellte Unterſuchung ergiebt für den
Gattungsbegriff von Status folgendes Reſultat. Status
bezeichnet zwey Verhältniſſe des oͤffentlichen Rechts (Frey-
heit und Civität), und aus dem Privatrecht alle der Fa-
milie angehörende Rechtsverhältniſſe.
Die unter dieſer Gattung enthaltenen einzelnen Arten
kann man auf folgende verſchiedene Weiſe anordnen:
1) Durch Zurückführung auf allgemeine Begriffe:
Staatsrechtliche Status (Freyheit und Civität).
Privatrechtliche Status (Alle Familienverhältniſſe).
|0486 : 472|
Beylage VI.
2) Durch Aufzählung einzelner Fälle:
Freyheit,
Civität,
Familie (Status hominis),
wobey jedoch bemerkt werden muß, daß die Gleichartig-
keit dieſer drey Fälle nur ſcheinbar iſt, indem die zwey
erſten in der That einfache Verhältniſſe ſind, anſtatt daß
der dritte Fall nur der collective Ausdruck einer Mehr-
heit einfacher Verhältniſſe iſt, alſo mehrere einzelne Fälle
in ſich ſchließt.
Keine dieſer beiden Anordnungen hat im Roͤmiſchen
Recht einen unmittelbaren Ausdruck gefunden, aber für
jede derſelben läßt ſich eine indirecte Anerkennung nach-
weiſen. Auf die erſte Anordnung beziehen ſich die Römi-
ſchen Ausdruͤcke magna (major) und minor capitis demi-
nutio (§ 68. d); auf die zweyte die gangbareren Aus-
drücke maxima, media, minima, capitis deminutio (§ 68).
Wie verhält ſich nun dazu die bey den Neueren ge-
woͤhnliche Lehre von den drey Status? (Num. II. III.).
Auf den erſten Blick moͤchte man ſie mit der zweyten An-
ordnung für gleichbedeutend halten wollen, das iſt ſie aber
in der That nicht, und zwar in keiner der beider Geſtal-
ten, die man ihr bisher zu geben verſucht hat (Num. III.).
Denn die Agnatenfamilie, die nach der einen Erklärung
als Status familiae gelten ſoll, iſt doch nur eines unter
den zahlreichen Familienverhältniſſen; die Eintheilung der
Menſchen in sui juris und alieni juris (nach der andern
|0487 : 473|
Status und Capitis deminutio.
Erklärung), das heißt eigentlich die Geſammtheit der Ab-
hängigkeitsverhältniſſe, iſt zwar umfaſſender als die Agna-
tenfamilie, kommt alſo der Wahrheit näher, läßt jedoch
gleichfalls mehrere Zweige der Familie unberührt, nament-
lich Tutel, Patronat, Verwandtſchaft.
Jetzt erſt läßt ſich mit Erfolg die Frage aufwerfen,
welchen juriſtiſchen Boden die gewöhnliche Lehre von den
drey Status haben moͤge.
Daß in keiner Stelle der Alten die drey Status er-
wähnt werden, muß wohl Jeder zugeſtehen, und dieſer
Umſtand iſt um ſo bedenklicher, als die ganz nahe liegende
dreyfache capitis deminutio häufig genug vorkommt.
Aber auch einzeln kommen die den Neuern ſo geläufi-
gen Namen der drey Status beynahe gar nicht vor. Status
civitatis und Status familiae finden ſich durchaus nicht, und
Status libertatis finde ich nur in einer einzigen Stelle ganz
ſpäter Zeit, in einer Conſtitution von Conſtantin (a); auch
hier aber ohne alle Beziehung auf den wirklichen Begriff
(a) L. 5 C. Th. ad Sc. Claud.
(4. 11.) bey Hänel p. 401: „Quae-
cunque mulierum .. servi contu-
bernio se miscuerit … statum
libertatis amittat.” — Man könn-
te noch darauf beziehen Sueto-
nius de illustr. Grammaticis
Cap. 21 „C. Melissus ingenuus,
sed ob discordiam parentum
expositus … quamquam adse-
rente matre, permansit tamen
in statu servitutis: praesentem-
que conditionem verae origini
praeposuit, quare cito manu-
missus … est.” Allein hier heißt
offenbar status servitutis der blos
auf Irrthum beruhende faktiſche
Zuſtand der Unfreyheit: der Aus-
druck iſt alſo hier in dem oben
(Num. IV.) erwähnten, nichttech-
niſchen Sinn genommen. Denn
der wirkliche status des Meliſſus
war ja der aus der vera origo
hervorgehende.
|0488 : 474|
Beylage VI.
von Status, und nur als eine ganz müßige, nichtsſagende
Varietät für libertas allein.
Scheinbare Beſtätigung erhält die Lehre von den drey
Status durch künſtliche Herleitung aus zwey in unſren
Quellen enthaltenen Angaben, woraus allein jene Lehre au-
genſcheinlich entſtanden iſt:
a) Aus der dreyfachen capitis deminutio, verbunden
mit der Definition der capitis deminutio als Status muta-
tio, wodurch beide Begriffe in unmittelbare Verbindung
geſetzt werden. Davon kann erſt weiter unten, durch die
Unterſuchung der wahren Natur der capitis deminutio,
Rechenſchaft gegeben werden.
b) Aus folgender Stelle des Paulus:
L. 11 de cap. min. (4. 5.). „Capitis deminutionis tria
genera sunt: maxima, media, minima; tria enim sunt,
quae habemus, libertatem, civitatem, familiam” etc.
Auch dieſe Stelle kann erſt bey der capitis deminutio
vollſtändig erklärt werden. Schon hier aber muß es je-
dem Unbefangenen auffallen, daß gerade der Ausdruck
Status von Paulus nicht gebraucht iſt, ſondern an deſ-
ſen Stelle der höchſt ſeltſame, von keinem Standpunkt
aus zu rechtfertigende, Ausdruck quae habemus. Einen
entſcheidendern Beweis kann es kaum geben, daß die Rö-
mer die drey Status, wenigſtens unter dieſem Namen, nicht
kannten; ſonſt hätte gewiß Paulus nicht unterlaſſen, den
ſicheren und bequemen Kunſtausdruck zu gebrauchen an-
ſtatt einer höchſt ungenügenden Umſchreibung.
|0489 : 475|
Status und Capitis deminutio.
XI.
In der Lehre von der dreyfachen Capitis deminutio
(§ 68 — 70) iſt Vieles einfach und faſt unbeſtritten. Da-
hin rechne ich die Natur der beiden höheren Arten derſel-
ben (maxima und media): ferner die Angabe der meiſten
einzelnen Fälle, in welchen eine ſolche anzunehmen iſt:
endlich auch ihre Wirkungen.
Einige Stücke derſelben aber gehören zu den vorzüg-
lich ſchwierigen und ſtreitigen Fragen des alten Rechts,
und dieſe ſollen nunmehr einer beſondern Unterſuchung un-
terworfen werden. Dahin gehört die genaue Beſtimmung
des allgemeinen Begriffs: der beſondere Begriff der unter-
ſten Art derſelben (minima): endlich einige wenige Fälle
der Anwendung.
Der Gattungsbegriff der Capitis deminutio wird von
den alten Juriſten übereinſtimmend, und nur mit Abwei-
chungen in Nebenausdrücken, dahin beſtimmt: es ſey eine
Status mutatio (§ 68. b). Durch dieſe Definition werden
wir alſo zurück verwieſen auf den allgemeinen Begriff des
Status, für welchen oben (Num. III. und X.) drey mehr
oder weniger verſchiedene Erklärungen aufgeſtellt worden
ſind. Dieſe ſtimmten unter einander darin überein, daß
Freyheit und Civität in allen enthalten war: neben beiden
aber noch ein Drittes, in deſſen Angabe die Meynungen
aus einander giengen. Demnach wäre die oben angege-
bene Definition der Capitis deminutio dahin zu entwickeln,
daß ſie beſtehen müßte in einer Veränderung:
|0490 : 476|
Beylage VI.
entweder der Freyheit (maxima),
oder der Civität (media),
oder eines Dritten, je nach jenen drey Erklärun-
gen Verſchiedenen (minima).
Dieſes Dritte nun, durch deſſen Veränderung eine Ca-
pitis deminutio (naͤmlich die minima) bewirkt werden koͤnnte,
müßte ſeyn:
1) nach der einen Erklärung: die Agnatenfamilie,
2) nach der andern: die Unabhängigkeit oder Abhän-
gigkeit,
3) nach der dritten: irgend ein Familienverhältniß,
worin alſo die in den beiden erſten Erklärungen voraus-
geſetzten Veränderungen unter andern auch mit begriffen
wären.
Bey jeder dieſer drey Erklärungen entſteht ein großes,
ihnen gemeinſames Bedenken, daß nämlich nur eine Ver-
änderung überhaupt, und nicht eine nachtheilige Ver-
änderung gefordert werden ſoll, ſo daß alſo auch eine vor-
theilhafte oder gleichgültige unter jenem Begriff enthalten
ſeyn könnte. Dieſe nothwendige Folge der aufgeſtellten
Definition widerſpricht:
a) dem Ausdruck deminutio, der doch geradezu eine
Verminderung, einen Verluſt bezeichnet (a);
(a) Dieſem Einwurf begegnet
Noodt Comm. in Dig. IV. 5
durch die Bemerkung, minuere
könne auch ſo viel heißen als
mutare überhaupt. Allein von
dem Begriff des minuere iſt die
Verminderung oder der Verluſt
unzertrennlich; und wenn in ein-
zelnen Fällen jene beiden Aus-
drücke identiſch ſeyn mögen, ſo
entſteht dieſes gerade umgekehrt
nur dadurch, daß das mutare
|0491 : 477|
Status und Capitis deminutio.
b) dem unzweifelhaften Sprachgebrauch in manchen
einzelnen Fällen der Anwendung. Denn wenn ein Pere-
grine oder Latine die Civität erhielt, ſo ereignete ſich für
ihn gewiß eine bedeutende Status mutatio, aber unmoͤglich
hätte ein Römer dieſe Standeserhöhung eine Capitis de-
minutio nennen können.
Nach den zwey letzten Erklärungen kommt noch ein
anderes Bedenken hinzu. Eine ſolche Veränderung, wo-
durch ein bisher Abhängiger die Unabhängigkeit erlangt,
kann auch aus einem Naturereigniß (dem Tod des Va-
ters) entſtehen. Da nun dieſer Fall gewiß nicht als Ca-
pitis deminutio angeſehen werden kann, ſo müßte die De-
finition wenigſtens den Zuſatz bekommen: Veränderung
durch juriſtiſche Handlungen, nicht durch natürliche Urſa-
chen. Wird übrigens dem erſten Bedenken abgeholfen, ſo
iſt dadurch das zweyte zugleich mit erledigt. Denn der
eben angegebene Fall beſteht in einer vortheilhaften Ver-
änderung, und es läßt ſich kein Fall einer nachtheiligen
auffinden, welcher durch bloße Naturereigniſſe herbeyge-
führt würde.
Es ergiebt ſich hieraus, daß nach jeder der drey Er-
klärungen des Status, jene Definition ſo ergänzt werden
müſſe: Status mutatio in deterius. Allein auch in ihrer
erſten Unvollſtändigkeit iſt ſie doch keinesweges leer und
nichtsſagend. Denn ſie fordert doch immer eine den Sta-
zufällig einen Verluſt ſchon in ſich begreift. Vgl. Conradi parerga
p. 171.
|0492 : 478|
Beylage VI.
tus berührende Veränderung, ſchließt alſo z. B. den Ver-
luſt der bloßen dignitas von dem Begriff der Capitis de-
minutio aus.
Mir ſcheint nun aber auch dieſe Ergänzung der Defi-
nition noch nicht genügend. Vielmehr wird dieſelbe voll-
ſtändig ſo lauten müſſen:
Veränderung des Status, zum Nachtheil, und zwar ge-
rade in Beziehung auf die Rechtsfähigkeit.
Da nun aber jede Verminderung der Rechtsfähigkeit
gar nicht anders denkbar iſt, als durch eine im Status vor-
gehende Veränderung, ſo läßt ſich nun die ganze Defini-
tion kürzer, und dennoch erſchöpfend, auch ſo faſſen:
Capitis deminutio heißt jede Verminderung der Rechts-
fähigkeit (§ 68).
XII.
Die größten Zweifel finden ſich bey dem Begriff der
minima c. d., indem derſelbe von den alten Juriſten ſelbſt
auf zweyerley, dem Weſen nach verſchiedene, Weiſe be-
ſtimmt wird.
1) Paulus ſagt, ſie beſtehe in der Veränderung der
Familie, das heißt in dem Austritt aus der angebornen
Agnatenfamilie (a).
L. 11 de cap. min. (4. 5.) .. cum et libertas et civi-
(a) Es iſt alſo hier gemeynt
die familia communi jure, nicht
jure proprio, nach Ulpians Un-
terſcheidung in L. 195 § 2 de V.
S. (50. 16.).
|0493 : 479|
Status und Capitis deminutio.
tas retinetur, familia tantum mutatur, minimam
esse capitis deminutionem constat.
L. 3 pr. eod. Liberos, qui adrogatum parentem se-
quuntur, placet minui caput .. cum familiam mu-
taverint.
L. 7 pr. eod. Tutelas etiam non amittit capitis minu-
tio … Sed legitimae tutelae ex duodecim tabulis
intervertuntur … quia agnatis deferuntur, qui desi-
nunt esse, familia mutati.
Nach dieſer Erklärung, worin er ſich überall gleich
bleibt (b), bezieht er alſo die minima c. d. allerdings auf
einen privatrechtlichen Status, aber nicht auf jeden über-
haupt, ſondern nur auf einen einzigen: und merkwürdi-
gerweiſe iſt dieſes gerade derjenige, deſſen Anerkennung
in der Reihe der privatrechtlichen Status, nach dem In-
halt des erſten Buchs des Gajus, allein bezweifelt wer-
den könnte (Num. VII.).
2) Ulpian und die Inſtitutionen, ohne Zweifel auch
Gajus, erklären die minima c. d. als eine Begebenheit,
(b) Man könnte glauben, in
folgender Stelle ſchwanke er nach
der andern Erklärung hinüber.
Paulus III. 6 § 29 Capitis mi-
nutione amittitur (ususfructus),
si in insulam fructuarius de-
portetur, vel si ex causa me-
talli servus poena efficiatur, aut
si statum ex adrogatione vel
adoptione mutaverit. Hier ſollen
indeſſen die Worte statum muta-
verit nicht als ſpecielle Bezeich-
nung der minima c. d. gelten
(ſonſt hätte hominis dabey ſtehen
müſſen), ſondern als wiederho-
lender Ausdruck der c. d. über-
haupt. Denn ſo kommen ſie ja
überall bey den alten Juriſten
vor, und Paulus wollte gewiß
nicht andeuten, der Ausdruck sta-
tum mutaverit paſſe nur auf den
Adoptirten, und nicht auch auf
den Deportirten oder den Berg-
werksſklaven.
|0494 : 480|
Beylage VI.
wodurch der privatrechtliche Status (St. hominis) verän-
dert werde, während die Freyheit und Civität unverän-
dert bleiben.
Ulpian. XI. § 13: Minima capitis deminutio est, per
quam, et civitate et libertate salva, status dumtaxat
hommis mutatur.
§ 3 J. de cap. demin. (1. 16.). Minima capitis demi-
nutio est, cum et civitas et libertas retinetur, sed
status hominis commutatur.
Gajus I. § 162. In ihm ſind gerade die hier entſchei-
denden Worte unlesbar geblieben; nach den erhalte-
nen Worten aber darf man annehmen, daß ſie eben
ſo lauteten, wie wir ſie in Juſtinians Inſtitutio-
nen leſen.
Wollte man noch zweifeln, ob auch wirklich Status ho-
minis hier den ausgedehnten Sinn habe, welcher durch
den Zuſammenhang mit vielen anderen Stellen begründet
wird (Num. VIII.), ſo würde dieſer Zweifel wenigſtens
durch die in den Inſtitutionen unmittelbar folgende erläu-
ternde Anwendung beſeitigt werden:
Quod accidit in his, qui cum sui juris fuerunt, coe-
perunt alieno juri subjecti esse, vel contra. Servus
autem manumissus capite non minuitur, quia nullum
caput habuit.
In dieſen Anwendungen, und beſonders in der Art wie
die Anwendung auf den Sklaven abgelehnt wird, iſt keine
Spur wahrzunehmen von einer Beſchränkung der mi-
|0495 : 481|
Status und Capitis deminutio.
nima c. d. auf die Agnatenfamilie, alſo von der Deutung,
welche Paulus dieſem Kunſtausdruck giebt.
Nach den oben entwickelten Gründen muß nun die Er-
klärung des Gajus und Ulpian als richtig anerkannt, und
nur auf folgende Weiſe ergänzt werden:
Minima c. d. heißt eine Veränderung des privatrechtli-
chen Status (der Familienverhältniſſe), welche mit einer
Verminderung der Rechtsfähigkeit verbunden iſt.
Iſt dieſe Beſtimmung des Begriffs richtig, ſo werden
wir folgende Fälle der minima c. d. anerkennen müſſen
(§ 68).
1) Jede Verwandlung eines Unabhängigen (sui juris)
in einen Abhängigen (alieni juris).
2) Jede Degradation eines Kindes oder einer Frau
aus der potestas oder manus in die mancipii causa.
Dagegen werden wir nicht dahin zu rechnen haben:
a) Die Verwandlung eines Freyen in einen Sklaven,
denn dieſe gilt vielmehr als maxima c. d. (c). Der Grund
liegt darin, daß eine ſolche Veränderung zwey verſchie-
dene Beziehungen hat: ſie iſt nämlich zugleich Eintritt in
den Sklavenſtand, und Begründung einer häuslichen po-
testas. In der erſten Beziehung gehört ſie dem öffentli-
chen Recht an, in der zweyten dem Privatrecht. Da nun
(c) Daſſelbe müſſen wir be-
haupten von der Verwandlung
eines Ingenuus in einen Liberti-
nus, wenn dieſe überhaupt als Ca-
pitis deminutio betrachtet wurde.
Vgl. § 68. e.
II. 31
|0496 : 482|
Beylage VI.
aber die erſte Beziehung die überwiegende iſt, ſo gilt ſie
überhaupt als maxima, nicht als minima c. d. (vergl.
Num. VI. und § 68).
b) Die Verwandlung eines Vormundsfreyen in einen
Bevormundeten. Denn dieſe verändert allerdings den
Status hominis, aber ohne die Rechtsfähigkeit zu vermin-
dern. Der Wahnſinnige alſo, der unter Curatel kommt,
erleidet keinesweges eine Capitis deminutio (d).
Die Neueren pflegen entweder eine jener beiden alten
Erklärungen der minima c. d. anzunehmen, oder zwiſchen
beiden hin und her zu ſchwanken. Es kommt auch wohl
vor, daß eine Vereinigung von beiden verſucht wird, ſo
daß die minima c. d. zwey Fälle umfaſſen ſoll: Verluſt
der eigenen Familie (Verwandlung des sui juris in alieni
(d) L. 20 de statu hom. (1. 5.)
„Qui furere coepit, et statum,
et dignitatem … videtur reti-
nere, sicut rei suae dominium
retinet.” Bey dem Status war
zunächſt an Freyheit und Civität
gedacht, wie der Gegenſatz der
dignitas zeigt, und dadurch iſt
das videtur retinere gerechtfer-
tigt. Für den Status hominis
läßt ſich allerdings eine mutatio
behaupten, aber gewiß keine Ca-
pitis deminutio. — Zweifelhafter
iſt die Sache bey dem commer-
cium interdictum des prodigus,
da dieſer die testamentifactio
verliert. Ulpian. XX. § 13. L. 18
pr. qui test. (28. 1.). § 2 J.
quibus non permittitur (2. 12.).
Eigentlich aber iſt es doch auch
hier nur Fiction des Wahnſinns,
alſo einer natürlichen Handlungs-
unfähigkeit, ſo daß der Ausdruck
testamentifactio in dem, auch
ſonſt wohl vorkommenden, fakti-
ſchen Sinn gebraucht wird. Der
Beweis liegt darin, daß das von
dem Verſchwender vor der Inter-
diction gemachte Teſtament ſchlecht-
hin gültig bleibt (L. 18 cit. § 2
J. cit.), anſtatt daß jede capitis
deminutio das Teſtament zer-
ſtört, und ſelbſt die indirecte prä-
toriſche Aufrechthaltung nur ein-
tritt bey einer vorübergehenden
Unfähigkeit in der Zwiſchenzeit,
nicht bey einer ſolchen, die noch
zur Zeit des Todes fortdauert.
Ulpian. XXIII. § 4. 6.
|0497 : 483|
Status und Capitis deminutio.
juris), und der gemeinſcheinſchaftlichen, das heißt der Agna-
tenfamilie (e).
XIII.
Es iſt alſo jetzt zwiſchen zwey Angaben der alten Ju-
riſten ſelbſt zu entſcheiden, deren eine (von Paulus her-
rührend) die minima c. d. als Veränderung der Agnaten-
familie, die andere als Veränderung irgend eines Fami-
lienverhältniſſes (nach meiner Ergänzung: verbunden mit
verminderter Rechtsfähigkeit) erklärt.
Folgende Gründe entſcheiden gegen die Erklärung des
Paulus.
I. Der erſte Grund liegt in dem Namen der Capitis
deminutio. Dieſer uralte Name fordert eine Erklärung.
Es muß daher eine Bedeutung des Wortes caput nach-
gewieſen werden, woraus es begreiflich werde, warum
gerade dieſes Wort zur Bezeichnung derjenigen Ereigniſſe
verwendet wurde, welche unſtreitig den Namen Capitis
deminutio führen. Was heißt alſo hier caput?
Nach Paulus müßte es geradezu das Familienband
heißen; allein wo findet ſich auch nur eine entfernte Ana-
logie, um dieſe Worterklärung zu unterſtützen?
Man könnte ferner annehmen, caput heiße ſo viel als
Status, oder es heiße die Rechtsfähigkeit; beide Voraus-
ſetzungen würden die Zuſammenſetzung Capitis deminutio
befriedigend erklären, aber beide ſtehen gleichfalls völlig
(e) Glück B. 2 § 128.
31*
|0498 : 484|
Beylage VI.
willkührlich da, und ermangeln gänzlich der Begründung
durch eine ſonſt erweisliche Bedeutung des Wortes caput.
Da nun ohne Zweifel in dieſem Wort etwas Althiſto-
riſches angedeutet iſt, ſo iſt man ſchon frühe darauf ver-
fallen, unſren Kunſtausdruck aus den alten Cenſustafeln
oder Bürgerliſten zu erklären. Dieſes geſchah auf die
Weiſe, daß man das caput auf die capita censa bezog,
deren Anzahl öfter bey Livius vorkommt. Verlor Einer
die Civität, ſo war die Römiſche Bürgerſchaft um ein
caput vermindert worden, es war in ihr ein caput exem-
tum, deletum. Die minima c. d. ſollte dann daraus er-
klärt werden, daß der Arrogirte ſein Vermögen verlor,
alſo in eine geringere Klaſſe kam (a). Allein das Ge-
zwungene in dieſer Erklärung konnte ſich der Vertheidiger
derſelben ſelbſt nicht verbergen, und er fand mit Recht
Bedenken bey der c. d. des Emancipirten. Ganz beſon-
ders aber hätte man nach dieſer Worterklärung eigentlich
ſagen müſſen, daß in einem ſolchen Fall das Römiſche
Volk eine capitis deminutio erleide, nicht der einzelne Menſch.
Dieſe Bedenken verſchwinden bey der ſehr befriedigen-
den Erklärung von Niebuhr (b). Nach ihm hieß Caput
die Rubrik jedes Römers in der cenſoriſchen Bürgerliſte,
mit Allem was dabey über ſeine perſönlichen Verhältniſſe
bemerkt war: und dieſe Wortbedeutung wird durch die in
(a) Heineccii antiqu. jur. I. 16
§ 1. 12.
(b) Niebuhr Römiſche Ge-
ſchichte B. 1 S. 606 (ed. 4.) B. 2
G. 460 (ed. 2.).
|0499 : 485|
Status und Capitis deminutio.
ſpäterer Zeit eingetretene Umbildung vollkommen beſtä-
tigt (c). Wurde nun in jener Liſte bey dem Namen eines
Roͤmers eine ſolche Veränderung eingetragen, weil das
Individuum juris deterioris geworden, ſo war das eine
deminutio capitis. Dahin gehörten alſo namentlich die
Fälle, wenn der bisherige Bürger wegen verlorner Frey-
heit oder Civität ganz ausgeſtrichen wurde; eben ſo, wenn
der paterfamilias arrogirt war, und nun als Sohn eines
Andern eingetragen werden mußte. — Dieſe Erklärung
halte ich an ſich für befriedigend, und ich muß nur noch
auch hier wieder ergänzend hinzuſetzen: vorausgeſetzt, daß
jene vermerkte nachtheilige Veränderung mit einer Vermin-
derung der Rechtsfähigkeit verknüpft war. Wenigſtens
vom Standpunkt der Römiſchen Juriſten aus, in einer
Zeit worin das Privatrecht ſo ſehr überwiegend gewor-
den, das öffentliche ſo ſehr zurückgetreten war, muß ich
dieſes behaupten: womit ſehr wohl die Annahme beſtehen
könnte, daß zur Zeit der Republik auch manche blos po-
litiſche Herabſetzung, ſelbſt wenn dieſelbe keinen Einfluß
auf die privatrechtliche Fähigkeit hatte, den Namen der
Capitis deminutio geführt haben möchte (d).
(c) In der Steuerverfäſſung
der Kaiſerzeit hieß caput eine
Steuerhufe, d. h. jedes in die
Kataſter eingetragene Ganze von
Grundſtücken, wovon ein Sim-
plum entrichtet werden mußte:
alſo auch wieder, wie in jener
früheſten Zeit, ein einzelner Ab-
ſchnitt der Steuerrolle, denn die
alte Römiſche Bürgerliſte war ja
zugleich Steuerrolle. Vgl. Zeit-
ſchrift für geſchichtliche Rechtswiſ-
ſenſchaft B. 6 S. 323. 377.
(d) Als Beyſpiele nennt Nie-
buhr die Verwandlung eines Ple-
bejers in einen Ärarius (Verluſt
der Tribus), und die Verſetzung
in eine tribus minus honesta.
|0500 : 486|
Beylage VI.
Mit dieſer Worterklärung von caput ſtimmt völlig
überein die oben (Num. XII.) angeführte Stelle der In-
ſtitutionen, worin von dem Freygelaſſenen, in Beziehung
auf ſeinen früheren Sklavenſtand, geſagt wird: nullum
caput habuit. Sehr natürlich, weil in den cenſoriſchen
Liſten die Sklaven als Perſonen gewiß nicht aufgeführt
ſeyn konnten. Nur ſcheinbar damit ähnlich, im Weſen
verſchieden, iſt der Ausdruck, welcher für denſelben Fall
von Paulus und Modeſtin gebraucht wird:
L. 3 § 1 de cap. min. (4. 5.). Aliter atque cum ser-
vus manumittitur: quia servile caput nullum jus ha-
het, ideo nec minui potest.
L. 4 eod. Hodie enim incipit statum habere.
Bey Paulus bezeichnet nun offenbar caput den Men-
ſchen, und servile caput heißt ihm ein Menſch, welcher
Sklave iſt. Dieſem beſtreitet er die Möglichkeit einer Ca-
pitis deminutio nicht deswegen, weil er kein caput habe
(denn ſo nennt er ihn ja geradezu), ſondern weil er recht-
los ſey, alſo Nichts verlieren, nicht heruntergeſetzt wer-
den könne. In demſelben Sinn ſpricht dem Sklaven in
der zweyten Stelle Modeſtin den Status ab (Num. VIII. a).
Man könnte hinzuſetzen einen ſol-
chen Vermögensverluſt, wodurch
Einer in eine geringere Klaſſe
kam. Ganz beſonders aber ge-
hört dahin die Infamie, bey wel-
cher der unter den Kaiſern ver-
änderte Sprachgebrauch unmittel-
bar erweislich iſt (§ 81). — Die
im Text behauptete Beſchränkung
der capitis deminutio auf die
Verminderung privatrechtli-
cher Rechtsfähigkeit ſteht im con-
ſequenteſten Zuſammenhang mit
der ganz ähnlichen Beſchränkung
des Ausdrucks Status (ſ. oben
Num. V.).
|0501 : 487|
Status und Capitis deminutio.
Es würde alſo ganz unrichtig ſey, wenn man aus der
Vergleichung dieſer Stellen mit der angeführten Inſtitu-
tionenſtelle beweiſen wollte, das Wort caput habe bey
den Römern ſo viel bedeutet als jus oder als Status.
XIV.
II. Ein zweyter Grund gegen die Erklärung des Pau-
lus liegt in dem gänzlichen Mangel an einem befriedigen-
den logiſchen Zuſammenhang. Die maxima, media, mi-
nima c. d. ſollen Arten derſelben Gattung ſeyn: ſie müſ-
ſen doch alſo etwas Gemeinſames haben, worin allein das
Weſen dieſer ſie umſchließenden Gattung geſucht werden
kann. Nach unſrer Erklärung iſt dieſes Gemeinſame un-
verkennbar. Es iſt die verminderte Rechtsfähigkeit, welche
in jeder dieſer drey Rechtsveränderungen wahrzunehmen
iſt, außer ihnen aber nirgends. Die Erklärung des Pau-
lus vermag ein ſolches gemeinſames Merkmal durchaus
nicht aufzuweiſen. Es iſt wohl der Ausweg verſucht wor-
den, die Stellung in einer beſtimmten Agnatenfamilie des-
wegen als Rechtsfähigkeit zu behandeln, weil man da-
durch fähig werde, eine Inteſtaterbſchaft zu erwerben.
Allein dieſer Auffaſſung liegt zum Grunde die Verwechs-
lung der Rechtsfähigkeit mit den faktiſchen Bedingungen
des Erwerbs von Rechten. Die justa causa bey der Tra-
dition, der Titel bey der Uſucapion ſind eben ſo, wie die
Agnation bey der hereditas intestati, faktiſche Bedingun-
gen des einzelnen, wirklichen Erwerbs: aber ſie alle ſind
|0502 : 488|
Beylage VI.
durchaus nicht Elemente der Rechtsfähigkeit. Der Verluſt
der Agnation iſt Verluſt eines beſtimmten erworbenen
Rechts, gerade ſo wie der Verluſt des Eigenthums an
einem Hauſe: durch Beides leidet die Rechtsfähigkeit nicht.
So wenig nun irgend Jemand die Verarmung eine Capi-
tis deminutio nennt, ſo wenig kann conſequenterweiſe der
Verluſt der Agnation als ſolcher mit jenem Namen be-
zeichnet werden.
Von der einen Seite alſo iſt kein Grund vorhanden,
den Verluſt der Agnation mit dem Verluſt der Freyheit
oder der Civität als gleichartig zu behandeln. Eben ſo
aber erſcheint es auch auf der andern Seite als inconſe-
quent, denſelben von anderen Ereigniſſen zu iſoliren, mit
welchen er doch in der That ganz gleichartig iſt. Denn
das Weſen deſſelben beſteht in dem Ausſcheiden aus einem
einzelnen Familienverhältniß, wodurch uns zugleich der
Erwerb mancher anderen Rechte (hauptſächlich Erbſchaft)
entzogen werden kann. Wenn nun hierin ein Grund lie-
gen ſoll, die aufgehobene Agnation eine Capitis deminutio
zu nennen, ſo iſt gar nicht zu begreifen, warum ſo manche
Ereigniſſe nicht denſelben Namen führen ſollen, für welche
ihn doch Niemand in Anſpruch nimmt.
So z. B. die Eheſcheidung. Der Mann ſcheidet aus
dieſem wichtigen Familienverhältniß aus, und verliert da-
durch die (erſt von Juſtinian aufgehobene) Ausſicht, durch
den Tod der Frau die Dos für immer mit ſeinem Ver-
mögen zu vereinigen. Ich weiß nicht, warum dieſe Er-
|0503 : 489|
Status und Capitis deminutio.
wartung weniger Rückſicht verdienen ſollte, als die der
Inteſtaterbſchaft der Agnaten.
Eben ſo müßte auch die Emancipation eine Capitis de-
minutio des Vaters genannt werden. Denn der Vater
ſcheidet aus dem bisherigen Familienverhältniß aus, und
verliert dadurch die Möglichkeit, durch die Handlungen des
Sohnes Etwas zu erwerben, wodurch er vielleicht weit
reicher werden koͤnnte, als durch die ganz unſichere Inte-
ſtaterbfolge aller ſeiner Agnaten.
Unſere Erklärung hat mit dieſen Schwierigkeiten wie-
der nicht zu kämpfen, da es augenſcheinlich iſt, daß in
allen ſolchen Ereigniſſen keine Verminderung der Rechts-
fähigkeit liegt.
Auf den hier entwickelten Grund übrigens will ich nicht
allzuviel Gewicht legen. Die Capitis deminutio iſt ein
hiſtoriſcher Begriff, und es wäre denkbar, daß dieſer auf
ganz unlogiſche Weiſe, ohne Rückſicht auf inneren Zu-
ſammenhang, conſtruirt und gegliedert worden wäre. Aber
für wahrſcheinlich können wir das doch nicht halten, und
wenn es möglich iſt eine Erklärung zu finden, durch welche
die Conſequenz in der Ausbildung jenes Begriffs gerettet
wird, ſo verdient dieſelbe entſchieden den Vorzug vor der-
jenigen, die dieſen Dienſt nicht leiſtet.
Die hier hervorgehobene Schwäche der Erklärung des
Paulus iſt auch in vielen neueren Behandlungen unſres
Gegenſtandes ſehr fuͤhlbar. So in den beiden oben (Num. I.)
angeführten Schriften von Feuerbach und Löhr, die ſich
|0504 : 490|
Beylage VI.
genöthigt ſehen, ſtets zwiſchen den Begriffen von Rechts-
fähigkeit und erworbenen Rechten zu ſchwanken, um, un-
ter Vorausſetzung der minima c. d. als familiae mutatio,
dennoch die drey Stufen der c. d. als Arten einer ge-
meinſamen Gattung behandeln zu können.
XV.
III. Ein dritter Grund gegen Paulus liegt in der
völlig ſchwankenden Art, in welcher er ſelbſt über manche
einzelne Anwendungen ſich erklärt. Dahin gehört folgende
Stelle, auf welche ſtets von allen Seiten großes Gewicht
gelegt worden iſt.
L. 3 pr. § 1 de cap. min. (4. 5.). Liberos, qui adro-
gatum parentem sequuntur, placet minui caput (al.
capite), cum in aliena potestate sint, et cum fami-
liam mutaverint. — Emancipato filio, et ceteris per-
sonis, capitis minutio manifesto accidit: cum eman-
cipari nemo possit, nisi in imaginariam servilem
causam deductus. Aliter atque cum servus manu-
mittitur etc. (ſ. o. Num. XIII.).
Er ſtellt hier zwey Fälle zuſammen, für welche er eine
c. d. behauptet: bey den Kindern eines Arrogirten, und
bey dem Emancipirten. Für den erſten Fall ſagt er pla-
cet, für den zweyten manifesto accidit. Nun iſt zwar im
Allgemeinen auf die Ausdrücke, worin die alten Juriſten
ihre Behauptungen einzukleiden pflegen, nicht allzu viel
Gewicht zu legen, und gewiß ſteht in vielen Stellen pla-
|0505 : 491|
Status und Capitis deminutio.
cet, worin doch eine unbedingte Gewißheit gemeynt iſt.
Anders verhält es ſich hier, wo dicht neben einander zwey
ſo verſchiedene Ausdrücke recht abſichtlich gewählt zu ſeyn
ſcheinen, um einen verſchiedenen Grad der Sicherheit bei-
der Behauptungen zu bezeichnen. Dieſe an ſich ſo natür-
liche Erklärung wird aber noch dadurch beſtärkt, daß Pau-
lus für beide Fälle ganz verſchiedene Gründe angiebt, an-
ſtatt daß die einfache Berufung auf die familiae mutatio
für beide Fälle völlig genügt haben würde, wenn dieſe
als das eigentliche Weſen der minima c. d. unbedenklich
und allgemein anerkannt geweſen wäre. Für den erſten
Fall giebt er nun allerdings die familiae mutatio als Grund
an, aber ſie allein iſt ihm nicht ſicher genug, und er fin-
det es nöthig, ſie durch einen zweyten Grund zu unter-
ſtuͤtzen, welcher ſeltſamerweiſe ſo lautet: cum in aliena
potestate sint. Unſtreitig ſind die Kinder des Arrogirten
vor und nach der Arrogation in fremder Gewalt: aber
eben weil ſich dieſer ihr Zuſtand gar nicht verändert, iſt
es kaum begreiflich, wie man dieſe unveränderte Dauer
eines Zuſtandes als einen Beweis für die Capitis demi-
nutio ausgeben kann, deren eigentliches Weſen doch nur
in der Veränderung des bisherigen Zuſtandes beſteht. In-
dem er nun zu dem Fall des Emancipirten übergeht, ſieht
man deutlich, wie vergnügt er iſt, hier die mißlichen Be-
weisgründe des erſten Falles entbehren zu können: er er-
wähnt ſie auch gar nicht wieder, ſondern beruft ſich
nun auf den Durchgang durch die imaginaria servilis
|0506 : 492|
Beylage VI.
causa (a), indem er hinzufügt, wegen dieſes Grundes ſey
die c. d. ganz offenbar (manifesto accidit). — Dieſe auf-
fallende Verſchiedenheit des Ausdrucks und der Gründe
macht es wahrſcheinlich, daß Paulus jenem althiſtoriſchen
Begriff eine praktiſche Seite abzugewinnen ſuchte vermit-
telſt eines hypothetiſch aufgeſtellten Grundes der minima
c. d., welchem er ſelbſt jedoch nicht allzu ſicher zu ver-
trauen wagte. Beſtimmtere Gründe für dieſe Annahme
werden erſt weiter unten angegeben werden können (b).
IV. Ein vierter Grund endlich gegen die Erklärung
des Paulus liegt in manchen einzelnen Anwendungen, die
nach jener Erklärung als Fälle der minima c. d. betrach-
tet werden müßten, während wir aus anderen vollgülti-
gen Zeugniſſen beweiſen können, daß in ihnen eine c. d.
durchaus nicht angenommen wurde. Solche Anwendun-
gen ſind entſcheidender, als die bisher angeſtellten allge-
meinen Betrachtungen. Um die Sache klar zu machen,
werde ich eine Überſicht von allen bekannten Fällen der
minima c. d. geben.
(a) Es iſt wohl möglich, daß
Paulus geſchrieben hat: nisi in
mancipii causam deductus, und
daß die Compilatoren die Erwäh-
nung des veralteten Rechtsinſti-
tuts durch umſchreibende Aus-
drücke zu umgehen ſuchten.
(b) Die ſchwankende Erklärung
des Paulus iſt auch ſchon von An-
deren bemerkt worden. Sehr ge-
zwungen erklärt dieſelbe Schel-
tinga bey Fellenberg jurispr.
antiqua T. 2 p. 519 durch fol-
gende nicht glückliche Hypotheſe.
Die alten Juriſten ſeyen im Streit
geweſen, ob die status mutatio
bey der c. d. gerade in deterius
ſeyn müſſe. Erſt durch fori dis-
putatio ſey dieſe Frage verneint
worden, und daher das Schwanken.
|0507 : 493|
Status und Capitis deminutio.
XVI.
A. Die Arrogation iſt für den Arrogirten eine c. d.,
und zwar nach beiden Meynungen; denn er verliert die
Rechtsfähigkeit eines Unabhängigen, und er tritt zugleich
aus ſeiner angebornen Agnation heraus.
B. Die Kinder des Arrogirten erleiden eine c. d. nach
der Meynung des Paulus, indem ſie aus ihrer Agnation
austreten: nicht nach der entgegengeſetzten Meynung, in-
dem ihre Rechtsfähigkeit unverändert bleibt (a). Hier zeigt
ſich alſo eine praktiſche Differenz beider Meynungen (b).
(a) Einige neuere Schriftſteller,
welche die Erklärung der mini-
ma c. d. als einer familiae mu-
tatio verwerfen, ſuchen dennoch
die einzelne, von Paulus daraus
abgeleitete, Anwendung auf die
Kinder des Arrogirten aus ande-
ren Gründen zu rechtfertigen. So
z. B. Seckendorf de cap. dem.
minima § 15, welcher dem Enkel
ein minus caput in Vergleichung
mit dem Sohn zuſchreibt, da doch
ihr gegenwärtiger Rechtszuſtand
völlig gleich iſt. Eben ſo Dei-
ters de civili cognatione p. 41,
nach welchem der Enkel ein ca-
put impeditum haben ſoll, weil
er um einen Grad weiter von der
Unabhängigkeit entfernt ſey; allein
dieſes betrifft ja nicht den gegen-
wärtigen Zuſtand, ſondern nur
die Ausſicht auf die Zukunft, näm-
lich auf die künftige Unabhängig-
keit: auch dieſe Ausſicht iſt für
das Kind des Arrogirten durch
die Arrogation nur möglicherweiſe
zurückgeſchoben, ja nicht einmal
wahrſcheinlicherweiſe, da im ge-
wöhnlichen Lauf der Natur der
Arrogator vor dem Arrogirten ſter-
ben wird.
(b) Dieſe praktiſche Differenz
äußert ſich jedoch auch nur auf
beſchränkte Weiſe. Denn daß die
angeborne Agnation für die Kin-
der des Arrogirten aufhört, wird
auch von unſrem Standpunkt aus
zugegeben, nur aus einem an-
dern Grunde, nämlich weil jede
Agnation nur von dem Vater ab-
geleitet werden kann, ſo daß die
Kinder ſtets dieſelbe Agnation ha-
ben müſſen wie der Vater; als
praktiſche Streitfragen blieben
alſo noch etwa dieſe übrig, ob
für die Kinder des Arrogirten
die Schulden und die perſönli-
chen Servituten untergiengen, was
allerdings behauptet oder verneint
werden muß, je nachdem man ih-
nen eine erlittene Capitis demi-
nutio zuſchreibt oder nicht.
|0508 : 494|
Beylage VI.
Zu einer ſicheren Entſcheidung führt dieſer Fall nicht, weil
denſelben kein anderer alter Juriſt als Paulus erwähnt,
ſeine eigene Meynung aber von ihm ſelbſt auf ſo unſichere
Weiſe begründet wird (Num. XV.).
C. Die causae probationes des älteren, und die Le-
gitimationen des neueren Rechts führen nach beiden Mey-
nungen jedesmal eine c. d. mit ſich, da durch ſie ſtets
ein Unabhängiger in einen Abhängigen verwandelt, und
zugleich eine neue Agnatenverbindung gegründet wird.
Dieſe Fälle ſtehen alſo mit dem Fall der Arrogation
(lit. A.) vollkommen auf gleicher Linie.
D. Die an einem Kind in väterlicher Gewalt oder
an einer Frau in manu vorgenommene Mancipation ent-
hält nach beiden Meynungen ſtets eine minima c. d. für
die mancipirte Perſon (c); nach unſrer Meynung, weil
dadurch immer eine Degradation zu der mancipii causa,
alſo zu einer tiefer ſtehenden Art der Familienabhängig-
keit, bewirkt wird: nach der entgegengeſetzten Meynung,
weil dadurch die bisherige Agnation aufgehoben wird.
Wenn dagegen der Käufer die ihm ſo mancipirte Perſon
weiter mancipirt, ſo entſteht dadurch ſicher keine neue
c. d., da hierdurch weder eine fernere Degradation be-
wirkt, noch irgend eine Agnation aufgehoben wird.
E. Die Emancipation, das heißt die Entlaſſung eines
Kindes aus väterlicher Gewalt. Daß dieſe in der That
(c) Gajus I. § 117 — 118a § 162. Ulpian. XI. § 5. Vergl. auch
oben § 67.
|0509 : 495|
Status und Capitis deminutio.
eine c. d. (und zwar eine minima) war, gehoͤrt nach al-
ten Zeugniſſen unter die gewiſſeſten Thatſachen in dieſer
ganzen Lehre, ſo daß es nach beiden Meynungen nicht be-
zweifelt werden darf, ſondern aus jeder derſelben erklärt
werden muß, wenn ſie dadurch nicht widerlegt werden
ſoll. Cicero, indem er die c. d. als ein Hinderniß der
Gentilität angiebt, denkt wahrſcheinlich blos an die in der
Emancipation liegende c. d. (§ 69. n). Aus welchem
Grund aber iſt ſie ſo zu betrachten?
Nach unſrer Meynung deswegen, weil zur Form der
Emancipation eine vorübergehende Degradation zu der
mancipii causa unentbehrlich war (d). So lange nun die
Eigenthümlichkeit der mancipii causa, und ihre weſentliche
Verſchiedenheit von der Servitus, noch nicht durch Gajus
bekannt geworden war, konnten unſre Schriftſteller wohl
zweifeln, ob nicht die Emancipation vielmehr eine maxima
als minima c. d. enthalte (e); durch Gajus iſt hierüber
jeder Zweifel verſchwunden (f).
Nach der conſequent durchgeführten Meynung des Pau-
lus war es deswegen eine c. d., weil dadurch der Eman-
cipirte aus der angebornen Agnatenfamilie heraus trat.
Merkwürdig ſind hierüber folgende Äußerungen unſrer
Quellen. Die Juſtinianiſchen Inſtitutionen, in der oben
(Num. XII.) mitgetheilten Stelle, wollen die veraltete man-
(d) Gajus I. § 132. Ulpian. X.
§ 1.
(e) Heineccius antiquit. I. 16
§ 12 und die daſelbſt citirten
Schriftſteller.
(f) Gajus I. § 162.
|0510 : 496|
Beylage VI.
cipii causa nicht erwähnen, und geben daher die bloße
Veränderung, nämlich hier die Befreyung aus der pote-
stas (alſo eine Verbeſſerung des Zuſtandes) als Erklä-
rungsgrund der c. d. an; dadurch ſind ſie genoͤthigt zu
dem auffallenden Geſtändniß, auch die Manumiſſion des
Sklaven könne eigentlich als eine c. d. angeſehen werden,
und es geſchehe nur deswegen nicht, weil er vor der Frey-
laſſung überhaupt gar kein caput gehabt habe.
Paulus, in der gleichfalls oben (Num. XV.) mitge-
theilten Stelle, bezeichnet als Erklärungsgrund der c. d.
nicht, wie nach ſeiner Hauptanſicht zu erwarten war, die
familiae mutatio, ſondern inconſequenterweiſe die imagi-
naria servilis causa, alſo den wahren Grund.
Die ſchwierigſte Stelle endlich iſt die des Gajus, theils
durch den nicht ganz deutlichen Ausdruck, theils durch eine
Lücke im Text.
Gajus I. § 162. Minima (capitis) deminutio est .... et
in his, qui mancipio dantur, quique ex mancipio ma-
numittuntur; adeo quidem, ut quotiens quisque man-
cipetur, a — tur, totiens capite diminuatur.
Dieſe Stelle hat man wohl ſo verſtanden, als ob nicht
nur jede einzelne Mancipation, ſondern auch jede Manu-
miſſion, wieder eine beſondere c. d. enthielte, welcher letz-
ten Behauptung es doch an aller begreiflichen Rechtferti-
gung fehlen würde. Die Zweydeutigkeit liegt in dem Wort
quique, welches man allerdings ſo verſtehen kann, wie
wenn es hieße: et in his, qui ex mancipio manumittun-
|0511 : 497|
Status und Capitis deminutio.
tur, ſo daß es neue Fälle bezeichnen würde. Jedoch iſt
dieſe Deutung keinesweges nöthig, das quique kann eben
ſowohl unter dem vorhergehenden in his ſtehen, dann heißt
es eben ſo viel als ein bloßes et, und enthält blos eine
nähere Beſtimmung des vorher ſchon erwähnten Falles.
Nach dieſen beiden Erklärungen muß ſich zugleich auch
die Ausfüllung der folgenden Lücke richten. Der Heraus-
geber hat geſetzt: aut manumittatur, wodurch wieder die
Manumiſſion zu einem neuen Fall der c. d. gemacht wird.
Es iſt aber vielmehr zu leſen: ac (oder atq) manumitta-
tur (g), welche Ergänzung die Manumiſſion auch hier wie-
der mit der Mancipation zu einem und demſelben Fall der
c. d. verbindet. Die ganze Stelle hat nämlich folgenden
Sinn. Gajus wollte den Begriff der c. d. durch Bey-
ſpiele erläutern. Dazu wählte er unter andern einen Theil
der Emancipationsformen, deren vollſtändige Darſtellung
hier ganz außer ſeinem Zweck lag. Er will nun ſagen:
Eine minima c. d. liegt unter andern in jeder der bey
der Kinderentlaſſung gebräuchlichen Mancipationen, wor-
auf jedesmal eine Manumiſſion folgt (das ſind gerade
die beiden erſten); ſo daß in jeder dieſer beiden, auf
eine Manumiſſion führenden, Mancipationen eine beſon-
dere minima c. d. liegt.
Er hätte nun auch noch die dritte Mancipation nen-
(g) Dieſe Ergänzung iſt bereits
vorgeſchlagen von Deiters de ci-
vili cognatione p. 41. 42, und ge-
billigt von Huſchke Studien
B. 1 S. 222. — Gegen dieſe ganze
Anſicht ſpricht ſich aus, Schil-
ling Inſtitutionen B. 2 § 32
Note 3.
II. 32
|0512 : 498|
Beylage VI.
nen koͤnnen, die gewiß ebenfalls eine c. d. enthielt, nur
nicht die vierte (die remancipatio), worin keine neue De-
gradation lag (ſ. o. lit. D.). Um aber weder ohne Noth
weitläufig zu werden, noch durch Kürze hierin ein Mis-
verſtändniß zu veranlaſſen, begnügte er ſich mit der Er-
wähnung der beiden erſten Mancipationen, die zu ſeinem
Zweck voͤllig hinreichten, und zu deren unzweydeutiger Be-
zeichnung gebrauchte er die mit denſelben jedesmal ver-
bundenen Manumiſſionen.
Iſt nun aber die Emancipation auch noch im neueſten
Recht als eine c. d. anzuſehen? Schon zur Zeit der Ab-
faſſung der Inſtitutionen und Digeſten waren die alten
Mancipationen längſt verſchwunden, und die nunmehr üb-
lichen Formen enthielten durchaus Nichts mehr, was als
Degradation des Kindes angeſehen werden konnte. Zwey
Rückſichten konnten damals den Geſetzgeber beſtimmen, die
alte Behandlung der Emancipation als einer c. d. beyzu-
behalten: das Patronatsrecht des Vaters, und die Zer-
ſtörung der Agnation. Allein dieſe letzte hat er ſelbſt,
ſchon durch frühere Geſetze, bey der Emancipation aufge-
hoben (§ 69): ſonach bliebe nur noch das Patronatsrecht
übrig. Dieſes aber iſt eigentlich gar nicht Folge und
Kennzeichen der c. d., und überdem iſt es durch die neueſte
Geſetzgebung von Juſtinian ganz weggefallen. Vollends
in unſrem heutigen Recht ſcheint es ganz inconſequent, die
Emancipation noch als c. d. anſehen zu wollen.
F. Die Adoption im engern Sinn macht keine Schwie-
|0513 : 499|
Status und Capitis deminutio.
rigkeit, da ſie ganz dieſelbe Natur hat, wie die Emanci-
pation. Denn auch ſie war mit Degradationen zu der
mancipii causa verbunden (h), und auch ſie bewirkte un-
ſtreitig eine Zerſtoͤrung der angebornen Agnation. Im Ju-
ſtinianiſchen Recht könnte ſie höchſtens noch in dem beſon-
deren Fall als c. d. gelten, wenn der Adoptivvater zu-
gleich ein natürlicher Aſcendent iſt, indem hier die ange-
borne Agnation allerdings verloren geht. Allein, nach der
bisher entwickelten richtigen Anſicht, iſt dieſer Umſtand
allein überhaupt kein Grund, eine c. d. anzunehmen.
XVII.
G. In manum conventio.
War die Frau vor dieſer Handlung sui juris, ſo war
die in manum conventio unſtreitig eine capitis deminutio,
und zwar nach beiden Meynungen. Denn eine ſolche Frau
verminderte ihre Rechtsfähigkeit, und ſie trat aus der an-
gebornen Familie in die des Mannes über (a); dabey machte
es auch keinen Unterſchied, ob die in manum conventio
durch confarreatio, coëmtio, oder usus entſtanden war.
Anders bey einer Frau, die aus der väterlichen Ge-
walt in die manus übertrat. Auch hier mußte nach der
Meynung des Paulus eine c. d. angenommen werden, weil
unzweifelhaft eine familiae mutatio eintrat. Nach unſrer
Meynung dagegen war es keine c. d. Denn eine wirk-
(h) Gajus I. § 134.
(a) Gellius XVIII. 6. Sie
wurde Schweſter ihrer eigenen
Kinder und ihrer Stiefkinder.
Gajus III. § 14.
32*
|0514 : 500|
Beylage VI.
liche Verminderung der Rechtsfähigkeit trat hier nicht ein,
vielmehr ſtand die Ehefrau in manu zu dem Mann völlig
im Verhältniß einer Tochter, hatte alſo dieſelben Rechte
wie dieſe. Aber auch in den Formen, die zur in manum
conventio führten, lag nicht etwa, ſo wie bey der Eman-
cipation und Adoption, eine vorübergehende Degradation.
Bey der confarreatio und dem usus iſt ohnehin nicht an
eine ſolche zu denken. Bey der coëmtio wäre ein ähnli-
ches Verfahren, wie bey der Adoption, alſo eine vermitt-
lende mancipii causa, wohl denkbar: allein Gajus, wel-
cher beide Formen beſchreibt, erwähnt bey der Adoption
dieſe vermittlende Degradation genau, bey der coëmtio
ſchweigt er davon gänzlich (b).
Hätten wir nun ſichere Zeugniſſe darüber, ob gerade
die coëmtio einer in väterlicher Gewalt ſtehenden Tochter
eine c. d. war oder nicht, ſo würden dieſelben als Mo-
mente zur Entſcheidung zwiſchen beiden Meynungen be-
nutzt werden können: die Stellen der Alten aber ſind über
dieſen Punkt ſehr unſicher.
Cicero top. C. 4. Si ea mulier testamentum fecit, quae
se capite nunquam deminuit, non videtur ex edicto
Praetoris secundum eas tabulas possessio dari.
In dieſem Satz liegt zugleich der umgekehrte: durch
capitis deminutio macht ſich eine Frau fähig zum Teſti-
ren. Die capitis deminutio iſt hier unſtreitig, wie es auch
Boethius richtig erklärt, die, welche durch in manum con-
(b) Gajus I. § 134 und § 113.
|0515 : 501|
Status und Capitis deminutio.
ventio bewirkt wird. Da nun Cicero in jenem Satz nicht
zwiſchen abhängigen und unabhängigen Frauen unterſchei-
det, ſo ſcheint es, beide konnten auf gleiche Weiſe dieſe
Fähigkeit zum Teſtiren erwerben, woraus denn weiter fol-
gen würde (was für unſre Frage wichtig wäre), daß die
in manum conventio bey beiden Arten der Frauen den
Namen einer capitis deminutio geführt hätte. Allein die-
ſer ſcheinbare Beweis verſchwindet durch die Vergleichung
mit Gajus I. § 115a, welcher weit genauer als Cicero
von dieſer Frage handelt. Er belehrt uns dahin, daß
nicht die coëmtio allein hinreichte, um das Teſtament
möglich zu machen, ſondern daß auch noch eine Reman-
cipation und Manumiſſion hinzukommen mußte. In die-
ſer mancipii causa nun lag unſtreitig, und nach allen
Meynungen, eine capitis deminutio, ſo daß dadurch die
angeführte Stelle des Cicero für unſre ſpecielle Frage alle
entſcheidende Kraft verliert.
Gajus führt zweymal die coëmtio als Beyſpiel einer
capitis deminutio an (I. § 162 und IV. § 38), aber in
beiden Stellen nur neben anderen Beyſpielen, und ſo un-
beſtimmt, daß daraus nicht zu ſehen iſt, ob er dabey nur
an unabhängige, oder auch an abhängige Frauen denkt.
Auf ähnlich unbeſtimmte Weiſe giebt Ulpian XI. § 13
die coëmtio als Beyſpiel der minima c. d. an. Da Die-
ſes indeſſen auf Veranlaſſung der Rechtsregel geſchieht,
nach welcher die geſetzliche Tutel durch jede c. d. zerſtört
wird, unter der Tutel aber nur unabhängige Frauen ſte-
|0516 : 502|
Beylage VI.
hen können, ſo läßt ſich wohl annehmen, daß Ulpian auch
nur an die coëmtio unabhängiger Frauen in der Aufſtel-
lung jenes Beyſpiels gedacht habe.
Sicherer iſt eine merkwürdige Stelle des Livius in der
Geſchichte der Bachanalien. Hier iſt die Rede von einer
Freygelaſſenen, die sui juris iſt, unter einem Dativtutor
ſteht, und bereits ein Teſtament gemacht hat (c). Nach-
dem dieſe der Republik durch Entdeckung einer ausgedehn-
ten, höchſt gefährlichen Verbindung wichtige Dienſte ge-
leiſtet hat, wird ſie durch einen Senatsſchluß unter an-
dern mit folgenden Privilegien belohnt:
Livius XXXIX. 19. Utique Feceniae Hispalae datio,
deminutio, gentis enuptio, tutoris optio item esset,
quasi ei vir testamento dedisset.
Die Worte datio, deminutio geben ſo wenig Sinn,
daß die Emendation capitis deminutio gewiß unbedenklich
iſt (d), wodurch allein auch ein ſichtbarer Parallelismus
in den Ausdruck der drey verbundenen Privilegien gebracht
werden kann. Dann heißt hier capitis deminutio ohne
allen Zweifel das Recht eine coëmtio einzugehen. Da
nun hier, wie oben bemerkt, die Frau gewiß suis juris
(c) Livius XXXIX. 9: Quin
eo processerat consuetudine
capta, ut post patroni mortem,
quia iu nullius manu erat, tu-
tore a tribunis et praetore pe-
tito, quum testamentum face-
ret, unum Aebutium institueret
heredem.
(d) Dieſe Emendation wird be-
reits vorgeſchlagen von Huschke
de privil. Feceniae Hispalae
Goett. 1822 p. 25, der indeſſen
bey der Erklärung unnöthige
Schwierigkeiten in die Stelle
bringt.
|0517 : 503|
Status und Capitis deminutio.
war, ſo iſt es in dieſer Stelle noch weniger als in den
übrigen zweifelhaft, daß hier nur die coëmtio einer unab-
hängigen Frau als eine capitis deminutio bezeichnet wer-
den ſoll.
XVIII.
H. Die wichtigſten Fälle endlich für die Feſtſtellung
des wahren Begriffs der capitis deminutio überhaupt,
und der minima insbeſondere, ſind die Weihen des flamen
Dialis und der Veſtaliſchen Jungfrauen.
Von den Veſtalinnen ſagen die alten Juriſten, daß ſie
aus der väterlichen Gewalt austreten (a). Allein weit ge-
nauere Nachrichten über die bey ihnen eintretende Verän-
derung des Rechtszuſtandes giebt Gellius I. 12, und zwar
aus den Schriften des Labeo und des Capito, alſo nach
den vollwichtigſten Autoritäten. An zwey verſchiedenen
Stellen jenes Kapitels ſagt er darüber Folgendes:
Virgo autem Vestalis simul est capta … eo statim
tempore sine emancipatione ac sine capitis minutione
e patris potestate exit, et jus testamenti faciundi adi-
piscitur.
Praeterea in commentariis Labeonis quae ad XII.
tab. composuit, ita scriptum est: Virgo Vestalis neque
heres est cuiquam intestato, neque intestatae quisquam:
sed bona ejus in publicum redigi ajunt. Id quo jure
fiat, quaeritur.
(a) Gajus I. § 130. Ulpian. X. § 5.
|0518 : 504|
Beylage VI.
Nach dieſer Stelle ſcheint mir unzweifelhaft, daß die
Agnation zwiſchen der Veſtalin und ihren angebornen Ver-
wandten aufgehoben war. Nur hieraus läßt ſich die Auf-
hebung des wechſelſeitigen Inteſtaterbrechts ungezwungen
erklären, da die Veſtalin ſo wenig vermögenslos war, daß
ſie ſogar teſtiren konnte; auch hätte ja eine Fortdauer der
Agnation, neben dem aufgehobenen Erbrecht, gar keinen
praktiſchen Sinn gehabt, da ohnehin die Tutel (als die zweyte
praktiſche Folge der Agnation) für die Veſtalinnen gar nicht
exiſtirte, und zwar ſchon nach den XII Tafeln (b). Man hat
dagegen eingewendet, wenn wirklich die Agnation aufgehoben
war, wie konnte dann am Schluß Labeo fragen: id quo jure
fiat, quaeritur, indem ihm nun der Grund des aufgehobenen
Erbrechts (die aufgehobene Agnation) von ſelbſt einleuchten
mußte. Allein dieſe Einwendung ſcheint mir aus mehreren
Gründen nicht erheblich. Schon daß dieſe fragenden Worte
noch zu denen des Labeo gehören, iſt zwar möglich, aber
nicht nothwendig, da ſie eben ſo gut ein Zuſatz von Gellius
ſeyn können. Hauptſächlich aber giebt dieſe Frage den ein-
fachſten Sinn, wenn man ſie blos auf den unmittelbar
vorhergehenden Satz (den Heimfall an den Staatsſchatz)
bezieht. Denn darin lag allerdings etwas Singuläres, da
nach uraltem Recht (und davon redet offenbar Labeo) das
erbloſe Vermögen in allen anderen Fällen vielmehr her-
renlos wurde, und erſt die Lex Julia caducaria den Heim-
fall an den Staat allgemein einführte (c). — Nehmen
(b) Gajus I. § 145.
(c) Cicero de legibus II. 19.
|0519 : 505|
Status und Capitis deminutio.
wir nun nach dieſer Stelle an, daß die Veſtalin aus der
Agnation austrat, und erwägen wir zugleich, daß ſie nach
dem ausdrücklichen Zeugniß keine capitis deminutio erlitt,
ſo liegt darin eine unmittelbare Widerlegung der Mey-
nung des Paulus, welche jeden Austritt aus der Agna-
tion für eine capitis deminutio erklärt. Zugleich dient aber
dieſe Stelle zu einem vollſtändigen Beweis der von mir
behaupteten Unvollſtändigkeit der alten Definition der c. d.
als einer Status mutatio. Denn eine Veränderung des
Status lag für die Veſtalin allerdings in der verlornen
Agnation, ja auch ſchon (wenn man etwa den Verluſt der
Agnation nicht zugeben wollte) in der Befreyung von der
väterlichen Gewalt; erlitt ſie nun dennoch keine capitis
deminutio, ſo muß wohl unter dieſer etwas Anderes zu
verſtehen ſeyn, als die bloße Veränderung des Status.
So iſt alſo durch dieſes vollgültige alte Zeugniß meine
Meynung gegen den Vorwurf geſichert, die Definition der
alten Juriſten willkührlich meiſtern zu wollen.
Eine ähnliche, nur weniger vollſtändige Unterſtützung
gewährt unſrer Meynung Dasjenige, was über die Weihe
des flamen Dialis berichtet wird. Auch dieſer trat aus
der väterlichen Gewalt (d), und auch bey ihm war dieſe
wichtige Veränderung ſeines Status entſchieden nicht als
capitis deminutio anzuſehen (e). Die Parallele wäre voll-
Ulpian. XXVIII. 7. Vgl. Zeit-
ſchrift für geſchichtl. Rechtswiſſen-
ſchaft B. 2 S. 378.
(d) Tacitus ann. IV 16. Ga-
jus I. § 130. Ulpian. X. § 5.
(e) Gajus III. § 114.
|0520 : 506|
Beylage VI.
kommen, wenn es ſich beweiſen ließe, daß der flamen auch
aus der Agnation getreten wäre: wahrſcheinlich iſt dieſes
allerdings, nicht blos nach der Analogie der von Gajus
und Ulpian mit ihm zuſammengeſtellten Veſtalin, ſondern
auch weil es inconſequent geweſen wäre, die väterliche
Gewalt aufzuheben, und doch die dadurch vermittelte Agna-
tion fortdauern zu laſſen; auch iſt nicht einzuſehen, in wel-
chem Verhältniß nun der Sohn zum Vater gedacht wer-
den ſollte, denn daß er Dieſem fremder geweſen wäre als
den Agnaten, iſt kaum anzunehmen.
Bey dieſer Frage ſteht, eine Controverſe der Alten
vorausgeſetzt, die Autorität des Labeo und des Capito
höher als die des Paulus: nicht als ob ſie überhaupt ſo
viel größere Juriſten geweſen wären, ſondern weil hier
von einem ganz alterthümlichen Rechtsinſtitut die Rede
iſt, deſſen ächtes und vollſtändiges Daſeyn dem Zeitalter
jener Juriſten weit näher ſtand als dem des Paulus.
Strenge genommen iſt es aber nicht einmal eine Contro-
verſe im gewöhnlichen Sinn, wie es allerdings wäre,
wenn z. B. das Daſeyn der capitis deminutio bey der
Veſtalin und dem flamen von Labeo verneint, von Pau-
lus bejaht würde. So war es aber nicht, vielmehr ſchei-
nen in dieſer Verneinung die Juriſten aller Zeiten, ohne
Spur eines Streites, überein zu ſtimmen. So Gajus in
Beziehung auf den flamen (Note e); eben ſo aber auch
Ulpian in folgender Stelle:
L. 3 § 4 de Sc. Maced. (14. 6.). Si a filiofamilias
|0521 : 507|
Status und Capitis deminutio.
stipulatus sim, et patrifamilias facto crediderim, sive
capite deminutus sit, sive morte patris vel alias sui
juris sine capitis deminutione fuerit effectus, debet
dici cessare Senatusconsultum quia mutua jam pa-
trifamilias data est.
Die Worte vel alias etc. koͤnnen unmöglich anders
verſtanden werden, als von dem flamen, oder der Veſta-
lin, oder (am wahrſcheinlichſten) von beiden Fällen zu-
gleich. Vielleicht hatte dieſe Ulpian geradezu ausgedrückt,
und die Compilatoren haben abſtractere Ausdrücke an ihre
Stelle geſetzt. — Die abweichende Anſicht betraf alſo nicht
(wie eigentliche Controverſen) unmittelbar einen Satz des
praktiſchen Rechts, ſondern vielmehr den wiſſenſchaftlichen
Verſuch, aus anerkannten einzelnen Rechtsregeln, durch
Auswahl vorgefnndener Merkmale, einen allgemeinen Be-
griff zu bilden. Dabey aber muß auch unſrer logiſchen
Kritik, den alten Juriſten gegenüber, eine größere Frey-
heit eingeräumt werden.
XIX.
Ich habe die bey den alten Juriſten vorkommenden
Erklärungen der c. d. theils als ungenügend, theils als
unrichtig darzuſtellen geſucht; um einer ſolchen Behaup-
tung Eingang zu verſchaffen, iſt es beſonders wichtig, die
Entſtehung des angeblich Mangelhaften auf wahrſchein-
liche Weiſe zu erklären.
Die Roͤmer hatten eine uralte Lehre von drey Arten
|0522 : 508|
Beylage VI.
der capitis deminutio; natürlich ohne Definition, aber
unzweifelhaft in ihren Wirkungen, und eben ſo auch in
den meiſten und wichtigſten Anwendungen auf einzelne
Fälle. Dagegen gab es wohl einige Fälle, in welchen
das Daſeyn oder Nichtdaſeyn der c. d. nicht ſowohl be-
ſtritten, als unbeſtimmt geblieben war, blos weil ſolche
Fälle zufällig nicht vorgekommen oder nicht beachtet wor-
den waren. Bey fortſchreitender Ausbildung der Wiſſen-
ſchaft ſuchte man für jene alte Lehre beſtimmte Begriffe
aufzuſtellen, und daß dabey ganz verſchiedene Wege ein-
geſchlagen wurden, kann bey einem an ſich blos formalen
Unternehmen nicht auffallen. Die Meiſten definirten die
c. d. kurzweg als eine Status mutatio. Daß wir dieſe
Definition gerade nicht als falſch, aber als unzureichend
tadeln, kann wohl ſchwerlich für eine unbefugte Anmaa-
ßung gelten, wenn man erwägt, daß die allermeiſten De-
finitionen der alten Juriſten überaus mangelhaft ſind.
Das Wichtigſte war, ſich vor falſchen Anwendungen aus
conſequenter Durchführung mangelhafter Definitionen zu
ſichern, und dagegen ſchützte ſie meiſtens ihr geſunder prak-
tiſcher Sinn. Hätte man den Gajus oder Ulpian gefragt,
ob denn alſo der Latinus durch die erlangte Civität, der
Sohn durch den Tod des Vaters, eine c. d. erleide, ſo
würden ſie weit entfernt geweſen ſeyn die Frage deswe-
gen zu bejahen, damit nur ihre Definition durch ſtreng
conſequente Anwendungen bey Ehren bliebe.
Einen ganz andern Weg ſchlug Paulus ein, und die
|0523 : 509|
Status und Capitis deminutio.
Entſtehung ſeines Gedankens erkläre ich mir auf folgende
Weiſe. Er erwog, daß die wichtigſte, den ſo verſchiede-
nen Fällen gemeinſame Wirkung der minima c. d. in dem
Verluſt der Agnatenfamilie beſtehe; denn der Untergang
der Schulden war durch die Reſtitution ſchon längſt ent-
kräftet, und das Zuſammentreffen eines Niesbrauchs mit
der c. d. in einer und derſelben Perſon konnte nur ſelten
und zufällig vorkommen, anſtatt daß der Austritt aus der
Familie jedesmal erfolgte. Dieſe einzelne Wirkung nun
ſtellte er als das Weſen der c. d. auf, unbekümmert um
den dadurch verdunkelten hiſtoriſchen Zuſammenhang der
Sache ſelbſt und des Namens. Aus ſeinem ſo gebildeten
Begriff ließen ſich auch die meiſten und gangbarſten Fälle
unſtreitiger c. d. (Arrogation, Emancipation, in manum
conventio einer unabhängigen Frau) ohne praktiſchen Irr-
thum ableiten. Allein er folgerte aus jenem Begriff die
Anwendung der c. d. auf die Kinder eines Arrogirten, die
er wohl bey anderen Schriftſtellern nicht gefunden haben
mochte, und daher nur als eine Meynung aufſtellte (pla-
cet). Die Treue gegen ſeine Definition hinderte ihn aber
nicht, gelegentlich auch wieder einem ganz anderen Ge-
danken nachzugehen, und bey dem Emancipirten den Grund
der c. d. in der Degradation durch die mancipii causa
aufzuſuchen, ohne Zweifel weil er hier dieſen Erklärungs-
grund, wegen der Übereinſtimmung aller älteren Schrift-
ſteller, für minder gewagt und hypothetiſch halten mußte
(manifesto accidit).
|0524 : 510|
Beylage VI.
Jetzt erſt iſt es moͤglich, die Stelle des Paulus voll-
ſtändig zu erklären, die auf die Anſicht der Neueren von
den drey Status ſo großen Einfluß gehabt hat (Num. X.).
L. 11 de cap. min. (4. 5.). Capitis deminutionis tria
genera sunt: maxima, media, minima. Tria enim
sunt quae habemus: libertatem, civitatem, familiam.
Igitur, cum omnia haec amittimus, hoc est liberta-
tem et civitatem et familiam, maximam esse capitis
deminutionem: cum vero amittimus civitatem, liber-
tatem retinemus, mediam esse capitis deminutionem:
cum et libertas et civitas retinetur, familia tantum
mutatur, minimam esse capitis deminutionem constat.
Er war auf dem oben angegebenen Wege dazu ge-
kommen, die minima c. d. als familiae mutatio zu erklä-
ren. Da nun von alter Zeit her drey Grade der c. d.
angenommen waren, ſo ſuchte er deren dreygliedrige Ein-
heit dadurch begreiflich zu machen, daß er das Poſitive
zuſammenſtellte, was durch jedes dieſer drey Ereigniſſe
verloren werden ſollte. Dieſes mußte alſo ſeyn: Freyheit,
Civität, Familie. Was haben nun dieſe ſehr ungleichar-
tige Verhältniſſe mit einander gemein? Nichts, als daß
wir ſie haben (Tria sunt quae habemus). Dieſes würde
ſich hoͤren laſſen, wenn es wirklich die einzigen Gegen-
ſtände wären, die wir haben. Da wir aber bekanntlich
auch noch einige andere Dinge haben, z. B. Ehe, väter-
liche Gewalt, Eigenthum, Servituten, Forderungen u. ſ. w.,
deren Jedes wir gleichfalls verlieren können, ſo iſt in der
|0525 : 511|
Status und Capitis deminutio.
That dieſes um die drey Grade geſchlungene Band, wo-
durch ſie zu einer Einheit werden ſollen, über die Gebühr
loſe zu nennen. Die ganze Stelle des Paulus erſcheint
demnach nur als ein mislungener Verſuch, die dreyfache
capitis deminutio auf eine rationelle Weiſe zu begründen.
Nicht einmal den Troſt haben wir, daß etwa jenes drey-
fache Haben, verglichen mit anderen hier beyſpielsweiſe
aufgezählten Arten des Habens, vorzugsweiſe wichtig wäre.
Daneben gewährt aber allerdings dieſe, ſonſt ſo wenig be-
friedigende, Zuſammenſtellung den Vortheil, daß ſie nicht
ſo, wie die Definition der anderen Römiſchen Juriſten,
zu dem Misverſtändniß Anlaß geben kann, als dürfe die
Verleihung der Civität oder der Tod des Vaters für eine
c. d. gehalten werden.
Durch alle dieſe Schwächen iſt indeſſen die Stelle des
Paulus nicht verhindert worden, zu der Lehre der Neue-
ren von den drey Status den Hauptgrund zu legen. Ohne
Zweifel war dabey mitwirkend die ſtillſchweigende Voraus-
ſetzung, Das was hier Paulus lehre, ſey die urſprüng-
liche und allgemeine Anſicht der Römiſchen Juriſten ge-
weſen. Aber gerade dieſer Vorausſetzung muß ich auf das
Beſtimmteſte widerſprechen. Wäre dieſe Vorausſetzung ge-
gründet, ſo würde die erwähnte Anſicht eben ſo, wie die
dreyfache Capitis deminutio, die Signatur eines feſten, al-
ten Kunſtwortes an ſich tragen, und nicht ſo, wie jetzt,
mit der ſeltſamen Bezeichnung sunt quae habemus in der
Luft ſchweben. Insbeſondere lag der Ausdruck Status ſo
|0526 : 512|
Beylage VI.
nahe, daß derſelbe gewiß nicht unausgeſprochen bleiben
konnte, wenn in der That jene tria als drey feſtſtehende
Arten des Status gedacht worden wären. Aber nicht blos
die Vorausſetzung der Allgemeinheit iſt hier ohne Grund,
ſondern auch bey Paulus ſelbſt erſcheint jene Anſicht gar
nicht als eine ſo feſte, tief durchdachte Lehre, wie ſie von
den Neueren auf die Autorität dieſer Stelle angenommen
zu werden pflegt. Es war bey ihm ein hingeworfener
Gedanke, ein augenblicklicher Verſuch, die uralte dreyfache
capitis deminutio durch umſchreibende Ausdrücke faßlich
darzuſtellen, allerdings ausgehend von der Erklärung der
minima c. d. als einer familiae mutatio. Dieſe war ihm
eigenthümlich; aber wie wenig er auch ſie für gewiß, un-
anfechtbar und anerkannt ausgeben wollte, zeigt deutlich
der Umſtand, daß er bey Erklärung der in der Emanci-
pation liegenden c. d. (L. 3 § 1 de c. m.) von ſeiner An-
ſicht wieder keinen Gebrauch machte, ſondern die übliche
Herleitung aus der servilis causa vorzog.
XX.
Die hier verſuchte Kritik der Lehre von der c. d. mag
zugleich hinreichen zur Beurtheilung fremder Arbeiten über
dieſen Gegenſtand, wie ſie oben (Num. I.) zuſammengeſtellt
worden ſind. Anſtatt einer Zergliederung ihres Inhalts
mögen hier nur wenige literariſche Bemerkungen ſtehen.
Conradi, deſſen Meynungen überall Anſpruch auf be-
ſondere Aufmerkſamkeit haben, legt als das Gewiſſe zum
|0527 : 513|
Status und Capitis deminutio.
Grund die Erklärung der minima c. d. als einer familiae
mutatio, und ſucht hieraus alles Übrige zu erklären.
Durch dieſe falſche Vorausſetzung ſieht er ſich genöthigt,
die servilis causa als Grund der c. d. bey der Emanci-
pation zu verwerfen (p. 180), und dieſes führt ihn weiter
zu einer ſo gezwungenen Auslegung, wie man ſie ſonſt bey
ihm nicht leicht antrifft; nämlich das manifesto accidit in
L. 3 § 1 de c. m. ſoll nicht heißen: tritt unzweifelhaft ein,
ſondern: wird offenbar, erſcheint in ſinnlicher Darſtellung
durch ſymboliſche Handlungen.
Die Schrift von Seckendorf beſtreitet die Lehre des
Paulus und trägt im Weſentlichen die hier aufgeſtellte
Lehre vor; es iſt, wie es ſcheint, die erſte gedruckte Schrift,
worin dieſes geſchieht.
Schon ſehr früh iſt ein merkwürdiger Verſuch gemacht
worden, in die Lehre des Paulus Licht und Zuſammen-
hang zu bringen, und dieſer hat noch in der neueſten Zeit
auf mehreren Seiten Anklang gefunden. Es iſt dieſes fol-
gende, zuerſt von Hotomanus aufgeſtellte, Anſicht.
Es giebt, ſagt Hotomanus, drey Corporationen von
verſchiedenem Umfang, worin jeder einzelne Menſch ſtehen
kann (a): die Corporation aller freyen Menſchen der Erde,
die der Römiſchen Bürger, die der Mitglieder einer ein-
zelnen Agnatenfamilie. Scheidet ein Mitglied aus einer
(a) Er nennt dieſelben ab-
wechslend corpus, ordo, colle-
gium. — Im Weſentlichen haben
dieſe Anſicht adoptirt Dücaurroy
und Zimmern (ſ. oben Num. I.);
dann auch Vangerow Pandek-
ten I. S. 61.
II. 33
|0528 : 514|
Beylage VI.
derſelben, ſo wird dieſe Corporation um Ein Haupt ver-
mindert, ſie erleidet eine Capitis deminutio, welcher Aus-
druck dann aber auf das ausſcheidende Mitglied ſelbſt über-
tragen worden iſt. Seitdem ſich dieſer Sprachgebrauch
gebildet hatte, bezeichnete caput die Stellung eines Mit-
gliedes in einer ſolchen Corporation (b), und in derſelben
Bedeutung muß nun auch das Wort Status in der Defi-
nition der c. d. als einer Status mutatio verſtanden wer-
den (c), denn ſonſt würde ganz unrichtig auch dem Sohn,
deſſen Vater ſtirbt, eine c. d. zugeſchrieben werden müſ-
ſen. — Durch dieſe Auffaſſung wird ein ſcheinbarer Zu-
ſammenhang in die Lehre des Paulus gebracht: mehr Lob
kann man ihr nicht beylegen, denn eine genauere Prüfung
hält ſie nicht aus. Zuerſt iſt die Corporation aller freyen
Menſchen, aus welcher man auf ähnliche Weiſe, wie aus
dem geſchloſſenen Kreis der Römiſchen Bürger, ausſchei-
den könne, ein abentheuerlicher, den Römern beſonders
völlig fremder Gedanke. Auf der andern Seite iſt die Ge-
ſammtheit der Agnaten zwar allerdings ein Rechtsbegriff,
und ein nicht unwichtiger, denn ſie iſt die Grundlage der
Inteſtaterbfolge und der legitima tutela. Sie iſt aber doch
(b) Hotomanus l. c. scire
oportet, caput in hoc ipso
tractatu significare jus, quod
aliquis ob eam causam habet,
quia caput sive locum in or-
dine aliquo illorum trium ob-
tinet.
(c) Intelligi oportet, Status
verbo in hoc tractatu signifi-
cari a Ictis, condicionem per-
sonae in eorum ordine stantis
(i. e. numerum efficientis) qui
vel libertatem, vel cum libertate
civitatem, vel cum utraque fa-
miliam obtinent.
|0529 : 515|
Status und Capitis deminutio.
nur eines unter den verſchiedenen Familienbanden, wo-
durch mehrere Menſchen zu einem engeren Ganzen verei-
nigt werden, man kann ſie nicht einmal das wichtigſte
derſelben nennen, und es iſt alſo durchaus kein Grund
einzuſehen, warum ſie, vorzugsweiſe vor allen anderen
Familienverhältniſſen, in dieſer Lehre mit ſo ausſchließen-
der Wichtigkeit behandelt werden ſollte. Endlich iſt es
auch ein ganz willkührliches, aller inneren Wahrſcheinlich-
keit ermanglendes Verfahren, wodurch der Ausdruck Ca-
pite minui von der wirklich verminderten Corporation auf
das austretende, alſo vermindernde Individuum übertra-
gen wird. Wir können alſo in dieſer ganzen Auffaſſung
nur einen ſinnreichen Einfall ſehen, nichts Beſſeres.
33*
|0530 : 516|
Beylage VII.
Beylage VII.
Über einige zweifelhafte Punkte in der
Lehre von der Infamie.
(Zu § 77 und § 82.)
I.
Findet das Rechtsinſtitut der Infamie auch Anwen-
dung auf Frauen?
Wer bey der Infamie die Ausſchließung vom Poſtuli-
ren als das Einzige, oder doch als die Hauptſache, an-
ſieht, muß dieſe Anwendung zwar nicht unmöglich, wohl
aber völlig überflüſſig finden. Denn da der Prätor ſchon
in ſeinem zweyten Edict allen Frauen überhaupt unbe-
dingt unterſagt hatte, für Andere poſtulirend vor ihm zu
erſcheinen, ſo war es ganz unnöthig, für einige Frauen
(die ehrloſen) im dritten Edict daſſelbe Verbot, und zwar
ſogar durch Ausnahmen gemildert, zu wiederholen (§ 78).
Betrachtet man dagegen die Infamie, wie ich es zu
beweiſen verſucht habe, als Verluſt der politiſchen Rechte
(§ 79—81), ſo hat ſie für Frauen durchaus keinen Sinn,
weil dieſelben ohnehin niemals politiſche Rechte hatten.
Hieraus erklärt es ſich unmittelbar, warum die Tafel von
Heraklea (Lex Julia municipalis), die nur von der Fähig-
keit zu gewiſſen politiſchen Rechten handelt, in ihrem Ver-
zeichniß der Ehrloſen die Frauen gar nicht erwähnen
kann (§ 80).
|0531 : 517|
Infamie.
Was finden wir nun als Antwort auf unſre Frage in
den Rechtsquellen? Das in den Digeſten enthaltene Edict
über die Infamen umgeht die Frauen, gerade da wo man
ſie zunächſt erwartet, recht abſichtlich und auf die merk-
würdigſte Weiſe. Wenn eine Wittwe zu frühe eine zweyte
Ehe ſchließt, ſo ſollen infam ſeyn: der Vater der Wittwe,
wenn ſie noch in deſſen Gewalt ſteht, ferner der neue Ehe-
mann, wenn er unabhängig iſt, oder im entgegengeſetzten
Fall deſſen Vater. Von der Wittwe ſelbſt, die doch am
ſtärkſten und unmittelbarſten gefehlt hat, iſt mit keinem
Wort die Rede.
Möchte man nun geneigt ſeyn, in dieſer Erſcheinung
eine unmittelbare Beſtätigung einer oder der andern der
oben erwähnten Anſichten von dem praktiſchen Weſen der
Infamie zu finden, ſo wird wieder Alles zweifelhaft durch
eine Anzahl von Stellen, worin als etwas Bekanntes und
Gewiſſes angegeben wird, daß jene Wittwe dennoch infam
werde (§ 77. y). Dieſe Stellen ſcheinen alſo ſowohl mit
dem Weſen der Infamie, als mit dem angegebenen In-
halt des Edicts im Widerſpruch zu ſtehen.
Wie ſind dieſe Räthſel zu loͤſen?
II.
Die Lex Julia enthält nach Ulpian (XIII. § 1. 2) fol-
gende Eheverbote, die ich der leichteren Überſicht wegen
durch Zahlen bezeichnen will.
Lege Julia prohibentur uxores ducere senatores qui-
|0532 : 518|
Beylage VII.
dem liberique eorum 1) libertinas 2) et quae ipsae 3) qua-
rumve pater materve artem ludicram fecerit, 4) item cor-
pore quaestum facientem.
Ceteri autem ingenui prohibentur ducere 5) lenam
6) et a lenone lenave manumissam, 7) et in adulterio
deprehensam, 8) et judicio publico damnatam, 9) et quae
artem ludicram fecerit; 10) adjicit Mauricianus, et a se-
natu damnatam.
Das Erſte, was in dieſen Verboten auffällt, iſt die
nicht geringe Verſchiedenheit bey beiden Ständen. Wäre
nun überall das Verbot für die Senatoren ſtrenger, wie
es z. B. offenbar in Anſehung der Ehe mit Libertinen der
Fall iſt, ſo wäre das ganz natürlich; allein es findet ſich
auch das Umgekehrte, denn die Ehen N. 5. 6. 7. 8. 10 ſind
dem Freygebornen verboten, dem Senator nicht. Man
könnte das ſo erklären wollen, das Verbot für Freyge-
borne ſey das allgemeine, die Senatoren (als Freyge-
borne) mit umfaſſende; allein auch das paßt nicht genau,
denn der Fall 2 und 9 kommt ausdrücklich in beiden Stän-
den als verboten vor.
Die Juriſten verbeſſerten durch Interpretation dieſen
mangelhaften Ausdruck des Geſetzes; nicht nur wandten
ſie einzelne Verbote für die Freygebornen wegen Gleich-
heit des Grundes mit ſenatoriſchen Fällen, auch auf die
Senatoren an (a), ſondern ſie ſtellten auch geradezu die
(a) L. 43 § 6 de ritu nupt.
(23. 2.). „Lenocinium facere
non minus est, quam corpore
quaestum exercere.” Die ganze
|0533 : 519|
Infamie.
ſehr natürliche Regel auf: jedes Verbot für die Freyge-
bornen ſey auch auf die Senatoren anzuwenden (b). Sie
giengen aber noch weiter in ihrer Reflexion über das Ge-
ſetz. Dieſes hatte den Ausdruck der Infamie nicht ge-
braucht, ohne Zweifel weil nach altem Recht die Infamie
auf Frauen gar keine Anwendbarkeit hatte (Num. I.), aber
gemeynt war doch etwas ganz Ähnliches in den einzeln
aufgezählten verbotenen Fällen (c), ja mehrere derſelben
kamen ausdrücklich im Edict als Fälle der Infamie vor.
Sollte nun z. B. eine wegen Diebſtahls verurtheilte Frau
nicht dem Eheverbot der L. Julia unterworfen ſeyn? Nichts
war natürlicher, als auf die allgemeine Regel zu kommen:
die Ehe wird für Freygeborne, alſo auch für Senatoren,
durch jeden Fall der Infamie verhindert, bey Senatoren
überdem noch durch die Libertinität des andern Theiles;
gerade ſo wird die Regel wörtlich von Ulpian ausge-
Stelle ſpricht von den Eheverbo-
ten für die Senatoren: da nun
hier die L. Julia zwar den quae-
stus corpore, aber nicht das le-
nocinium, genannt hatte, ſo fin-
det der Juriſt nöthig, für das
lenocinium künſtlich zu beweiſen,
daß es mit unter das Verbot ge-
höre; dennoch war das lenoci-
nium in den Eheverboten der Frey-
gebornen ausdrücklich genannt,
was ihm alſo nicht zu genügen
ſchien.
(b) L. 43 § 8 de ritu nupt.
(23. 2,). „Eas quas ingenui ce-
teri prohibentur ducere uxores,
Senatores non ducent.”
(c) Dieſer Sinn der geſetzli-
chen Beſtimmungen wird auch von
den alten Juriſten in ihren Com-
mentaren über das Geſetz aner-
kannt, indem ſie von den daſelbſt
einzeln aufgezählten Perſonen ganz
dieſelben Ausdrücke gebrauchen,
welche ſonſt von den Infamen des
prätoriſchen Edicts regelmäßig ge-
braucht werden. L. 43 § 4. 12.
13 de ritu nupt. (32. 2.) „lege
notatur,” „erit notata,” „id-
circo notetur,” „notata erit,”
„quia factum lex, non senten-
tiam notaverit” u. ſ. w.
|0534 : 520|
Beylage VII.
drückt (d). Eben ſo mußten nun auch umgekehrt die in
der Lex Julia ausdrücklich genannten Fälle unzuläſſiger
Ehen, wenn ſie nicht ſchon im Edict ſtanden, von jetzt
an als Fälle wahrer Infamie betrachtet werden: natürlich
mit Ausnahme des Falles bloßer Libertinität, da bey die-
ſem das Verbot nicht von ſittlichen Gründen ausgieng.
Der Unterſchied der Senatoren von den übrigen Freyge-
bornen zeigte ſich in zwey Stücken: erſtlich in der Aus-
dehnung des Verbots auf die Freygelaſſenen, ohne Rück-
ſicht auf deren individuelle Ehrbarkeit: zweytens in der
Anwendung des Verbots auf infame Männer, welchen die
Ehe mit den Töchtern und Enkelinnen der Senatoren un-
terſagt war, anſtatt daß das Eheverbot für die Freyge-
bornen nur auf infame Frauen angewendet werden konnte.
Durch dieſe natürliche Entwicklung der Gedanken er-
hielt nun der Begriff der Infamie folgende merkwürdige
Ausdehnung. Infamie bezeichnete jetzt: bey Männern,
Verluſt der politiſchen Rechte und Unfähigkeit zur Ehe mit
weiblichen Nachkommen der Senatoren: bey Frauen,
Unfähigkeit zur Ehe mit freygebornen Männern überhaupt,
was ja die Senatoren und deren Söhne ohnehin auch
(d) Ulpian. XVI. § 2. „Ali-
quando nihil inter se capiunt,
id est si contra legem Juliam
Papiamque Poppaeam contra-
xerint matrimonium: verbi gra-
tia, si famosam quis uxorem
duxerit, aut libertinam sena-
tor.” — Si quis, alſo irgend Ei-
ner, Senator oder nicht, wobey
man nur noch hinzu denken muß:
ingenuus. — famosam heißt ent-
ſchieden ſo viel als infamem, und
namentlich Ulpian gebraucht beide
Ausdrücke als völlig gleichbedeu-
tend, mit willkührlicher Abwechs-
lung. L. 6 § 1 de his qui not.
(3. 2.)
|0535 : 521|
Infamie.
waren. In dieſer neuen Ausdehnung war der Begriff
ein eben ſo ſcharf beſtimmter wie früher (§ 78), und ver-
lor ſich alſo auch jetzt nicht in den ſchwankenden Begriff
des ſchlechten Rufs oder der Infamia facti.
Daß nun dieſe Erweiterung der Fälle der Infamie von
Juriſten und Kaiſern beachtet und praktiſch anerkannt wer-
den mußte, verſteht ſich von ſelbſt (§ 77. y); aber ſollte
dieſelbe auch in das prätoriſche Edict über die Infamen
aufgenommen werden? Für die meiſten Fälle war es
ohnehin nicht nöthig irgend eine Änderung vorzunehmen,
da die Ausdrücke des Edicts (furti, mandati damnatus
u. ſ. w.) ſchon an ſich auf beide Geſchlechter bezogen wer-
den konnten, uno es alſo genügte, wenn man die früher-
hin ſtillſchweigend hinzugedachte Ausſchließung der Frauen
jetzt hinwegdachte: aber auch für die Fälle, worin der
Ausdruck des Edicts die Frauen beſtimmt ausſchloß (§ 77),
war ein praktiſches Bedürfniß der Änderung nicht vor-
handen. Denn das prätoriſche Edict über die Infamen
bezog ſich blos auf die Ausſchließung vom Poſtuliren, und
in dieſer Hinſicht machte bey Frauen die Infamie keinen
Unterſchied (Num. I.). Dennoch hat man dieſes, durch
praktiſches Bedürfniß nicht Gebotene, gethan, und das
Edict durch Aufnahme der die Frauen beſonders betreffen-
den Fälle der Infamie ergänzt (Num. VIII.): ohne Zwei-
fel deswegen, weil das prätoriſche Edict über die Infa-
men der einzige Ort überhaupt war, wo ſich ein mit ge-
ſetzlichem Anſehen bekleidetes Verzeichniß der Ehrloſen fand.
|0536 : 522|
Beylage VII.
III.
Welche Bedeutung hatte aber das Eheverbot der Lex
Julia, oder was nun daſſelbe ſagt: welche praktiſche Fol-
gen hatte für Frauen die Infamie?
Nach Ulpians Ausdruck: prohibentur, womit auch die
Ausdrücke des Geſetzes ſelbſt übereinſtimmen (a), möchte
man erwarten, es ſey für alle dieſe Fälle das Connubium
aufgehoben worden, das heißt eine gegen das Verbot un-
ternommene Ehe ſey nichtig geweſen, gerade ſo wie von
jeher die Ehe zwiſchen Bruder und Schweſter nichtig war.
Oder ſollte man etwa annehmen, das Geſetz habe die Ehe
zwar beſtehen laſſen mit allen nach dem früheren Recht
daran geknüpften Wirkungen, und ihr nur die Vorzüge
entzogen, die eben dieſes Geſetz ſelbſt an das Daſeyn der
Ehe, verglichen mit dem eheloſen Zuſtand, knüpfte? Eine
ſolche Unterſcheidung ſcheint faſt zu ſubtil: und dennoch
ſind wir genöthigt, ſie als wahr anzunehmen. Die Ehe
ſelbſt war alſo rechtsbeſtändig, und die in derſelben er-
zeugten Kinder ſtanden in väterlicher Gewalt; allein in
Beziehung auf die Bedingungen der Capacität galten dieſe
Ehegatten als ehelos, ſo daß jeder derſelben unfähig war,
durch das Teſtament des andern Ehegatten oder eines Drit-
ten irgend etwas zu erwerben. Darüber, ob das Daſeyn
(a) L. 44 pr. de ritu nupt.
(23. 2.) „ne quis eorum spon-
sam uxoremve .. habeto,” dann:
„neve Senatoris filia … sponsa
nuptave esto,” endlich: „neve
quis eorum .. sponsam uxo-
remve eam habeto.”
|0537 : 523|
Infamie.
von Kindern aus einer ſolchen Ehe den Eltern Vortheil
bringen ſollte, galt kein ganz feſtes Princip, indem man
in einigen Anwendungen den Vortheil gelten ließ, in an-
deren aber nicht. Alle dieſe Sätze ſind nunmehr zu be-
weiſen.
1) Ulpian XVI. 2 ſagt ausdrücklich, bey einer ge-
gen die Regeln der L. Julia geſchloſſenen Ehe ſeyen die
Ehegatten ganz unfähig, einander Etwas durch letzten
Willen zuzuwenden (Num. II. c). Dieſen Satz mußte er
als etwas Poſitives, ungeachtet der übrigen Rechtsbeſtän-
digkeit dieſer Ehe Geltendes anſehen: denn hätte er die
allgemeine Nichtigkeit der Ehe vorausgeſetzt, ſo verſtand
ſich ja die juriſtiſche Eheloſigkeit dieſer faktiſchen Gatten
von ſelbſt, beſonders aber war es ganz unpaſſend, dieſen
einzelnen Fall einer nichtigen Ehe als Grund der Incapa-
cität anzugeben, und alle anderen Gründe der Nichtigkeit
(z. B. Verwandtſchaft), die doch voͤllig eben ſo in dieſen
Zuſammenhang gehoͤrten, mit Stillſchweigen zu überge-
hen (b).
2) Wer drey Kinder hatte, konnte eine ihm auferlegte
Tutel ablehnen, jedoch mußten es justi liberi ſeyn. Da-
(b) Ich will jedoch zugeben, daß
in dem Satz des Ulpian eigentlich
zweyerley liegt: 1) ſie ſollen nicht
die Vortheile genießen, die au-
ßerdem in der Capacität die bloße
Ehe den Ehegatten unter ſich giebt;
2) ſie ſollen einander gar Nichts
hinterlaſſen dürfen, ſelbſt wenn ſie
aus anderen Gründen gegen frem-
de Perſonen volle Capacität haben,
z. B. weil die Frau drey Kinder
geboren hat. Die Folgerung, die
ich im Text aus der Stelle ziehe,
iſt nur wahr für den erſten Satz,
nicht für den zweyten.
|0538 : 524|
Beylage VII.
bey entſtand die Streitfrage, ob dieſer Ausdruck nach dem
alten jus civile zu verſtehen ſey, oder nach den enger ein-
ſchränkenden Beſtimmungen der L. Julia. Ein alter Juriſt
entſcheidet für die erſte, alſo die mildere Meynung (c); in
dieſer Entſcheidung liegt die ausdrückliche Anerkennung, daß
die L. Julia blos eine relative Unwirkſamkeit der Ehe, in
Beziehung auf einzelne, genau beſtimmte Zwecke zur Ab-
ſicht hatte, nicht die allgemeine Nichtigkeit der Ehe, un-
ter deren Vorausſetzung dieſe Kinder ja gar nicht Kinder
ihres angeblichen Vaters geweſen wären (d).
Wenn daher die L. Julia für gewiſſe Fälle die Nich-
tigkeit der Ehe ausſprach (was ich beſtreite), ſo war die
mildere Meynung in Beziehung auf die Excuſationen ganz
unmöglich; wenn ſie dagegen (ſo wie ich behaupte) ſolche
Ehen an ſich gelten ließ, nur mit Verſagung gewiſſer Vor-
theile, ſo konnte die in der angeführten Stelle dargeſtellte
(c) Fragm. Vaticana § 168.
„Quidam tamen justos secun-
dum has leges putant dici ....
Sed justorum mentio ita acci-
pienda est, uti secundum jus ci-
vile quaesiti sint.” — Daß die
entgegengeſetzte Meynung gleich-
falls Vertheidiger hatte, ſagt hier
der Juriſt ausdrücklich. In einem
andern ähnlichen Fall hatte die
ſtrengere Meynung das Überge-
wicht. Ein Freygelaſſener näm-
lich ſollte durch zwey lebende Kin-
der frey von Laſten und Dienſten
gegen den Patron werden. Da-
bey aber heißt es: ex lege autem
nati liberi prosunt. (L. 37 § 7
de operis libert. 38. 1.) Die lex
iſt natürlich die L. Julia, denn
aus dieſer ſtammte die ganze Be-
günſtigung der Freygelaſſenen her.
(d) § 12 J. de nupt. (1. 10.).
„Si adversus ea, quae diximus,
aliqui coierint: nec vir, nec
uxor, nec nuptiae, nec matri-
monium, nec dos intelligitur.
Itaque ii, qui ex eo coitu na-
scuntur, .... tales sunt .. qua-
les sunt ii, quos vulgo mater
concepit: nam nec hi patrem
habere intelliguntur, cum his
etiam pater est incertus.”
|0539 : 525|
Infamie.
Controverſe ſehr wohl entſtehen; denn da die Excuſation
ein auf Willkühr beruhendes Privilegium war, ſo konnte
man ohne Inconſequenz die Behauptung aufſtellen, daß
die Excuſation nicht auf Kinder aus einer von der L. Julia
misbilligten (wenngleich gültigen) Ehe gegründet wer-
den könne.
3) Die Wittwe, welche innerhalb des Trauerjahrs
eine neue Ehe ſchließt, wird dadurch ehrlos (§ 77. y).
Allen ehrloſen Frauen war durch die L. Julia und deren
Interpretation die Ehe mit jedem freygebornen Mann ver-
boten (Num. II.). Hätte nun dieſes Verbot die Nichtig-
keit der Ehe zwiſchen dem Freygebornen und der infamen
Frau bezweckt, ſo wäre auch die voreilige zweyte Ehe
jener Wittwe gar keine Ehe geweſen, alſo auch die darin
gegebene Dos keine Dos (Note d). Allein gerade die Kai-
ſergeſetze, welche die Strafen einer ſolchen übereilten Ehe
beſtimmen, ſetzen die Gültigkeit derſelben, und insbeſon-
dere das juriſtiſche Daſeyn einer wahren Dos ſo beſtimmt
voraus (e), daß ein vollkommener Widerſpruch nur ver-
hütet werden kann, indem man (ſo wie es hier geſchehen
iſt) das Verbot gewiſſer Ehen in der L. Julia anders als
von der Nichtigkeit dieſer Ehen verſteht.
(e) L. 1 C. de sec. nupt. (5.
9.). — Man darf nicht glauben,
dieſen Einwurf durch die Annah-
me beſeitigen zu können, die an-
fangs nichtige Ehe ſey nach Ab-
lauf des Trauerjahrs von ſelbſt
gültig geworden. Die Infamie
der Frau war, wie jede Infamie,
lebenslänglich; machte alſo über-
haupt die Infamie einer Frau die
Ehe mit einem Freygebornen un-
möglich, ſo konnte dieſer Grund
ihrer Unfähigkeit durch keinen
Zeitablauf weggeräumt werden.
|0540 : 526|
Beylage VII.
4) Die vollſtändigſte Beſtätigung aber für unſre Be-
hauptung über den praktiſchen Sinn der L. Julia liegt in
den ſpäteren Ereigniſſen. Unter Marc Aurel wurde ein
Senatsſchluß erlaſſen, nach welchem die Ehen der Frey-
gelaſſenen mit den Senatoren und deren Nachkommen nich-
tig ſeyn ſollten, und dieſer Senatsſchluß wird von dieſer
Zeit an ſtets als Urſprung der Nichtigkeit ſolcher Ehen
angeführt (f). Hieraus folgt nun unwiderſprechlich:
a) Daß vorher die Ehe zwiſchen Senatoren und Frey-
gelaſſenen keinesweges nichtig war.
b) Daß vorher und nachher die Ehe zwiſchen Sena-
toren und Infamen eben ſo wenig nichtig war; nur wurde
die Nichtigkeit durch Interpretation noch ausgedehnt auf
die Ehen mit Schauſpielern und deren Kindern, oder ſol-
chen Perſonen, die ein anderes der Sittenloſigkeit höchſt
verdächtiges Gewerbe trieben (g); niemals auf Infame
überhaupt (h).
(f) L. 16 pr. de ritu nupt.
(23. 2.). „Oratione D. Marci
cavetur, ut si Senatoris filia
libertino nupsisset, ncc nuptiae
essent: quam et Senatusconsul-
tum secutum est.” L. 16 de
spons. (23. 1.). „Oratio Impp.
Antonini et Commodi, quae
quasdam nuptias in persona
Senatorum inhibuit, de spon-
salibus nihil locuta est: recte
tamen dicitur, etiam sponsalia
in his casibus ipso jure nullius
esse momenti: ut suppleatur
quod orationi deest.” Vgl. L 3
§ 1 de don. int. vir. et ux. (24.
1.), L. 27 L. 34 § 3 de ritu
nupt. (23. 2.).
(g) Die Ausdehnung auf Schau-
ſpieler und deren Kinder kennt
ſchon Modeſtin. L. 42 § 1 de
ritu nupt. (23. 2.). Vollſtändi-
ger wurde der Rechtsſatz ausge-
bildet von Conſtantin (L. 1 C.
de natur. lib. 5. 27.), und deſ-
ſen Conſtitution wurde wieder nä-
her beſtimmt von Marcian (L. 7
C. dc incestis 5. 5.).
(h) Die angeführten Geſetze be-
ziehen die Nichtigkeit durchaus nur
|0541 : 527|
Infamie.
c) Daß vorher und nachher die Ehen freygeborner
Männer mit ehrloſen Frauen auf keine Weiſe nichtig wa-
ren, ſondern nur nicht die Vortheile verſchafften, welche
durch die L. Julia mit dem ehelichen Leben verknüpft wa-
ren: Vortheile, welche ſich auf die Fähigkeit bezogen, durch
den letzten Willen eines Verſtorbenen mehr oder weniger
zu erwerben.
IV.
Neuere Schriftſteller haben dieſen hiſtoriſchen Zuſam-
menhang der Eheverbote, auf welchen die häufigen Er-
wähnungen des Senatsſchluſſes unter Marc Aurel faſt
unvermeidlich hindeuten, zwar geahnet, aber ſo wenig klar
gedacht, daß dadurch die Verwirrung nur noch größer
geworden iſt. So Heineccius (a), welcher zuerſt ſagt, das
Eheverbot der L. Julia ſey blos eine Lex minus quam
perfecta geweſen, und erſt der Senatsſchluß von Marc
Aurel habe es zu einer perfecta gemacht und die Auflö-
ſung der Ehe vorgeſchrieben. Dann aber erklärt er auch
auf den Fall ehrloſer Gewerbe,
nicht auf die Ehrloſigkeit aus
einzelnen Handlungen. Daß ſie
hierauf in der That nicht bezogen
wurden, erhellt auch aus folgen-
der Stelle: L. 43 § 10 de ritu
nupt. (23. 2.). „Senatus cen-
suit, non conveniens esse ulli
Senatori, uxorem ducere aut
retinere damnatam publico ju-
dicio.” Wenn ein Senatuscon-
ſult nöthig war, um eine ſolche
Ehe für unanſtändig zu erklären,
und dadurch indirect zu verhin-
dern, ſo konnte ſie unmöglich ſchon
als nichtig angeſehen werden.
(a) Heineccius ad L. Jul. et
P. P. Lib. 2 Cap. 2 und Cap. 6.
— Im Weſentlichen findet ſich die-
ſelbe Anſicht, nur weniger ſcharf
ausgebildet, auch ſchon bey Ra-
mos ad L. Jul. et P. P. Lib. 2
Cap. 8.
|0542 : 528|
Beylage VII.
ſchon jenes urſprüngliche Verbot von wahrer, vollſtändi-
ger Nichtigkeit der Ehe, ſo daß für den ſchärfenden Se-
natsſchluß keine andere neue und eigenthümliche Wirkung
übrig bleibt, als die Ehegatten polizeylich aus einander
zu treiben, woran denn freylich das Römiſche Recht hierin
niemals gedacht hat.
Mit dieſen falſchen Grundanſichten der Neueren hän-
gen auch einige nicht unwichtige falſche Auslegungen ein-
zelner Stellen zuſammen. Dahin gehört der Anfang des
Inſtitutionentitels de nuptiis: Justas autem nuptias inter
se cives Romani contrahunt, qui secundum praecepta le-
gum coëunt. Hier ſollen praecepta legum die Vorſchrif-
ten der L. Julia und Papia Poppaea ſeyn. Daran kann
aber weder Juſtinian, noch der alte Juriſt, aus welchem
dieſe Stelle genommen ſeyn mag, gedacht haben. Erſtlich
weil in der That der Begriff der justae nuptiae von der
Beobachtung jener Vorſchriften unabhängig war (Num. III.);
zweytens weil, wenn es auch nicht ſo geweſen wäre, der
Begriff der justae nuptiae unmöglich als von dieſen Vor-
ſchriften allein abhängig dargeſtellt werden konnte, mit
Übergehung der weit wichtigeren Bedingungen des alten
jus civile. Daher ſind hier praecepta legum die Vor-
ſchriften des poſitiven Rechts überhaupt, ohne ſpeciellere
hiſtoriſche Andeutung. — Ferner gehört dahin eine ſchwie-
rige Stelle des Paulus in der Collatio (XVI. 3), worin
der Begriff der Sui heredes dahin beſtimmt wird, es ſeyen
die in väterlicher Gewalt ſtehenden Kinder, mit folgender
|0543 : 529|
Infamie.
näheren Beſtimmung: „nec interest, adoptivi sint, an na-
turales et secundum legem Juliam Papiamve quaesiti.”
Das ſoll heißen: „es gehören dahin ſowohl Adoptivkin-
der, als natürliche, dieſe letzten jedoch nur unter der
Vorausſetzung, daß ſie nach den Vorſchriften der L. Julia
erzeugt ſind.“ Dieſe Auslegung muß ſchon aus denſelben
zwey Gründen verworfen werden, welche ſo eben bey der
Inſtitutionenſtelle geltend gemacht wurden, nämlich weil
alsdann Paulus etwas Falſches ſagen, daneben aber etwas
Wahres und Wichtiges ungeſagt laſſen würde. Dazu
kommt hier noch der beſondere Grund, daß die Verbin-
dung durch et gar nicht auf eine Bedingung und Beſchraͤn-
kung des zweyten Falls der Sui, ſondern vielmehr auf die
Hinzufügung eines dritten Falls hindeutet. Paulus wollte
wahrſcheinlich ſagen: Sui ſind erſtlich die Adoptivkinder,
zweytens die (in rechter Ehe) natürlich erzeugten, drittens
diejenigen, welche durch eine causae probatio der väterli-
chen Gewalt unterworfen werden. Die Entwicklung und
Rechtfertigung dieſer Auslegung (wozu vielleicht auch eine
Änderung des Textes nöthig ſeyn dürfte) kann nur in Ver-
bindung mit ſehr weit führenden Unterſuchungen über die
Geſchichte der causae probatio nach Zeugniſſen des Gajus
und Ulpian aufgeſtellt werden.
V.
Vorzüglich wichtig für unſren Zweck iſt die ſpätere
Geſchichte dieſer Eheverbote.
II. 34
|0544 : 530|
Beylage VII.
Das allgemeine Verbot, welches für die Freygebornen
überhaupt, und in manchen Fällen auch für die Senato-
ren, ſtets nur gewiſſe Nachtheile im Vermögen bezweckte,
wurde durch mehrere Kaiſergeſetze beſeitigt, welche die
Strafen des Cölibats und der Orbität allgemein aufho-
ben (a); denn durch dieſe Aufhebung verlor jenes allge-
meine Verbot alle praktiſche Bedeutung.
Das ſpecielle Verbot, welches ſeit Marc Aurel die
Nichtigkeit der Ehen zwiſchen Senatoren und Freygelaſſe-
nen oder Schauſpielern u. ſ. w. bewirkt hatte, dauerte
fort bis auf Juſtinian. Dieſer entkräftete daſſelbe ſtu-
fenweiſe.
Zuerſt verordnete er, die Ehe zwiſchen einem Freyge-
bornen und einer Freygelaſſenen ſolle nicht dadurch un-
gültig werden, daß der Freygeborne ſpäterhin die ſena-
toriſche Würde erlange (b).
Dann erlaubte er den Senatoren die Ehe mit Schau-
ſpielerinnen, wenn nur dieſe ihrem bisherigen Gewerbe
entſagen würden (c).
(a) Tit. de infirmandis poenis
coelibatus etc., im Theodoſiſchen
Codex VIII. 16, im Juſtiniani-
ſchen VIII. 58.
(b) L. 28 C. de nupt. (5. 4.).
Nach den Worten dieſer Stelle
könnte man glauben, die L. Papia
ſelbſt habe ſchon die Nichtigkeit
ausgeſprochen; es iſt aber blos
ein ungenauer Ausdruck, der un-
ter dem Namen der L. Papia zu-
gleich die ſpäteren Zuſätze zu die-
ſem Geſetz befaßt.
(c) L. 29 C. de nupt. (5. 4.).
Dieſes war der L. Julia ſo ſehr
entgegen, daß dieſelbe das Ver-
bot ſogar auf die Kinder der
Schauſpieler ausdehnte, alſo auch
wenn dieſe Kinder nicht ſelbſt
Schauſpieler waren. Juſtinians
Neuerung wurde unmittelbar ver-
anlaßt durch den früheren Lebens-
lauf der regierenden Kaiſerin
Theodora.
|0545 : 531|
Infamie.
Endlich aber erlaubte er dem ſenatoriſchen Stande jede
Ehe ohne Ausnahme, unter der einzigen Bedingung, daß
dabey die Form ſchriftlicher Eheverträge beobachtet wer-
den ſollte (d).
Damit war denn jede Spur der durch die Lex Julia
eingeführten Eheverbote vertilgt, zugleich aber auch jede
praktiſche Bedeutung der Infamie in Anwendung auf das
weibliche Geſchlecht.
VI.
Wenn eine Wittwe innerhalb des Trauerjahrs (frü-
herhin 10 Monate) zur zweyten Ehe ſchreitet, ſo ſoll nach
der in den Digeſten enthaltenen Edictſtelle die Infamie ih-
ren Vater treffen, wenn ſie in deſſen Gewalt ſteht, ferner
ihren Mann, oder wenn derſelbe noch in väterlicher Ge-
walt ſteht, deſſen Vater (§ 77). Von ihr ſelbſt iſt im
Edict nicht die Rede, aber mehrere Stellen von Juriſten
und Kaiſern ſchreiben auch ihr die Infamie zu (§ 77. y).
Iſt nun ſchon dieſe Verſchiedenheit der Angaben einer Er-
klärung bedürftig, ſo drängen ſich bey genauerer Betrach-
tung noch folgende Fragen auf: wenn wirklich die ver-
letzte Trauerpflicht Grund dieſer Infamie iſt, ſollte nicht
die verletzte Trauer um manche andere Perſonen als den
Mann, namentlich um Eltern und Kinder, eine gleiche
(d) Nov. 117 C. 6. Die Ehe-
verträge waren nichts Beſonde-
res für dieſen Zweck, ſondern
durch Cap. 4 derſelben Novelle
als allgemeine Form für die Ehen
der Illustres vorgeſchrieben.
34*
|0546 : 532|
Beylage VII.
Folge haben? und eben ſo, abgeſehen von den Perſonen,
ſollte nicht auch auf andere Trauerverletzungen, als durch
die Ehe in der Trauerzeit, die Infamie herbeygeführt
werden?
Ehe ich in unſren Quellen Antwort auf dieſe Fragen
ſuche, will ich eine Bemerkung vorausſchicken, die der gan-
zen Unterſuchung einen feſteren Boden bereiten kann. Die
Ehe an ſich hat mit der Trauer gar nichts zu ſchaffen,
und durch ſie wird die Trauer gar nicht verletzt. Denn
eine Verletzung der Trauer liegt überhaupt nur in Hand-
lungen und Kennzeichen der Fröhlichkeit, welche allerdings
mit der ernſten Pietät gegen den Verſtorbenen im Wider-
ſpruch ſtehen (a); die Ehe aber kann in geſammleter Stille
des Gemüths geſchloſſen werden, und ſtört dann das An-
denken an den Verſtorbenen nicht, welches beſonders ein-
leuchtend iſt bey der Ehe, die von den verſtorbenen
Eltern der Frau ſelbſt gewünſcht und herbeygeführt wor-
den war. Beſtätigungen dieſer Anſicht liegen noch in fol-
genden Umſtänden. Wäre die Ehe an ſich eine Verletzung
der Trauerpflicht geweſen, ſo hätten die Frauen während
jeder Trauer, namentlich um Eltern und Kinder, eine
vacatio haben müſſen, das heißt die Befugniß einſtweilen
ehelos zu bleiben, ohne in die geſetzlichen Strafen des
(a) Paulus I. 21 § 14. „Qui
luget, abstinere debet a convi-
viis, ornamentis, purpura, et
alba veste.” Die Stelle iſt aus
dem Breviarium: nur das Wort
purpura fehlt in den gewöhnli-
chen Handſchriften, und iſt aus
dem Cod. Vesontinus zugeſetzt,
von deſſen Bedenklichkeit weiter
unten die Rede ſeyn wird.
|0547 : 533|
Infamie.
Cölibats zu verfallen, weil ſonſt widerſinnigerweiſe die
Frau durch jeden möglichen Entſchluß in irgend eine der
ihr von zwey Seiten her drohenden Strafen verfallen
wäre. Allein eine ſolche vacatio gab einer Frau nur allein
der Tod ihres Ehegatten (b), nicht der ihrer Verwandten;
alſo muß auch die Ehe nicht als eine ſtrafbare Verletzung
der Trauerpflicht gegen die Verwandten angeſehen wor-
den ſeyn. — Ferner wird gerade umgekehrt die Trauer
einer Frau abgekürzt (d. h. ausnahmsweiſe beendigt) da-
durch daß ſie ſich verlobt (c): wenn alſo nun auf das
Verlöbniß die Ehe ſelbſt folgt, ſo geſchieht dieſes ja zu
einer Zeit, worin die Trauer bereits beendigt iſt, die alſo
dadurch nicht mehr verletzt werden kann. — Auch werden
in dem Geſetz, welches über dieſen Gegenſtand dem Numa
zugeſchrieben wird, beide Vorſchriften als verſchiedene ne-
ben einander geſtellt: Verſtorbene eine beſtimmte Zeit lang
zu betrauern, und nach dem Tod des Ehemannes einige
Zeit hindurch eine neue Ehe zu vermeiden (d). — Endlich
läßt ſich auch leicht erklären, wie die Verwechslung ent-
ſtanden iſt, wozu die Veranlaſſung in der That nahe lag.
Der Prätor erklärte die übereilte zweyte Ehe für einen
(b) Ulpian. tit. XIV. „Femi-
nis lex Julia a morte viri anni
tribuit vacationem, a divortio
sex menses: lex autem Papia
a morte viri biennium, a re-
pudio annum et sex menses.”
(c) Festus s. v. „Minuitur
populo luctus aedis dedicatione
… privatis autem, cum liberi
nati sunt … cum desponsa est”
rel.
(d) Plutarch. Numa C. 12.
Über die verſchiedenen Verſuche,
das Geſetz des Numa herzuſtel-
len, d. h. den praktiſchen Sinn
jener Stelle zu fixiren, vgl. Dirk-
ſen Verſuche S. 331.
|0548 : 534|
Beylage VII.
Grund der Infamie, und er gebrauchte zur Beſtimmung
des Begriffs einer übereilten Ehe denjenigen Zeitraum,
worin der Sitte nach die Wittwe ihren Mann in der Re-
gel zu betrauern hatte (e). Es lag nun ſehr nahe, das-
jenige, was hier als Zeitbeſtimmung für den Fall der In-
famie dienen ſollte, als den Grund der Strafbarkeit an-
zuſehen, da doch dieſer Grund lediglich in der Gefahr
lag, daß für ein bald nachher gebornes Kind der wahre
Erzeuger ungewiß werden konnte.
Die Richtigkeit dieſer Anſicht wird von Ulpian durch
folgende Äußerungen ganz außer Zweifel geſetzt. Er ſagt
ausdrücklich, daß die im Edict vorkommende Erwähnung
der Trauer eine bloße Zeitbeſtimmung ſey (f), und er be-
ſtätigt dieſe Behauptung durch zwey ganz entſcheidende Fol-
gerungen: erſtlich, daß die Infamie nicht dadurch abge-
wendet wurde, wenn etwa der Verſtorbene die Ehre der
Trauer (z. B. durch Hochverrath oder durch Selbſtmord
aus Furcht vor einer Strafe) verwirkt hatte (g); zwey-
tens, daß umgekehrt das Verbot und die Infamie ganz
wegfiel, wenn die Wittwe nach des Mannes Tod ein
Kind geboren hatte, weil dadurch, wenngleich die Trauer-
zeit noch nicht abgelaufen war, dennoch die turbatio san-
guinis unmöglich wurde (h). Eine eben ſo nothwendige
(e) „intra id tempus, quo
„elugere virum moris est, an-
„tequam virum elugeret.”
(f) L. 11 § 1 ds his qui not.
(3. 2.). „Praetor enim ad id
tempus se retulit, quo vir elu-
geretur qui solet elugeri, pro-
pter turbationem sanguinis.”
(g) L. 11 § 1. 3 de his qui
not. (3. 2.).
(h) L. 11 § 2 de his qui not.
„Pomponius eam, quae intra
|0549 : 535|
Infamie.
Folge jener Grundanſicht aber war es, daß die Trauer
um Eltern oder Kinder niemals als Hinderniß der Ehe
angeſehen werden konnte (i).
VII.
Das bisher gewonnene Reſultat iſt nunmehr durch an-
dere ſichere Nachrichten auf folgende Weiſe zu ergänzen.
Es gab nach uralter Sitte, die man auf Geſetze des
Numa zurückführte, zwey verſchiedene, jedoch verwandte
Regeln.
1) Nach dem Tode eines Ehemannes ſoll die Wittwe
Zehen Monate lang (erſt von den Kaiſern auf Zwölf Mo-
nate erweitert) ohne neue Ehe bleiben. Verletzt ſie dieſe
Regel, ſo ſollen die dazu mitwirkenden Männer (der neue
Gatte, und nach Umſtänden die beiderſeitigen Väter welche
einwilligen) infam ſeyn. Gewiß wurde dieſe Verletzung
vor Allem der Wittwe ſelbſt als etwas ganz Unehrbares
angerechnet. Als infam konnte man dieſelbe nicht betrach-
ten, ſo lange die Infamie überhaupt eine blos politiſche
Bedeutung hatte.
2) Nahe Verwandte ſollen betrauert werden, indem
der Trauernde jeden Schmuck der Kleidung, ſo wie die
Theilnahme an Gaſtmählern vermeidet. Dieſe Trauer
ward wahrſcheinlich von jeher nur für gewiſſe Fälle als
legitimum tempus partum edi-
derit, putat statim posse nu-
ptiis se collocare: quod verum
puto.”
(i) L. 11 pr. de his qui not.
(3. 2.). „Liberorum autem et
parentium luctus impedimento
nuptiis non est.”
|0550 : 536|
Beylage VII.
ſtrenge Pflicht betrachtet, für andere Fälle blieb ſie der
freyen Pietät überlaſſen; die Gränze aber iſt nicht für
alle Zeiten mit Sicherheit zu beſtimmen (a). In der Kai-
ſerzeit (vielleicht auch ſchon früher) traf dieſe Pflicht über-
haupt nur Frauen, nicht Männer, obgleich auch darüber
eine abweichende, aber als vereinzelt bezeichnete Meynung
erwähnt wird (b). Ferner waren die Frauen damals zur
(a) Vielleicht gab es nicht ein-
mal ganz feſte Gränzen, auch
waren ſie entbehrlich, ſo lange
die Trauerpflicht nicht durch die
Strafe der Infamie (die freylich
nie ohne feſte Gränzen ſeyn konn-
te), ſondern durch das ſehr freye
Ermeſſen der Cenſoren geſchützt
war, welches auch ſpäterhin ne-
ben der Infamie ergänzend ein-
treten konnte. Vgl. Niebuhr
B. 2 S. 450 ed. 2 und 3.
(b) Fragm. Vat. § 321 (wahr-
ſcheinlich aus Paulus ad edi-
ctum): „Parentem inquit. Hic
omnes parentes accipe utrius-
que sexus: nam lugendi eos
mulieribus moris est. Quam-
quam Papinianus lib. II. quae-
stionum etiam liberis virilis
sexus lugendos esse dicat; quod
nescio ubi legerit.” Vielleicht
erklärt ſich dieſes etwas auffal-
lende Schwanken der Meynungen
dadurch, daß in einzelnen Fällen
auch Söhne wegen Verletzung der
Trauer um die Eltern von den
Cenſoren notirt worden waren
(Rote a). Die hier angeführte
und getadelte Stelle des Papinian
iſt uns merkwürdigerweiſe aufbe-
wahrt. L., 25 pr. de his qui not.
(3. 2.). „Papinianus lib. II. quae-
stionum. Exheredatum quoque
filium luctum habere patris me-
moriae placuit. Idemque et in
matre juris est, cujus heredi-
tas ad filium non pertinet.” —
Gegen die Trauerpflicht der Män-
ner ſpricht auch Seneca epist. 63.
„Annum feminis ad lugendum
constituêre, non ut tamdiu, sed
ne diutius: viris nullum legiti-
mum tempus est, quia nullum
honestum.” Das letzte mag eben
ſo für redneriſche Übertreibung
gelten, wie die Behauptung, daß
das Trauerjahr der Frauen nur
als Maximum zu verſtehen ſey;
allein der Unterſchied beider Ge-
ſchlechter in Beziehung auf die
Trauer liegt doch als unzweifel-
hafte Thatſache in dieſer Stelle.
— Eben dahin gehört L. 9 pr.
de his qui not. (3. 2.). „Uxo-
res viri lugere non compellen-
tur.” — Endlich auch, und ganz
beſonders, die Worte mulieribus
remittuntur in L. 15 C. ex quib.
c. inf. (vgl. unten Num. IX. b).
|0551 : 537|
Infamie.
Trauer verpflichtet nur bey dem Tod des Ehemannes,
aller Aſcendenten, und aller Deſcendenten ohne Unter-
ſchied (c); in früherer Zeit wahrſcheinlich auch bey dem
Tod naher Seitenverwandten (d). — Die Verletzung die-
ſer Pflicht galt natürlich als Impietät und ſehr unehr-
bar, als Infamie konnte ſie bey den allein verpflichteten
Frauen nicht gelten, ſo lange die Infamie noch ein blos
politiſches Inſtitut war.
Als aber die Lex Julia, durch die Auslegung der Ju-
riſten vollſtändig entwickelt, die Infamie auch auf Frauen
anwendbar machte (Num. II.), mußte ſich dieſes ändern,
und es war nun ganz natürlich, daß die Wittwe durch
übereilte Ehe, ſo wie jede Frau durch Verletzung der
Trauerpflicht, infam wurde. Dieſe neuen Fälle der In-
famie in das prätoriſche Edict einzutragen, war eigentlich
kein beſonderes Bedürfniß vorhanden: dennoch iſt es ge-
ſchehen (Num. II.).
Und als endlich in Folge der Juſtinianiſchen Geſetzge-
bung die Infamie ihre Anwendbarkeit auf Frauen wie-
derum verlor (Num. V.), mußten auch dieſe Fälle der
Anwendung wieder verſchwinden. So erklärt es ſich auf
ganz natürliche Weiſe, daß bey der Aufnahme des Edicts
über die Infamie in die Digeſten, jene ſeit der L. Julia
(c) Fragm. Vat. § 320 (Worte
des Edicts) „quae virum, paren-
tem, liberosve suos, uti mos
est, non eluxerit.”
(d) Festus v. minuitur „…
privatis (minuitur luctus) … cum
propiore quis cognatione, quam
is qui lugetur, natus est.” Vgl.
Klenze, Zeitſchrift für geſchicht-
liche Rechtswiſſenſch. B. 6 S. 33.
S. auch unten Num. IX. c.
|0552 : 538|
Beylage VII.
neu zugeſetzten Fälle wieder weggelaſſen wurden. Strenge
genommen, hätte nun auch in den Stellen der Juriſten
und in den Kaiſerconſtitutionen jede Spur jenes Rechts-
ſatzes verwiſcht werden müſſen. Daß dieſes nicht geſchah,
ſondern vielmehr viele ſolche Spuren noch jetzt vorhanden
ſind (§ 77. y), erklärt ſich hinlänglich aus der Art wie
unſre Compilationen entſtanden ſind, und läßt ſich über-
dem auf zu viele Analogieen anderer Rechtslehren zurück-
führen, als daß daraus ein Zweifel gegen die Richtigkeit
unſrer hiſtoriſchen Zuſammenſtellung hergenommen wer-
den könnte.
VIII.
Erſt nach dieſen Vorbereitungen iſt es möglich, von
dem Inhalt unſrer Rechtsquellen in Beziehung auf die zu-
letzt behandelten Fragen deutliche Rechenſchaft zu geben.
Wir beſitzen nämlich, an zwey verſchiedenen Orten, Stel-
len des Edicts über die übereilte Ehe und über die ver-
letzte Trauer: beide Stellen ſind in der Hauptſache von
unzweifelhafter Ächtheit, theilweiſe wörtlich übereinſtim-
mend, in anderen Stücken ſehr abweichend: die eine, wo-
von ſchon bisher beſtändig Gebrauch gemacht wurde, in
den Digeſten aus Julianus lib. I. ad edictum (L. 1 de his
qui not.); die andere in den Vaticaniſchen Fragmenten
aus dem Commentar eines Ungenannten, wahrſcheinlich
Paulus lib. V. ad edictum (a). Daneben haben wir noch
(a) Aus einem Commentar über das Edict iſt die Stelle au-
|0553 : 539|
Infamie.
eine wiederum abweichende, dem Paulus zugeſchriebene
Stelle. Ich will es verſuchen, dieſe Widerſprüche zu er-
klären, und zu dieſem Zweck zunächſt die beiden Überlie-
ferungen aus dem Edict zuſammenſtellen.
L. 1 de his qui not. inf.
Infamia notatur ......... Fragm. Vaticana § 320.
A. Qui eam, quae in potestate
ejus esset, genero mortuo,
cum eum mortuum esse
sciret,
intra id tempus, quo eluge-
re virum moris est, ante-
quam virum elugeret,
in matrimonium colloca-
verit: A. Et qui eam, quam in po-
testate habet, genero mor-
tuo, cum eum mortuum
esse sciret,
in matrimonium colloca-
verit:
B. Eamve sciens quis uxorem
duxerit,
non jussu ejus in cujus
potestate est: B. Eamve sciens uxorem du-
xerit;
C. Et qui eum, quem in pote-
state haberet, eam, de qua
supra comprehensum est,
uxorem ducere passus fu-
erit. C. Et qui eum, quem in pote-
state haberet, earum quam
uxorem ducere passus fu-
erit
D. Quae virum, parentem, li-
berosve suos, uti mos est,
non eluxerit;
genſcheinlich. Da nun darin Pa-
pinian angeführt und widerlegt
wird, ſo haben wir nur die Wahl
zwiſchen Ulpian und Paulus. Ich
halte den letzten für den wahr-
ſcheinlichen Verfaſſer, weil Ulpian
in L. 23 de his qui not. (3. 2.)
dieſelbe Frage von einer anderen
Seite aufzufaſſen ſcheint. Doch
gebe ich zu, daß bey der Dürf-
tigkeit der auf uns gekommenen
Excerpte, worin wir alle verbin-
dende Zwiſchenſätze vermiſſen, je-
ner Umſtand nicht ganz entſchei-
dend iſt.
|0554 : 540|
Beylage VII.
E. Quae cum in parentis sui
potestate non esset, viro
mortuo, cum eum mortuum
esse sciret, intra id tem-
pus, quo elugere virum mo-
ris est, nupserit.
Zunächſt werde ich diejenigen Verſchiedenheiten berüh-
ren, die ich für unbedeutend halte, und mich dabey, wie
bey der ganzen Erklärung, der Buchſtaben bedienen, wo-
durch ich die einzelnen Fälle der Infamie von einander
abzuſondern geſucht habe.
Darauf wird wohl Niemand Werth legen, daß in der
ganzen Stelle der Vaticaniſchen Fragmente, mit Einſchluß
des im § 321 folgenden Commentars, das Wort Infamia
gar nicht vorkommt; das Excerpt fängt erſt nach der Er-
wähnung der Infamie an, und daß es wirklich aus dem
prätoriſchen Verzeichniß der Infamen hergenommen iſt,
wird durch die großentheils wörtliche Übereinſtimmung mit
den Digeſten ganz unzweifelhaft.
Eben ſo halte ich für unbedeutend den Umſtand, daß
in den Vaticaniſchen Fragmenten unter A und B Stücke
fehlen, die zum Theil ganz unentbehrlich ſind, wenn das
Edict nicht völlig unſinnige Beſtimmungen enthalten haben
ſoll. Dieſe Stücke ſind, wie ich glaube, nicht von den
Abſchreibern weggelaſſen worden, ſondern von dem Epi-
tomator ſelbſt, und zwar nicht ſowohl aus Gedankenloſig-
keit, als weil er unter A, B und C nur im Allgemeinen
|0555 : 541|
Infamie.
den Gedankengang bezeichnen wollte, um den Zuſammen-
hang der Fälle D und E mit dem Vorhergehenden an-
ſchaulich zu machen; denn daß es ihm hauptſächlich auf
den Inhalt dieſer zwey letzten Fälle ankam, iſt unverkenn-
bar, indem er in dem folgenden § aus dem Commentar
des Juriſten blos eine Stelle über den Fall D mittheilt.
Aus derſelben abſichtlichen Abkürzung des Epitomators er-
kläre ich mir bey C die Verwandlung der umſtändlichen,
aber unſtreitig ächten, Worte: eam de qua supra com-
prehensum est, in die kurzen: earum quam, die nicht ein-
mal genau paſſen, indem in den Stellen unter A und B
durchaus kein Motiv für den Pluralis earum aufzufinden
iſt. Der Sinn iſt uͤbrigens in beiden Stellen derſelbe
(„eine ſolche“), und es erklärt ſich ſehr gut, wie aus der
umſtändlicheren Bezeichnung des wirklichen Edicttextes die
Abkürzung willkührlich gemacht werden konnte, anſtatt daß
die umgekehrte Verwandlung ganz unerklärlich ſeyn würde.
Die wichtigſte Frage aber iſt dieſe: ſollen die Stellen
C und D, wie ich es glaube, in der That zwey getrennte,
unabhängige Faͤlle darſtellen, oder iſt in ihnen nur ein
einziger Fall enthalten, ſo daß die Worte quae virum ..
non eluxerit blos die Ergänzung der vorhergehenden Worte
earum quam ſind?
Nach meiner Annahme ſind infam: C der Vater des
neuen Ehegatten, D jede die Trauerpflicht verletzende Frau,
wobey denn durchaus nicht an Ehe gedacht wird.
Nach der entgegengeſetzten Annahme iſt infam: der
|0556 : 542|
Beylage VII.
Vater eines Mannes, welcher eine die Trauer verletzende
Frau heurathet (b).
Die Gründe für meine Meynung ſind folgende:
1) Die entgegengeſetzte iſt nur moͤglich unter Voraus-
ſetzung der Worte earum quam (weil dieſe zu dem vor-
hergehenden ſowohl als zu dem nachfolgenden conſtruirt
werden können), die aber, wie ich bereits gezeigt habe,
nicht dem Prätor, ſondern dem Epitomator angehören.
Nach den ächten Worten der Digeſten iſt dieſe Erklärung
völlig unmöglich, weil nun die Worte nur allein als auf
das Vorhergehende zurückweiſend verſtanden werden koͤnnen.
(b) Dieſe Meynung findet ſich
bey Wenck praef. ad Hauboldi
opuscula Vol. I. p. XXXII.
XXXIII. Er kommt darauf ganz
conſequent, indem er von der
Vorausſetzung ausgeht, das Edict
ſo wie wir es kennen (in den Va-
ticanen ſowohl als in den Dige-
ſten) zähle überall nur Männer
als Infame auf, keine Frauen,
da es ja überhaupt nur an die
Unfähigkeit der Infamen zum Po-
ſtuliren denke. Auf eine Erklä-
rung der großen Verſchiedenheit
unter den beiden Texten läßt er
ſich gar nicht ein. — Eigentlich
läßt ſich nun dieſe Meynung noch
in zwey Geſtalten denken, je nach-
dem man die Infamie des Schwie-
gervaters als Folge anſieht 1) ent-
weder von der während der Trau-
erzeit geſchloſſenen Ehe, 2) oder
von einem Trauerbruch, deſſen ſich
einmal die Frau in irgend einer
früheren Zeit, durch welche Hand-
lung es auch ſey, ſchuldig gemacht
hat. Die letzte Deutung ſchließt
ſich mehr an die Worte an (quae
… non eluxerit). Man muß es
dann ſo verſtehen: durch den
Trauerbruch ſey die Frau für
ihr ganzes Leben infam gewor-
den, und wenn ſie nachmals heu-
rathete, ſo ſey auch der Mann
oder deſſen Vater in Infamie ver-
fallen. Dieſes iſt wirklich die Mey-
nung von Wenck p. XXXIII, aber
eine ſolche anſteckende Kraft der
Infamie iſt nun vollends ganz
unerhört, ohne irgend eine Ana-
logie, ja im Widerſpruch mit ganz
ſicheren Zeugniſſen. Denn wenn
z. B. ein Senator durch die Ehe
mit einer Schauſpielerin infam
geworden (alſo aus dem Senat
getreten) wäre, warum hätte man
denn ganz unnützerweiſe dieſe Ehe
auch noch für nichtig erklärt (L. 42
§ 1 de ritu nupt. 23. 2.)?
|0557 : 543|
Infamie.
2) Wären die Worte earum quam wirklich der ächte
Text, ſo müßte ſich das „quae … eluxerit” auf earum
beziehen, alſo im Pluralis ausgedrückt ſeyn, wie es jetzt
nicht iſt.
3) In der Handſchrift ſteht vor quae virum ein leerer
Raum, welcher auf den Anfang eines ganz neuen Falls,
nicht auf die bloße Fortſetzung eines angefangenen Satzes
deutet.
4) Die entgegengeſetzte Meynung ſetzt voraus, daß durch
die bloße Ehe die Trauer um Eltern und Kinder verletzt
werde, wozu durchaus kein Grund vorhanden iſt (Num. VI.).
5) Geſetzt aber auch, die Verletzung jeder Trauer
durch die bloße Ehe wäre wahr, ſo würde dennoch die
entgegengeſetzte Meynung, wegen des gänzlichen Mangels
an praktiſchem Zuſammenhang, aufgegeben werden müſſen.
Denn es wäre alsdann für ehrlos erklärt der Vater eines
Mannes, der eine die Trauer verletzende Frau geheura-
thet hätte. Nicht nur wäre dieſe Strenge an ſich ſelbſt
kaum begreiflich, ſondern ſie würde noch unbegreiflicher
dadurch, daß der Vater der Frau, und der neue Ehemann
ſelbſt (im Fall der Unabhängigkeit von väterlicher Ge-
walt) von einer gleichen Strenge nicht betroffen würden;
denn dieſe beiden ſollen nach A und B infam werden, nur
wenn die Wittwe vor Ablauf der Trauerzeit heurathet,
nicht wenn blos die Trauer um Eltern oder Kinder ver-
letzt iſt. Soll man nun etwas ſo Widerſinniges für mög-
lich halten?
|0558 : 544|
Beylage VII.
Ganz dieſelbe Streitfrage wiederholt ſich bey dem
Fall E, welcher nach meiner Meynung die Ergänzung
von A. B. C iſt. In dieſen drey Regeln waren bey einer
übereilten Ehe die mitwirkenden Männer für infam er-
klärt, die Regel E erſtreckt die Infamie auch auf die
Frau ſelbſt.
Nach der anderen Meynung iſt auch dieſes Stück nur
noch als eine nähere Beſtimmung des earum quam anzu-
ſehen, folglich abermals auf den Schwiegervater der Frau
zu beziehen (c). Dagegen ſprechen zunächſt alle ſchon bey
D ausgeführte Gründe. Dazu kommt aber noch der neue,
ganz entſcheidende Grund, daß dann der Schwiegervater
nur infam werden ſollte, wenn die Frau frey von väter-
licher Gewalt wäre; aber ſeine Schuld, indem er die
ſträfliche Ehe ſeines Sohnes zuläßt, iſt ja voͤllig dieſelbe,
die Schwiegertochter mag in väterlicher Gewalt ſtehen
oder nicht. Alles, was nach der hier widerlegten Mey-
nung unter E mit der ſchleppendſten Wiederholung geſagt
ſeyn ſoll, ſteht in der That ſchon im Edict in den kurzen
und verſtändlichen Worten, welche wir unter C in den
Digeſten leſen: eam de qua supra comprehensum est.
IX.
Die Verſchiedenheit beider hier zuſammen geſtellten
Texte des Edicts über die Infamie iſt zum Theil bereits
(c) So verſteht es wieder (durch
ſeine Grundanſicht genöthigt)
Wenck p. XXXIII, der deshalb
bey dem zweyten quae (nicht bey
dem erſten) die erklärende Pa-
rentheſe hinzufügt: i. e. quaeve.
|0559 : 545|
Infamie.
aus dem Verfahren des Epitomators erklärt worden, von
welchem die Vaticaniſchen Fragmente herrühren; ein an-
derer Theil, und gerade der weſentlichere, beſteht in den
Fällen der Infamie (D und E), welche in den Fragmenten
ſtehen, in den Digeſten aber ganz fehlen. Dabey fällt
natürlich jene Erklärung weg, indem der Epitomator nach
eigenem Gutdünken Stücke weglaſſen, aber nicht zuſetzen
konnte. Die vollſtändige Darlegung des hiſtoriſchen Zu-
ſammenhangs wird jene Verſchiedenheit erklärlich machen.
So lange die Infamie ein blos politiſches Inſtitut
war, konnte ſie auf Frauen nicht bezogen werden. Durch
die Lex Julia und deren Auslegung wurde ſie auf Frauen
anwendbar (Num. II.), und nun betrachtete man unter an-
dern als infam die Frauen, welche irgend eine ſtrenge
Trauerpflicht verletzt hatten, und eben ſo diejenigen, welche
vor Ablauf von Zehen Monaten nach dem Tod ihres Man-
nes eine neue Ehe ſchloſſen. Dieſe neuen Fälle wurden
auch in das Edict eingeſchrieben (Num. VII.), und zwar
als neue Zuſätze hinter diejenigen alten Fälle, womit ſie
am meiſten Ähnlichkeit hatten. Die Geſtalt des Edicts,
welche ans dieſer Einſchaltung hervorgieng, erkennen wir
aus den Vaticaniſchen Fragmenten (Num. VIII.), und es
wird nunmehr klar, warum der Fall E erſt hinter den
Fällen A, B, C, und ſogar getrennt von ihnen, einge-
ſchoben iſt, da er dem innern Zuſammenhang nach neben
jenen Fällen, ja ſogar vor denſelben ſeine richtige Stelle
gefunden hätte. Ohne Zweifel hätte er dieſe erhalten,
II. 35
|0560 : 546|
Beylage VII.
wenn er ſchon bey der erſten Abfaſſung des Edicts hätte
aufgenommen werden können.
In der Folge aber ereignete ſich hierin eine ſehr wich-
tige Veränderung. Ein Senatsſchluß aus unbekannter
Zeit (a) trennte die zwey für Frauen neu aufgenommenen
Fälle der Infamie. Die Verletzung der Trauerpflicht (ohne
darum gebilligt zu werden) ſollte hinfort keine rechtlichen
Folgen mehr nach ſich ziehen, alſo nicht mehr infami-
ren: dagegen wurde bey der übereilten Ehe die Infamie
der Frau und des neuen Ehemannes beſtätigt (b). Der
hieraus hervorgehende Rechtszuſtand iſt ſehr beſtimmt aus-
geſprochen in einer Stelle des Ulpian, worin die Trauer
allgemein, und ohne Unterſchied der Geſchlechter, als eine
bloße Sache der Pietät, ohne rechtliche Folgen, insbeſon-
dere ohne die Folge der Infamie, dargeſtellt wird (c).
(a) Allzu ſpät können wir den-
ſelben ſchon deswegen nicht an-
ſetzen, weil überhaupt kein ſiche-
res Senatusconſult aus der Zeit
nach Severus vorhanden iſt.
(b) L. 15 C. ex quib. causis
inf. (2. 12.). „Imp. Gordia-
nus. Decreto amplissimi ordi-
nis luctu foeminarum deminu-
to, tristior habitus ceteraque
hoc genus insignia, mulieribus
remittuntur: non etiam intra
tempus, quo his elugere mari-
tum moris est, matrimonium
contrahere permittitur: cum
etiam, si nuptias alias intra
hoc tempus secuta est, tam ea,
quam is qui sciens eam duxit
uxorem, etiamsi miles sit, per-
petuo Edicto labem pudoris con-
trahat. 239.” Das heißt: in die-
ſem zweyten Fall ſoll es bey der
im Edict (nach ſeiner neueſten Er-
gänzung) angedrohten Infamie
verbleiben, im erſten Fall ſoll die-
ſelbe nicht mehr gelten.
(c) L. 23 de his qui not. (3.
2.). „Parentes, et liberi utri-
usque sexus, nec non et ceteri
agnati vel cognati, secundum
pietatis rationem et animi sui
patientiam, prout quisque vo-
luerit, lugendi sunt: qui autem
eos non eluxit, non notatur in-
famia.” Der hier ausgedrückte
Gedanke kann ſo entwickelt und
|0561 : 547|
Infamie.
Bey der völligen Übereinſtimmung dieſer Stelle mit dem
erwähnten Senatsſchluß iſt es unbegreiflich, daß in der-
ſelben neuere Schriftſteller eine Interpolation der Compi-
latoren wahrzunehmen glauben konnten (d).
Man konnte nunmehr auch das Edict von Neuem än-
dern, und den Fall D wieder wegſtreichen. Daß es nicht
geſchehen iſt, zeigt der in den Vaticaniſchen Fragmenten
aufbewahrte Text. Der Senatsſchluß fiel ohne Zweifel
in eine Zeit, worin Änderungen im Text des Edicts im-
mer ſeltner wurden, und endlich ganz aufhörten; auch
hatte er ſelbſt ſo viel Anſehen und Publicität, daß von
der unveränderten Stelle des Edicts kein Misbrauch zu
befürchten war. Blieb aber jene antiquirte Stelle dennoch
im Text des Edicts ſtehen, ſo darf es uns auch nicht be-
fremden, daß Paulus oder einer ſeiner Zeitgenoſſen ſie
noch commentirte. Ohne Zweifel bemerkte er hinterher,
daß der Senat die Infamie für dieſen Fall aufgehoben
habe, obgleich dieſe Bemerkung in dem kleinen Excerpt
aus jenem Commentar zufällig nicht mit vorkommt.
Ganz anders ſtellte ſich die Sache unter Juſtinian.
ergänzt werden: In früherer Zeit
war die Trauer in einigen Fäl-
len eine ſtrenge Pflicht, und zu-
letzt ſogar durch die Strafe der
Infamie geſchützt; in anderen
Fällen war ſie ſchon damals bloße
Gewiſſensſache, namentlich für
trauernde Männer, und bey ver-
ſtorbenen Seitenverwandten (vgl.
Num. VII. d). Seit dem neue-
ſten Senatsſchluß fallen alle dieſe
Unterſchiede weg, und die Trauer
iſt nunmehr, für alle erwähnte
Fälle gleichmäßig, bloße Gewiſ-
ſensſache geworden. — Es iſt
durchaus kein Grund vorhanden,
in dieſer Stelle irgend eine In-
terpolation anzunehmen.
(d) So z. B. Cujacius, ob-
serv. Lib. 21 C. 12.
35*
|0562 : 548|
Beylage VII.
Unter ihm hatte die Infamie wieder, wie im älteſten Recht,
alle Anwendbarkeit auf die Frauen verloren (Num. V.).
Nun war es natürlich, daß man aus dem Text des Edicts
über die Infamen (L. 1 de his qui not.) die Fälle, welche
nur die Frauen betrafen, wiederum wegſtrich, und ſo er-
klärt ſich die Abweichung der beiden uns überlieferten Texte
auf die einfachſte Weiſe.
X.
Die Edictſtelle, da wo ſie vollſtändiger in den Dige-
ſten erhalten iſt (Num. VIII.), bietet noch eine beſon-
dere, bisher nicht berührte Schwierigkeit dar in folgenden
Worten:
Qui eam, quae in potestate ejus esset, genero mor-
tuo, cum eum mortuum esse sciret, intra id tempus
quo elugere virum moris est, antequam virum elugeret,
in matrimonium collocaverit.
Die hier curſiv gedruckten Worte werden von Jedem
auf den erſten Anblick mit collocaverit verbunden werden,
ſo daß darin beſtimmt wäre die Zeit, innerhalb welcher
die Ehe geſchloſſen ſeyn müßte, um für den Schwieger-
vater die Infamie zu bewirken. Dennoch muß aus zwey
Gründen dieſe Erklärung verworfen werden. Erſtlich,
weil alsdann jene Worte eine vollkommen müßige Wie-
derholung in ſich ſchließen würden: denn die Worte intra
id … moris est, ſagen (ſo verſtanden) genau daſſelbe wie
die folgenden antequam virum elugeret. Zweytens weil
|0563 : 549|
Infamie.
die vorhergehenden Worte cum eum mortuum esse sciret
offenbar auf den Gegenſatz eines Falles ſchuldloſer Un-
wiſſenheit hindeuten, von welchem die Infamie abgewen-
det werden ſoll (a). Dieſer unſchuldige Fall würde ſo ge-
dacht werden müſſen, daß der Vater glaubte, ſein erſter
Schwiegerſohn ſey noch am Leben. Allein bey dieſem Ge-
danken wäre ja die Handlung des Vaters noch weit ſchlech-
ter, indem er dann die Abſicht hätte, eine Bigamie ſei-
ner Tochter zu veranlaſſen.
Dieſe Schwierigkeiten verſchwinden, wenn man die an-
geführten Worte in zwey, durch Sinn und Conſtruction
getrennte Theile aufloͤſt. Die Worte antequam virum elu-
geret gehoͤren in der That zu collocaverit, und haben den
oben erklärten Sinn. Allein die vorhergehenden Worte
gehören als nähere Beſtimmung zu mortuum esse, und
ſollen folgenden Gedanken ausdrücken:
Nur dann wird der einwilligende Vater infam, wenn
er wußte, daß der Tod ſeines Schwiegerſohnes in einen
ſolchen Zeitpunkt falle, ſeit welchem die Trauerzeit noch
nicht abgelaufen war. Ein Irrthum über dieſen Um-
ſtand macht ſeine Einwilligung ſchuldlos.
Geſetzt alſo, der Schwiegerſohn war in den Krieg ge-
zogen, und hatte ſeitdem keine Nachricht gegeben. Nach
anderthalb Jahren wird ſein Tod gemeldet, mit dem Zu-
ſatz, er ſey ſchon einen Monat nach der Abreiſe umge-
(a) L. 8 de his qui not. (3. 2.).
„Merito adjecit Praetor, cum
eum mortuum esse sciret, ne
ignorantia puniatur.”
|0564 : 550|
Beylage VII.
kommen: dieſer Zuſatz aber iſt irrig, und der Tod war
vielmehr erſt vor einem Vierteljahr erfolgt. Wenn jetzt
die Wittwe auf der Stelle eine zweyte Ehe ſchließt, ſo
kann ſie und den Vater kein Vorwurf treffen, weil ihnen
die noch nicht abgelaufene Trauerzeit unbekannt war: was
ſie thaten, war, unter Vorausſetzung der von ihnen ge-
glaubten Thatſachen, ganz erlaubt (b).
Dieſe Erklärung drängt ſich nur darum nicht auf den
erſten Blick als richtig auf, weil es dabey nöthig iſt, die
Worte mortuum esse intra id tempus auf den rückwärts
liegenden Zeitraum zu beziehen, was jedoch ſowohl mit
dem Gedanken, als mit den Worten, völlig vereinbar iſt.
Übrigens iſt dieſelbe ſchon längſt auf ganz befriedigende
Weiſe dargeſtellt worden (c).
(b) L. 8 de his qui not. (3. 2.)
„sed cum tempus luctus con-
tinuum est, merito et ignoranti
cedit ex die mortis mariti: et
ideo si post legitimum tempus
cognovit, Labeo ait, ipsa die
et sumere eam lugubria et de-
ponere.” Was hier zunächſt von
der eigentlichen Trauer geſagt iſt,
gilt eben ſo auch von der Zeit,
worin eine neue Ehe unterblei-
ben muß: ja in dieſer Beziehung
allein wird es von Ulpian ange-
führt. — Für dieſe ganze Erklä-
rung iſt es freylich nöthig, in der
eben angeführten commentiren-
den Stelle die Worte cum eum
mortuum esse sciret ſo aufzu-
faſſen, als ob die folgenden Worte
intra id tempus … moris est
noch dahinter geſetzt wären (gleich
als wenn hinter sciret ein etce-
tera ſtände), ſonſt iſt der Unſinn
unvermeidlich, daß der Vater ta-
dellos ſeyn ſollte, wenn er zur
Zeit der zweyten Ehe den erſten
Schwiegerſohn noch am Leben
glaubte.
(c) Rücker Observ. C. 1 hin-
ter deſſen Diss. de civ. et nat.
temp. comput. C. 1. Lugd. Bat.
1749. — Auch Wenck l. c. p.
XXXIV — XXXVI hat dieſen
Punkt richtig aufgefaßt.
|0565 : 551|
Infamie.
XI.
Ich komme nun auf ein ſehr abweichendes altes Zeug-
niß von der aus der Trauerverletzung entſtehenden Infa-
mie. Es iſt dieſes die Stelle des Paulus Lib. 1 Tit. 21,
welche ſo lautet:
§ 13. Parentes et filii majores sex annis anno lugeri
possunt: minores mense: maritus decem mensibus:
et cognati proximioris gradus octo: Qui contra fe-
cerit, infamium numero habetur.
§ 14. Qui luget, obstinere debet a conviviis, orna-
mentis, purpura, et alba veste.
Wenn wir zuerſt den Inhalt des § 13 betrachten, ſo
iſt darin Weniges, was nicht mit den ſicherſten Nachrich-
ten, und namentlich mit dem in den Vaticanen § 321 excer-
pirten Commentar über das Edict (wahrſcheinlich von Pau-
lus) in Widerſpruch ſtände, welches um ſo bedenklicher
iſt, als der § 321 durch die Übereinſtimmung mit dem Ge-
ſetz des Numa bey Plutarch unterſtützt wird. Zuerſt das
sex annis, da es heißen muß decem; man hat vorgeſchla-
gen zu emendiren decem, was aber nur heißt den Scha-
den von Einer Seite zudecken. Ferner das anno, was
neben den nachher bey dem Ehemann folgenden 10 Mo-
naten nur heißen kann 12 Monate: der § 321 ſpricht
zwar auch von einem annus, erklärt dieſen aber ſogleich,
und mit überzeugenden Gründen, von dem alten zehenmo-
natlichen Jahr. Ferner das possunt, welches auf ein blo-
|0566 : 552|
Beylage VII.
ßes Verbot längerer Trauer zu deuten ſcheint, und zu der
nachfolgenden Infamie gar nicht paßt. Weiter das mense,
da doch die Kinder unter 10 Jahren mit eben ſo viel
Monaten betrauert wurden, als ſie Jahre zählten, jedoch
von 3 Jahren abwärts nur noch mit Halbtrauer (sublu-
getur), unter einem Jahr gar nicht mehr. Dann die
Cognaten, von welchen der § 321 gar Nichts ſagt, und
die Edictſtelle ſelbſt (im § 320) auch Nichts. Endlich die
unbedingte Drohung der Infamie, ohne Unterſchied des
Geſchlechts, da doch die Männer deshalb nie von der In-
famie betroffen wurden, die Frauen aber zur Zeit des
Paulus gleichfalls davon befreyt waren (Num. VII.) (a).
Dieſe Widerſprüche würden als eben ſo viele unauf-
lösliche Räthſel gelten müſſen, wenn die äußere Autorität
der angeblichen Stelle des Paulus feſt ſtände; dieſe iſt
alſo nunmehr zu prüfen. Hier müſſen wir zuerſt den
§ 13 völlig trennen von dem (ſchon oben benutzten) § 14,
welcher, mit Ausnahme des gleichgültigen Wortes pur-
pura, in allen Handſchriften des Breviarii ſteht, und un-
zweifelhaft ächt iſt; auch macht ſein Inhalt keine Schwie-
rigkeit, da er nur einige Beſtimmungen über die Art des
(a) Um der bedenklichſten Schluß-
ſtelle nothdürftig abzuhelfen, hat
man verſchiedene Wege eingeſchla-
gen. Herm. Cannegieter observ.
p. 203 will anſtatt: infamium nu-
mero habetur leſen: numero
ō habetur, was heißen ſoll: non
habetur. Allein dieſes ō als Sigle
für non kommt ſonſt nirgends vor.
— Jo. Cannegieter de notis
p. 350 emendirt das qui contra
fecerit in quae. — Bynkershoek
observ. V. 13 meynt, dieſer letzte
Satz rühre von Anian her. Allein
daß im Weſtgothiſchen Reich die In-
famie für den Trauerbruch wieder
neu eingeführt ſeyn ſollte, iſt ge-
rade das Allerunwahrſcheinlichſte.
|0567 : 553|
Infamie.
Trauerns enthält, die auch noch nach Aufhebung der In-
famie als Stück der alten Sitte füglich erwähnt werden
konnten. Der § 13 aber rührt her aus dem räthſelhaften
Codex Vesontinus, einer Handſchrift des Paulus, die
Cujacius aus der Stadtbibliothek zu Beſanzon erhalten
hatte (b), und von welcher er leider nicht ſagt, was ſie
enthielt, ob blos den Paulus (was wohl ſonſt nicht leicht
vorkommen wird), oder das ganze Breviarium. Höchſt
verdächtig wird die Sache dadurch, daß die vielen aus
jener Handſchrift zuerſt mitgetheilten Stellen in den zahl-
reichen, zum Theil uralten, anderen Handſchriften des
Breviarii durchaus fehlen.
Halten wir dieſe äußeren Gründe zuſammen mit dem
oben dargelegten ſehr bedenklichen Inhalt des § 13, ſo
ſind wir wohl berechtigt, den ſogenannten Codex Veson-
tinus für einen in unbekannter Zeit ſehr ſtark überarbei-
teten und entſtellten alten Text zu erklären, deſſen einzelne
Stellen, da wo ſie mit anderen ſicheren Zeugniſſen in
Widerſpruch ſtehen, auf keine Autorität Anſpruch machen
können.
(b) Cujacius erwähnt dieſe
Handſchrift zuerſt im 21. Buch der
Obſervationen (1579), worin er
zugleich viele neue Stellen aus
derſelben mittheilt. Er ſagt da-
von Cap. 13: Superiores sen-
tentias dedi ex libro vetustis-
simo Sententiarum Pauli ad me
Vesontione perlato, und Cap. 16:
in optimo libro quem Vesontio
dedit civitas nobilissima mihi-
que amicissima. In den Text
aufgenommen wurden alle dieſe
Stellen zuerſt in der Ausgabe des
Paulus hinter dem Codex Theo-
dosianus Paris. 1586 fol.
II. 36
|0568 : 554|
Beylage VII.
XII.
Über die Infamie der unzüchtigen Frauen (quaestum
corpore facientes) iſt Folgendes anzumerken. Das ur-
ſprüngliche Edict nannte ſie natürlich nicht, weil es über-
haupt keine Frauen nannte. Die Lex Julia nannte ſie
unter denjenigen, welchen die Ehe mit einem Senator und
deſſen männlichen Nachkommen unterſagt war (a). Es iſt
aber kaum zu zweifeln, daß auch mit bloßen Freygebor-
nen ihre Ehe unzuläſſig war, obgleich dieſes nicht aus-
drücklich geſagt iſt. Dafuͤr ſpricht erſtlich die anerkannt
gleiche Verächtlichkeit dieſes Gewerbes mit dem der Kupp-
lerwirthſchaft, für welches jene Unzuläſſigkeit unmittelbar
ausgeſprochen war (b); zweytens die Ausnahme zu Gun-
ſten derjenigen Freygelaſſenen, welche in ihrem früheren
(a) Ulpian. XIII. § 1 vgl. oben
Num. II. — Man könnte einen
Zweifel hernehmen aus der wört-
lich in die Digeſten aufgenomme-
nen Stelle des Geſetzes über die
Frauen denen die Ehe mit den
Senatoren unterſagt war (L. 44
pr. de ritu nupt. 23. 2.), denn
in dieſer Stelle finden ſich jene
Frauen nicht. Aber es war ja
das auch nur ein einzelnes Ka-
pitel der Lex Julia, in dem fol-
genden (zufällig nicht auch excer-
pirten) mögen ſie geſtanden ha-
ben. Ulpian dagegen wollte eine
vollſtändige Überſicht der Verbote
geben, nur nicht mit den Worten
des Geſetzes. Daß das Geſetz
wirklich davon ſprach, erhellt deut-
lich aus L. 43 de ritu nupt. (23.
2.), die aus Ulpians Commentar
zur Lex Julia genommen iſt, und
worin der Begriff des quaestum
facere ausführlich erörtert wird.
(b) L. 43 § 6 de ritu nupt.
(23. 2.). Lenocinium facere non
minus est, quam corpore quae-
stum exercere.” Indem der Ju-
riſt blos denen widerſpricht, die
etwa das lenocinium für weni-
ger ſchändlich als den eigenen
quaestus halten möchten, erkennt
er die ohnehin ausgemachte äu-
ßerſte Schändlichkeit dieſes quae-
stus deutlich an.
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Infamie.
Sklavenſtand ein ſolches Gewerbe getrieben hatten (c).
Dieſe Ausnahme konnte nur Sinn haben unter der Vor-
ausſetzung, daß in anderen Fällen den unzüchtigen Frauen
die Ehe mit Freygebornen für immer unterſagt ſey: auf
Senatoren konnte ſie ſich nicht beziehen, da dieſen die Ehe
mit allen Freygelaſſenen, auch den ehrbarſten, ohnehin
verboten war.
Wahrſcheinlich wurden nunmehr jene Frauen in das
Edict, welches das Verzeichniß aller Infamen enthielt,
mit aufgenommen, bey der Abfaſſung der Digeſten aber
aus denſelben Gründen, wie alle andere Frauen, wieder
weggelaſſen.
XIII.
Das Gewerbe der Kuppeley, von Männern getrieben,
ſtand ſchon im urſprünglichen Edict unter den Fällen der
Infamie; Frauen von gleichem Gewerbe konnten dabey
nicht erwähnt ſeyn. Die Lex Julia unterſagte allen Frey-
gebornen die Ehe mit Kupplerinnen, imgleichen mit frey-
gelaſſenen Frauen, die von einem Kuppler oder einer
Kupplerin manumittirt waren (a). Bey den Ehen der Se-
natoren waren die Kupplerinnen nicht erwähnt, aber man
ſchloß auf die Unzuläſſigkeit ſolcher Ehen aus der Gleich-
(c) L. 24 de his qui not. (3. 2.).
„Imp. Severus rescripsit, non
offuisse mulieris famae quae-
stum ejus in servitute factum.”
(a) Ulpian. XIII. § 2 vgl. oben
Num. II. — Es iſt auffalle[nd,] daß
in dieſem Fall die freygelaſſenen
Sklavinnen infam waren, wäh-
rend ſie es nicht ſeyn ſollten,
wenn ſie auf eigene Rechnung im
Stlavenſtand Unzucht getrieben
hatten (Num. XII. c).
36*
|0570 : 556|
Beylage VII.
heit dieſes Gewerbes mit dem der eigenen Unzucht (b).
Jetzt wurde wahrſcheinlich auch dieſer Fall in das Edict
über die Infamen aufgenommen.
Auf dieſen Fall bezieht ſich eine Erzählung aus der
Zeit des Tiberius, die von der äußerſten Verſunkenheit
des Zeitalters Zeugniß giebt (c). Vornehme Frauen un-
ternahmen förmlich die Kuppeley als Gewerbe „ut ad evi-
tandas legum poenas jure ac dignitate matronali exsol-
verentur.” Welche Vortheile konnten ſie von dieſer Schänd-
lichkeit erwarten? Zuerſt machten ſie ſich fähig, freyge-
laſſene Sklaven, die ihnen gefielen, zu heurathen, was
ihnen außerdem die von der Lex Julia mit einer in ihrem
Sinn gültigen Ehe verknüpften Vortheile nicht hätte ver-
ſchaffen können (d); allein das heißt nicht ad evitandas le-
gum poenas. Zweytens wurden die unverheuratheten
Frauen dadurch ſicher, für eigene Unzucht nicht nach der
Lex Julia de adulteriis beſtraft werden zu können, denn
das Verbrechen des stuprum (auch wohl adulterium ge-
nannt) bezog ſich nur auf ſolche Frauen, die bis zu die-
ſer Handlung ihre Matronenehre nicht verwirkt hatten (e);
dieſer Fall war ohne Zweifel gemeynt, denn man fand es
noͤthig, durch ein beſonderes Senatusconſult dem Verbre-
(b) Vgl. Num. XII. b.
(c) Suetonius, Tiber. C. 35.
(d) Daß die Tochter eines Se-
nators, wenn ſie ſich ſelbſt ehr-
los machte, dadurch zur Ehe mit
einem Freygelaſſenen fähig wurde,
ſagt ausdrücklich L. 47 de ritu
nupt. (23. 2.); „impune liber-
tino nubit,” d. h. ſie wird dadurch
frey von den geſetzlichen Strafen
des Cölibats.
(e) L. 13 pr. § 2 ad L. Jul.
de adult. (48. 5.).
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Infamie.
chen dieſen Ausweg zu verſperren (f). Drittens gehörte
dahin der Vortheil, daß die Frauen ſich dadurch unfähig
machten, fernerhin irgend eine im Sinn der Lex Julia
gültige Ehe, ſelbſt mit einem gemeinen Freygebornen, zu
ſchließen; vom Standpunkt dieſes Geſetzes aus konnte ih-
nen alſo auch nicht mehr ein freywilliger Cölibat zum
Vorwurf und zur Strafe gereichen, da ihnen durch daſ-
ſelbe Geſetz in ihrer gegenwärtigen Lage die Ehe mit
allen Männern (außer etwa mit Freygelaſſenen) unmög-
lich gemacht war. Dieſe Berechnung ſcheint faſt übertrie-
ben raffinirt; und dennoch muß ſie wirklich angeſtellt wor-
den ſeyn (ſo daß die Stelle des Sueton zugleich auch auf
dieſen Vortheil zu beziehen iſt), weil man ſelbſt dagegen
vorbauende Maasregeln nöthig fand. Sueton. Domitia-
nus C. 8. „Probrosis feminis lecticae usum ademit: jus-
que capiendi legata hereditatesque.” Dieſe Worte ſind
gewiß am einfachſten ſo zu erklären: „den ehrloſen Frauen
ſollte nicht mehr der Vorwand zu gut kommen, daß ſie in
einem durch ihre Infamie erzwungnen Cölibat lebten, ſon-
dern ſie ſollten eben ſo, wie freywillig Eheloſe, ganz un-
fähig ſeyn, Teſtamentserbſchaften und Legate zu er-
werben.“
Damit ſtehen auch noch einige, meiſt misverſtandene,
Digeſtenſtellen in Verbindung. In der Regel war der
(f) L. 10 § 2 ad L. Jul. de
adult. (48. 5.). „Mulier, quae
evitandae poenae adulterii gra-
tia lenocinium fecerit, aut ope-
ras suas in scenam locaverit,
adulterii accusari damnarique
ex Senatusconsulto potest.”
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Beylage VII.
Erwerb aus dem Teſtament eines Soldaten durch den
Coͤlibat des Erben oder Legatars nicht beſchränkt (g).
Dieſe Regel blieb im Allgemeinen anwendbar auch bey
denjenigen Frauen, die durch ihr ſittenloſes Leben in Be-
ziehung auf andere Teſtamente gegen die Strafe des Coͤ-
libats keinen Schutz finden ſollten. Für den Fall aber,
daß eine ſolche Frau mit dem Soldaten ſelbſt (dem Te-
ſtator) in unzüchtigem Umgang gelebt hatte, verordnete
Hadrian, daß die Incapacität auch bey dem Soldatente-
ſtament eintreten ſollte.
L. 41 § 1 de test. mil. (29. 1.). „Mulier, in quam
turpis suspicio cadere potest, nec ex testamento mi-
litis aliquid capere potest, ut D. Hadrianus re-
scripsit.”
Der Inhalt dieſes Reſcripts wird auch in folgender
Stelle anerkannt und außer Zweifel geſetzt.
L. 14 de his quae ut ind. (34. 9.). „Mulierem, quae
stupro cognita in contubernio militis fuit … non
admitti ad testamentum jure militiae factum, et id
quod relictum est ad fiscum pertinere, proxime tibi
respondi.”
Hier iſt alſo eine Einwirkung der alten Grundſätze
von der Incapacität noch auf das Juſtinianiſche Recht
ſichtbar. Nur muß man dieſe Stellen, wie es in ſo vie-
len ähnlichen Fällen nöthig iſt (§ 41), aus dem Zuſam-
(g) Gajus II. § 111. (Vergl. L. 19 § 2 de castr. pec. (49. 17.),
L. 5 C. de test. mil. (6. 21.).
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Infamie.
menhang, in welchem ſie urſprünglich gedacht waren, in
den neuen Zuſammenhang der Juſtinianiſchen Geſetzgebung
übertragen. Was alſo urſprünglich als Incapacität ge-
meynt war, iſt jetzt als Indignität zu denken, ſo daß ſich
das urſprüngliche caducum von ſelbſt in ein ereptorium
(bey den Neueren ereptitium) verwandelt.
Gedruckt bei den Gebr. Unger.
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