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|0007 : [I]|

Syſtem

des

heutigen Römiſchen Rechts

von

Friedrich Carl von Savigny.

Zweyter Band.

Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.

 Berlin.

Bei Veit und Comp.

 1840.

 

|0008 : [II]|

|0009 : [III]|

Inhalt des zweyten Bandes.

Zweytes Buch. Die Rechtsverhältniſſe.

Zweytes Kapitel. Die Perſonen als Träger der Rechts-

verhältniſſe.

 

Seite.

§. 60. Natürliche Rechtsfähigkeit und deren poſitive Mo-

dificationen 1

§. 61. Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. I. Anfang 4

§. 62. Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. I. An-

fang. (Fortſetzung.) 12

§. 63. Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. II. Ende 17

§. 64. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung 23

|0010 : IV|

Inhalt des zweyten Bandes.

Seite.

§. 65. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit 30

§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der

Civität 38

§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Abhängig-

keit von Familiengewalt 49

§. 68. Dreyfache capitis deminutio 60

§. 69. Wirkungen der capitis deminutio 69

§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.) 79

§. 71. Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähig-

keit und capitis deminutio 90

§. 72. Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähig-

keit und capitis deminutio. (Fortſetzung.) 104

§. 73. Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähig-

keit und capitis deminutio. (Fortſetzung.) 121

§. 74. Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähig-

keit und capitis deminutio. (Fortſetzung.) 134

§. 75. Heutige Anwendbarkeit der Lehre von der Rechts-

fähigkeit und der capitis deminutio 148

§. 76. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Infamie.

Einleitung 170

§. 77. Einzelne Fälle der Infamie 173

§. 78. Juriſtiſche Bedeutung der Infamie 186

§. 79. Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.) 195

§. 80. Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.) 201

§. 81. Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.) 209

|0011 : V|

Inhalt des zweyten Bandes.

Seite.

§. 82. Nebenwirkungen der Infamie 215

§. 83. Heutige Anwendbarkeit der Lehre von der Infamie 224

§. 84. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Religion 231

§. 85. Juriſtiſche Perſonen. Begriff 235

§. 86. Juriſtiſche Perſonen. Arten 242

§. 87. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte 246

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung) 253

§. 89. Juriſtiſche Perſonen. Entſtehung und Untergang 275

§. 90. Juriſtiſche Perſonen. Rechte 281

§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.) 285

§. 92. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.) 294

§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.) 299

§. 94. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.) 310

§. 95. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.) 317

§. 96. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung 324

§. 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.) 329

§. 98. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.) 339

§. 99. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.) 345

§. 100. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.) 352

§. 101. Juriſtiſche Perſonen. Fiscus 360

§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften 363

§. 103. Verſchiedenheiten in der Verknüpfung der Rechts-

verhältniſſe mit den Perſonen 374

|0012 : VI|

Inhalt des zweyten Bandes.

Seite.

Beylage III. Die Vitalität eines Kindes, als Bedingung

ſeiner Rechtsfähigkeit 385

Beylage IV. Über die Wirkſamkeit der von Römiſchen Skla-

ven contrahirten Obligationen 418

Beylage V. Über die Schuldenfähigkeit einer filiafamilias 430

Beylage VI. Status und Capitis deminutio 443

Beylage VII. Über einige zweifelhafte Punkte in der Lehre

von der Infamie 516

|0013|

|0014|

|0015 : [1]|

Zweytes Kapitel.

Die Perſonen als Träger der Rechtsverhältniſſe.

§. 60.

Natürliche Rechtsfähigkeit und deren poſitive

Modificationen.

Jedes Rechtsverhältniß beſteht in der Beziehung einer

Perſon zu einer andern Perſon. Der erſte Beſtandtheil

deſſelben, der einer genaueren Betrachtung bedarf, iſt die

Natur der Perſonen, deren gegenſeitige Beziehung jenes

Verhältniß zu bilden fähig iſt. Hier iſt alſo die Frage

zu beantworten: Wer kann Träger oder Subject eines

Rechtsverhältniſſes ſeyn? Dieſe Frage betrifft das moͤg-

liche Haben der Rechte, oder die Rechtsfähigkeit,

nicht das mögliche Erwerben derſelben, oder die Hand-

lungsfähigkeit, welche erſt in einem folgenden Ab-

ſchnitt betrachtet werden wird (§ 106).

 

In dem Rechtsverhältniß aber ſteht eine beſtimmte

Perſon in Beziehung bald zu einer gleichfalls beſtimmten

einzelnen Perſon, bald unbeſtimmt zu allen anderen Men-

ſchen (§ 58). Die gegenwärtige Unterſuchung kann ihrer

 

II. 1

|0016 : 2|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Aufgabe nach nur die beſtimmten Perſonen in den Rechts-

verhältniſſen betreffen, da zu dem blos negativen Verhält-

niß, in welchem Alle einem Einzelnen, z. B. einem Ei-

genthümer, gegenüber ſtehen, ein Jeder als fähig anzu-

ſehen iſt.

Alles Recht iſt vorhanden um der ſittlichen, jedem ein-

zelnen Menſchen inwohnenden Freyheit willen (§ 4. 9.

52) (a). Darum muß der urſprüngliche Begriff der Per-

ſon oder des Rechtsſubjects zuſammen fallen mit dem Be-

griff des Menſchen, und dieſe urſprüngliche Identität bei-

der Begriffe läßt ſich in folgender Formel ausdrücken:

Jeder einzelne Menſch, und nur der einzelne Menſch, iſt

rechtsfähig.

 

Indeſſen kann dieſer urſprüngliche Begriff der Perſon

durch das poſitive Recht zweyerley, in der aufgeſtellten

Formel bereits angedeutete, Modificationen empfangen,

einſchränkende und ausdehnende. Es kann nämlich erſtens

manchen einzelnen Menſchen die Rechtsfähigkeit ganz oder

theilweiſe verſagt werden. Es kann zweytens die Rechts-

fähigkeit auf irgend Etwas außer dem einzelnen Menſchen

übertragen, alſo eine juriſtiſche Perſon künſtlich gebil-

det werden.

 

Der gegenwärtige Abſchnitt ſoll nun zuerſt die Grän-

zen der in ihrem urſprünglichen oder natürlichen Begriff

 

(a) L. 2 de statu hom. (1.5.):

„Cum igitur hominum causa

omne jus constitutum sit; pri-

mo de personarum statu .. di-

cemus.”

|0017 : 3|

§. 60. Natürliche Rechtsfähigkeit.

aufgefaßten Perſon feſtſtellen, dann aber die zwiefachen

Modificationen angeben, wodurch in unſrem poſitiven

Recht dieſer natürliche Begriff umgebildet worden iſt.

Zum Schluß iſt noch die verſchiedene Weiſe zu er-

wähnen, in welcher das einzelne Rechtsverhältniß mit be-

ſtimmten Perſonen verknüpft werden kann.

 

 

1*

|0018 : 4|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 61.

Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. I. Anfang.

Der Anfang der natürlichen Rechtsfähigkeit iſt bedingt

durch die Geburt, das heißt durch die vollſtändige Tren-

nung eines lebenden Menſchen von der Mutter.

 

Dieſe wird von uns gegenwärtig betrachtet in ihrer

wichtigſten Beziehung, nämlich als Bedingung anfangen-

der Rechtsfähigkeit für den gebornen Menſchen ſelbſt. Die

bedeutendſten Anwendungen, wodurch ſich dieſer Anfang

im Privatrecht augenblicklich wirkſam zeigt, auch wenn

das Leben gleich nachher wieder aufhört, ſind dieſe: 1) das

frühere Teſtament des Vaters, worin dieſes Kind nicht

berückſichtigt iſt, wird durch die Geburt vernichtet; 2) die

Inteſtaterbſchaft des vor der Geburt verſtorbenen Vaters

wird dem Kinde im Augenblick der Geburt erworben. Um

dieſer beiden Wirkungen willen iſt es beſonders wichtig,

die wirkliche, vollſtändige Geburt von der blos ſcheinba-

ren genau zu unterſcheiden. Andere juriſtiſche Ereigniſſe

werden für den Neugebornen nicht leicht in dieſen erſten

Augenblicken ſeines Daſeyns eintreten, ſondern erſt in ir-

gend einer ſpäteren Zeit, worin ohnehin an dem wahren

menſchlichen Daſeyn jenes Gebornen nicht mehr gezweifelt

werden kann. — Aber nicht blos für die eigene Rechts-

fähigkeit des Gebornen war im früheren Römiſchen Recht

jene genaue Unterſcheidung wahrer und ſcheinbarer Ge-

 

|0019 : 5|

§. 61. Anfang der Rechtsfähigkeit.

burt von Wichtigkeit, ſondern auch im Intereſſe der Mut-

ter, welcher manche wichtige Vortheile durch die Geburt

von Kindern entſtehen konnten, und zwar auf zweyerley

Weiſe: bald indem ſie dadurch Begünſtigungen erlangte

in Vergleichung mit ſonſt geltenden allgemeinen Rechtsre-

geln (a), bald indem ſie von einer Zurückſetzung gegen all-

gemeine Rechtsregeln befreyt wurde. Das erſte kann man

Belohnungen der Kinderzeugung nennen, das zweyte aber

Befreyung von Strafen für den Mangel an Kindern. Bey-

ſpiele der Belohnungen für die Mutter ſind dieſe. Erſt-

lich die hereditas im Vermögen der Kinder nach dem Sc.

Tertullianum: dieſe war eine Begünſtigung gegen die bis

dahin beſtehende Inteſtaterbfolge, und die Mutter ſollte

dieſes Vorrecht nur genießen, wenn ſie drey Kinder (eine

Freygelaſſene Vier) geboren hatte (b). Zweytens der Er-

werb der Civität für jede Latina, die drey Kinder gebo-

ren hatte (c). Endlich die Befreyung von der Tutel, un-

ter welcher ſonſt alle Frauen ihres Geſchlechts wegen ſte-

hen ſollten (d). — Als Befreyung von einer Strafe wurde

(a) Hier kommt alſo der Be-

griff von jus singulare zur An-

wendung (§ 16).

(b) § 2. 4 J. de Sc. Tertull.

(3. 3.). Paulus IV. 9. § 1.

(c) Ulpian. III. § 1, nach ei-

nem Senatusconſult.

(d) Gajus I. § 194. 195. Ul-

pian. XXIX. § 3. — Viele Fälle

ſolcher Belohnungen und Straf-

befreyungen gehören nicht hier-

her, indem ſie vorausſetzen, daß

das Kind noch lebe, oder doch

längere Zeit gelebt habe, in wel-

chen Fällen gar nicht das Bedürf-

niß der Unterſcheidung wahrer und

ſcheinbarer Geburten vorkommt.

Vgl. pr. J. de excus. (1. 25.).

Ulpian. III. § 3. XV. XVI. § 1.

Daher erſcheint bey dem Vater

dieſe Frage nur in ſeltenen An-

wendungen, und hat alſo gar nicht

dieſelbe Wichtigkeit wie bey der

Mutter. Eine ſolche Anwendung

|0020 : 6|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

angeſehen die wichtige Regel, nach welcher Frauen durch

die Geburt von Drey oder Vier Kindern (Drey bey Frey-

gebornen, Vier bey Freygelaſſenen) das Recht zur Er-

werbung von Teſtamentserbſchaften erlangten; die dadurch

aufgehobene Unfähigkeit war Strafe, da vor der Lex Julia,

nach allgemeinen Rechtsregeln, die Fähigkeit der Frauen

von dieſer Seite her keiner Einſchränkung unterworfen ge-

weſen war. — Man möchte glauben, der Begriff der wah-

ren Geburt wäre überall derſelbe, ohne Unterſcheidung

dieſer daran geknüpften Wirkungen. So iſt es aber in

der That nicht; vielmehr wurde es bey der Befreyung

von Strafen damit weniger genau genommen, als bey

den Belohnungen, und bey der eigenen Rechtsfähigkeit des

Kindes: ohne Zweifel, weil jene Strafen überhaupt etwas

Gehäſſiges hatten, weshalb man ſie einzuſchränken ſuchte,

ſoweit es die Worte der Geſetze nur immer zuließen.

Erſt nach dieſer Vorbereitung iſt es moͤglich, den oben

aufgeſtellten Begriff wahrer Geburt in ſeine Elemente zu

zerlegen. Es gehört dazu: 1) Trennung von der Mut-

ter, 2) vollſtändige Trennung, 3) Leben des Gebor-

nen nach der vollſtändigen Trennung, 4) menſchliche

Natur deſſelben.

 

1) Das Kind muß von der Mutter getrennt ſeyn,

alſo außerhalb derſelben exiſtirt haben. Die zu dieſer

Trennung angewendeten Mittel ſind gleichgültig; daher iſt

 

auch auf den Vater findet ſich bey

Ulpian. XV. „et quandoque li-

beros habuerint, ejusdem par-

tis proprietatem.”

|0021 : 7|

§. 61. Anfang der Rechtsfähigkeit.

eine künſtliche, gewaltſam bewirkte Geburt von der na-

türlichen juriſtiſch nicht unterſchieden (e). Sogar hatte

deshalb ein Geſetz der alten Könige ausdrücklich vorge-

ſchrieben, daß nach dem Tod einer ſchwangeren Frau der

Leichnam geöffnet werden ſollte, um wo möglich das Le-

ben des Kindes zu retten (f).

(e) Für das Recht des ſo ge-

bornen Kindes iſt das ganz un-

zweifelhaft. L. 12 pr. de liberis

(28. 2.). „Quod dicitur filium

natum rumpere testamentum,

natum accipe etsi exsecto ven-

tre editus sit: nam et hic rum-

pit testamentum, scilicet si na-

scatur in potestate.” L. 6 pr.

de inoff. (5. 2.). L. 1 § 5 ad

Sc. Tertull. (38. 17.). — Aber

wird dieſes Kind auch zum Vor-

theil der Mutter angerechnet?

Ulpian bejaht die Frage. L. 141

de V. S. (50. 16.). „Etiam ea

mulier, cum moreretur, credi-

tur filium habere, quae exciso

utero edere possit.” Paulus

verneint ſie. L. 132 § 1 de V.

S.. „Falsum est eam peperisse,

cui mortuae filius exsectus est.”

Wahrſcheinlich ſprach Ulpian von

der Anwendung von Strafen, z. B.

wenn die Mutter zweyer Kinder

eine Teſtamentserbſchaft antrat,

und nach ihrem Tode wurde das

dritte Kind durch Öffnung des

Leichnams zur Welt gebracht, ſo

galt ſie als Mutter dreyer Kin-

der, und ihre Antretung war nun

gültig. Paulus dagegen ſprach

von einem Fall der Belohnung,

z. B. die Latina, die bey ihrem

Tode erſt zwey Kinder hatte, ſollte

nicht durch das nach ihrem Tod

geborne in die Lage kommen, als

hätte ſie durch drey Kinder die

Civität erworben; ſie ſollte alſo

keine Erben hinterlaſſen können.

Gezwungener, aber doch nicht

völlig verwerflich, ſcheint mir die

Combination der L. 141 cit. mit

L. 51 § 1 de leg. 2 (31 un.) und

L. 61 de cond. (35. 1.). — Vgl.

überhaupt Schulting, notae ad

Digesta, in L. 141 cit. — Bey

der Erklärung der hier angeführ-

ten und ähnlicher Pandektenſtel-

len hat man ungebührliches Ge-

wicht auf den Umſtand gelegt, daß

dieſelben aus einem Commentar

über die Lex Julia herrührten,

und deshalb ſtets annehmen wol-

len, ſie müßten von einem in die-

ſem Volksſchluß erwähnten Fall

reden, den man dann auszumit-

teln ſuchte. Das iſt aus zwey

Gründen verwerflich; erſtens, weil

unſre Kenntniß von dem Inhalt

der Lex Julia ſehr mangelhaft

iſt, zweytens weil der alte Com-

mentator ſehr wohl neben einer

Regel der Lex Julia auch andere,

verwandte Fälle erörtern konnte.

(f) L. 2 de mortuo infer.

(11. 8.).

|0022 : 8|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

2) Dieſe Trennung muß eine vollſtändige ſeyn (g).

 

3) Das ſo geborne Weſen muß nach der Trennung

gelebt haben (h). Wenn alſo während einer langwieri-

gen Geburt das Kind Zeichen des Lebens giebt, aber ſtirbt

bevor es ganz außer der Mutter exiſtirte, ſo hat es nie-

mals Rechtsfähigkeit gehabt. Noch weniger hat es ſolche

haben können, wenn es ſchon vor dem Anfang der Ge-

burt todt war, ſey es nun zu früh geboren (abortus) (i),

oder zwar ausgetragen, aber im Mutterleibe geſtorben (k).

— Durch welches Zeichen das Leben außer Zweifel ge-

ſetzt werden kann, iſt gleichgültig. Früher behaupteten

manche Rechtslehrer, das Kind müſſe nothwendig ge-

ſchrieen haben, allein Juſtinian hat dieſe Meynung aus-

drücklich verworfen (l). Eben ſo iſt die Dauer des Le-

 

(g) L. 3 C. de posthumis (6.

29.) „perfecte natus … ad or-

bem totus processit.”

(h) L. 3 C. de posthumis (6.

29.) „vivus .. natus est.” —

Paulus IV. 9 § 1 „vivos pa-

riant.” In dieſer letzten Stelle

iſt nicht von der Rechtsfähigkeit

des Kindes die Rede, ſondern von

einer Belohnung der Mutter.

(i) L. 2 C. de posthumis (6.

29.). „Uxoris abortu testamen-

tum mariti non solvi.”

(k) L. 129 de V. S. (50. 16.).

„Qui mortui nascuntur, neque

nati, neque procreati videntur:

quia nunquam liberi appellari

potuerunt.” Dieſer Satz iſt ſicher

wahr für die eigene Rechtsfähig-

keit des Kindes: eben ſo auch

für die Belohnungen der Mut-

ter, z. B. das Erbrecht nach dem

Sc. Tertullianum (Paulus IV. 9

§ 1); von welchem dieſer Fälle

der Juriſt reden wollte, läßt ſich

nicht beſtimmen, da die Überſchrift

der Stelle (Paulus lib. 1. ad L.

Jul. et Pap.) hierüber nicht ſicher

entſcheiden kann (Note e). Da-

gegen iſt der Satz ſicher nicht an-

genommen worden bey den Stra-

fen der Kinderloſigkeit, welches

aber erſt unten, bey dem Erfor-

derniß der menſchlichen Natur des

Kindes, klar gemacht werden kann

(Note s).

(l) L. 3 C. de posthumis (6. 29.).

|0023 : 9|

§. 61. Anfang der Rechtsfähigkeit.

bens gleichgültig, ſo daß auch dasjenige Kind Rechtsfä-

higkeit erlangt hat, welches augenblicklich nach der Ge-

burt verſtorben iſt (m).

4) Endlich muß das ſo geborne lebende Weſen, um

rechtsfähig zu ſeyn, menſchliche Natur haben, welche

nur aus der menſchlichen Geſtalt erkannt werden kann;

die Römer drücken das ſo aus: es muß kein monstrum

oder prodigium ſeyn. Dieſes Erforderniß gilt für des

Kindes Rechtsfähigkeit und für die Belohnungen, nicht für

die Abwendung der Strafen: durch dieſe Unterſcheidung

ſind die ſcheinbaren Widerſprüche in unſren Rechtsquellen

aufzulöſen. — Für die Rechtsfähigkeit wird dieſe Regel

ganz klar ausgeſprochen (n), und eben ſo für einen der

wichtigſten Fälle der Belohnungen, das Sc. Tertullia-

num (o); es wird jedoch hinzugefügt, daß bloße Abwei-

chungen von der regelmäßigen Menſchengeſtalt kein Hin-

derniß ſind, z. B. Glieder zu viel, oder Glieder zu we-

nig (p). Die wirkliche Gränze der Menſchengeſtalt wird

bey dieſer Veranlaſſung nicht angegeben, ſie kann aber

 

(m) L. 3 C. de posthumis (6

29.) „lieet illice postquam in

terra cecidit, vel in manibus

obstetricis decessit.” L. 2 C. eod.

(n) L. 3 C. de posthumis (6.

29.) „ad nullum declinans mon-

strum vel prodigium.”

(o) Paulus IV. 9 § 3. L. 14

de statu hom. (1. 5.) aus Pau-

lus lib. 4 sentent. Dieſe Stelle

iſt alſo mit jener identiſch; in die

Pandekten aufgenommen, kann ſie

aber ihren urſprünglichen prakti-

ſchen Sinn nicht beybehalten ha-

ben, vielmehr iſt ſie im Sinn des

Juſtinianiſchen Rechts nunmehr

von der Rechtsfähigkeit des Kin-

des zu verſtehen.

(p) Glieder zu viel. Paulus IV.

9 § 3. L 14 de statu hom. (1.

5). — Glieder zu wenig. L. 12.

§ 1 de liberis (28. 2.) „si non

integrum animal editum sit, cum

spiritu tamen, an adhuc testa-

|0024 : 10|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

nach der Analogie einer anderwärts vorkommenden Be-

ſtimmung darin geſetzt werden, daß der Kopf menſchliche

Bildung an ſich tragen muß (q). — Dagegen wurde bey

der Abwendung der Strafen eine der Mutter günſtigere

Auslegung angenommen: auch eine monſtroͤſe Geburt ſolle

hier angerechnet werden, weil dabey die Mutter unſchul-

dig ſey (r). Nach dieſem Grunde, und nach der Ähnlich-

keit der Fälle ſelbſt, iſt nicht zu zweifeln, daß auch todt-

geborne Kinder zur Abwendung der Strafen mitgerechnet

werden durften (s).

Dieſe vier Bedingungen der natürlichen Rechtsfähig-

keit ſind die einzigen, welche nach unſrem poſitiven Recht

behauptet werden können. Allerdings haben unſre Rechts-

lehrer häufig noch eine fünfte hinzugefügt, die Lebens-

 

mentum rumpat? Et hoc ta-

men rumpit.” — Der Ausdruck

Ostentum umfaßt ſowohl dieſe

Fälle, als den Fall des monstrum.

L. 38 de V. S. (50. 16.).

(q) L. 44 pr. de relig. (11. 7.).

„Cum in diversis locis sepul-

tum est, uterque quidem locus

religiosus non fit, quia una se-

pultura plura sepulchra efficere

non potest: mihi autem vide-

tur, illum religiosum esse, ubi,

quod est principale, conditum

est, id est caput, cujus imago

fit, unde cognoscimur.”

(r) L. 135 de V. S. (50. 16.).

(Ulpian. lib. 4 ad L. Jul. et

Pap.) „… Et magis est, ut haec

quoque parentibus prosint: nec

enim est quod eis imputetur,

quae, qualiter potuerunt, sta-

tutis obtemperaverunt, neque

id, quod fataliter accessit, ma-

tri damnum injungere debet.”

Bey dem Wort prosint iſt alſo

hinzu zu denken: ad legum poe-

nas evitandas. Dieſe höchſt na-

türliche Auflöſung des ſcheinba-

ren Widerſpruchs iſt ſchon längſt

anerkannt. Eckhard hermeneut.

§ 199 ibique Walch.

(s) S. o. Note k. — Eben ſo

wurden zur Abwendung der Stra-

fen auch Drillinge zugelaſſen (L. 137

de V. S. Paulus lib. 2 ad L. Jul.

et Pap.), anſtatt daß das Sc. Ter-

tullianum nur ſolchen Müttern

zu gut kam, die zu drey verſchie-

denen Zeiten Kinder geboren hat-

ten. Paulus IV. 9 § 1. 2. 8.

|0025 : 11|

§. 61. Anfang der Rechtsfähigkeit.

fähigkeit oder Vitalität. Sie wollen damit ſagen,

daß ein lebendig, aber früher als gewöhnlich, geborenes

Kind keine Rechtsfähigkeit habe, wenn es gleich nach der

Geburt ſterbe, und wenn die Urſache des Todes in dem

unreifen Zuſtand liege, der eine längere Fortſetzung des

Lebens unmöglich gemacht habe. Allein dieſe Behauptung

hat keinen Grund, und es muß vielmehr jedem lebendig

gebornen Kinde die vollſtaͤndige Rechtsfähigkeit zugeſchrie-

ben werden, ohne Rückſicht auf den vielleicht ſehr bald

nachfolgenden Tod, und auf die Urſachen dieſes ſchleuni-

gen Todes (t).

(t) Dieſe Streitfrage iſt ausführlich behandelt in der Beylage III.

|0026 : 12|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 62.

Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. I. Anfang.

(Fortſetzung).

Der natürliche Anfang der Rechtsfähigkeit iſt beſtimmt

worden auf den Zeitpunkt der vollendeten Geburt. Die-

ſem aber geht vorher ein nicht unbeträchtlicher Zeitraum,

in welchem das Kind auch ſchon Leben hat, aber kein

ſelbſtändiges, ſondern ein abhängiges, mit dem Leben der

Mutter eng verbundenes. Welches iſt die wahre juriſti-

ſche Betrachtungsweiſe für dieſes vorbereitende Leben?

 

Mehrere Stellen des Römiſchen Rechts ſagen ganz

beſtimmt, in dieſem Zuſtand ſey das Kind noch nicht

Menſch, es habe kein Daſeyn für ſich, ſondern ſey nur

als Theil des mütterlichen Leibes zu betrachten (a). An-

dere Stellen dagegen ſetzen ein ſolches Kind dem ſchon

gebornen gleich (b). Die genauere Beſtimmung dieſes letz-

ten Satzes wird zugleich den Schein eines Widerſpruches

entfernen, der durch den Ausdruck beider erwähnten Re-

geln entſteht.

 

(a) L. 9 § 1 ad L. Falc. (35.

2.) „.. partus nondum editus

homo non recte fuisse dicitur.”

— L. 1 § 1 de inspic. ventre

(25. 4): „.. partus enim, an-

tequam edatur, mulieris portio

est, vel viscerum.”

(b) L. 26 de statu hom. (1.5.).

„Qui in utero sunt, in toto

pene jure civili intelliguntur in

rerum natura esse.” — L. 231

de V. S. (50. 16.): „Quod dici-

mus, eum, qui nasci speratur,

pro superstite esse, tunc verum

est, cum de ipsius jure quae-

ritur: aliis autem non prodest

nisi natus.” — Die Neueren drü-

cken das ſo aus: Nasciturus ha-

betur pro nato.

|0027 : 13|

§. 62. Anfang der Rechtsfähigkeit. (Fortſetzung.)

Die erſte Regel drückt eigentlich das wahre Verhält-

niß der Gegenwart aus: die zweyte enthält eine bloße

Fiction, und dieſe iſt nur in ganz einzelnen, beſchränkten

Rechtsbeziehungen anwendbar. Wenn alſo die allgemeine

Frage wegen der Rechtsfähigkeit eines ungebornen Kin-

des aufgeworfen wird, ſo iſt dieſe entſchieden zu vernei-

nen, indem daſſelbe weder Eigenthum, noch Forderungen,

noch Schulden haben kann; da es alſo keine Perſon iſt,

die einer Vertretung empfänglich und bedürftig wäre, ſo

kann es auch keinen Tutor haben, und nicht Pupill ge-

nannt werden (c). — Die Fiction dagegen bezieht ſich vor-

ſorgend auf das bevorſtehende wirkliche Leben des Kin-

des, und zwar auf zweyerley Weiſe: theils durch Anſtal-

ten, wodurch dieſes Leben ſchon gegenwärtig vor der Ver-

nichtung geſchützt werde; theils durch Anweiſung von Rech-

ten, in welche das Kind gleich bey ſeiner Geburt eintreten

könne. Überall alſo beſchränkt ſich dieſe Fiction auf den

eigenen Vortheil des Kindes, und kein Anderer darf die-

ſelbe für ſich benutzen (d).

 

Die Anſtalten zum Schutz des Lebens ſind theils cri-

minalrechtlich, theils polizeylich. — Criminalſtrafen wer-

 

(c) L. 161 de V. S. (50. 16.).

„Non est pupillus qui in utero

est.” — L. 20 pr. de tutor. et

curat. (26. 5.). „Ventri tutor a

magistratibus populi Romani

dari non potest, curator potest:

nam de curatore constituendo

edicto comprehensum est.”

(d) L. 231 de V. S. (Note b).

— L. 7 de statu hom. (1. 5.).

„Qui in utero est, perinde ac

si in rebus humanis esset, cu-

stoditur, quoties de commodis

ipsius partus agitur: quamquam

alii, antequam nascatur, nequa-

quam prosit.” — Wenn alſo eine

Frau zwey Kinder hatte, dann

wieder ſchwanger wurde, und nun

|0028 : 14|

Büch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

den gedroht ſowohl der Mutter des Kindes, welche deſſen

Leben vor der Geburt zerſtört (e), als dem Fremden, der

dazu mitwirkt (f). — Zu den polizeylichen Anſtalten für

die Lebenserhaltung gehört das königliche Geſetz, welches,

bey dem Tode einer ſchwangeren Frau, die Öffnung des

Leichnams zur Rettung des Kindes vorſchreibt (g): ferner

die ſpäteren Vorſchriften, nach welchen die Hinrichtung

und ſelbſt die Folter einer ſchwangeren Frau bis nach der

Niederkunft verſchoben werden ſollen (h).

Wichtiger für unſren Zweck iſt die privatrechtliche Vor-

ſorge für den künftigen Menſchen, wodurch ihm Rechte

auf die Zeit ſeiner Geburt gleichſam aufbewahrt wer-

den (i). Dieſe Vorſorge bezieht ſich theils auf deſſen Stan-

desverhältniſſe, theils auf die Erbfolge. — Der Stand

eines in rechter Ehe erzeugten Kindes richtet ſich nach der

Zeit der Erzeugung, ſo daß der ihm damals vorbeſtimmte

Stand durch Veränderungen, die ſich in der Perſon des

Vaters oder der Mutter während der Schwangerſchaft

ereignen, nicht gefährdet werden kann (k). Wenn daher

in dieſer Zwiſchenzeit die Mutter ihre Freyheit oder Civi-

 

ein Kind verlor, ſo konnte ſie daſ-

ſelbe nicht ex Sc. Tertulliano

beerben, was ſie gekonnt hätte,

wenn ſie das ungeborne hätte

mitrechnen dürfen.

(e) L. 4 de extr. crim. (47.

11.). — L. 8 ad L. Corn. de si-

car. (48. 8.). — L. 39 de poe-

nis (48. 19.).

(f) L. 38 § 5 de poenis (48. 19.)

(g) L. 2 de mortuo inferen-

do (11. 8.).

(h) L. 18 de statu hom. (1.

5.). — L. 3 de poenis (48. 19.).

(i) L. 3 si pars (5. 4.). „An-

tiqui libero ventri ita prospexe-

runt, ut in tempus nascendi

omnia ei jura integra reser-

varent.”

(k) Gajus I. § 89—91.

|0029 : 15|

§. 62. Anfang der Rechtsfähigkeit. (Fortſetzung.)

tät verlor, ſo wurde darum nicht minder das Kind als

Römiſcher Bürger und in der Gewalt ſeines Vaters ge-

boren (l). Eben ſo hatte der von einem Senator in rech-

ter Ehe erzeugte Sohn alle Rechte, die den Kindern der

Senatoren geſetzlich angewieſen waren, ſelbſt wenn der

Vater vor der Geburt ſtarb oder ſeiner Würde entſetzt

wurde (m). — Dagegen ſollte der Stand der nicht in rech-

ter Ehe erzeugten Kinder nach der Zeit der Geburt be-

ſtimmt werden (n), ſo daß ſich dabey jener Grundſatz der

Aufbewahrung von Rechten nicht wirkſam zeigen konnte.

Jedoch hatte man ſchon frühe zur Begünſtigung der Kin-

der die Regel angenommen, daß überall derjenige Zeit-

punkt zur Beurtheilung ihrer Standesverhältniſſe ausge-

wählt werden ſollte, der ihnen am meiſten Vortheil brächte:

ſey es die Zeit der Zeugung oder der Geburt, oder ſelbſt

irgend ein mittlerer Zeitpunkt (o).

Vorzüglich wichtig zeigt ſich jener Grundſatz im Erb-

recht. Wird während der Schwangerſchaft eine Erbſchaft

eröffnet, die dem Kinde, wenn es ſchon geboren wäre,

zufallen würde, ſo wird ihm ſein Erbrecht bis zur Zeit

der Geburt aufbewahrt, und kann nun in ſeinem Namen

geltend gemacht werden (p). Dieſe wichtige Regel gilt

 

(l) L. 18. 26 de statu hom.

(1. 5.).

(m) L. 7 § 1 de senatoribus

(1. 9.).

(n) Gajus l. c.

(o) pr. J. de ingenuis (1. 4.).

— So z. B. wenn die Mutter

zur Zeit der Geburt Sklavin war,

zur Zeit der Erzeugung aber, oder

auch nur in der Zwiſchenzeit, frey,

ſo war das Kind freygeboren.

(p) L. 26 de statu hom. (1.

5.). — L. 3 si pars (5. 4.). —

L. 7 pr. de reb. dub. (34. 5.). —

L. 36 de solut. (46. 3.). — Eben

ſo wurde das Patronatrecht des

|0030 : 16|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſowohl für das Civilrecht, als für das prätoriſche Recht,

ja der Prätor hat für dieſen Fall ſogar eine eigenthüm-

liche bonorum possessio ventris nomine eingeführt, wo-

durch der Mutter, zu ihrer und mittelbar zu des Kindes

Erhaltung, einſtweilen der Genuß der Erbſchaft angewie-

ſen werden kann (q). — Da es nun aber ungewiß iſt, ob

Ein Kind oder mehrere Kinder geboren werden, ſo wird

einſtweilen angenommen, es könnten wohl Drey zur Welt

kommen: dieſes betrifft jedoch nur die vorläufige Behand-

lung der bereits Gebornen, nicht die Rechtsfaͤhigkeit der

Ungebornen: wird alſo durch die nachfolgende Geburt eine

kleinere oder groͤßere Zahl von Kindern, als die einſtwei-

len vermuthete, zur Welt gebracht, ſo verliert jene Ver-

muthung ihre Kraft, und es wird nun die Erbfolge nach

dem wirklichen Erfolg beurtheilt (r).

Zur Wahrung dieſer dem Kinde aufbewahrten Rechte

wird ihm ein beſonderer Curator ernannt, da ein Tutor,

wie oben bemerkt, nicht eintreten kann (s).

 

verſtorbenen Vaters behandelt, das

nicht eigentlich Erbſchaft, jedoch der

Erbſchaft ähnlich war. L. 26 cit.

(q) Tit. Dig. de ventre in

poss. mittendo et curatore ejus

(37. 9.).

(r) L. 3. 4 si pars (5. 4.).

L. 7 pr. de reb. dub. (34. 5.).

L. 36 de solut. (46. 3.). — Auf

jene billige Regel ſtellte ſich die

Römiſche Praxis feſt, nachdem

man lange geſchwankt hatte, zum

Theil irre gemacht durch manche

fabelhafte Erzählungen. Am mei-

ſten Aufſehen machte die Nieder-

kunft einer Frau mit Fünf Kin-

dern unter Hadrians Regierung:

deswegen blieb man am längſten

zweifelhaft zwiſchen der Vermu-

thung von Drillingen oder Fünf-

lingen.

(s) L. 20 de tutor. et cur.

(Note c). — Tit. Dig. de ven-

tre in poss. (Note q).

|0031 : 17|

§. 63. Ende der Rechtsfähigkeit.

§. 63.

Gränzen der natürlichen Rechtsfähigkeit. II. Ende.

Der Tod, als die Gränze der natürlichen Rechtsfä-

higkeit, iſt ein ſo einfaches Naturereigniß, daß derſelbe

nicht, ſo wie die Geburt, eine genauere Feſtſtellung ſei-

ner Elemente nöthig macht. Nur allein die Schwierig-

keit des Beweiſes hat hierin einige poſitive Rechtsregeln

veranlaßt.

 

In größter Ausdehnung pflegt dieſe Schwierigkeit ein-

zutreten in Folge blutiger Kriege, und die Geſetze einzel-

ner Länder haben darüber in neueren Zeiten ausführliche

Regeln aufgeſtellt. Das Römiſche Recht enthält darüber

keine Beſtimmungen, und auch eine ergänzende Gewohn-

heit iſt für dieſen beſondern Fall in unſrem gemeinen

Recht nicht hinzugetreten.

 

Auch außer dieſem Fall aber, alſo ohne Unterſchied

des Friedens und des Krieges, kann die Frage eintreten,

ob ein Verſchollener, das heißt ein ſolcher, von deſſen Le-

ben in ſeinem letzten bekannten Wohnort ſeit langer Zeit

keine Nachricht eingegangen iſt, noch am Leben ſey. Auch

in dieſer allgemeineren Geſtalt kommt die Frage im Rö-

miſchen Recht nicht vor, allein hierüber hat ſich in der

 

II. 2

|0032 : 18|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

That ein Gewohnheitsrecht gebildet, welches man ſeit meh-

reren Jahrhunderten als allgemein anerkannt betrachten

darf. Es wird nämlich der Tod des Verſchollenen ver-

muthet, wenn ſeit der erweislichen Geburt deſſelben Sie-

benzig Jahre verfloſſen ſind, zu welcher Vermuthung die

Stelle der Pſalmen (XC. 10): Unſer Leben währet

Siebenzig Jahr, Veranlaſſung gegeben hat (a). War

der Verſchollene ſchon Siebenzig Jahre alt zur Zeit ſei-

ner Entfernung, ſo pflegt man Fünf Jahre nach der Ent-

fernung den Tod anzunehmen (b). Dieſes iſt die natür-

liche und conſequente Anwendung jener Regel, indem nun

die Entſtehung einer Vermuthung überhaupt, und der Zeit-

punkt auf den dieſe Vermuthung hinweiſt, ganz zuſammen

fallen. Manche haben ohne Grund Beides dergeſtalt tren-

nen wollen, daß der Tod zwar erſt zu vermuthen ſey nach

Ablauf des Siebenzigſten Lebensjahres, daß aber bey dem

Eintritt dieſer Bedingung angenommen werde, der Ver-

ſchollene ſey nicht erſt jetzt verſtorben, ſondern ſchon im

Augenblick ſeiner Entfernung, oder (wie Andere wollen)

zu der Zeit, als für ſein Vermögen ein Curator ernannt

wurde (c). Umgekehrt wollen Andere den Tod annehmen,

(a) Lauterbach V. 3 § 24.

Leyser Spec. 96. Glück B. 7

§ 562. B. 33 § 1397 c. Hof-

acker T. 2 § 1682. Heiſe und

Cropp juriſtiſche Abhandlungen

B. 2 Num. IV. (S. 118). — Bey

dieſen Schriftſtellern finden ſich

viele Andere aus verſchiedenen

Zeiten angeführt.

(b) Glück a. a. O.

(c) Glück a. a. O., Heiſe

und Cropp a. a. O. — Die Frage

kommt hauptſächlich vor bey der

|0033 : 19|

§. 63. Ende der Rechtsfähigkeit.

nicht mit dem Ablauf der Siebenzig Jahre ſeit der er-

weislichen Geburt, ſondern erſt wenn ein rechtskräftiges

Erkenntniß die Todeserklärung ausgeſprochen hat. Sie

berufen ſich darauf, daß die übliche Edictalladung außer-

dem nicht blos zwecklos, ſondern ſelbſt abſurd ſeyn würde.

Allein dieſe Ladung iſt dazu beſtimmt, wo möglich die

Präſumtion durch erlangte Gewißheit entbehrlich zu ma-

chen. Gelingt dieſes, ſo entſcheidet die alsdann erkannte

Wahrheit; mislingt es, ſo muß die volle Wirkung der

Präſumtion eintreten. Das richterliche Erkenntniß iſt blos

declaratoriſch, und kann das Rechtsverhältniß ſelbſt nicht

ändern; es ſetzt außer Zweifel, ſowohl den Ablauf der

Siebenzig Jahre, als die Erfolgloſigkeit der Edictalla-

dung. Es wäre aber ganz willkührlich und grundlos,

wenn durch zufällige, oder ſogar durch abſichtliche, Ver-

zögerung der Todeserklärung andere Erben herbeygeführt

werden könnten, als die welche bey Ablauf der Siebenzig

Jahre den nächſten Anſpruch hatten (d). — Dieſe allgemei-

nere Vermuthung iſt denn nach gemeinem Recht die einzige

Beerbung des Verſchollenen. Da-

bey wird die hier angenommene

Meynung als Successio ex nunc

bezeichnet, die entgegengeſetzte als

Successio ex tunc.

(d) Für die hier vertheidigte

Meynung vgl. Glück und Heiſe

a. a. O.; ferner Mittermaier

deutſches Privatrecht § 448 ed. 5.

Für die entgegengeſetzte Meynung

Eichhorn deutſches Privatrecht

§ 327 ed. 4, Vangerow Pan-

dekten I. S. 57. — Das Preußi-

ſche A. L. R. II. 18 § 835 ſieht

zwar auf die Zeit des Erkennt-

niſſes, jedoch nur wenn vor 70 Jah-

ren der Tod angenommen werden

ſoll, denn von dieſem Alter an

iſt keine Todeserklärung nöthig.

L. R. I. 1. § 38.

2*

|0034 : 20|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Aushülfe auch für den beſonderen, oben erwähnten, Fall

des Krieges.

Nur Ein hierher gehörender beſonderer Fall iſt im Rö-

miſchen Recht beachtet worden. Wenn es von zwey Men-

ſchen gewiß iſt, nicht nur daß ſie verſtorben ſind, ſondern

auch daß ihr Tod an einem und demſelben beſtimmten

Tage eingetreten iſt, ſo kann es noch immer ungewiß,

und dennoch (beſonders für die Erbfolge) zu wiſſen wichtig

ſeyn, wie dieſe beiden Todesfälle der Zeit nach zu einan-

der ſtehen. Es ſind nämlich dabey die drey Fälle denk-

bar: daß der Eine vor dem Andern, oder nach dem An-

dern, oder gleichzeitig mit dem Andern, verſtorben ſey.

Wenn nun in einem ſolchen Fall keines dieſer drey Zeit-

verhältniſſe erwieſen werden kann, und wenn zugleich eine

äußere, gewaltſame Urſache (Schlacht, Schiffbruch, Ein-

ſturz eines Hauſes) den Tod beider Perſonen herbeygeführt

hat, ſo ſtellt das Römiſche Recht folgende Vermuthungen

auf, welche die Stelle eines Beweiſes vertreten ſollen:

 

1) Im Allgemeinen wird angenommen, Beide ſeyen in

einem und demſelben Augenblick umgekommen (e).

 

2) Eine Ausnahme gilt für den gemeinſchaftlichen ge-

waltſamen Tod eines Kindes mit ſeinem Vater oder mit

ſeiner Mutter. War das Kind unmündig, ſo wird deſſen

 

(e) L. 9 pr. § 3. L. 16. 17.

18 de reb. dub. (34. 5.). — L. 34

ad Sc. Trebell (36. 1.). — L. 32

§ 14 de don. int. vir. (24. 1.). —

L. 26 de mortis causa don. (39.6.).

|0035 : 21|

§. 63. Ende der Rechtsfähigkeit.

früherer Tod, war es mündig, ſo wird deſſen ſpäterer

Tod vermuthet, ſo daß in allen Fällen dieſer Art die

Vermuthung des gleichzeitigen Todes ausgeſchloſſen iſt (f).

3) Dieſe Ausnahme aber iſt wiederum durch zwey ſpe-

ciellere Ausnahmen beſchränkt.

 

a) Wenn ein Freygelaſſener gemeinſchaftlich mit ſei-

nem Sohne umkommt, ſo tritt die allgemeinere Regel ein,

das heißt es wird gleichzeitiger Tod vermuthet, ſo daß

nicht etwa das Überleben des Sohnes, ſelbſt wenn er

mündig wäre, angenommen werden ſoll. Der Grund liegt

in einer Begünſtigung des Patrons, deſſen Erbanſprüche

durch den erweislich überlebenden Sohn beſchränkt wer-

den würden (g).

 

b) Ganz daſſelbe iſt vorgeſchrieben für den Fall, da

ein Teſtator ſeinem Erben ein Fideicommiß auferlegt un-

ter der Bedingung „si sine liberis decesserit.” Wenn die-

ſer Erbe mit ſeinem einzigen Sohn durch Schiffbruch um-

kommt, ſo wird gleichzeitiger Tod allgemein vermuthet,

alſo auch wenn der Sohn mündig war; daraus wird ge-

folgert, daß der Sohn den Vater nicht überlebte, folglich

das Fideicommiß ſchlechthin ausgezahlt werden muß, weil

 

(f) L. 9 § 1. 4 de reb. dub.

(34. 5) vom Vater. — L. 22. 23

eod. L. 26 pr. de pactis dotal.

(23. 4.) von der Mutter. — In

L. 9 § 1 cit. iſt die Rede vom Tod

im Kriege, woraus von ſelbſt

folgt, daß der Sohn als mündig

gedacht ſeyn muß.

(g) L. 9 § 2 de reb. dub. (34.

5) „… hoc enim reverentia pa-

tronatus suggerente dicimus.”

Hier wird alſo das Singuläre die-

ſer Beſtimmung ausdrücklich an-

erkannt.

|0036 : 22|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

deſſen Bedingung (der Tod ohne überlebende Kinder) in

Folge jener Vermuthung wirklich eingetreten iſt (h).

(h) L. 17 § 7 ad Sc. Treb.

(36. 1.). — Ausführlich und mit

vielem Scharfſinn wird dieſe ganze

Frage behandelt von Mühlen-

bruch, Archiv B. 4 Num. 27 (vgl.

doctrina Pand. § 185). Er weicht

von der hier gegebenen Darſtel-

lung darin ab, daß er annimmt,

die Vermuthung des früheren To-

des der Unmündigen gründe ſich

auf ihre im Allgemeinen größere

Mortalität; daher gelte ſie auch

im Verhältniß zu anderen Per-

ſonen als zu den Eltern, und auch

außer dem Fall des gewaltſamen,

durch gemeinſames Unglück her-

beygeführten Todes. — Hier wird

alſo angenommen, die beiden ex-

ceptionellen Vermuthungen (für

Mündige und Unmündige) ſeyen

ganz ungleichartig, und aus ganz

verſchiedenen Gründen abgeleitet.

Allein eine unbefangene Betrach-

tung der Quellen muß uns ge-

rade umgekehrt überzeugen, daß

beide Vermuthungen als ganz

gleichartig gedacht, beſonders aber

daß ſie nur auf Fälle der ange-

gebenen Art (Tod der Eltern und

Kinder, bey gemeinſamem Un-

glück) bezogen werden. Vgl. Van-

gerow Pandekten I. S. 58.

|0037 : 23|

§. 64. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung.

§. 64.

Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung.

Es ſind nunmehr die Fälle anzugeben, worin die na-

türliche, allen einzelnen Menſchen zukommende Rechtsfä-

higkeit durch unſer poſitives Recht eingeſchränkt worden

iſt. Solche Einſchränkungen haben die Bedeutung, daß

gewiſſe Menſchen entweder zu allen, oder doch zu man-

chen Rechten unfähig ſeyn ſollen. Um für dieſe verſchie-

denen Abſtufungen einen gemeinſamen Ausdruck zu gewin-

nen, wollen wir einen ſolchen Zuſtand als verminderte

Rechtsfähigkeit bezeichnen, worunter alſo auch die

gänzlich vernichtete mit begriffen iſt.

 

Das Roͤmiſche Recht kennt drey verſchiedene Gründe

verminderter Rechtsfähigkeit: Unfreyheit, Mangel der Ci-

vität, und Abhängigkeit von eines Andern Familiengewalt.

Darauf beziehen ſich alſo folgende drey Eintheilungen aller

Menſchen:

 

1) Liberi, Servi; mit der Untereintheilung der Liberi

in Ingenui und Libertini.

2) Cives, Latini, Peregrini.

3) Sui juris, alieni juris.

Das Eigenthümliche aber dieſer drey Eintheilungen der

Menſchen beſteht nicht etwa in ihrer allgemeinen, alle an-

deren Unterſchiede übertreffenden Wichtigkeit, ſondern darin,

daß durch ſie der verſchiedene Grad der Rechtsfähig-

 

|0038 : 24|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

keit jedes einzelnen Menſchen beſtimmt wird; in dieſer

Beziehung ſtehen ſie ganz allein, und kein anderer Unter-

ſchied kann mit ihnen verglichen werden.

Dieſe Lehre hat ihren Urſprung in der älteſten Zeit

des Römiſchen Rechts, und wenngleich auch ſie im Lauf

der Jahrhunderte manche Umbildung erfahren hat, ſo hat

ſie ſich dennoch in ihren Grundzügen dergeſtalt erhalten,

daß wir ſie ſelbſt in das neueſte Recht nach allen Seiten

hin verwebt finden. Auch für uns iſt eine genaue Ein-

ſicht in dieſelbe wichtig, ja unentbehrlich. Nicht als ob

noch Vieles aus derſelben unmittelbar angewendet werden

könnte, ſondern aus Zwey anderen, in einander greifen-

den, Gründen. Die Quellen des Römiſchen Rechts ſind

nämlich durchaus nur Demjenigen verſtändlich, der ſich

jene Lehre in ihrer vollſtändigen Ausbildung ſo angeeignet

hat, daß ihm bey jeder Stelle des Römiſchen Rechts die

Beziehungen derſelben auf jene alte Lehre (wo ſolche vor-

kommen) von ſelbſt vorſchweben. Auch drängt ſich uns

dieſe Überzeugung ſo ungeſucht auf, daß ſelbſt diejenigen

unter den neueren Juriſten, welche das geſchichtliche Recht

gering ſchätzen, und nur das praktiſche ihrer Bemühungen

werth achten, es dennoch nicht laſſen können, die erwähnte

Lehre und die damit zuſammenhängende Kunſtſprache ihren

Darſtellungen einzumiſchen. An ihnen aber rächt ſich ihre

Einſeitigkeit, indem ihnen das, was ſie gründlich zu er-

forſchen verſchmähten, nun zu einer Quelle zahlloſer Irr-

thümer wird. Solche Irrthümer, entſprungen aus der

 

|0039 : 25|

§. 64. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung.

uͤbel verſtandenen Lehre von der Rechtsfähigkeit, ſind in

den neueren Rechtsſyſtemen verbreiteter und befeſtigter, als

man glauben ſollte; ja ſie ſind ſelbſt bis in neuere Ge-

ſetzgebungen eingedrungen. Wie anders koͤnnen wir uns

nun von der Herrſchaft dieſer verwirrenden Irrthümer

befreyen, als indem wir eigene, gründliche Forſchung an

die Stelle der zu wenig geprüften Überlieferungen ſetzen?

Hierin alſo liegt der zweyte Grund, der uns eine genaue

Feſtſtellung jener alten Lehre des Römiſchen Rechts un-

entbehrlich macht.

Um den eben erwähnten unkritiſchen Einflüſſen zu ent-

gehen, will ich einſtweilen von der bisher üblichen Be-

handlung dieſes Gegenſtandes ganz abſehen, auch ſogar

alle Kunſtausdrücke, ächte oder unächte, vermeiden, und

zunächſt die reinen Rechtsregeln aufſtellen, wie wir ſie in

unſren Quellen angegeben finden; dann erſt wird es mög-

lich ſeyn, auch die Kunſtausdrücke kritiſch feſtzuſtellen. Die

Neueren bezeichnen ſehr allgemein die oben angegebenen

drey Unterſchiede der Menſchen mit den Kunſtausdrücken

status libertatis, civitatis, familiae; was daran wahr oder

falſch iſt, wird ſich erſt klar machen laſſen, nachdem die

Begriffe und Rechtsregeln ſelbſt außer Zweifel geſetzt ſeyn

werden. Ferner ſteht mit jenen drey Unterſchieden in un-

verkennbarer Beziehung eine dreyfache Capitis deminutio,

die von den alten Juriſten in ſo vielen Stellen ganz gleich-

förmig erwähnt wird, daß wir darin uralte Rechtsbe-

griffe und Kunſtausdrücke nicht bezweifeln dürfen. Aber

 

|0040 : 26|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

welches die eigentliche Beziehung iſt zwiſchen jenen drey

Gründen verminderter Rechtsfähigkeit und der dreyfachen

Capitis deminutio, das wird ſich erſt in Folge einer Un-

terſuchung darthun laſſen, die zu den ſchwierigſten im Ge-

biete des geſchichtlichen Rechts gehört.

Die Rechtsregeln, womit wir uns hier beſchäftigen,

betreffen die verſchiedenen Stufen der Rechtsfähigkeit. Um

dieſen Gegenſtand der aufzuſtellenden Regeln klar überſe-

hen zu laſſen, iſt es nöthig, gleich im Eingang an zwey

ſchon oben abgehandelte Stücke zu erinnern. Das eine iſt

der Gegenſatz zwiſchen jus civile und jus gentium (§ 22);

die Verminderung der Rechtsfähigkeit kann ſich bald auf

das erſte allein (als auf das vornehmere und wichtigere),

bald auf beide zugleich beziehen. — Ferner kann ſowohl

die Rechtsfähigkeit ſelbſt, als die Verminderung derſelben,

auf jede der oben aufgeſtellten Klaſſen von Rechtsverhält-

niſſen (§ 53—57) Beziehung haben, wodurch dieſelbe, wie

es ſcheint, in ſchwer zu überſehende Einzelnheiten hinein-

gezogen werden müßte. Allein es haben ſich im Römi-

ſchen Recht von ſehr alter Zeit her zwey Hauptbegriffe

gebildet, die durch die Kunſtausdrücke Connubium und

Commercium bezeichnet werden, und wodurch die Über-

ſicht der Rechtsfähigkeit in ihren verſchiedenen Stufen ſehr

erleichtert wird. Connubium heißt zunächſt die Fähig-

keit zu einer Römiſch gültigen Ehe, ſowohl abſolut, für

eine einzelne Perſon an ſich betrachtet, als relativ, für

das wechſelſeitige Verhältniß zweyer Perſonen zu einan-

 

|0041 : 27|

§. 64. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung.

der (a). Da aber von einer ſolchen Ehe die Möglichkeit

der väterlichen Gewalt, von dieſer wieder die Roͤmiſche

Verwandtſchaft, und endlich von dieſer die alte Inteſtat-

erbfolge abhängt, ſo iſt es einleuchtend, welche Wichtig-

keit jenem Kunſtausdruck zugeſchrieben werden muß, in-

dem dadurch, daß einer Perſon Connubium beygelegt oder

abgeſprochen wird, der Umfang ihrer Rechtsfähigkeit gro-

ßentheils bezeichnet iſt. — Auf ähnliche Weiſe heißt Com-

mercium zunächſt nur die Fähigkeit zu kaufen oder zu

verkaufen, jedoch ſo, daß dieſer Kunſtausdruck nicht auf

den gewöhnlichen Kauf des täglichen Verkehrs bezogen

wird, ſondern auf den ſymboliſchen Kauf, der den Namen

der Mancipation führt (b). Da aber dieſe nur Be-

deutung hat als die älteſte und üblichſte Veräußerungs-

form des Römiſchen Eigenthums, ſo iſt eigentlich die Fä-

higkeit zu dieſer vollſtändigſten Art des Eigenthums da-

durch bezeichnet: alſo auch die Fähigkeit zu der in jure

cessio, der Uſucapion, und der ſtrengen Vindication. In

fernerer Entwicklung aber umfaßt jener Kunſtausdruck zu-

gleich die Fähigkeit zu Servituten (welche, eben ſo, wie

das Eigenthum, juris quiritium ſind): ferner die Fähig-

keit zu manchen Arten der Obligationen (c): endlich aber,

und ganz vorzüglich, die testamentifactio, das heißt die

Grundbedingung für die Fähigkeit, ein Teſtament oder ei-

nen Codicill zu errichten, zum Erben, Legatar oder Fidei-

(a) Ulpian. Tit. 5 § 3, vergl.

§ 4. 5. 6. 8.

(b) Ulpian. Tit. 19 § 4. 5.

(c) Gajus III. § 93. 94.

|0042 : 28|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

commiſſar ernannt zu werden, und Zeuge bey einem letz-

ten Willen zu ſeyn (d). — So umfaſſen alſo jene beiden

Kunſtausdrücke den größten und wichtigſten Theil der

Rechtsfähigkeit überhaupt (e). Jedoch dürfen alle dieſe

Sätze nur unter einer wichtigen Einſchränkung aufgefaßt

werden. Die Fähigkeit, welche einer Perſon durch die

Anwendung jener Ausdrücke beygelegt oder abgeſprochen

werden ſoll, bezieht ſich nur auf die dem jus civile an-

gehörenden Rechtsinſtitute, ſo daß ſie für das Gebiet des

jus gentium keine Bedeutung haben. Wird daher einer

Perſon das Connubium abgeſprochen, ſo kann die Fähig-

keit zu einer Ehe und Verwandtſchaft nach jus gentium

ſehr wohl daneben beſtehen; eben ſo, wie Derjenige, wel-

cher das Commercium entbehrt, darum nicht minder zu

einem Eigenthum nach jus gentium fähig ſeyn kann (f).

(d) Ulpian. Tit. 20 § 8. 14

Tit. 22 § 1. 2. Tit, 25 § 4. 6.

— Gajus II. § 285. — L. 3. 8.

9. 11. 13. 19 qui test. (28. 1.). —

L. 6 § 3. L. 8 § 2 de j. codic.

(29. 7.). — L. 49 § 1 de her.

inst. (28. 5.). — § 24 J. de le-

gatis (2. 20.). — L 18 pr. qui

test. (28. 1.). § 6 J. de test. ord.

(2. 10.).

(e) Im Allgemeinen kann man

ſagen, das Connubium entſpreche

der Fähigkeit in der Familie, das

Commercium der Fähigkeit im

Vermögen. Nur iſt dabey wohl

zu bedenken, daß diejenigen Theile

der künſtlichen Familienverhält-

niſſe, welche ſich an ein Vermö-

gensverhältniß als Folgen deſſel-

ben anſchließen (§ 57), hierin die

Natur des Vermögens, nicht der

Familie, theilen. So z. B. hatte

der Latinus Commercium ohne

Connubium (§ 66): dennoch war

er fähig zur Herrſchaft über Skla-

ven und über ein Mancipium,

zum Patronat, zur teſtamentari-

ſchen und Dativtutel, ſo wie zu

der Gewalt über Colonen.

(f) Die praktiſche Anwendung

hat ſich bey den einzelnen Klaſſen

der Rechtsverhältniſſe, ſo wie es

das Bedürfniß mit ſich führte,

ganz verſchieden entwickelt. Bey

|0043 : 29|

§. 64. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. Einleitung.

dem Eigenthum erhielt ſich der

formelle Grundſatz, daß nur ge-

wiſſe Stände (cives und Latini)

des Römiſchen Eigenthums fähig

ſeyen, bis auf Juſtinian, der ihn

aufhob: allein die Wichtigkeit des

Unterſchieds zwiſchen Römiſchem

und natürlichem Eigenthum hatte

längſt aufgehört. In den Obli-

gationen war man durch das Be-

dürfniß eines ausgedehnten Ver-

kehrs ſchon ſehr frühe genöthigt,

alle Stände zuzulaſſen, ſo daß

ſich hier die alte Strenge nur

noch im Andenken erhielt theils

in einem geringen Überreſt von

Fällen (Note c), theils in einer

bloßen Formalität des Prozeſſes

(Gajus IV. § 37). Am reinſten

erhielt ſich die alte Strenge bey

den Teſtamenten, weil da die

Freyheit des Verkehrs keine Um-

bildung der alten Regeln nöthig

machte, ſo daß hier der ſtrenge

Grundſatz auch noch im Juſti-

nianiſchen Recht unverändert feſt-

gehalten wird (Note d).

|0044 : 30|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 65.

Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit.

Alle Menſchen, ſagen die Römer, ſind entweder frey

oder unfrey (aut liberi aut servi); dieſe Eintheilung kommt

hier nur nach ihrem vorzüglich wichtigen Einfluß auf die

Rechtsfähigkeit in Betracht (a).

 

Dem Sklaven nämlich wird eine allgemeine Rechts-

unfähigkeit zugeſchrieben, und zwar nicht blos für die In-

ſtitute des eigentlichen Civilrechts, ſondern auch für die

des prätoriſchen, und die des jus gentium (b). In dieſer

 

(a) Allerdings bietet das Skla-

venrecht auch noch mehrere an-

dere wichtige Seiten dar, die je-

doch in dem gegenwärtigen Werk,

nach deſſen Plan, keine Stelle

finden können. Dahin gehört we-

niger das, was bey anderen Rech-

ten ſo wichtig iſt, die genaue Be-

ſtimmung des Inhalts und Um-

fangs des Rechtsverhältniſſes:

denn das ganz uneingeſchränkte

Recht des Herrn macht hierin jede

ſpecielle Beſtimmung überflüſſig.

Dagegen war es wichtig, die Ent-

ſtehungsart des Verhältniſſes ge-

nau zu beſtimmen, und darüber

ſind hier nur folgende Haupt-

ſätze anzugeben. Die regelmä-

ßige Entſtehung iſt die durch Ge-

burt: jedes Kind wird frey oder

als Sklave geboren, je nachdem

die Mutter eine Freye oder Skla-

vin iſt. Der Freye aber kann

ferner Sklave werden: erſtlich

durch Gefangennehmung in ei-

nem wahren Kriege; zweytens in

einigen Fällen zur Strafe. Da-

gegen iſt es unmöglich durch freyen

Willen, alſo durch Vertrag.

(b) L. 20 § 7 qui testam. (28.

1.). „Servus quoque merito ad

solemnia adhiberi non potest,

cum juris civilis communionem

non habeat in totum, ne Prae-

toris quidem edicti.” — L. 32

de R. J. (50 17.). „Quod atti-

net ad jus civile, servi pro nul-

lis habentur: non tamen et jure

naturali, quia quod ad jus na-

turale attinet, omnes homines

aequales sunt.” Zur Erklärung

des jus naturale in dieſer letzten

(von Ulpian herrührenden) Stelle

iſt die Beylage II. zu vergleichen.

— In beiden Stellen iſt vom jus

gentium nicht ausdrücklich die

|0045 : 31|

§. 65. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit.

letzten Beziehung alſo fehlte dem Sklaven nicht etwa blos

das Connubium und das Commercium, ſondern es war

ihm die Möglichkeit jeder Ehe und Verwandtſchaft über-

haupt verſagt (c), ſo wie die Möglichkeit des Eigenthums

jeder Art, des natürlichen nicht minder wie des ſtreng

Römiſchen. Da nun außerdem die potestas des Herrn

über den Sklaven die Wirkung hat, daß der Sklave dem

Rede, indeſſen laſſen die im Text

angeführten unbeſtrittenen An-

wendungen keinen Zweifel, daß

ſich auch darauf die Unfähigkeit

erſtreckte. Um aber Misverſtänd-

niſſen vorzubeugen, will ich dar-

über noch Folgendes bemerken.

Die Römer ſchreiben einſtimmig

die Entſtehung der Sklaverey über-

haupt dem jus gentium zu (L. 4

de just. et jure. L. 1 § 1 de

his qui sui. Gajus I. § 52); die

Repräſentation des Herrn durch

den Sklaven ſetzen ſie wahrſchein-

lich nicht in das jus gentium, ſon-

dern in das jus civile (Recht des

Beſitzes § 7. S. 82 der 6. Ausg.);

wohin ſie die Rechtsunfähigkeit

an ſich ſetzen, darüber fehlt jedes

Zeugniß, indeſſen ſcheint es mir

natürlicher anzunehmen, daß auch

dieſe, eben ſo wie die Repräſen-

tation, aus dem jus civile ab-

geleitet wurde, beſonders da noch

ſo manche ganz poſitive Modifi-

cationen derſelben unten vorkom-

men werden. War nun dieſes

wirklich die herrſchende Anſicht, ſo

darf es darum doch nicht als In-

conſequenz getadelt werden, wenn

dieſe durch das jus civile begrün-

dete Unfähigkeit auch auf die Ge-

meinſchaft des jus gentium hem-

mend einwirkte, ſo daß z. B. der

Sklave nicht einmal einer natür-

lichen Verwandtſchaft fähig war.

Die Annahme dieſes Verhältniſ-

ſes wird vielmehr theils durch die

allgemeine Natur des jus gen-

tium gerechtfertigt (§ 22), theils

durch unzweifelhafte Analogien be-

ſtätigt, indem z. B. eine gegen

die Verbotsgeſetze des jus civile

geſchloſſene Ehe gar nicht als Ehe

betrachtet wird, nicht einmal als

eine nach jus gentium wirkſame

(§ 12 J. de nuptiis 1. 10.).

(c) L. 1 § 2 unde cogn. (38.

8.). „.. nec enim facile ulla

servilis videtur esse cognatio.”

— L. 10 § 5 de gradibus (38.

10.) „ad Leges serviles cogna-

tiones non pertinent” (vorher

war geſagt worden, der gemei-

ne, nichtjuriſtiſche Sprachgebrauch

nehme auch bey Sklaven Ver-

wandtſchaften an). — Erſt Juſti-

nian hat dieſe Unfähigkeit in ih-

ren Wirkungen auf die nach der

Freylaſſung eintretende Erbfolge

modificirt. § 10 J. de grad. cogn.

(3. 6.).

|0046 : 32|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Herrn Vermögen jeder Art zu erwerben fähig und ge-

zwungen iſt, ſo liegt es ſehr nahe, die Rechtsunfähigkeit

des Sklaven als eine bloße Folge dieſer unfreywilligen

Repräſentation des Herrn anzuſehen, folglich aus der po-

testas abzuleiten. Auch laſſen ſich in der That viele An-

wendungen der Rechtsunfähigkeit auf dieſe Weiſe befrie-

digend erklären; denn wenn der Sklave durch Mancipa-

tion oder Stipulation ſeinem Herrn Rechte erwarb, ſo

konnte er dadurch nicht ſelbſt Eigenthümer oder Creditor

werden. Dennoch iſt dieſe Ableitung im Ganzen zu ver-

werfen, indem die Rechtsunfähigkeit viel weiter geht, als

jene Repräſentation, folglich eine ganz ſelbſtändige Natur

hat, wie ſich von zwey Seiten her unwiderſprechlich dar-

thun läßt. Denn erſtens bezieht ſich die Repräſentation

nur auf den Erwerb von Vermögensrechten, der Sklave

würde alſo dadurch nicht gehindert ſeyn, eine Ehe zu füh-

ren, und Verwandte zu haben, wozu er jedoch ganz un-

fähig iſt. Zweytens gab es herrenloſe Sklaven, die alſo

unter keiner potestas ſtanden, und keinen Menſchen durch

erwerbende Handlungen repräſentirten, und dennoch ganz

eben ſo rechtsunfähig waren, als alle anderen (d). —

Nach dem Sprachgebrauch der neueren Juriſten möchte

man erwarten, daß den Sklaven, wegen dieſer allgemei-

nen Rechtloſigkeit, auch die Benennung persona gänzlich

(d) Über die dahin gehörenden

Fälle ſ. o. § 55 Note a. Die

Rechtsunfähigkeit der herrenloſen

Sklaven iſt beſonders deutlich an-

erkannt in L. 36 de stip. serv.

(45. 3.).

|0047 : 33|

§. 65. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit.

verſagt werden würde, ſo daß dieſer Ausdruck als die be-

ſondere Bezeichnung des rechtsfähigen Menſchen anzu-

ſehen wäre. Allein die Römer gebrauchen gewöhnlich den

erwähnten Ausdruck für jeden einzelnen Menſchen ohne

Unterſchied, namentlich auch für die Sklaven (e).

Es ſind nun noch die wenigen Ausnahmen anzugeben,

wodurch die Rechtloſigkeit der Sklaven beſchränkt war (f).

— Die wichtigſte derſelben beſtand in einem theils ſtraf-

rechtlichen, theils polizeylichen Schutz der Sklaven gegen

unmenſchliche Behandlung. Ein ſolcher Schutz war dem

älteren Rechte voͤllig fremd. Als aber durch die großen

Eroberungskriege die Zahl der Sklaven über alles Maaß

hinaus ſtieg, wurde man durch blutige Erfahrung inne,

wie gefährlich eine ganz ſchonungsloſe Behandlung dieſer

durch ihre Menge mächtigen Menſchenklaſſe ſey. So kam

man allmälig dazu, als feſte Regel aufzuſtellen, daß ein

 

(e) L. 215 de V. S. (50. 16.)

„.. in persona servi domini-

um.” — L. 22 pr. de R. J. (50.

17.). „In personam servilem

nulla cadit obligatio.” — L. 6

§ 2 de usufr. (7. 1.). — Gajus I.

§ 120. 121. 123. 139. — Erſt in

ſpäterer Zeit wird dieſe Bezeich-

nung den Sklaven ausdrücklich ab-

geſprochen. So z. B. Nov. Theod.

Tit. 17. „Servos .. quasi nec

personam habentes.” Vergl.

Schilling Inſtitutionen B. 2

§ 24 Note g.

(f) Unter dieſe Ausnahmen ge-

hört nicht die Fähigkeit der Skla-

ven, eine Mancipation zu em-

pfangen, zu ſtipuliren, in einem

Teſtament zu Erben oder Lega-

taren ernannt zu werden; denn

ſie waren hierin nur Inſtrumente

für den Erwerb ihres Herrn, ſo

daß dieſe Fähigkeit die Recht-

loſigkeit der Sklaven um gar

Nichts vermindert. — Anders ver-

hält es ſich mit der den Staats-

ſklaven ertheilten Vergünſtigung,

über die Hälfte ihres Peculiums

zu teſtiren (Ulpian. XX. § 16);

das war eine wirkliche Anomalie,

wodurch dieſe Klaſſe der Sklaven

dem Zuſtand der Freyen naher

gebracht werden ſollte.

II. 3

|0048 : 34|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

grauſamer Herr nicht nur gezwungen werden koͤnne, den

mishandelten Sklaven zu verkaufen, ſondern auch criminell

zu beſtrafen ſey. Insbeſondere wurde die Tödtung ſelbſt

des eigenen Sklaven, wenn dazu ein hinreichender Grund

fehlte, der Tödtung eines freyen Menſchen gleich beſtraft (g).

Streng genommen lag in dieſen Einſchränkungen der ſonſt

gränzenloſen Herrengewalt kein dem Sklaven verliehenes

Recht, aber es wirkte auf die Verbeſſerung des Zuſtandes

der Sklaven eben ſo vortheilhaft, wie wenn es ein ſolches

Recht geweſen wäre.

Im Privatrecht finden ſich folgende Ausnahmen. Die

aus dem Sklavenſtand herrührende Verwandtſchaft ſollte,

bey nachher erworbener Freyheit, in der einzigen Bezie-

hung auf die Eheverbote beachtet werden (h), während

eine Erbfolge darauf niemals gegründet werden konnte

(Note c). Der Grund lag ohne Zweifel darin, daß die

Verwandtſchaft bey den Eheverboten als ein rein menſch-

liches, nicht juriſtiſches, Verhältniß gedacht wird. — Die

Unfähigkeit zum Eigenthum und anderen dinglichen Rech-

ten war durch keine bekannte Ausnahme beſchränkt. —

Ganz anders verhielt es ſich aber bey den Obligationen;

 

(g) Gajus I. § 53. — § 2 J. de

his qui sui (1. 8.). — L. 1 § 2.

L. 2 de his qui sui (1. 6.). — L. 1.

§ 8 de off. praef. urbi (1. 12.).

— L. 1 § 2 ad L. Corn. de sic.

(48. 8.). — L. un. C. de emend.

servor. (9. 14.) — Coll. LL. Mos.

et Rom. Tit. 3 § 2. 3. 4. — Vgl.

Zimmern Rechtsgeſchichte I.

§ 180, wo ſich noch mehrere Stel-

len geſammelt finden. — Unter

daſſelbe Princip fällt auch die Re-

gel der L. 15 § 35 de injur.

(47. 10.).

(h) L. 8 L. 14 § 2. 3 de ritu

nupt. (23. 2.) § 10 J. de nupt.

(1. 10.).

|0049 : 35|

§. 65. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit.

denn da die Geſchäfte des täglichen Verkehrs großentheils

von Sklaven beſorgt wurden, die dabey oft ſelbſtändig

auftraten, ſo kam man ſehr natürlich darauf, die Strenge

des alten Grundſatzes in dieſer Hinſicht einzuſchränken.

Dabey iſt jedoch zuerſt eine Gränze der Möglichkeit ſol-

cher Modificationen zu erwägen. Während des Sklaven-

ſtandes war eine civilis obligatio für den Sklaven ganz

unmoͤglich, weil derſelbe niemals, weder als Kläger, noch

als Beklagter, vor Gericht ſtehen konnte: eine naturalis

obligatio war ſchon jetzt an ſich nicht unmöglich. Nach

der Freylaſſung waren civiles und naturales obligationes

für den Sklaven denkbar, als Nachwirkungen der noch

im Sklavenſtand vorgenommenen Handlungen. Die wirk-

lichen Regeln aber waren folgende:

I. Forderungen erwerben konnte der Sklave in der

Regel gar nicht, weil er Alles dem Herrn erwerben mußte

und wirklich erwarb, ſo daß für ihn ſelbſt kein möglicher

Fall übrig blieb, in welchem er hätte Gläubiger werden

koͤnnen. Dieſer Grund aber führte conſequenterweiſe auf

die Ausnahme, wenn der Herr ſelbſt Schuldner ſeines

Sklaven werden wollte: nun entſtand in Wahrheit eine

obligatio, aber dieſe war nur naturalis. Folgerecht müſ-

ſen wir daſſelbe für die Fälle annehmen, wenn der Sklave

herrenlos war.

 

II. Schulden konnte der Sklave haben ohne Rück-

ſicht auf das bey den Forderungen erwähnte Hinderniß,

weil er ſeinem Herrn zwar unbedingt Rechte erwerben,

 

3*

|0050 : 36|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

aber in der Regel keine Verbindlichkeiten auflegen konnte.

Daher konnte der Sklave durch ſeine Verträge ſowohl

gegen den Herrn, als gegen einen Fremden, Schuldner

werden, aber dieſe obligatio war nur naturalis, und blieb

es auch nach der Freylaſſung. Anders war es mit den

Delicten des Sklaven: waren dieſe gegen den eigenen

Herrn begangen, ſo wirkten ſie weniger als die Verträge,

nämlich gar keine Obligation: war dadurch ein Fremder

verletzt worden, ſo wirkten ſie mehr als die Verträge,

indem die daraus entſtandene Obligation nach der Frey-

laſſung ſogar eingeklagt werden konnte (i).

Die Römer theilten die Freyen ferner ein in Freyge-

borne und Freygelaſſene, ingenui et libertini, und es fragt

ſich, ob dieſe an ſich wichtige Untereintheilung gerade auch

für die Rechtsfähigkeit Bedeutung hatte. Eine ſolche Be-

deutung muß nun allerdings behauptet werden, wiewohl

nur eine untergeordnete. Denn in den Hauptpunkten frey-

lich war auch für den Freygelaſſenen das allgemeine Bür-

gerverhältniß entſcheidend: er hatte alſo oder entbehrte das

Connubium und das Commercium, je nachdem er civis,

latinus oder peregrinus war, ohne Rückſicht auf ſeine Li-

bertinität, und er ſtand alſo inſofern mit dem Freygebor-

 

(i) Die Hauptſtellen für die hier

aufgeſtellten Regeln ſind L. 7

§ 18 de pactis (2. 14.). L. 14

de O. et A. (14. 7.). L. 64. L. 13

pr. de cond. indeb. (12. 6.). L. 1

§ 18 depositi (16. 3.). L. 19 § 4

de don. (39. 5.). Die Römer

hatten dieſen Gegenſtand mit gro-

ßer Feinheit behandelt. Eine wei-

tere Ausführung der oben auf-

geſtellten Sätze, und eine Erklä-

rung der ſchwierigſten Stellen, fin-

det ſich in der Beylage IV.

|0051 : 37|

§. 65. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. I. Unfreyheit.

nen auf gleicher Linie der Rechtsfähigkeit. Dennoch war

dieſe Gleichheit durch folgende nicht unwichtige Modifica-

tionen eingeſchränkt. Der civis libertinus hatte zwar al-

lerdings Connubium, das heißt die Fähigkeit eine gültige

Civilehe zu ſchließen, aber er war in der Wahl des Ehe-

gatten beſchränkt (k). Der latinus libertinus (Latinus Ju-

nianus genannt) hatte allerdings Commercium, das heißt

die Fähigkeit zum Römiſchen Eigenthum und insbeſondere

zur Mancipation, aber die wichtigſten Vortheile dieſer Fä-

higkeit waren ihm wieder einzeln durch poſitives Geſetz

entzogen. Eben ſo hatte der peregrinus libertinus (dedi-

ticiorum numero) zwar im Allgemeinen die Fähigkeit zu

den im jus gentium enthaltenen Rechtsverhältniſſen, aber

im Einzelnen, und beſonders in Beziehung auf die Erb-

folge, war er gegen den freygebornen Peregrinen unge-

mein zurückgeſetzt (l).

(k) Solche Beſchränkungen be-

ſtanden im älteren Recht, obgleich

wir die Gränzen derſelben nicht

genau kennen. So wurde ein-

mal einer einzelnen Freygelaſſe-

nen, in einer Zeit worin noch

alle libertini die Civität hatten,

die gentis enuptio als ein per-

ſönliches Privilegium gegeben. Li-

vius XXXIX. 9. — Die Lex Ju-

lia verbot die Ehen der Freyge-

laſſenen beider Geſchlechter mit

den Senatoren und deren Nach-

kommen. Ulpian. XIII. 1. L. 44.

pr. de ritu nupt. (23. 2.). Vgl.

Beylage VII. Num. II.

(l) Die wichtigſten Beſchrän-

kungen der Rechtsfähigkeit in die-

ſen beiden letzten Klaſſen laſſen

ſich aus folgenden Stellen über-

ſehen: Ulpian. XI. 16. XXI. 14.

XXII. 3. Gajus III. § 55—76.

|0052 : 38|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 66.

Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel

der Civität.

Auf das Verhältniß der Einzelnen zum Staat grün-

deten ſich zwey Eintheilungen der Menſchen, welche ver-

ſchiedenen Zeitaltern angehören: beide von großem Ein-

fluß auf die Rechtsfähigkeit.

 

Die ältere Eintheilung lautete ſo: alle Menſchen ſind

entweder Cives oder Peregrini; ſie hatte für die Rechts-

fähigkeit dieſe Bedeutung: die cives haben Connubium und

Commercium, die Peregrinen entbehren Beides. So ge-

faßt, iſt der Begriff ganz negativ, und er umfaßt dann

auch die ganz rechtloſen Menſchen, namentlich die Skla-

ven, und die Bürger eines Volkes, mit welchem das Rö-

miſche Volk nicht im Verhältniß einer friedlichen Aner-

kennung ſteht (a). Man kann ihm aber auch eine poſitive

Beymiſchung geben, wodurch er allerdings für die Anwen-

dung größere Brauchbarkeit erhält. Dann heißen Pere-

grinen alle Diejenigen, welche im jus civile unfähig, im

jus gentium fähig zu Rechten ſind, und bey welchen dieſe

 

(a) Alſo nicht blos nach einer

in völkerrechtlicher Form ausge-

ſprochenen Kriegserklärung (ju-

stum bellum), ſondern auch wenn

es zwiſchen beiden Völkern noch

niemals zu irgend einer Anerken-

nung gekommen war. L. 5 § 2

de captivis (49. 15.) Daher er-

klärt es ſich, daß in der älteſten

Sprache hostis zugleich den Feind

und den Fremdling bezeichnete.

Cicero de officiis I. Cap. 12.

Varro de lingua lat. lib. 5 § 3.

|0053 : 39|

§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der Civität.

beſchränktere Rechtsfähigkeit auch in den Römiſchen Ge-

richten anerkannt wird (b). Dahin gehören dann nur noch

folgende Klaſſen:

1) Vor Caracalla die Einwohner faſt aller Provinzen,

alſo die große Mehrzahl der Einwohner des Römiſchen

Reichs überhaupt.

2) Die Bürger aller fremden Staaten, welche mit

den Römern in einem Verhältniß friedlicher Anerkennung

ſtanden.

3) Die Römer, welche in Folge einer Strafe (z. B.

der Deportation) die Civität verloren hatten (c).

4) Die Freygelaſſenen, welche, wegen der beſonderen

Umſtände bey ihrer Freylaſſung, keinen höheren Stand

erhalten durften (dediticiorum numero) (d).

Die Peregrinität der zwey erſten Klaſſen beruhte auf

 

(b) Den Beweis dieſes Satzes

ſiehe in der folgenden Note.

(c) L. 17 § 1 de poenis (48.

19.). „Item quidam ἀπόλιδες

sunt, hoc est sine civitate: ut

sunt in opus publicum perpe-

tuo dati, et in insulam depor-

tati: ut ea quidem, quae juris

civilis sunt, non habeant, quae

vero juris gentium sunt, ha-

beant.” Dieſes Letzte wird hier

zunächſt nur von den Deportir-

ten und anderen der Civität zur

Strafe Beraubten behauptet: es

iſt aber offenbar nicht etwas die-

ſen Eigenthümliches, ſondern viel-

mehr der allgemeine juriſtiſche

Character aller nicht ganz recht-

loſen Peregrinen überhaupt, wel-

cher hier nur in Anwendung auf

die durch Strafurtheil zu Pere-

grinen Gemachten erwähnt wird,

weil von dieſen allein die Rede

war. Vgl. auch L. 1 § 2 de leg.

3 (32 un.).

(d) Ulpian. XX. 14 „.. is qui

dediticiorum numero est, te-

stamentum facere non potest

… quoniam nec quasi civis Ro-

manus testari potest, cum sit

peregrinus, nec quasi peregri-

nus, quoniam nullius certae ci-

vitatis sciens (leg. civitatis ci-

vis est), ut adversus leges ci-

vitatis suae testetur.”

|0054 : 40|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ihrem allgemeinen Bürgerverhältniß (zu ihrer Provinzial-

gemeine, oder zu ihrem Staate), mithin auf einer ſtaats-

rechtlichen Regel: die der zwey letzten auf einer anomali-

ſchen Zurückſetzung Einzelner, die daher auch nicht Mit-

glieder irgend einer Bürgergemeine waren (Note c. d).

Darum war bey jenen die Peregrinität nicht herabwürdi-

gend, wohl aber bey dieſen (e).

Die Rechtsfähigkeit der Peregrinen im jus gentium

zeigte ſich in allen Arten der Rechtsverhältniſſe. Ihre

Ehe war ein wahres matrimonium (f), nur nicht justum.

Ihr Eigenthum wurde als natürliches Eigenthum (in bo-

nis) anerkannt und geſchützt (g). Ganz beſonders wirkſam

aber zeigte ſich ihre Rechtsfähigkeit in den Obligationen,

ja ſie hatten nicht blos, wie man erwarten könnte, na-

 

(e) Dieſe zwey Klaſſen waren

alſo unter den Peregrinen un-

gefähr das, was die servi sine

domino unter den Unfreyen wa-

ren, nämlich einzeln ſtehend, au-

ßer dem größeren Zuſammenhang

des ganzen Rechtsinſtituts.

(f) Dieſes zeigt ſich in vielen

Anwendungen, beſonders in der

Beziehung der Regel: Pater est

quem nuptiae (nicht justae nup-

tiae) demonstrant auch auf ſol-

che Ehen. So z. B. geſtattete

ein Senatusconſult dem Pere-

grinen, der doch kein Connubium

hatte (Ulp. V. 4), wenn er aus

Irrthum über den Stand eine

Römiſche Bürgerin heurathete,

durch ein ehelich erzeugtes Kind

die Civität zu erwerben (Ulp. VII.

4. Gajus I. § 68); in dieſer Vor-

ſchrift wurde unläugbar die Ehe

des Peregrinen als wirkliche Ehe,

und das Kind als ſein wirkliches

Kind angeſehen, welches letzte ja

gar nicht möglich wäre ohne die

Anwendung der oben angeführ-

ten Regel. Hier waren alſo ge-

radezu Römiſche Obrigkeiten ge-

ſetzlich angewieſen, die Rechtsfä-

higkeit anzuerkennen, die der Pe-

regrinus nach dem jus gentium

hatte.

(g) Dieſes folgt daraus, daß

man ihnen die actio furti und

legis Aquiliae geſtattete (Gajus

IV. 37), die ja ohne ein Recht

an der geſtohlenen oder beſchä-

digten Sache nicht möglich waren.

|0055 : 41|

§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der Civität.

turales obligationes, ſondern auch civiles, das heißt durch

Klagrecht geſchützte. Wahrſcheinlich war es das gerade

bey den Obligationen beſonders fühlbare Bedürfniß des

lebendigen Verkehrs mit befreundeten Nachbarvölkern, wo-

durch die Entwicklung dieſer Rechtsregeln veranlaßt wurde.

Der Ubergang zu dieſem ſtärkeren Grade der Rechtsfähig-

keit wurde dadurch vermittelt, daß man bey den Peregri-

nen die Civität fingirte, und ſo ihre Klagen als actiones

fictitiae den Klagen der Römiſchen Bürger anſchloß (h).

Die neuere Eintheilung beſteht aus folgenden drey

Gliedern: Alle Menſchen ſind entweder Cives, oder La-

tini, oder Peregrini; ſie ſetzt alſo eine dritte Klaſſe in die

Mitte zwiſchen die beiden Klaſſen der älteren Eintheilung.

Die praktiſche Bedeutung derſelben für die Rechtsfähig-

keit war folgende. Der Zuſtand der Cives und der Pe-

regrinen war unverändert, wie in der älteren Eintheilung,

geblieben. Die Latinen aber ſollten eine halbe Civität

haben, Commercium ohne Connubium. Durch die Theil-

nahme am Commercium ſollten ſie der erſten Klaſſe ver-

wandt ſeyn, durch den Mangel des Connubium der zwey-

ten. Dieſes Alles jedoch mit Vorbehalt von Privilegien,

wodurch einzelne Mitglieder der zweyten oder dritten Klaſſe

eine höhere Fähigkeit erhalten konnten, als ihnen nach der

Regel ihrer Klaſſe zukam (i). Die Bedeutung dieſer Pri-

 

(h) Gajus IV. § 37.

(i) Ulpian. V. § 4. „Connu-

bium habent cives Romani cum

civibus Romanis: cum Latinis

autem et peregrinis ita, si con-

cessum sit.” — Ulpian. XIX.

§ 4. „Mancipatio locum habet

inter cives Romanos, et Lati-

|0056 : 42|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

vilegien hat etwas Räthſelhaftes. Gewoͤhnlich denkt man

ſie als Begünſtigung ſolcher einzelnen Perſonen, die man

dadurch ehren oder belohnen wollte. Allein wenn dieſes

die Abſicht war, warum wählte man nicht das viel ein-

fachere Mittel, dem Begünſtigten das Recht und den Na-

men einer höheren Klaſſe ſelbſt zu verleihen? Gab man

ihm die Civität, womit ohnehin die Kaiſer gar nicht ſpar-

ſam verfuhren, ſo hatte er ja alle jene Rechte von ſelbſt,

ohne Privilegium. Der Unterſchied war allerdings darin

bedeutend, daß das connubium und commercium conces-

sum gewiß nur individuell war, anſtatt daß die Civität

ſtets auf die ſpäter erzeugten Kinder übergieng; aber wel-

chen Grund hatte man, den Nachkommen den Genuß die-

ſer dem Vater ertheilten Gunſt zu verſagen? — Bey dem

Connubium kennen wir den Zuſammenhang genau. Wer

ſich im Dienſt des Römiſchen Staats in einer Provinz

aufhielt, ſollte daſelbſt, ſo lange das Dienſtverhältniß

dauerte, keine Ehe ſchließen dürfen (k). Dieſes traf auch

die Römiſchen Bürger, die daſelbſt als Soldaten in Gar-

niſon ſtanden. Wenn aber dieſe irgend eine Bekanntſchaft

angeknüpft hatten, die nach dem Abſchied zu einer Ehe

führen ſollte, ſo pflegte man im Abſchied dem Soldaten

das Connubium mit einer peregrina (oder auch mit meh-

reren, für nachfolgende Ehen) zu geben, damit ſeine Ehe

nos colonarios, Latinosque Ju-

nianos, eosque peregrinos, qui-

bus commercium datum est.”

Vgl. Ulpian. XI. § 16. XX. § 8.

14. XXII. § 1—3. Gajus I. § 56.

(k) L. 38. 63. 65 de ritu nupt.

(23. 2.). L. 6 C. de nupt. (5. 4.).

|0057 : 43|

§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der Civität.

eine vollgültige ſeyn könnte. Hier war es in der That

nicht auf Begünſtigung der Frau abgeſehen, und das er-

theilte Connubium genügte dem Zweck vollkommen: ja es

war ſogar oft unmoͤglich, der Frau die Civität zu erthei-

len, da dieſe zur Zeit des Abſchieds noch eine unbe-

ſtimmte Perſon ſeyn konnte (l). — Dieſe Erklärung paßt

nun freylich nur auf das connubium, nicht auf das com-

mercium concessum. Von dieſem iſt eine ſpecielle Erklä-

rung nicht bekannt; es wäre jedoch wohl moͤglich, daß

man ſich dieſe Conceſſion als eine nothwendige Folge des

connubium concessum gedacht hätte, ohne ſie beſonders

auszudrücken; dann würde ſie ſich gleichfalls auf den eben

erklärten Fall bezogen haben, um dem Soldaten die Ver-

träge zu erleichtern, die er etwa mit der Frau oder dem Va-

ter derſelben über das Vermoͤgen zu ſchließen veranlaßt war.

(l) Gajus I. § 57. „Unde et

veteranis quibusdam concedi so-

let principalibus constitutioni-

bus connubium cum his Lati-

nis peregrinisve, quas primas

post missionem uxores duxe-

rint, et qui ex eo matrimonio

nascuntur, et cives Romani, et

in potestate parentum fiunt.”

— Dieſes Rechtsinſtitut, welches

durch die von Caracalla allgemein

gemachte Civität ſeinen Nutzen

gänzlich verlor, hat ſich für uns

in lebendiger Anſchauung erhal-

ten durch eine bedeutende Anzahl

noch vorhandener Originalabſchie-

de, die auf kleinen Tafeln von

Bronze eingegraben ſind. Vgl.

die treffliche Abhandlung von

Haubold und Platzmann

(Haubold opuscula Vol. 2 p. 783

—896), worin dieſelben anſchau-

lich mitgetheilt werden. — Daß

nach Ulpian (Note i) ſolche Con-

ceſſionen nicht blos für Peregri-

nen, ſondern auch für Latinen

ertheilt wurden, bezog ſich auf

die in Spanien einquartierten Le-

gionen; denn ganz Spanien hatte

durch Veſpaſian die Latinität er-

halten (Plinius hist. nat. III. 4),

und wir wiſſen nicht, daß hierin

vor der allgemeinen Civität von

Caracalla etwas geändert wor-

den wäre.

|0058 : 44|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Über die Zeit und Art der Einführung dieſer Mittel-

ſtufe, wodurch die neuere Eintheilung an die Stelle der

älteren getreten iſt, fehlt es an unmittelbaren Zeugniſſen,

und daher findet ſich hierüber bey den Neueren keine über-

einſtimmende, meiſt überhaupt keine beſtimmte Meynung.

In dem langen Zeitraum von Roms Anfang bis zur ent-

ſchiedenen Herrſchaft über Italien waren die Rechtsver-

hältniſſe zwiſchen Rom und den Italieniſchen Staaten eben

ſo mannichfaltig, als abwechslend: namentlich war der

Rechtszuſtand, welchen Rom den Bürgern der Latiniſchen

Nation einräumte, bald hoͤher, bald geringer, wie es in

jeder Zeit das wechſelnde Kriegsglück mit ſich brachte. Es

gab alſo damals mancherley Mittelſtufen zwiſchen der Ci-

vität und dem Stand der Peregrinen, die aber weder auf

einen gemeinſamen Grundſatz zurückgeführt werden konn-

ten, noch eine feſte Dauer hatten. Bald nach dem Bun-

desgenoſſenkriege verſchwanden dieſe Unterſchiede in ganz

Italien nach dem alten Sinn dieſes Namens (das heißt

mit Ausſchluß der Lombardey, welche Gallia cisalpina

hieß), indem zuerſt der Latiniſchen Nation, dann den übri-

gen Italienern, die Civität ertheilt wurde. Von jetzt an

bezeichnete alſo der Name der Latinen nur noch den Volks-

ſtamm, nicht mehr ein beſonderes Recht. Zu derſelben

Zeit aber wurde für die noͤrdliche Hälfte der Lombardey

(Gallia transpadana) eine neue Organiſation nach einem

ganz neuen Rechtsverhältniß nöthig gefunden, während

die ſüdliche Hälfte (cispadana) die Civität erhielt. Man

 

|0059 : 45|

§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der Civität.

gab den transpadaniſchen Städten, ohne neue Colonen

dahin zu ſchicken, das Recht Latiniſcher Colonien, aber in

einem anderen und beſchränkteren Sinn, als welchen das

alte Recht dieſes Namens gehabt hatte; ihre Bürger ſoll-

ten mit den Römern Commercium haben ohne Connubium:

wer in ſeiner Vaterſtadt eine Magiſtratur bekleidete, er-

warb dadurch die Römiſche Civität. Hier hatte alſo der

Name Latinus eine rein juriſtiſche Bedeutung erhalten,

ohne alle Beziehung auf Volksſtamm und Wohnſitz, und

das iſt die Latinität, die von den klaſſiſchen Juriſten als

Mittelſtufe, oder als zweyter Stand der freyen Einwoh-

ner des Reichs überhaupt, bezeichnet wird, und deren letzte

Spuren erſt Juſtinian aufgehoben hat (m). Zwar hörte

die urſprüngliche Anwendung dieſes Rechts auf die Trans-

padaner bald auf, indem dieſelben die Civität erhielten:

allein man behielt den Namen und das Rechtsverhältniß

bey, um es anderwärts anzuwenden. So wurde dieſe

(m) Die Hauptſtellen ſind:

Asconius in Cicer. in Pisonem

init. und Gajus I. § 79. 96. III.

§ 56, welche zu dieſer ſehr ſcharf-

ſinnigen Herleitung der Latinität

benutzt worden ſind von Nie-

buhr Röm. Geſchichte B. 2 S. 88

— 93. Vollſtändiger ausgeführt

iſt dieſe geſchichtliche Herleitung

in meiner Abhandlung über die

Tafel zu Heraklea, Zeitſchrift für

geſchichtl. Rechtswiſſenſchaft B. 9

S. 312 — 321. — Ächte Namen

für jenes Rechtsverhältniß ſind

Latium, jus Latii, Latinitas;

Gajus nennt es minus Latium,

im Gegenſatz des vortheilhafteren

Rechts, welches die alten Latinen

gehabt hatten. — Die älteſten ſiche-

ren Erwähnungen der Latini und

der Latinitas im juriſtiſchen, nicht

ethnographiſchen, Sinn, finden

ſich bey Cicero (ad Att. XIV. 12)

und in der Lex Junia Norba-

na; allein dieſe letzte giebt kein

ſicheres chronologiſches Datum,

da die Meynungen der Neueren

über ihr Zeitalter um ein volles

Jahrhundert aus einander gehen.

|0060 : 46|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Latinität von Veſpaſian an ganz Spanien gegeben (Note l),

welches ohne Zweifel die ausgedehnteſte und bleibendſte

Anwendung überhaupt war: weit früher aber wurde die-

ſes Rechtsverhältniß auf diejenigen Freygelaſſenen ange-

wendet, deren Freylaſſung aus verſchiedenen Gründen

keine volle Wirkung haben konnte (n).

Die Natur der drey Stände der Römiſchen Reichsge-

noſſen iſt hier blos nach ihren privatrechtlichen Eigenſchaf-

ten beſtimmt worden, ohne Rückſicht auf das Staatsrecht,

welches zur Zeit der freyen Republik die Theilnahme an

der Volksverſammlung und die Fähigkeit zu Römiſchen

Magiſtraturen (suffragium et honores), dem Civis bey-

legte, dem Latinen und Peregrinen aber verſagte. Dieſe

Rechte waren nun ohne Zweifel die vornehmſten unter

allen, und das Streben nach ihnen war hauptſächlich die

Veranlaſſung des blutigen Bundesgenoſſenkrieges. Hier-

nach ſcheint es, daß dieſe Rechte vorzüglich dem Begriff

der Civität zum Grunde gelegt werden müßten. Dennoch

 

(n) Es ſind dieſes die Latini

Juniani, welchen aber die wich-

tigſten einzelnen Beſtandtheile der

regelmäßigen Rechtsfähigkeit der

Latinen durch beſondere Beſtim-

mungen derſelben Lex Junia, die

ſie zu Latinen erhob, wieder ent-

zogen waren. Dennoch war es

kein leeres Spiel, daß man ſie

Latinen nannte, denn jene ano-

maliſche Einſchränkungen ihres

Rechts betrafen blos ihre Per-

ſon: ihre Nachkommen genoſſen

die regelmäßige Rechtsfähigkeit

der Latinen unbeſchränkt. — Die

Latini Juniani und ihre Nach-

kommen waren nun wieder un-

ter den Latinen etwas Ähnliches

wie unter den Unfreyen die servi

sine domino, und unter den Pe-

regrinen die Deportirten und die

Dediticiorum numero (Note e).

|0061 : 47|

§. 66. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. II. Mangel der Civität.

würde dieſes fehlerhaft ſeyn, und zwar ſowohl für die

Zeit der Republik, als für die Kaiſerzeit. Für die erſte:

denn es gab damals ausnahmsweiſe auch cives non optimo

jure, das heißt sine suffragio, folglich war der Begriff

der Civität überhaupt unabhängig von dem Beſitz je-

ner Rechte. Für die Kaiſerzeit: denn in dieſer verloren

jene Rechte bald den hohen Werth, den ſie früher gehabt

hatten. Dagegen war die privatrechtliche Fähigkeit für

die drey Stände zu allen Zeiten dieſelbe, und ihr Werth

blieb unvermindert auch bey der gänzlich veränderten

Staatsverfaſſung: nicht zu gedenken, daß auch in der re-

publikaniſchen Zeit der Beſitz der politiſchen Rechte doch

höchſtens dazu dienen konnte, den erſten Stand von den

beiden anderen, nicht aber dieſe unter ſich, zu unterſchei-

den. — War es nun aber lediglich das privatrechtliche

Verhältniß, woran die allgemeine, durchgreifende Unter-

ſcheidung der drey Stände angeknüpft wurde, ſo muß die-

ſes auch genau ſo aufgefaßt werden, wie es hier geſche-

hen iſt, als eine verſchiedene Fähigkeit der Einzelnen, in

gewiſſe Rechtsverhältniſſe einzutreten. Manche nämlich

haben den privatrechtlichen Vorzug der Civität in eine

ganz irrige Verbindung gebracht mit der großen Vortreff-

lichkeit des Römiſchen Rechts, und daher angenommen,

das Beſtreben der Bundesgenoſſen vor dem Italiſchen

Kriege ſey eigentlich auf den Vortheil gerichtet geweſen,

nach dieſem trefflichen Rechte zu leben. Dieſes würden

ihnen die Roͤmer nie verwehrt haben, denen es ja nur

|0062 : 48|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

erwünſcht ſeyn konnte, wenn ſich ihnen die Unterthanen

in Sitte und Recht annäherten, und dadurch ſelbſt ihre

Herrſchaft befeſtigten. Nicht darum alſo war es den

Italienern zu thun, in ihren Städten die Roͤmiſchen For-

men der Ehe, der Mancipation, der Teſtamente einzu-

führen: was ſie forderten, war freylich zunächſt die Theil-

nahme an den ſchon erwähnten politiſchen Rechten: da-

neben aber auch die Möglichkeit, mit Römiſchen Familien

in Verwandtſchaft zu kommen, von Römern durch Man-

cipation oder Teſtamente Vermögen zu erwerben, und ſo

durch mannichfaltige Rechtsverhältniſſe Antheil zu nehmen

an dem Glanz und Reichthum, in deren Beſitz die Roͤmer

durch den ſteten Fortſchritt ihres Staats zur Weltherr-

ſchaft immer vollſtändiger gelangen mußten.

|0063 : 49|

§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.

§. 67.

Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Abhängigkeit

von Familiengewalt.

Alle Menſchen, ſagen die Römer, ſind entweder sui

juris, oder alieni juris; wir können dieſe Eintheilung

durch die Ausdrücke: Unabhängige, Abhängige be-

zeichnen.

 

Die Gewalt aber über andere Menſchen, worauf ſich

der Begriff dieſer Abhängigkeit bezieht, kam bey den Rö-

mern in ganz verſchiedenen Rechtsverhältniſſen vor, und

jedes derſelben war durch Benennung und Rechte von den

anderen verſchieden. Solcher Verhältniſſe gab es wörtlich

drey, in der That aber vier. Die drey uralte Namen

dieſer Verhältniſſe, die überall ganz gleichförmig, und auch

ſtets in unveränderter Ordnung, angegeben werden, ſind:

Potestas, Manus, Mancipium; die Potestas aber umfaßt

zwey ganz verſchiedene Verhältniſſe: patria und dominica

potestas. Alle dieſe Verhältniſſe ſollen hier in ihrem Ein-

fluß auf die Rechtsfähigkeit dargeſtellt werden, zu wel-

chem Zweck es räthlich iſt, die eben erwähnte Ordnung

zu verlaſſen.

 

Die dominica Potestas, oder Abhängigkeit des Skla-

ven von ſeinem Herrn, kann hier deswegen gar nicht in

Betracht kommen, weil der Sklave an ſich ſelbſt, auch

der herrenloſe, eine ſehr beſtimmte und ausgedehnte Rechts-

 

II. 4

|0064 : 50|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

unfähigkeit hat, in welcher die aus der perſönlichen Ab-

hängigkeit von einem beſtimmten Herrn entſpringende faſt

gänzlich aufgeht (§ 65).

Die Manus, als die ſtrenge Form der Ehe, erzeugte

gleichfalls keine eigenthümliche Art beſchränkter Rechtsfä-

higkeit; denn da die Ehefrau, welche in dieſer Art der

Gewalt ſtand, juriſtiſch als Tochter des Mannes betrach-

tet wurde, ſo fiel ihr Rechtszuſtand mit dem einer filia-

familias gaͤnzlich zuſammen (a).

 

Das Mancipium endlich wurde nach der Analogie der

dominica, nicht der patria potestas behandelt (b). Daher

dürfen wir annehmen, daß die damit verbundene Rechts-

unfähigkeit, wenigſtens im Vermögen, dieſelbe war wie

bey den Sklaven, folglich ſtrenger und weiter gehend als

 

(a) Gajus II. § 159. „Idem

juris est in uxoris persona quae

in manu est, quia filiae loco

est.” Cf. I. § 114. 118. II. § 139.

III. § 14. — Allerdings gab es

nun zweyerley in manum con-

ventio, matrimonii causa und

fiduciae causa (Gajus I. § 114),

und der Rechtszuſtand einer Toch-

ter war nach den angeführten

Stellen nur mit der erſten Art

verknüpft. Es bleibt alſo immer

noch die Frage übrig, wie die

Rechtsfähigkeit einer Frau bey

der in manum conventio fidu-

ciae causa beſchaffen war. Dar-

über haben wir keine Nachricht;

es iſt aber zu vermuthen, daß

in dieſer Hinſicht beide Arten nicht

verſchieden von einander waren.

Wichtig war dieſe Frage ohne-

hin nicht, da die coemtio fidu-

ciae causa durchaus keinen dau-

ernden Zuſtand begründete, ſon-

dern nur als eine ganz vorüber-

gehende Formalität angewendet

wurde.

(b) Gajus I. § 123 „servorum

loco constituuntur.” III. § 114

„idem de eo qui in mancipio

est magis praevaluit, nam et

is servi loco est.” In der letz-

ten Stelle kommt eine unmittel-

bare Anwendung dieſer Analogie

vor. Die Adſtipulation des in

mancipio Stehenden iſt eben ſo

nichtig wie die des Sklaven (ni-

hil agit), und alſo ganz verſchie-

den von der des filiusfamilias.

|0065 : 51|

§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.

die der Kinder in väterlicher Gewalt (Note b). Hierin

beſtand alſo allerdings eine beſondere Art eingeſchränkter

Rechtsfähigkeit, dem Familienverhältniß eigenthümlich an-

gehoͤrend. Der Unterſchied vom Sklavenſtand lag nur

darin, daß dieſer auch als ein Zuſtand an ſich anzuſehen

war, anſtatt daß das mancipium nur in der Abhängig-

keit von einem beſtimmten, einzelnen Familienhaupt ſein

Weſen hatte. Eben ſo war ohne Zweifel, während der

Dauer des mancipii, die Ausübung politiſcher Rechte ſus-

pendirt, ſo daß der Mancipirte weder in der Volksver-

ſammlung ſtimmen, noch judex oder auch nur Teſtaments-

zeuge ſeyn konnte (c). Dagegen ſtand es anders im Fa-

milienrecht; ſeine Ehe blieb eine wahre, rechtsgültige Ehe,

(c) Aus Ulpian, XX. § 3—6,

wo ſo genau die Fälle angege-

ben werden, in welchen der Sohn

für beſtimmte Teſtamente Zeuge

ſeyn konnte, was ſeine allgemeine

Zeugenfähigkeit vorausſetzt, geht

durch den Gegenſatz hervor, daß

der in mancipio überhaupt un-

fähig war, weil ſonſt für ihn ähn-

liche Negeln gegeben worden wä-

ren. Der Teſtamentszeuge ſtellte

nämlich eine Klaſſe des Römi-

ſchen Volks vor, und in dieſer

Beziehung heißt es: „Testamen-

tifactio non privati sed publici

juris est.” L. 3 qui test. (28. 1.).

— Gegen die im Text aufgeſtellte

Behauptung (Suspenſion der po-

litiſchen Rechte) könnte man mit

vielem Schein anführen L. 5 § 2

L. 6 de cap. min. (4. 5.), nach

welchen durch keine minima c. d.,

alſo auch nicht durch die manci-

pii causa, die politiſchen Rechte

verloren werden ſollen. Allein

als dieſe Stellen niedergeſchrieben

wurden, war ja faſt immer die

mancipii causa nur ſymboliſch

und nur vorübergehend, alſo die

Suspenſion unmerklich. Wenn

aber in der älteren Zeit ein Rö-

mer ſeinen Sohn aus Armuth

mancipirte, ſo daß dieſer längere

Zeit dem Käufer diente, ſo iſt

es doch kaum denkbar, daß wäh-

rend dieſes Dienſtes ein politi-

ſches Recht hätte gelten ſollen;

nach der Entlaſſung freylich trat

gewiß das frühere Recht unver-

mindert ein, weshalb ich es auch

nur eine Suspenſion genannt

habe.

4*

|0066 : 52|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

und die Kinder, die er während dieſer Abhängigkeit er-

zeugte, kamen bald in die Gewalt des Großvaters, bald

in die des Mancipirten ſelbſt, nach deſſen Freylaſſung;

in keinem Fall fielen ſie in die mancipii causa ihres Va-

ters (d).

Nunmehr bleibt nur noch diejenige Beſchränkung der

Rechtsfähigkeit zu beſtimmen übrig, welche aus der Ab-

hängigkeit eines Kindes von der väterlichen Gewalt her-

vorgeht, und dieſe iſt zugleich auch die einzige, welche

mit dem Römiſchen Recht auf unſre Zeiten übergegangen

iſt, ja die noch, wenn gleich ſehr modificirt, in den Ge-

ſetzbüchern der neueſten Zeit ſichtbar wird.

 

Die väterliche Gewalt iſt auch an ſich ſelbſt eines der

wichtigſten Rechtsverhältniſſe, welches in dem Familien-

recht ſeine eigene Stelle finden wird. Daſelbſt iſt von

der Entſtehung und Auflöſung deſſelben, ſo wie von den

Rechten des Vaters und des Kindes, ſowohl welche die

Perſon, als welche das Vermögen betreffen, zu handeln.

Hier iſt aus dieſem ganzen Verhältniß lediglich der Ein-

fluß herauszuheben, welchen daſſelbe auf die Rechtsfähig-

keit des abhängigen Kindes äußert.

 

Die Rechtsfähigkeit der in väterlicher Gewalt ſtehen-

den Kinder läßt ſich in folgendem einfachen Grundſatz dar-

ſtellen. Das Kind iſt unfähig, im Privatrecht irgend eine

Macht oder Herrſchaft zu haben, in jeder andern Bezie-

hung iſt es vollkommen rechtsfähig. Auch jene Unfähigkeit

 

(d) Gajus I. § 135.

|0067 : 53|

§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.

iſt nicht als ein dem Kinde ſelbſt inwohnender Mangel

anzuſehen, ſondern lediglich als Folge der Rechtsregel,

nach welcher der Vater alle Rechte erwirbt, die aus den

Handlungen ſeines Kindes entſtehen.

Nur im Privatrecht alſo war eine ſolche Beſchrän-

kung wahrzunehmen, nicht im öffentlichen Recht. Der

Sohn konnte daher, gleich dem Vater, in der Volksver-

ſammlung ſtimmen, ja die höchſten Ehrenſtellen bekleiden (e).

 

Im Privatrecht hat das Kind Connubium und Com-

mercium, alſo die hoͤchſte Fähigkeit ſelbſt zu den Inſtitu-

ten des alten jus civile: aber dieſe Fähigkeit kann ihm

ſelbſt keine Art von gegenwärtiger Macht verſchaffen.

Dieſes zeigt ſich deutlich in folgenden Anwendungen.

 

Die Ehe des Sohnes iſt eine gültige Civilehe (justum

matrimonium), aber wenn ſie mit in manum conventio

verbunden iſt, ſo kommt die Gewalt über die Frau nicht

auf den Mann, ſondern auf deſſen Vater. — Die Kinder

aus einer ſolchen Ehe ſind legitime concepti, und treten

mit der Geburt in väterliche Gewalt, aber nicht in die

ihres Erzeugers, ſondern in die Gewalt ihres Großva-

ters. — Der Agnation iſt das Kind durchaus fähig. —

Gewalt über Sklaven kann das Kind nicht haben, da

dieſes eine eigene Macht iſt. — Aber eine Tutel zu füh-

 

(e) L. 9 de his qui sui (1. 6.).

„Filiusfamilias in publicis cau-

sis loco patrisfamilias habetur,

veluti si magistratum gerat, vel

tutor detur.” — L. 13 § 5. L. 14

pr. ad Sc. Treb. (36. 1.). „… Nam

quod ad jus publicum attinet,

non sequitur jus potestatis.” —

Vergl. L. 3 de adopt. (1. 7.).

L. 77. 78 de jud. (5. 1.), und

Livius XXIV. 44, Gellius II. 2,

Valerius Max. II. 2. 4.

|0068 : 54|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ren iſt der Sohn fähig, denn dieſe iſt ein öffentli-

ches Amt.

Der Sohn hat Commercium, und iſt daher fähig, bey

Mancipationen und Teſtamenten als Zeuge zu erſcheinen,

wozu der Sklave ganz unfähig iſt. — Aber Eigenthum

oder Servituten haben kann der Sohn nicht.

 

Der Sohn kann keine Schuldforderungen haben, weil

darin eine eigene Macht liegt. Schulden zu haben, iſt er

durchaus fähig, ja dieſe Schulden ſind ſchon jetzt civiles

obligationes, alſo klagbar (f). Der Grund dieſes Unter-

ſchieds liegt darin, daß der Sohn überhaupt den Vater

reicher machen kann, aber nicht ärmer (g). — Dieſe Sätze

erleiden jedoch eine Modification für das wechſelſeitige

Schuldverhältniß zwiſchen dem Vater und Sohn: an den

Vater kann der Sohn auch Forderungen haben, aber nur

als naturales obligationes: umgekehrt kann er auch Schuld-

ner des Vaters ſeyn, aber gleichfalls nur in einer natu-

ralis obligatio (h). Es galt alſo in dieſer Hinſicht ganz

 

(f) L. 39 de O. et A. (44. 7.).

„Filiusfamilias ex omnibus cau-

sis tanquam paterfamilias obli-

gatur, et ob id agi cum eo tan-

quam cum patrefamilias potest.”

L. 57 de jud. (5. 1.). L. 44. 45

de peculio (15. 1.). L. 141 § 2

de V. O. (45. 1.). L. 8 § 4 de

acceptilat. (46. 4.). — Eine ganz

ſinguläre Ausnahme iſt es, daß

der Sohn ohne des Vaters Wil-

len durch ein Votum nicht ver-

pflichtet wird. L. 2 § 1 de pol-

lic. (50. 12.).

(g) Geradezu ausgeſprochen fin-

det ſich dieſe Regel nur bey Skla-

ven. L. 133 de R. J. (50. 17.).

„Melior conditio nostra per

servos fieri potest, deterior

fieri non potest,” und in ähn-

lichen Stellen. In dieſer Hin-

ſicht aber ſtanden Sklaven und

Kinder auf gleicher Linie.

(h) Die Möglichkeit einer na-

turalis obligatio zwiſchen Vater

und Sohn liegt zum Grunde in

L. 38 pr. § 1. 2 de cond. indeb.

(12. 6.). Die Unmöglichkeit von

|0069 : 55|

§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.

daſſelbe, was oben für die Obligationen zwiſchen dem

Herrn und ſeinem Sklaven beſtimmt worden iſt (§ 65).

— In allen dieſen Regeln aber, welche die Fähigkeit oder

Unfähigkeit zu obligatoriſchen Verhältniſſen betreffen, iſt

ein Unterſchied zwiſchen dem Sohn und der Tochter in

väterlicher Gewalt nicht zu behaupten, ſelbſt für das äl-

tere Recht nicht. (Beylage V.)

Die eben aufgeſtellten Regeln laſſen ſich in den einfa-

chen Grundſatz zuſammen faſſen: das Kind kann über-

haupt keine activen Vermögensrechte haben. Da aber das

Erbrecht, ſeiner Natur und Beſtimmung nach nur der

collective Ausdruck einer Geſammtheit von Vermögensrech-

ten iſt (wenngleich in einzelnen Fällen eine Erbſchaft viel-

leicht nur aus Schulden beſtehen mag), ſo folgt aus je-

nem Grundſatz ferner, daß das Kind, obgleich es testa-

mentifactio hat, dennoch kein Teſtament machen kann (i):

ja noch mehr, daß es überhaupt unfähig iſt, irgend einen

Erben zu haben (k).

 

Vergleicht man die hier für die Kinder in väterlicher

Gewalt dargeſtellten Gränzen der Rechtsfähigkeit mit den

oben für die Sklaven dargeſtellten (§ 65), ſo findet ſich

 

Klagen zwiſchen ihnen iſt gera-

dezu ausgeſprochen in L. 4. 11

de jud. (5. 1.). L. 16 de furtis

(47. 2.).

(i) Ulpian. XX. § 10. „Filius

familiae testamentum facere non

potest, quoniam nihil suum ha-

bet, ut testari de eo possit.”

Dagegen hatte er testamenti-

factio, denn er konnte Zeuge

bey der Mancipation, auch libri-

pens und familiae emtor ſeyn:

ibid. § 3—6.

(k) L. 11 de fidejuss. (46. 1.).

L. 18 de Sc. Maced. (14. 6.).

|0070 : 56|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

unter ihnen theils Ahnlichkeit, theils Verſchiedenheit. Sie

ſind einander ähnlich in der unfreywilligen Vertretung des

Familienhauptes durch erwerbende Handlungen, woraus

wiederum die faſt gänzliche Unfähigkeit folgt, ein eigenes

Vermögen zu haben. Sie ſind verſchieden dadurch, daß

die Unfähigkeit des Sohnes keinen anderen Grund hatte,

als eben jene nothwendige Vertretung, ſo daß er daneben

noch fähig war, in einer Römiſchen Ehe und Verwandt-

ſchaft zu ſtehen, Teſtamentszeuge und Vormund zu ſeyn,

klagbare Schulden zu haben; anſtatt daß der Sklave zu

allen dieſen Verhältniſſen unfähig war, weil ſeine Unfä-

higkeit, neben jener nothwendigen Vertretung einer be-

ſtimmten Perſon, noch einen zweyten bavon unabhängigen

Grund hatte, nämlich den abſoluten Zuſtand des Sklaven

an ſich (l). Es war eine bloße Folge dieſer Verſchieden-

heit, daß herrenloſe Sklaven, und zwar ſogar auf man-

cherley Weiſe, wirklich vorkamen, anſtatt daß filiifamilias

ohne einen beſtimmten, wirklichen Vater, von welchem ſie

abhängig waren, durchaus nicht vorkommen konnten.

(l) Dieſer weſentliche Unter-

ſchied zwiſchen der Unfähigkeit des

Sohnes und des Sklaven zeigt

ſich nirgend ſo deutlich, als bey

der Adſtipulation nach Gajus III.

§ 114. Die Adſtipulation hatte

das Eigene, daß darin ausſchlie-

ßend auf das Individuum gerech-

net war, daß alſo der adstipu-

lator, nach der Abſicht des Ver-

trags, ein Klagerecht nie einem

Dritten erwerben konnte, ſondern

nur entweder ſich ſelbſt oder Kei-

nem. Darum heißt es bey dem

servus adstipulator: nihil agit,

bey dem filiusfamilias: agit ali-

quid, aber ſein Klagerecht ruht

während der potestas, und wird

erſt lebendig nach des Vaters Tod.

Von der daneben erwähnten ca-

pitis deminutio ſ. u. § 70. i.

|0071 : 57|

§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.

Die hier dargeſtellte beſchränkte Rechtsfähigkeit der

Kinder in väterlicher Gewalt war die urſprüngliche; im

Laufe der Zeit aber ſind damit große Veränderungen vor-

gegangen. Die erſte derſelben fällt in den Anfang der

Kaiſerregierung, in welcher Zeit man dem Sohne erlaubte,

durch den Erwerb aus Anlaß des Kriegsdienſtes ein eige-

nes Vermögen zu bilden (castrense peculium), ja dafür

durch Fiction als ein Unabhängiger (sui juris) behandelt

zu werden. Dieſe neue Fähigkeit wurde ſpäter auf den

Erwerb durch andere Arten des öffentlichen Dienſtes (qua-

sicastrense) erweitert. — Weit wichtiger durch ihren Um-

fang, aber weniger eingreifend in das Recht ſelbſt, ſind die

Ausnahmen, die von K. Conſtantin an eintraten, und durch

Juſtinian zu einer allgemeinen Regel ausgedehnt wurden, in

dem von den Neueren ſogenannten peculium adventitium.

Seit deſſen Einführung iſt von der früheren Unfähigkeit,

Vermoͤgen zu haben, wenig mehr übrig, vielmehr haben

die Kinder jetzt wirkliches Vermoͤgen in großer Ausdeh-

nung, nur iſt ihr Vermögen ganz eigenthümlichen Ein-

ſchränkungen unterworfen. Indeſſen iſt dieſes neu gebil-

dete Recht nur als die Entwicklung des früheren Zuſtan-

des zu betrachten, es kann ohne dieſen durchaus nicht

verſtanden werden, und die in dem gegenwärtigen §.

dargeſtellte Art beſonderer Rechtsfähigkeit kann daher

nicht unter die antiquirten, ſondern nur unter die um-

gebildeten Inſtitute gerechnet werden, weshalb deſſen Dar-

 

|0072 : 58|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſtellung dem heutigen Römiſchen Recht unmittelbar an-

gehört.

Faſſen wir Dasjenige, was hier über die Abhängigkeit

von Familiengewalt geſagt worden iſt, unter einen ge-

meinſamen Geſichtspunkt zuſammen, ſo können wir in die-

ſer Hinſicht zwey ganz verſchiedene Stufen beſchränkter

Rechtsfähigkeit unterſcheiden, die auf der väterlichen Ge-

walt, und auf dem mancipium beruhen. Alles bisher

Dargeſtellte aber wird durch folgende Zuſammenſtellung

anſchaulicher werden. Es giebt drey Gründe beſchraͤnkter

Rechtsfähigkeit, und jeder dieſer Gründe beſtimmt wie-

derum drey verſchiedene Stufen der Rechtsfähigkeit, ſo

daß die erſte Stufe jedesmal den günſtigſten Zuſtand,

oder die Abweſenheit jeder aus dieſem Grunde entſprin-

genden Beſchränkung, bezeichnet. Die Stufen ſelbſt ſind

folgende:

 

I. In Beziehung auf Freyheit:

A. Ingenui

B. Libertini

 Liberi.

D. Servi.

II. In Beziehung auf Civität:

A. Cives.

B. Latini.

C. Peregrini.

|0073 : 59|

§. 67. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit. III. Familienabhängigkeit.

III. In Beziehung auf Familiengewalt:

A. Sui juris.

B. Filiifamilias

C. Qui in mancipio sunt

 Alieni juris.

Zwar giebt es noch andere Alieni juris, die Sklaven,

und die Ehefrauen in manu: allein jene gehören unter

die erſte Eintheilung (I. C.), dieſe unter die zweyte Stufe

der dritten Eintheilung (III. B.), beide alſo bilden keine

eigenthümliche Stufen der durch Familiengewalt beſchränk-

ten Rechtsfähigkeit.

 

|0074 : 60|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 68.

Dreyfache capitis deminutio.

Es ſind bis hierher drey Arten eingeſchränkter Rechts-

fähigkeit, jede auf einem eigenen Grunde beruhend, nach-

gewieſen worden. Das Daſeyn derſelben, und insbeſon-

dere auch ihre Anzahl (nicht mehr noch weniger als drey),

iſt unter den Neueren allgemein anerkannt; nur haben die-

ſelben den Verſuch gemacht, jene drey Verhältniſſe durch

die Kunſtausdrücke status libertatis, civitatis, familiae zu

bezeichnen, wodurch die einfache Lehre des Römiſchen Rechts

wieder etwas verdunkelt worden iſt. Ich habe daher ab-

ſichtlich dieſe nicht quellenmäßigen Ausdrücke vermieden,

und behalte mir vor, was daran wahr und falſch iſt, an

paſſender Stelle zu unterſuchen.

 

In jenen dreyerley Stufen der Rechtsfähigkeit nun

können die Einzelnen mancherley Veränderungen erfahren,

und zwar bald vortheilhafte, bald nachtheilige, indem der

Freye zum Sklaven, der Römiſche Bürger zum Peregri-

nen, oder das Familienhaupt zu einem Abhängigen wer-

den kann, und umgekehrt; das eine kann man Erhöhung,

das andere Herabſetzung oder Degradation nennen. Fer-

ner können dieſe Veränderungen bald natürliche, bald ju-

riſtiſche Urſachen haben, ſo z. B. kann der Sohn von ſei-

nes Vaters Gewalt ſowohl durch deſſen Tod, als durch

Emancipation, befreyt werden. Der Einfluß dieſer Ver-

 

|0075 : 61|

§. 68. Dreyfache capitis deminutio.

änderungen auf die Rechtsfähigkeit bedarf keiner neuen

Beſtimmungen, ergiebt ſich vielmehr aus dem bisher Dar-

geſtellten von ſelbſt; ſo hat z. B. der Sklave, welcher

aus der Freyheit in den Sklavenſtand gekommen iſt, durch-

aus keine verſchiedene Rechtsfähigkeit von dem in der Skla-

verey geborenen.

Indeſſen findet ſich ein uralter Rechtsbegriff unter der

gleichfalls alten Benennung capitis deminutio (a), und es

fragt ſich, was darunter zu verſtehen ſey. Man moͤchte

glauben, darüber könne kein Zweifel ſeyn, da die alten

Juriſten ſelbſt, in nicht wenigen Stellen, die Erklärung

geben, es ſey eine status mutatio (commutatio, permuta-

tio) (b). Allein damit iſt wenig gewonnen, theils weil die

Erklärung von status wieder die größten Schwierigkeiten

macht, theils weil ſich erweiſen läßt, daß zu der mutatio

 

(a) In den Handſchriften kom-

men zwey Schreibarten vor, de-

minutio und diminutio. Hugo

erklärt ſich entſchieden für die

letzte (Rechtsgeſchichte S. 121.

Ausg. 11). Für die erſte ſcheint

zu entſcheiden die alphabetiſche

Anordnung bey Feſtus, worin das

Wort Deminuti zwiſchen Dema-

gis und Demoe ſteht; allein das

beweiſt Nichts, weil dieſe ſtrenge

Ordnung erſt durch die Heraus-

geber des Feſtus hervorgebracht

iſt, anſtatt daß in den Hand-

ſchriften Alles ziemlich bunt durch

einander geht. Ich habe keinen

Grund zu zweifeln, daß die Al-

ten ſelbſt Beides wirklich geſchrie-

ben haben, daß alſo Beides rich-

tig iſt.

(b) pr. J. de cap. dem. (1. 16.).

L. 1 de cap. min. (4.5.) von Ga-

jus. — Ulpian. XI. § 13. L. 9

§ 4 de minor. (4. 4.) von Ulpian.

— Paulus I. 7 § 2, III. 6 § 29.

L. 2 de in int. rest. (4. 1.) von

Paulus. — L. 28 C. de liber.

causa (7. 16.). — In allen die-

ſen Stellen heißt es status, bey

Gajus I. § 159 iſt eine unlesbare

Stelle: prioris … permutatio,

die auf meinen Vorſchlag durch

capitis ausgefüllt worden iſt,

weil wenigſtens ein p. bemerkt

worden war. — Der Unterſchied

unter mutatio, commutatio, per-

|0076 : 62|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

in jedem Fall noch allerley hinzugedacht werden muß, was

die Urheber der Definition gewiß auch dachten, und nur

zu ſagen unterlaſſen haben. So erfahren wir alſo an die-

ſer Definition der alten Juriſten Daſſelbe, wie an vielen

anderen, daß wir dadurch nicht viel weiter kommen.

Halten wir uns zunächſt an den bloßen Wortlaut, ſo

ſcheinen zwey Beſtandtheile in jenem Rechtsbegriff erwar-

tet werden zu müſſen: erſtlich eine Veränderung in dem

Zuſtand einer Perſon, und zweytens eine ſolche Ver-

änderung, welche der Perſon zum Nachtheil gereicht.

Dieſes erinnert aber ſogleich an die eine Hälfte der im

Anfang des gegenwärtigen §. erwähnten Veränderungen,

nämlich an die Degradationen in Beziehung auf

Rechtsfähigkeit. Und dieſe Vermuthung erhält wei-

ter einen hohen Grad von Wahrſcheinlichkeit durch die

Wahrnehmung, daß es eben ſo eine dreyfache capitis de-

minutio giebt, wie wir oben eine dreyfache Einſchränkung

der Rechtsfähigkeit fanden. Dann wäre überhaupt unter

capitis deminutio zu denken eine jede Verminderung der

Rechtsfähigkeit, und zwar nach den drey möglichen Grün-

den ſolcher Verminderungen, in Beziehung auf Freyheit,

Civität, Unabhängigkeit, alſo in Vergleichung mit der am

Schluß des § 67 aufgeſtellten Tabelle. Noch immer aber

bleibt dieſe Annahme eine blos wahrſcheinliche, und ihre

 

mutatio iſt an ſich unbedeutend;

übrigens herrſcht bey mehreren

der angeführten Stellen wiederum

die größte Verſchiedenheit in der

Leſeart der Handſchriften: am

meiſten in der Stelle der Inſti-

tutionen.

|0077 : 63|

§. 68. Dreyfache capitis deminutio.

Wahrheit kann nur bewieſen werden durch Vergleichung

mit dem wirklichen Inhalt, den die Römiſchen Juriſten

ihrer dreyfachen capitis deminutio anweiſen, zu welcher

Vergleichung ich mich jetzt wende (c).

Die drey Grade der capitis deminutio heißen nach der

einfachſten und ſicherſten Terminologie: maxima, media,

minima (d).

 

I. Maxima. Sie beſteht nach den oben angeführten

Stellen in dem Verluſt der Freyheit, das heißt in der

Verwandlung eines Freyen (Ingenuus oder Libertinus) in

einen Sklaven (e). Hier zeigt ſich alſo die oben aufge-

ſtellte Vermuthung vollkommen und unzweifelhaft beſtätigt.

 

(c) Die wichtigſten Stellen ſind

dieſe: Gajus I. § 159—163. Ul-

pian. XI. § 10—13. Tit. J. de

cap. demin. (1. 16.). L. 11 de

cap. min. (4. 5.) (von Paulus).

Boethius in Ciceronis top. C. 4

(im Ganzen richtig, nur rech-

net er irrig die Deportation zur

maxima).

(d) Folgende abweichende Ter-

minologieen kommen daneben vor:

1) die media heißt minor bey

Gajus und in den Inſtitutionen

(in beiden media daneben ge-

nannt). 2) Die beiden höheren

Grade werden von Gajus zuſam-

mengefaßt unter dem Nameu ma-

jores (I. § 163), von Calliſtra-

tus und Ulpian unter dem Na-

men magna (L. 5 § 3 de extr.

cogn. 50. 13. — L. 1 § 4 de suis

38. 16. — L. 1 § 8 ad Sc. Ter-

tull. 38. 17.). Im Gegenſatz die-

ſer magna nennt nun Ulpian den

geringſten Grad minor. (L. 1

§ 4 cit.). — Hieraus erhellt, daß

der Ausdruck minor zweydeutig

iſt, und daher beſſer vermieden

wird. Die oben im Text gebrauch-

ten Ausdrücke laſſen durchaus kein

Misverſtändniß zu. — In der an-

geführten L. 5 §3 de extr. cogn.

(50. 13) heißt es: „magna cap.

dem … id est cum libertas ad-

imitur, veluti cum aqua et igni

interdicitur.” Hier wird liber-

tas für civitas genommen, wo-

für auch ſonſt Analogieen vor-

kommen. Schilling Inſtitutio-

nen B. 2 § 27 Note h.

(e) Man könnte vielleicht noch

einen andern Fall dahin rechnen,

die Verwandlung des Freygebor-

nen in einen Freygelaſſenen. Die-

ſer Fall kam nur vor bey einer

Frau, die einen fremden Skla-

|0078 : 64|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

II. Media. Für dieſe kommen folgende Anwendun-

gen vor:

 

A. Nach den oben angeführten Stellen, Verwandlung

des Civis in einen Peregrinen, z. B. durch die Deportation.

 

B. Verwandlung des Civis in einen Latinus (f).

 

C. Die Verwandlung des Latinus in einen Peregri-

nen wird zwar nicht ausdrücklich erwähnt, allein es dürfte

wohl angenommen werden können, daß die Deportation

eines Latinen ebenſowohl eine capitis deminutio war, als

die eines Römiſchen Bürgers (g).

 

Auch bey der media alſo zeigt ſich unſre eben aufge-

ſtellte Vermuthung eben ſo ſicher bewährt, als bey der

maxima.

 

ven heurathete mit Einwilligung

des Herrn (denn wenn es wider

deſſen Willen geſchah, ſo wurde

ſie ſelbſt auch Sklavin). Taci-

tus ann. XII. 53. Paulus IV. 10

§ 2. Gajus I. § 84. Fragm. de

jure fisci § 12. Daß dieſer Fall

bey der capitis deminutio nicht

erwähnt wird, erklärt ſich wohl

aus deſſen ſpäter Entſtehung und

(wahrſcheinlich) ſeltner Anwen-

dung. Wenn es übrigens als ca-

pitis deminutio angeſehen wurde,

ſo war es eine maxima, nicht

minima; denn bey dem Freyge-

laſſenen war der Libertinenſtand

an ſich (ähnlich dem Sklaven-

ſtand an ſich), im Verhältniß zum

Staat, noch verſchieden von dem

Verhältniß zu dem beſtimmten Pa-

tron, und wichtiger als dieſes.

(f) Boethius in Ciceronis top.

Cap. 4 „media vero, in qua ci-

vitas amittitur, retinetur liber-

tas, ut in Latinas colonias

transmigratio.” Denſelben Fall

erwähnt auch Gajus III. § 56,

und noch beſtimmter als Boethius,

nur ohne den Namen der capi-

tis deminutio zu brauchen. Vgl.

auch Cicero pro Caecina C. 33.

(g) Nach dem Recht und Sprach-

gebrauch der älteren Zeit konnte

auch die eintretende Infamie als

capitis deminutio betrachtet wer-

den, wegen der verlornen Fähig-

keit zu politiſchen Rechten; zur

Zeit der klaſſiſchen Juriſten wurde

das anders angeſehen. Davon

wird unten bey der Infamie ge-

handelt werden.

|0079 : 65|

§. 68. Dreyfache capitis deminutio.

III. Minima. Die Analogie der beiden erſten Fälle

würde conſequenterweiſe auf folgende Anwendungen führen:

 

A. Verwandlung eines Familienhauptes in einen fili-

usfamilias, z. B. durch Arrogation, und im neueren Recht

durch Legitimation. Daß dieſe eine minima capitis demi-

nutio ſey, iſt niemals beſtritten worden (h).

 

B. Degradation eines filiusfamilias, oder einer Frau

in manu, in die mancipii causa. Auch für dieſe iſt die

Natur der minima capitis deminutio unzweifelhaft, und

es lag darin der Grund, warum die Emancipation und

die Adoption eines fremden Kindes als capitis deminutio

galten, da beide nach ihrer alterthümlichen Form ſtets

mit dem Durchgang durch die mancipii causa verbunden

waren (i). Nimmt man nicht auf dieſen Umſtand Rück-

ſicht, ſo muß es auffallen, daß die Emancipation, wo-

durch ja der Sohn unabhängig wird, alſo im letzten Re-

ſultat an Rechtsfähigkeit Nichts verliert, ſondern nur ge-

winnt, dennoch ſtets und ganz allgemein als capitis de-

minutio betrachtet wurde.

 

C. Man könnte dahin endlich noch zichen wollen die

Degradation eines Familienhauptes in die mancipii causa;

allein dieſe war überhaupt unmöglich, da die Mancipa-

tion, woraus die mancipii causa allein entſtand, lediglich

 

(h) L. 2 § 2 de cap. min. (4.

5.). Gajus I. § 162. — Eben ſo

die bey einer unabhängigen Frau

durch die Ehe mit in manum

conventio entſtchende Änderung

des Rechtszuſtandes.

(i) L. 3 § 1 de cap. min. (4. 5.)

„cum emancipari nemo possit,

nisi in imaginariam servilem

causam deductus.” Gajus I.

§ 162. 134.

II. 5

|0080 : 66|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

einem filiusfamilias oder einer Frau in manu widerfahren

konnte (k).

So ſcheint alſo auch für die minima unſere Vermu-

thung vollkommen beſtätigt, womit zugleich der zu füh-

rende Beweis durch die Anwendung auf alle einzelne Fälle

vollendet ſeyn würde. Daß dennoch der hier aufgeſtellte

Begriff der capitis deminutio durch die herrſchende Mey-

nung neuerer Rechtslehrer verworfen wird, liegt theils

an einigen zweifelhaften einzelnen Anwendungen, theils

und noch mehr an den ſchwankenden Erklärungen Römi-

ſcher Juriſten über den Begriff der minima capitis demi-

nutio. Dieſes führt aber zu einer ſo weitgreifenden Un-

terſuchung, daß es, um den Zuſammenhang nicht zu un-

terbrechen, zum Gegenſtand einer abgeſonderten Unterſu-

chung gemacht werden mußte (Beylage VI.). Hier ſoll

nur noch zum Schluß die Stelle eines nichtjuriſtiſchen

Schriftſtellers angeführt werden, welcher die wichtigſten

Fälle der capitis deminutio gerade ſo angiebt, wie ſie

auch aus unſrer Annahme folgen. Feſtus ſagt in ſeinem

Woͤrterbuch: „Deminutus capite appellatur qui civitate

mutatus est (l); et ex alia familia in aliam adoptatus:

 

(k) Gajus I. § 117. 118. Ul-

pian. XI. § 5.

(l) Hier will Conradi parerga

p. 174 emendiren multatus est,

und er nimmt dieſen, allerdings

ſcheinbaren, Vorſchlag aus J. B. Pii

annotationes post. C. 44. Dennoch

muß dieſe Emendation ſchon des-

halb verworfen werden, weil der

Fall ſonſt identiſch ſeyn würde mit

der am Ende der Stelle erwähnten

aquae et ignis interdictio, folg-

lich ganz überflüſſig, und beſon-

ders mit unnatürlicher Trennung

beider Sätze. Der civitate mu-

tatus iſt der Römer, welcher ſein

|0081 : 67|

§. 68. Dreyfache capitis deminutio.

et qui liber alteri mancipio datus est: et qui in hostium

potestatem venit: et cui aqua et igni interdictum est.”

Wir gebrauchen hiernach von jetzt an den Ausdruck

capitis deminutio für jede Degradation in Bezie-

hung auf die Rechtsfähigkeit.

 

Nimmt man nun die hier vertheidigte Anſicht der mi-

nima c. d. als richtig an, ſo folgt daraus nothwendig,

daß im Juſtinianiſchen Recht die Arrogation der einzige

noch übrige Fall derſelben iſt. Denn die manus, ſo wie

die mancipii causa als ein ſelbſtändiges, dauerndes Ver-

hältniß waren ohnehin ſchon längſt verſchwunden, und die-

ſes wird auch gar nicht bezweifelt. Aber auch die Eman-

cipation kann nicht mehr als capitis deminutio gelten.

Dieſes hätte eigentlich ſchon conſequenterweiſe daraus fol-

gen müſſen, daß der Emancipirte nicht mehr durch die

formelle mancipii causa hindurchgeführt wurde. Zwar

verordnete Juſtinian, daß dennoch der Vater ſein Patro-

natsrecht beybehalten ſollte (m); allein das geſchah ledig-

lich um ihn in der Erbfolge nicht zu verkürzen, wofür

nun nach dem Novellenrecht ohnehin keine künſtliche Vor-

ſorge mehr nöthig iſt. Dagegen hatte Juſtinian ſelbſt

ſchon ausdrücklich vorgeſchrieben, daß die Agnation durch

 

Bürgerrecht freywillig aufgiebt,

um in einem fremden Staate

Bürger zu werden. Vgl. Cicero

pro Balbo C. 13 „ne quis invi-

tus civitate mutetur,” C. 18 „ut

et civitate illum mutatum esse

fateretur.” Livius V. 46 „mu-

tari finibus.” L. 7 pr. de cap.

min. (4. 5.) „familia mutati.”

Vgl. Gronov. obs. III. 1.

(m) L. 6 C. de emancipat.

(8. 49.).

5*

|0082 : 68|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

die Emancipation nicht aufhören ſolle (n), noch che durch

die neueſte Geſetzgebung über das Erbrecht die Agnation

ohnehin allen praktiſchen Werth verloren hatte. Im Sinn

des Juſtinianiſchen Rechts kann daher die Emancipation

durchaus nicht mehr als eine capitis deminutio betrach-

tet werden.

(n) L. 11. L. 13 § 1 C. de leg. hered. (6. 58.).

|0083 : 69|

§. 69. Wirkungen der capitis deminutio.

§. 69.

Wirkungen der capitis deminutio.

Die Wirkungen der hier unter dem gemeinſamen Na-

men der capitis deminutio zuſammengefaßten ſehr verſchie-

denen Ereigniſſe ſind großentheils ſo beſchaffen, daß ſie

aus der Natur der einzelnen Veränderungen von ſelbſt

folgen. Wenn z. B. ein Römiſcher Bürger die Freyheit

verlor (maxima c. d.), ſo verſtand es ſich von ſelbſt, daß

er nun in die hoͤchſt beſchränkte Rechtsfähigkeit eines Skla-

ven eintrat, und daß er alſo ſowohl ſeine frühere Ehe

und Cognation, als ſein früheres Vermögen nicht mehr

haben konnte. Eben ſo verlor der Arrogirte zwar nicht

ſeine Ehe und Cognation, wohl aber ſein Vermögen. Die-

ſes Alles folgte nothwendig aus den oben dargeſtellten

Einſchränkungen der Rechtsfähigkeit für Sklaven und Kin-

der. Es trat alſo in ſolchen Fällen nur dasjenige in Be-

ziehung auf die Vermögensrechte ein, was ohnehin einge-

treten ſeyn würde, wenn dieſelben erſt nach einer ſolchen

capitis deminutio erworben worden wären, alſo daſſelbe,

was die Römer bey dem letzten Willen durch die natür-

liche Regel ausdrücken: Quae in eam causam pervene-

runt, a qua incipere non poterant, pro non scriptis ha-

bentur (a). Wäre nun Nichts als dieſes gemeynt, ſo

ließe ſich von beſonderen Wirkungen der capitis deminutio

 

(a) L. 3 § 2 de his quae pro

non scripto (34. 8.). Dieſelbe

Regel kommt vielfach auch in an-

deren Anwendungen vor. L. 11

|0084 : 70|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

gar nicht reden, ja es wäre uns in ihr nur ein unnützes

und beſchwerliches Kunſtwort überliefert. In der That

aber verhält es ſich anders; ſie wird als etwas Selbſtän-

diges behandelt, ſie hat für ſich eigene, poſitive Wirkun-

gen, und dieſe ſollen nunmehr feſtgeſtellt werden. Dabey

lag, wie es ſcheint, der Gedanke zum Grunde, daß jede

Art der capitis deminutio den, der ſie erleidet, gleichſam

zu einem neuen Menſchen mache. Dieſe Unterſcheidung

von zweyerley Wirkungen der capitis deminutio liegt in

der Sache ſelbſt, und wird auch durch den ſonſt ganz un-

nöthigen Kunſtausdruck anerkannt; ausgeſprochen iſt ſie

bey den Römiſchen Juriſten nicht, und auch in einzelnen

Fällen pflegen ſie freylich die poſitiven Wirkungen beſon-

ders hervorzuheben, jedoch ſo, daß ſie damit auch wohl

dasjenige vermiſchen, welches ſich von ſelbſt verſteht, und

daher ſtrenge genommen der beſonderen Natur der capitis

deminutio nicht angehört.

Bey der maxima und media c. d. werden jene eigen-

thümliche, ganz poſitive Wirkungen wenig ſichtbar, indem

hier das Meiſte und Wichtigſte ſchon theils durch den

Sklavenſtand und die Peregrinität an ſich hervorgebracht

wird, theils durch die in den häufigſten Fällen eintretende

Confiscation des Vermögens, welche wiederum ganz be-

 

de jud. (5. 1.). L. 11 de serv.

(8. 1.). L 16 ad L. Aquil. (9.

2.). § 6 J. de nox. act. (4. 8.).

— Einige beſtritten dieſe Regel,

was aber doch nur auf ihre un-

bedingte Allgemeinheit zu gehen

ſcheint, ſo daß Ausnahmen davon

anerkannt werden ſollten. L. 98

pr. L. 140 § 2 de V. O. (45. 1.).

L. 85 § 1 de R. J. (50. 17.).

|0085 : 71|

§. 69. Wirkungen der capitis deminutio.

ſonderer Natur, und von der capitis deminutio völlig un-

abhängig iſt (b). Nur zwey Rechtsſätze ſind hier beſon-

ders hervor zu heben. — Die beiden höheren Arten der

capitis deminutio werden oft dem Tode gleichgeſtellt, und

das iſt es, was die neueren Juriſten als bürgerlichen

Tod (mors civilis) zu bezeichnen pflegen. Dieſe Gleich-

ſtellung gilt nicht nur für die maxima c. d., ſondern auch

für die media, da wo dieſe auf einer Strafe beruht (c).

Man benutzte dieſelbe unter andern um manchen über-

(b) Da dieſer Punkt von Wich-

tigkeit, aber keinesweges aner-

kannt iſt, ſo muß darüber Fol-

gendes bemerkt werden. Die Con-

fiscation, als Univerſalſucceſſion

des Fiscus in das Vermögen, iſt

eine poſitive Ausbildung beſtimm-

ter Criminalſtrafen, und nicht die

natürliche Folge der capitis de-

minutio; Erſtlich, weil ſie über-

haupt erſt ſeit Auguſt mit Sicher-

heit angenommen werden kann

(denn vorher traten ganz andere

Folgen für das Vermögen ein),

anſtatt daß die capitis deminutio

uraltes Recht iſt. Zweytens weil

ſie nur in Folge gewiſſer Straf-

urtheile vorkommt, und z. B. ganz

gewiß nicht bey dem civis, der

durch Eintritt in eine colonia

latina die media capitis demi-

nutio erlitt (§ 68). Drittens weil

aus der allgemeinen Natur der

in der maxima und media c.

d. enthaltenen Veränderung des

Rechtszuſtandes die Succeſſion

des Fiscus in das Vermögen ent-

ſchieden nicht folgt. Denn der

Deportirte (media c. d.) müßte

nach der allgemeinen Natur ſeines

neuen Zuſtandes das bisherige

Vermögen vielmehr behalten, da

er als freyer Peregrine vermö-

gensfähig iſt. Und ſelbſt bey dem

servus poenae (maxima c. d.)

müßte das Vermögen zwar nicht

mehr ihm gehören, da er ganz

unfähig zu Vermögensrechten iſt;

allein es müßte nach allgemeinen

Grundſätzen herrenlos werden,

da der Fiscus nicht Herr dieſes

Sklaven wird, alſo auch keinen

Succeſſionsanſpruch auf deſſen

Vermögen hat.

(c) I. Für die maxima. L. 209

de R. J. (50. 17.). „Servitutem

mortalitati fere comparamus.“

— L. 59 § 2 de condit. (35. 1.)

„Servitus morti adsimilatur.“

— L. 5 pr. de bonis damn.

(48. 20.). — II. Für die media.

L. 1 § 8 de B P. contra tab.

(37. 4.) „deportatos enim mor-

tuorum loco habendos.“ —

L. 4 § 2 de bonis libert. „de-

portatus … mortui loco habe-

|0086 : 72|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

triebenen Folgen der Caducität vorzubeugen, ſie war aber

keinesweges auf dieſen Zweck beſchränkt (d), vielmehr galt

ſie allgemeiner, und namentlich in der Beziehung, daß der

Deportirte, eben ſo wie ein Verſtorbener, das Erbrecht

entfernterer Cognaten, oder das patronatiſche Erbrecht

ſeiner Kinder, nicht ſollte ausſchließen können (Note c).

— Ferner iſt der Einfluß der media c. d., insbeſondere

der Deportation, auf die Familienverhältniſſe näher zu

beſtimmen. Bey der Ehe eines Deportirten (Mann oder

Frau) iſt die conſequente Behandlung in die Augen fal-

lend. Dieſelbe hoͤrt auf eine Civilehe zu ſeyn, da zu die-

ſer die Civität beider Ehegatten erfordert wird: dagegen

dauert ſie (wenn die Gatten wollen) als Ehe nach jus

gentium fort (e). Daß jede Agnation des Deportirten

aufhört, iſt unzweifelhaft, denn dieſe iſt ohne Civität nicht

tur.“ Es wird hier erwähnt,

daß zuweilen die maxima c. d.

eine ſchwächere Wirkung haben

konnte; wenn nämlich ein Römer

in Gefangenſchaft gerieth, ſo blieb

ſein patronatiſches Erbrecht einſt-

weilen unentſchieden wegen des

möglichen postliminii. — L. 13

§. 1 de don. int. v. et ux. (24.

1.). — Irrig wird als Beweis

angeführt L. 63 §. 10 pro socio

(17. 2.), wo vielmehr der Tod

als etwas von der maxima und

media c. d. verſchiedenes bezeich-

net, und ihnen nur in einer ein-

zelnen Wirkung an die Seite

geſtellt wird.

(d) Die Beziehung auf die Ca-

ducität wird gründlich nachgewie-

ſen, aber zu einſeitig angewendet

von Cujacius obs. XVIII. 13.

Vgl. auch Schulting notae in

Dig., L. 209 de R. J. (50. 17.)

(e) L. 5 § 1 de bonis damn.

(48. 20.). L. 24 C. de don. int.

v. et ux. (5. 16.). L. 1. C. de

repud. (5. 17.). — Darin lag

alſo blos eine conſequente An-

wendung allgemeiner Grundſätze;

dagegen war es allerdings ein

jus singulare, und Folge ſcho-

nender Behandlung, daß (nach

denſelben Stellen) das Dotalrecht

ſollte fortdauern können. Denn

eigentlich ſetzt jede Römiſche Dos

eine gültige Civilehe voraus.

|0087 : 73|

§. 69. Wirkungen der capitis deminutio.

denkbar. Dagegen iſt es auffallend, daß auch ſeine Cog-

nation zerſtört ſeyn ſoll (f), da es doch außerdem aner-

kannt iſt, daß blos juriſtiſche Ereigniſſe (ſo lange die

Freyheit fortdauert) das natürliche Band des Blutes nicht

ſtören können (g). Ohne Zweifel iſt auch jene Regel von

der aufgehobenen Cognation nur ein ungenauer Ausdruck.

Die Cognation ſelbſt dauert fort, aber ihre wichtigſten

juriſtiſchen Wirkungen hören auf; insbeſondere kann der

Deportirte weder ſelbſt ein cognatiſches Erbrecht in An-

ſpruch nehmen, noch das eines entfernteren Verwandten

hindern (Note c). Daß die Cognation als Ehehinderniß

nicht aufgehoben wird, verſteht ſich ohnehin von ſelbſt,

indem ſie in dieſer Beziehung ſogar im Sklavenſtand ent-

ſtehen und nachher ſtets fortwirken kann (§ 65).

Ganz anders verhält es ſich mit der minima c. d. (h).

Zwar kommen auch bey dieſer ſolche Wirkungen vor,

welche ſich nach der Natur der einzelnen Handlung ganz

von ſelbſt verſtehen; ſo z. B. muß der Arrogirte nothwen-

 

(f) § 6 J. de cap. dem (1. 16.).

„Sed et, si in insulam quis de-

portatus sit, cognatio solvitur.”

L. 4 § 11 de gradibus (38. 10.).

In dieſer letzten Stelle wird auch

die Affinität als aufgehoben an-

gegeben, welches freylich durch die

im Text für die Cognation ge-

gebene Erklärung noch nicht be-

greiflich wird. — Nicht dahin ge-

hört L. 17 § 5 ad Sc. Treb. (36.

1.), worin blos von der Ausle-

gung eines Fideicommiſſes, alſo

von der wahrſcheinlichen Abſicht

des Erblaſſers, die Rede iſt.

(g) § 3 J. de leg. adgn. tut.

(1. 15.). L. 8 de R. J. (50. 17.),

und andere Stellen.

(h) Der Unterſchied der Wir-

kung der geringſten c. d. und der

höheren Grade wird im Allge-

meinen anerkannt in L. 2 pr.

L. 7 § 2. 3 de cap. min. (4. 5.).

|0088 : 74|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

dig ſein Vermögen verlieren, weil er in einen Zuſtand

eintritt, in welchem es unmöglich iſt, Vermögensrechte zu

erwerben oder zu haben (§ 67). Dagegen giebt es viele

andere Wirkungen, die auf dieſe einfache Weiſe, ähnlich

den Wirkungen der maxima und media c. d., nicht zu er-

klären ſind, und der Grund dieſes Unterſchieds iſt folgen-

der. Die höheren Grade ſind ganz einfache und ſtets gleich-

foͤrmige Ereigniſſe. Verluſt der Freyheit, Verluſt der Ci-

vität iſt in ihnen enthalten, nie mehr noch weniger. Nicht

ſo einfacher Natur iſt die minima c. d. Vergleicht man

die Arrogation mit der Emancipation, ſo ſind dieſe in

ihrer Beſtimmung und ihrem Erfolg völlig entgegengeſetzt,

da die väterliche Gewalt durch die eine hervorgebracht,

durch die andere zerſtört wird. Wenn ſie nun dennoch

einen gemeinſchaftlichen Namen führen, und wenn an die-

ſen Namen allgemeine Wirkungen, die ihnen alſo auch

gemeinſchaftlich zukommen, geknüpft ſind, ſo iſt es klar,

daß für ſolche Wirkungen die capitis deminutio an ſich

als ſelbſtändige Urſache zu denken iſt, ohne Rückſicht dar-

auf, ob im einzelnen Fall mit der capitis deminutio eine

Unterwerfung unter die väterliche Gewalt, oder umgekehrt

eine Befreyung von derſelben, verbunden iſt.

Zuerſt nun wird ausdrücklich bemerkt, daß die minima

c. d. nur im Privatrecht wirkte. Wenn alſo ein Magi-

ſtratus, oder Senator, oder Judex, arrogirt oder eman-

cipirt wurde, ſo hatte dieſes Ereigniß auf jene öffentli-

 

|0089 : 75|

§. 69. Wirkungen der capitis deminutio.

chen Verhältniſſe durchaus keinen Einfluß (i). Im Pri-

vatrecht aber ſind folgende Wirkungen ſichtbar.

I. Familienrecht.

Die Civilehe, welche vor der capitis deminutio vor-

handen war, dauert auch nach derſelben unverändert fort.

Bey der Arrogation und der vollendeten Emancipation iſt

dieſes ganz unzweifelhaft. In dem Übergangszuſtand,

während der mancipii causa, könnte man daran noch etwa

zweifeln; und gerade für dieſen Fall iſt die fortdauernde

Wirkſamkeit der Ehe ausdrücklich anerkannt (§ 67 d).

 

Die Agnation wird durch jede minima c. d. gänz-

lich aufgehoben, die Cognation dagegen dauert unverän-

dert fort (k). Dieſes gilt in allen Anwendungen, alſo bey

der Arrogation (l), der Adoption, und der Emancipation.

Es iſt dieſes zugleich als eine der eigenthümlichſten Wir-

kungen zu betrachten; namentlich bey dem Emancipirten

verſteht ſie ſich gar nicht von ſelbſt, und es ließe ſich ſehr

wohl eine Entlaſſung aus der väterlichen Gewalt denken

ohne Zerſtörung der Agnation mit den Seitenverwandten.

 

(i) L. 5 § 2 L. 6 de cap. min.

(4. 5.). Mit welcher Einſchrän-

kung dieſer Satz vielleicht in den

älteren Zeiten verſtanden werden

mußte, iſt ſchon oben angegeben

worden, § 67 Note c.

(k) Gajus I. § 158. 163. III. § 27.

— Ulpian. XXVIII. § 9. — § 3

J. de leg. agn. tut. (1. 15.). —

§ 1 J. de adquis. per. adrog.

(3. 10.). — L 6 de cap. min.

(4. 5.). L. 8 de R. J. (50. 17.).

(l) Bey der Arrogation jedoch

iſt eine Einſchränkung zu bemer-

ken. Der Arrogirte nimmt ſeine

Kinder mit hinüber in die Ge-

walt des neuen Vaters, deren

Agnation alſo geht ihm nicht ver-

loren, oder er findet ſie gewiſſer-

maßen wieder in der neuen Fa-

milie.

|0090 : 76|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

— Juſtinian hat dieſe Wirkung der capitis deminutio

nicht im Allgemeinen, namentlich nicht bey der Arroga-

tion, aufgehoben; nur für die Emancipation hat er ver-

ordnet, daß die Agnation durch ſie nicht zerſtört ſeyn

ſollte (m). Allein durch ſeine ſpätere Geſetzgebung iſt frey-

lich der Agnation jede wichtige Einwirkung ſo ſehr entzo-

gen worden, daß dieſe ganze Frage faſt alles praktiſche

Intereſſe verloren hat.

Die Gentilität wurde gleichfalls aufgehoben, das

heißt jede minima c. d. zerſtörte nothwendig das Verhält-

niß zwiſchen dem deminutus und ſeinen bisherigen Gen-

tilen (n).

 

Das Patronat gieng unter, ſowohl durch die capi-

tis deminutio des Patrons, als durch die des Freygelaſ-

 

(m) L. 13 § 1 C. de leg. her.

(6. 58.). Bey dem Tod des Eman-

cipirten ſolle deſſen hereditas an

die Geſchwiſter (als Agnaten),

nicht an den Vater (als Patron)

fallen.

(n) Cicero top. § 6. „Genti-

les sunt qui inter se eodem

nomine sunt … Qui capite non

sunt deminuti” Zunächſt dachte

wohl Cicero nur an den Eman-

cip rten, und er wollte warnen,

man möge ſich nicht durch das

unveränderte nomen verleiten laſ-

ſen zu glauben, als wäre Jener

in ſeiner angebornen Gens ge-

blieben. Daß der Adoptirte und

der Arrogirte nicht in der ange-

bornen Gens blieben, war ſchon

durch das aufgegebene nomen un-

zweifelhaft, aber ſollten ſie nicht

in die des neuen Vaters (ſo wie

ganz ſicher in deſſen Agnation)

eingetreten ſeyn, deſſen nomen

ſie doch annahmen? Nach Cice-

ro’s Worten müßte man es ver-

neinen, da ſie doch gewiß eine

capitis deminutio erlitten hat-

ten; bey dem Adoptirten könnte

man noch etwa glauben, die vor-

übergehende mancipii causa habe

ihn zeitlebens unfähig gemacht,

in den reinen und hohen Verhält-

niſſen irgend einer Gens zu ſte-

hen; aber bey dem Arrogirten

würde doch ſelbſt dieſer Zweifels-

grund wegfallen, und das Na-

türlichſte iſt wohl anzunehmen,

Cicero habe nur allein an die

Emancipation gedacht.

|0091 : 77|

§. 69. Wirkungen der capitis deminutio.

ſenen. Dieſes wird weiter unten bey den einzelnen da-

durch bedingten Rechten (Tutel, operarum obligatio, Erb-

folge) nachgewieſen werden (o).

Die Tutel wird durch die minima c. d. des Vor-

mundes nur dann zerſtört, wenn es eine legitima, und

zwar aus dem älteſten Recht (den 12 Tafeln) herſtam-

mende iſt; die legitima aus neueren Geſetzen, die teſta-

mentariſche, und die Dativtutel dauern fort (p). Wie die

 

(o) Durch maxima und me-

dia c. d. gieng das Patronats-

recht natürlich auch unter; durch

die ſpätere Begnadigung des Ver-

urtheilten aber wurde es wieder

hergeſtellt. L. 1 de sent. passis.

(48. 23.).

(p) L. 3 § 9. L. 5 § 5 de le-

git. tutor. (26. 4.). § 4 J. quib.

modis tut. (1. 22.). L. 11 de

tutelae (27. 3.). L. 7 pr. de

cap. min. (4. 5.). „Tutelas etiam

non amittit capitis deminutio,

exceptis his, quae in jure alie-

no personis positis deferuntur.”

Die ſehr dunkel ausgedrückte Aus-

nahme in dieſer Stelle hat mit

Recht von jeher großen Anſtoß

erregt. Einige erklären ſie als

eine ſchwerfällige Umſchreibung

von agnatis, ſo daß hier positis

ſo viel heißen ſoll, als: remanen-

tibus usque ad mortem patris,

oder: Verwandte, die ihre ange-

borene Agnation nicht zerſtört ha-

ben. Vergl. Conradi pareiga

p. 190. Rudorff Vormund-

ſchaft B. 3 S. 238. Dafür ſpricht

der Scholiaſt der Baſiliken: da-

gegen der Umſtand, daß der

Ausdruck nicht blos unverzeihlich

dunkel, ſondern geradezu unrich-

tig wäre. Denn nach denſelben

müßten ſolche Tutoren zur Zeit

der deferirten Tutel in

fremder Gewalt ſtehen (positis

deferuntur), was jedoch unmög-

lich iſt. — Andere beſchränken die

Ausnahme auf die c. d. durch

datio in adoptionem. Müh-

lenbruch A. L. Z. 1835 N. 77

S. 609. Dadurch wird aber aller

logiſche Zuſammenhang aufgeho-

ben, indem nun zuerſt eine Aus-

nahme, ſcheinbar als die einzige,

angegeben ſeyn würde, und wei-

ter unten noch eine zweyte, weit

wichtigere. — Andere leſen mit

Haloander: non deferuntur, wo-

durch ein ganz einfacher, befrie-

digender Sinn hergeſtellt wird,

und welches, wie alle ſinguläre

Leſearten Haloanders, nicht als

bloße Conjectur entſchieden ange-

ſehen werden darf. Huſchke

Rhein. Muſeum B. 7 S. 68. Das

Reſultat bleibt nach der erſten

und dritten Erklärung gleich, an

|0092 : 78|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

legitima, ſo geht auch die cessicia unter (q). — Die ca-

pitis deminutio des Pupillen muß in allen Fällen die

Tutel aufheben, da ſich eine ſolche nicht anders denken

läßt, als durch Arrogation, wodurch aber der Pupill in

väterliche Gewalt kommt, folglich jeder Tutel unfähig

wird (r).

ſich unzweifelhaft, und mit ande-

ren Stellen übereinſtimmend;

nach der zweyten läge darin et-

was Neues und wenig Wahr-

ſcheinliches. — Ulpian. XI. 9

ſpricht zu kurz und allgemein

von jeder legitima tutela, ohne

die Ausnahme der novae leges

hinzu zu fügen.

(q) Gajus I. § 170.

(r) L. 2 de leg. tutor. (26. 4.).

§ 4 J. quib. modis tut. (1. 22.).

|0093 : 79|

§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)

§. 70.

Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)

II. Sachenrecht.

Das Eigenthum wird durch die capitis deminutio

nicht aufgehoben. Daß der Arrogirte es verliert, indem

es von ihm auf den neuen Vater übergeht, iſt nicht nur

keine Widerlegung, ſondern geradezu eine Beſtätigung die-

ſes Satzes, indem es nicht auf einen Anderen übergehen

könnte, wenn es durch die capitis deminutio zerſtört

würde (a). Der Emancipirte aber, der noch in der vä-

terlichen Gewalt ein castrense peculium erworben hatte,

iſt gewiß Eigenthümer deſſelben geblieben, ungeachtet der

erlittenen capitis deminutio.

 

Ganz anders verhält es ſich mit den perſönlichen

Servituten, nämlich dem Uſusfructus und Uſus.

Um dieſes deutlich machen zu können, muß folgende Regel

vorausgeſchickt werden. Wenn einem von Familiengewalt

Abhängigen (Sohn oder Sklave) eine ſolche Servitut ge-

geben wurde, ſo ſollte der Vater oder Herr die Servitut

erwerben, jedoch war es beſtritten, ob deren Fortdauer

an das Leben des Abhängigen, und an deſſen fortwäh-

rende Abhängigkeit gebunden ſeyn ſollte; es ſcheint, daß

nach der vorherrſchenden Meynung die Servitut unter-

 

(a) Gerade ſo wird es dargeſtellt bey Gajus III. § 83, im Gegen-

ſatz des Uſusfructus.

|0094 : 80|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

gieng, wenn der Sohn ſtarb oder emancipirt wurde, wenn

der Sklave ſtarb, oder veräußert, oder freygelaſſen wurde.

Juſtinian hat das Gegentheil vorgeſchrieben, ſo daß nun-

mehr der Vater oder Herr, ungeachtet aller dieſer Ver-

änderungen, den einmal erworbenen Uſusfructus behalten

ſoll (b). — Daneben ſteht nun der ganz verſchiedene Satz

des älteren Rechts, daß der Uſusfructus durch jede capi-

tis deminutio, auch die minima, gänzlich untergehen ſoll;

dieſe Regel hat Juſtinian für die minima c. d. aufge-

hoben (c). Aus der älteren Regel nun folgte der Un-

tergang der Servitut in folgenden Fällen: Wenn der

Fructuar arrogirt wurde, in welchem Fall alſo der Uſus-

fructus nicht ſo, wie das Eigenthum, auf den neuen Va-

ter übergieng (d); eben ſo, wenn der Sohn, der den Uſus-

fructus als castrense peculium erworben hatte, emanci-

pirt wurde (e). — Dieſer Untergang der perſönlichen Ser-

vituten war der capitis deminutio wieder ganz eigenthüm-

lich, und folgte leinesweges von ſelbſt aus dem veränder-

ten Zuſtand an ſich. Denn bey dem castrense peculium

(b) Fragm. Vat. § 57. L. 5

§ 1. L. 18 quib. modis us. (7. 4.).

L. 15. 17. C. de usufr. (3. 33.).

(c) L. 1 pr. quib. modis us.

(7. 4.), das heißt Fragm. Vat.

§ 61. — § 1 J. de adqu. per ar-

rog. (3. 10.). In dieſer Stelle

allein wird auch der Uſus aus-

drücklich genannt. — Gajus III.

§ 83. Paulus III. 6. § 29. — L. 16

§ 2 C. de usufr. (3. 33.). § 3 J.

de usufr. (2. 4.). L. 1 de usu et

us. leg. (33. 2.). (Hier ſind die

Worte ex magna causa inter-

polirt).

(d) Gajus III. § 83 (arrogatio

und coemtio). Paulus III. 6

§ 29. (Arrogatio und adoptio;

dieſe letzte gehört zu den in der

Note b. angeführten Stellen).

(e) L. 16 § 2 C. de usufructu

(3. 33.).

|0095 : 81|

§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)

wäre die Fortdauer in der Perſon des Fructuars natür-

lich geweſen, und auch bey der Arrogation war zu er-

warten, daß der Uſusfructus auf den neuen Vater über-

gienge, und ganz in die Lage käme, wie wenn er erſt

nach der Arrogation erworben worden wäre. — Von dem

beſonderen Recht der anomaliſchen perſönlichen Servituten

(habitatio und operae) wird im § 72 gehandelt werden.

III. Obligationenrecht.

Bey den Forderungen wurde die Wirkung der ca-

pitis deminutio meiſt nicht ſichtbar, indem dieſelben bey

der Arrogation auf den neuen Vater übergiengen, bey der

Emancipation aber für den Sohn vorher gar nicht vor-

handen ſeyn konnten. Dennoch gab es einige Fälle, worin

die Forderungen des Arrogirten weder auf den Vater

übergiengen, noch bey ihm ſelbſt fortdauerten, ſondern

durch die bloße capitis deminutio zerſtoͤrt wurden. Dahin

gehörte die von einem freygelaſſenen Sklaven eidlich über-

nommene operarum obligatio, die überall nur mit dem ge-

genwärtigen, fortdauernden Patronat verbunden ſeyn

konnte (f), hier alſo mit dem Patronat ſelbſt (§ 69) un-

tergehen mußte (g). Ferner wahrſcheinlich die neue For-

derung, die aus der Litisconteſtation entſtanden war, wenn

der Arrogirte vor der Arrogation in einem legitimum ju-

dicium eine Klage angeſtellt hatte (h). — Eben ſo ge-

hörte dahin ein anomaliſcher Fall bey der Emancipation.

 

(f) L. 56 pr. de fidej. (46. 1.).

L. 7 pr. de op. libert. (38. 1.).

(g) Gajus III. § 83. — § 1 J. de

adqu. per arrog. (3. 10.).

(h) Gajus III. § 83, die Stelle

iſt lückenhaft. — Die Erklärung,

II. 6

|0096 : 82|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Hatte der Sohn während der väterlichen Gewalt eine

Adſtipulation geſchloſſen, ſo wurde das Klagrecht hieraus

nicht dem Vater, ſondern dem Sohn ſelbſt erworben, je-

doch ſo, daß es einſtweilen ruhte, und erſt mit des Va-

ters Tod wirkſam wurde; endigte aber die väterliche Ge-

walt durch Emancipation, ſo gieng jenes Klagrecht durch

die capitis deminutio ganz unter (i).

Bey den Schulden dagegen tritt die eigenthümliche

Einwirkung der capitis deminutio wieder ſehr ſcharf her-

vor, indem durch jede minima c. d. nach dem älteren

Recht die Schulden ganz untergiengen (k). Da nun der

Sohn in väterlicher Gewalt ſich eben ſo vollgültig ver-

pflichten kann, als der Unabhängige (§ 67), ſo hätte man

erwarten mögen, daß auch die capitis deminutio daran

Nichts ändern würde, ſo daß alſo hier ihre zerſtörende

Kraft als etwas ganz Selbſtändiges erſcheint (l). Der

Arrogirte alſo wird frey von ſeinen Schulden, ohne daß

dieſelben auf den Vater übergehen, und eben ſo wird der

Emancipirte frey, obgleich er vor der Emancipation nicht

blos verpflichtet war, ſondern auch verklagt werden

konnte (§ 67).

 

die Huſchke Studien I. 277 von

der Sache giebt, ſcheint mir nicht

gehörig begründet.

(i) Gajus III. § 114 Vgl. oben

§. 67 Note b und l, auch § 74. h.

(k) Gajus IV. § 38, u. III. § 84,

dieſe letzte Stelle mit der ganz

vortrefflichen Reſtitution von Gö-

ſchen.

(l) Donellus X XI. 5 § 22, und

eben ſo Glück B. 6 S. 26 hält

die imaginaria servilis causa bey

der Emancipation für den einzi-

gen Grund des Untergangs und

läugnet dieſen daher bey der Ar-

rogation; durch die Stelle des Ga-

jus (Note k) wird dieſe Mey-

nung unmittelbar widerlegt.

|0097 : 83|

§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)

Dieſer wichtige Satz aber iſt noch näher zu beſtimmen

und durch mehrere Ausnahmen zu beſchränken. Zuerſt be-

zieht ſich dieſer Untergang nur auf das Civile in der

Obligation, auf ihre Klagbarkeit; als naturalis obligatio

dauert ſie fort (m). — Aber auch gegen den Untergang

der civilis obligatio ſchützte der Prätor durch Reſtitu-

tion der verlornen Klage (n). Durch dieſe Reſtitution

konnte alſo gegen den Arrogirten und den Emancipirten

aus früheren Verträgen geklagt werden, was außerdem

gar nicht möglich geweſen wäre; ſie war unbedingt ver-

ſprochen, weil ſie nur gegen eine aus der buchſtäblichen

Strenge des alten Civilrechts hervorgehende Härte Schutz

geben ſollte. Daneben wird aber auch noch eine andere

mögliche Reſtitution erwähnt, wenn nämlich der Vertrag

nach der capitis deminutio geſchloſſen wurde (o). Dieſe

hat etwas Räthſelhaftes, weil ja der Arrogirte und der

Emancipirte ohnehin wirkſame Verträge ſchließen können.

Auch wird ausdrücklich hinzugefügt, dieſe Reſtitution komme

 

(m) L. 2 § 2 de cap. min.

(4. 5.) ſ. u. Note o.

(n) L. 2 § 1. L. 7 § 2. 3 de

cap. min. (4. 5.). L. 2 de in int.

rest. (4. 1.). — Gajus III. § 84.

IV. § 38. — Daß es eine wahre

Reſtitution war, ſagen ausdrück-

lich die hier angeführten Stellen,

ſo wie Paulus I, 7 § 2; aber es

war eine anomaliſche, ſehr ver-

ſchieden z. B. von der bey Min-

derjährigen, ſ. u. Note w und x.

(o) L. 2 § 2 de cap. min. (4.

5.). „Hi, qui capite minuuntur,

ex his causis quae capitis de-

minutionem praecesserunt, ma-

nent obligati naturaliter: cete-

rum si postea, imputare quis

sibi debebit, cur contraxerit,

quantum ad verba hujus Edicti

pertinet. Sed interdum, si con-

trahatur cum his post capitis

deminutionem, danda est actio.

Et quidem, si adrogatus sit, nul-

lus labor: nam perinde obli-

gabitur ut filiusfamilias.”

6*

|0098 : 84|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

nur zuweilen vor (interdum), und namentlich bey dem

Arrogirten ſey ſie nie nöthig, weil dieſer ohnehin, gleich

jedem anderen filiusfamilias, durch ſeine Verträge klagbar

verpflichtet werde (p); daſſelbe gilt aber gewiß auch von

dem Emancipirten. Der ſeltene Fall, der in jener Stelle

nur angedeutet wird, muß bezogen werden auf einen wäh-

rend der mancipii causa geſchloſſenen Vertrag, alſo wäh-

rend eines Zuſtandes, der in der ſpäteren Zeit freylich

nur noch als ein Übergangszuſtand vorkam. Durch einen

ſolchen Vertrag wurde freylich der geweſene Sohn civiliter

nicht verpflichtet (§ 67), aber der andere Contrahent hatte

ſich den Schaden ſelbſt zuzuſchreiben, weil er ſich um den

gegenwärtigen Rechtszuſtand ſeines Schuldners erkundigen

konnte: da jedoch zuweilen (interdum) eine ſchuldloſe Un-

wiſſenheit hierin vorkommen konnte, ſo ſollte dann Re-

ſtitution eintreten (q).

(p) S. die vorige Note. — Bey

der Arrogation galt auch noch eine

andere Klage, die actio de pe-

culio gegen den Vater. L. 42

de peculio (15. 1.). Von dieſer

iſt aber hier nicht die Rede, ſon-

dern von der Klage gegen den

Arrogirten ſelbſt.

(q) Nimmt man an, daß der

alte Juriſt dieſen Fall geradezu

ausdrückte, und daß die Compi-

latoren die Erwähnung des ver-

alteten Rechtsinſtituts wegſtri-

chen, ſo erklärt ſich die Dunkel-

heit der Stelle ganz ungezwun-

gen. — Cujacius obs. VII. 11

bezieht die Stelle auf den Ver-

trag mit einer Ehefrau in manu,

die ſich gar nicht obligiren könne,

und wobey der Contrahent, der

von der manus Nichts wiſſe, re-

ſtituirt werden ſolle. Er nimmt

alſo an, eine filiafamilias könne

überhaupt nach altem Recht nicht

obligirt werden, weil die aucto-

ritas tutoris unmöglich war. Dieſe

Meynung iſt widerlegt in der Bey-

lage V., und damit fällt auch die

eben erwähnte Erklärung unſrer

Stelle. — Die ganze Stelle hat

von jeher viel zu leiden gehabt,

ſowohl durch unbefriedigende Aus-

legung, als durch grundloſe Annah-

me von Interpolationen. Selbſt

|0099 : 85|

§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)

Es gab jedoch auch einige ausgenommene Fälle, in

welchen ſelbſt nach altem Recht die Schulden nicht un-

tergiengen, ſo daß bey ihnen die Reſtitution nicht nöthig

war. Dahin gehörten erſtlich die Schulden aus Delic-

ten (r), die ja auch bey Sklaven klagbare Obligationen

bewirkten (§ 65). Zweytens die Schuld aus einem De-

poſitum, wenn der Schuldner auch nach der capitis de-

minutio im Beſitz der Sache blieb (s). Drittens die Schul-

den aus einer von dem Arrogirten vor der Arrogation

erworbenen Erbſchaft; denn nun gieng das Erbrecht ſelbſt

auf den Adoptivvater über, alſo auch ipso jure die darin

enthaltenen Erbſchaftsſchulden (t). Hierauf aber beſchrän-

ken ſich die ſicheren Ausnahmen. Zwar wird auch noch

in vielen anderen Fällen erwähnt, daß nach der capitis

deminutio Schuldklagen fortdauern, theils ohne nähere

Beſtimmung, theils mit dem Zuſatz, daß dagegen der

Emancipirte die exceptio Sc. Macedoniani, oder das ſo-

genannte beneficium competentiae haben ſolle (u); allein

 

die Worte nullus labor („bey

dem Arrogirten entſteht keine

Schwierigkeit“) möchten der

Sprache des Ulpian nicht unan-

gemeſſen ſeyn. Vgl. auch Pli-

nius hist. nat. XXVI. 72, „Phre-

neticos somnus sanat .. E di-

verso lethargicos excitare la-

bor est, hoc praestante … peu-

cedani suc co.”

(r) L. 2 § 3 de cap. min. (4.

5.). „Nemo delictis exuitur,

quamvis capite minutus sit.”

(s) L. 21 pr. depos. (16. 3.).

Der Zuſammenhang dieſer Aus-

nahme kann erſt unten § 74 klar

gemacht werden, ſ. beſonders § 74

Note q. r.

(t) Gajus III. § 84, ſ. o. Note k.

(u) L. 2 pr. L. 4 § 1. L. 5 pr.

L. 7 quod cum eo (14. 5.). L. 9

C. eod. (4. 26.). L. 3 § 4 de

minor. (4. 4.). L. 1 § 2 de Sc.

Mac. (14. 6.). L. 58 § 2 pro soc.

(17. 2.). Vergl. über dieſe letzte

Stelle § 74 c.

|0100 : 86|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

in dieſen zahlreichen Stellen iſt ſtets ſchon die prätoriſche

Reſtitution mit hinzu zu denken, die ja ohnehin allgemein

und unbedingt ertheilt wurde.

Wie ſtellt ſich nun aber dieſe ganze Lehre im Juſti-

nianiſchen Recht? Praktiſche Bedeutung hatte ſie ja ſchon

längſt nicht mehr wegen der prätoriſchen Reſtitution. Zwar

könnte man einwenden, daß ja in anderen Fällen, z. B.

bey Minderjährigen, ein großer Unterſchied ſey zwiſchen

der Gültigkeit (oder Ungültigkeit) eines Rechtsverhältniſſes

an ſich ſelbſt, oder vermittelſt einer Reſtitution. Allein

die Wichtigkeit dieſes Unterſchieds lag in zwey Umſtänden:

erſtlich behielt ſich gewoͤhnlich der Prätor ein Handeln

nach freyer Erwägung der Umſtände vor (v); zweytens

war gewöhnlich die Reſtitution an eine kurze Verjährung

gebunden. Beides war hier anders. Denn die Schuld-

klage gegen den capite deminutus war unbedingt, ohne

Vorbehalt individueller Unterſuchung, verſprochen (w); und

dieſe zugeſagte Klage war an keine Verjährung gebun-

den (x). — Juſtinian alſo fand bereits die alte Rechts-

regel von dem Untergang der Schulden durch die minima

c. d., entblöſt von aller praktiſchen Bedeutung vor, und

dieſer Zuſtand der Sache wurde in ſeiner Geſetzgebung ſo

wenig verkannt, daß in derſelben jene Regel merkwürdiger

 

(v) L. 1 § 1 de minoribus (4.

4.). „.. uti quaeque res erit,

animadvertam.”

(w) L. 2 § 1 de cap. min. (4.

5.). „.. judicium dabo” ohne

den ſonſt vorkommenden Zuſatz:

causa cognita.

(x) L. 2 § 5 eod. „Hoc ju-

dicium perpetuum est” etc.

|0101 : 87|

§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)

Weiſe gar nicht ausgedrückt iſt, ſo daß wir ihr Daſeyn

unmittelbar und poſitiv erſt aus Gajus nachweiſen koͤnnen.

Freylich ſchließen konnten wir daſſelbe ſtets aus dem Ju-

ſtinianiſchen Recht, ja es war nicht conſequent, die Reſti-

tution aufzunehmen, und die alte Rechtsregel, wodurch

allein die Reſtitution zum Bedürfniß wurde, mit Still-

ſchweigen zu übergehen; allein es war dieſes daſſelbe Ver-

fahren, wie in ſo mancher anderen Lehre, indem man von

dem formellen Inhalt des früheren Rechts ſo wenig als

moͤglich untergehen laſſen wollte. Man war zufrieden,

daß die in dem Titel de capite minutis aufgenommenen

Stellen der alten Juriſten, ihrem letzten praktiſchen Re-

ſultat nach, noch immer für wahr gelten konnten (was

allerdings der Fall iſt), wenngleich ſie in den Zuſammen-

hang des übrigen Rechts, ſo wie ſie ausgedrückt waren,

eigentlich nicht mehr paßten.

Eine ganz andere Einwirkung auf die Schulden hatte

die maxima und media c. d. Hier wurde der vorige

Schuldner für immer frey, dagegen gieng die Schuld

nicht unter, ſondern ſie fiel, wie durch Vererbung, auf

denjenigen, welcher das Vermögen bekam, welches ge-

woͤhnlich der Fiscus war. Wurde ſpäter der Verurtheilte

begnadigt, und in die Civität wieder eingeſetzt, ſo galt

dennoch keine Reſtitution für die alten Schuldklagen (y).

 

(y) L. 2 pr. L. 7 § 2. 3 de

cap. min. (4. 5.). — L. 30 de

O. et A. (44. 7.). — L. 47 pr.

de fidejuss. (46. 1.). L. 19 de

duobus reis (45. 2.). Vergl. zu

dieſer letzten Stelle die notae in

Dig. von Schulting.

|0102 : 88|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Nur wenn er neben der Begnadigung ſein Vermögen zu-

rück bekam, ſo lebten auch die früheren Schuldklagen wie-

der auf, und zwar unmittelbar, ohne die prätoriſche Re-

ſtitutionsklage (z).

IV. Erbrecht.

Ein Teſtament wird irritum, wenn der Teſtator

entweder eine Arrogation, oder eine maxima oder media

c. d. erleidet (aa). Dagegen wenn ein Sohn in väterli-

cher Gewalt über ſein castrense peculium teſtirt, ſo wird

durch Emancipation das Teſtament nicht ungültig (bb).

Man kann alſo nicht allgemein und unbedingt ſagen, daß

jede capitis deminutio des Teſtators das Teſtament ver-

nichte.

 

Die Inteſtaterbfolge wird durch die minima c. d.

zerſtört, in ſo fern ſie auf den zwoͤlf Tafeln beruhte, da-

gegen nicht wenn ſie aus neueren Geſetzen abgeleitet

war (cc). Wenn alſo von zwey Agnaten der eine eine

ſolche capitis deminutio erlitt, ſo konnte Keiner den An-

deren beerben; eben ſo hatte der Patron ſein Erbrecht

verloren, wenn entweder er ſelbſt, oder der Freygelaſſene,

 

(z) L. 2. 3 de sent. passis (48.

23.). L. 4 C. eod. (9. 51.).

(aa) Ulpian. XXIII. § 4. Ga-

jus II. § 145. — § 4 J. quib. mod.

test. (2. 17.). L. 6 § 5—12 de

injusto (28. 3.). — So nach dem

ſtrengen Civilrecht. Der Prätor

erhielt das Teſtament aufrecht,

wenn nur vor dem Tod der frü-

here Zuſtand wieder hergeſtellt

war. Ulpian. XXIII. § 6.

(bb) L. 6 § 13 de injusto (28.

3.). L. 1 § 8 de B. P. sec. tab.

(37. 11.).

(cc) Ulpian. XXVII. § 5. —

L. 1 § 8 ad Sc. Tert. (38. 17.).

L. 11 de suis (38. 16.). L. 1

unde legit. (38. 7.). L. 7 pr. de

cap. min. (4. 5.). § 2 J. de Sc.

Orphit. (3. 4.).

|0103 : 89|

§. 70. Wirkungen der capitis deminutio. (Fortſetzung.)

von einer capitis deminutio betroffen wurde (dd). Dage-

gen hörte die aus den Senatusconſulten herſtammende

wechſelſeitige hereditas zwiſchen der Mutter und ihren

Kindern nicht auf, wenngleich die Mutter oder das Kind

eine minima c. d. erlitten hatte. Noch weit mehr aber

war die prätoriſche Erbfolge davon unabhängig, natürlich

mit Ausnahme der B. P. unde legitimi, ſo weit dieſelbe

auf den zwölf Tafeln beruhte. — Die Aufhebung jenes

älteren Inteſtaterbrechts war die nothwendige Folge der

ſchon oben dargeſtellten Regel, nach welcher die Agnation

ſelbſt, und das Patronat ſelbſt, als die Bedingungen des

Erbrechts aus den zwölf Tafeln, durch jede minima c. d.

zerſtoͤrt wurden.

Faſſen wir dasjenige, was hier über die eigenthümli-

chen Wirkungen der minima c. d. als ſolcher geſagt wor-

den iſt, kurz zuſammen, ſo ergiebt es ſich, daß folgende

als die entſchiedenſten und wichtigſten zu betrachten ſind:

Aufhebung der Agnation, des Patronats, der perſönlichen

Servituten, und der Schulden.

 

(dd) Speciell von dieſem Fall

reden Ulpian. XXVII. 5. Gajus

III. § 51. — Vgl. auch L. 2 § 2

L. 23 pr. de bon. lib. (38. 2.).

L. 3 § 4, 5 de adsign. lib. (38. 4.).

|0104 : 90|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 71.

Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähigkeit

und capitis deminutio.

Wir finden eine nicht geringe Zahl von Rechten, auf

welche die hier feſtgeſtellten Regeln über Rechtsfähigkeit

und capitis deminutio mehr oder weniger unanwendbar

ſind. Der Grund dieſer Unanwendbarkeit liegt darin, daß

jene Rechte, obgleich ihrer Form nach mit anderen Rech-

ten gleichartig, dennoch mehr den natürlichen, oder den

politiſchen Menſchen, als den juriſtiſchen (den Träger der

Privat-Rechtsverhältniſſe) angehen, ſo daß durch ſie irgend

Etwas bewirkt werden ſoll, das durch die ſo eben darge-

ſtellte Rechtsunfähigkeit nicht berührt wird. Dieſe Ano-

malien kommen am häufigſten und vollſtändigſten vor in-

nerhalb des Vermögensrechts: ferner ſo, daß dadurch ein

Klagerecht moͤglich wird, wo es nach den aufgeſtellten

Regeln nicht erwartet werden möchte: endlich in Bezie-

hung auf den filiusfamilias und die minima capitis demi-

nutio; jedoch ſind ſie auf dieſe Gränzen keinesweges voͤllig

eingeſchränkt. — Dabey muß vor Allem gegen das mögliche

Misverſtändniß gewarnt werden, als ſtänden alle hierher

gehörenden Fälle auf gleicher Linie, etwa ſo, daß nun

in jedem derſelben gar keine Gränze der Rechtsfähigkeit

anzuerkennen wäre. Vielmehr wird hier lediglich eine ge-

meinſchaftliche, leitende Rückſicht angegeben, wodurch bey

 

|0105 : 91|

§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.

den einzelnen Rechten dieſer Art (je nach ihrem individu-

ellen Bedürfniß) bald mehr, bald weniger Abweichung

von der Regel der Rechtsfähigkeit bewirkt wird. Wir

müſſen uns alſo hüten, hierin zu viel zu generaliſiren,

und wir dürfen als das Gemeinſame der angedeuteten

Inſtitute nur dieſes anerkennen, daß ſie eine weniger

juriſtiſche Natur als die gewöhnlichen Rechtsinſtitute

haben. Dieſe Eigenthümlichkeit wird von einem Römiſchen

Juriſten in einem hierher gehoͤrenden beſonderen Fall ſehr

treffend ſo ausgedrückt: in facto potius quam in jure

consistit (a).

Bey Fällen dieſer Art erſcheinen zugleich noch folgende

Eigenthümlichkeiten, welche an ſich auf die Rechtsfähigkeit

keine unmittelbare Beziehung haben:

 

1) Bey allen dieſen Fällen (vielleicht mit einer einzi-

gen Ausnahme) findet ſich die Unvererblichkeit. Nur

eigentliche Rechte, und zwar Vermögensrechte, ſind Ge-

genſtand der Vererbung. Stirbt daher der Träger eines

Verhältniſſes von dieſer anomaliſchen Natur, ſo wird das

Verhältniß ſelbſt, welches ſich auf ihn allein (als Indi-

viduum) bezog, untergehen müſſen. — Ganz unrichtig

aber würde es ſeyn, dieſen Satz umzukehren, und in allen

unvererblichen Verhältniſſen die hier zur Sprache gebrachte

nichtjuriſtiſche Natur anzunehmen. Die väterliche Ge-

walt, der Uſusfructus, der juriſtiſche Beſitz, ſind unver-

erblich, aber ſie ſind dennoch wahre, eigentliche Rechts-

 

(a) L. 10 de cap. min. (4. 5.).

|0106 : 92|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

verhältniſſe, und daher ganz der gewoͤhnlichen Regel der

Rechtsfähigkeit unterworfen.

2) Nicht bey allen, wohl aber bey mehreren und wich-

tigen Fällen dieſer Art findet ſich eine action in bonum et

aequum concepta, umgekehrt aber, wo ſich eine ſolche

findet, da iſt auch ſtets jene Anomalie, und namentlich

die ausgeſchloſſene Einwirkung der capitis deminutio, an-

zunehmen (§ 72 y). Dieſer Punkt bedarf jedoch einer ge-

nauen Erörterung. — Von jeher haben die Meiſten hierin

nichts Anderes geſehen, als eine Klage, die auf den freyen

Regeln der aequitas, alſo auf dem jus gentium beruhe,

nicht auf den ſtrengen Regeln des Römiſchen jus civile.

Auch hat an ſich der Ausdruck bonum et aequum keine

andere Bedeutung, und wenn daher nur von dem Ent-

ſtehungsgrund eines Klagerechts die Rede iſt, ſo darf

in der That an nichts Anderes gedacht werden. So z. B.

wird von den Condictionen geſagt: ex bono et aequo

habet repetitionem, und: ex bono et aequo introducta (b),

und Niemand wird bezweifeln, daß die Condictionen reine

Vermögensrechte ſind, vererblich, allen Beſchränkungen der

Rechtsfähigkeit unterworfen, alſo ohne allen Zuſammen-

hang mit der hier abgehandelten Anomalie. Anders aber

verhält es ſich mit dem Erfolg einer Klage, insbeſondere

wenn von dem mehr oder weniger freyen Ermeſſen des

Richters in Beziehung auf den Gegenſtand und Umfang

 

(b) L. 65 § 4. L. 66 de cond. indeb. (12. 6.).

|0107 : 93|

§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.

des Urtheils die Rede iſt. Hierin kennt der ältere Roͤ-

miſche Prozeß drey Stufen:

a) Stricti juris judicium, wenn daſſelbe auf certa pe-

cunia gerichtet war. Der Prätor beſtimmte in der For-

mel eine feſte Geldſumme, und der Judex hatte nur die

Wahl, entweder auf dieſe beſtimmte Summe zu verurthei-

len, oder gänzlich loszuſprechen. Mehren oder mindern

durfte er die Summe nicht.

 

b) Bonae fidei und arbitraria judicia. Hier war die

Summe der Verurtheilung nicht durch die Formel vorge-

ſchrieben, ſondern dem Ermeſſen des Richters überlaſſen,

und dieſe Freyheit wird gleichfalls als ein bonum et ae-

quum bezeichnet (c). Von einer andern Seite aber war

allerdings die Willkühr des Richters gebunden, nämlich

durch die nothwendige Rückſicht auf das Intereſſe des Klä-

gers, deſſen wahrer Betrag ſtets durch die bekannten Ver-

hältniſſe des Verkehrs ermittelt werden kann. Indem alſo

hier das Urtheil zwar nicht durch den Prätor, aber durch

den Gegenſtand beſtimmt war, konnte man wohl anneh-

men, daß bey ſolchen Klagen zwey gleich ſachkundige

Richter ſtets auf dieſelbe Summe ſprechen würden.

 

c) Ganz anderer Natur ſind die hierher gehörenden

Klagen. Bey ihnen bindet den Richter weder der Prätor,

 

(c) § 30 J. de act. (4. 6.) „ex

bono et aequo aestimandi.” —

§ 31 eod. „permittitur judici ex

bono et aequo .... aestimare

quemadmodum actori satisfieri

oporteat.” — Daſſelbe gilt (nur

mit etwas weniger freyem Er-

meſſen) bey der stricti juris actio,

wenn dieſe auf ein incertum ge-

richtet war.

|0108 : 94|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

noch der Gegenſtand, ſondern ſein Ermeſſen iſt unver-

meidlich ſo frey, daß es ſelbſt bey zwey gleich redlichen

und einſichtsvollen Richtern für ganz zufällig gehalten

werden muß, wenn ihre Urtheile in der Summe überein-

ſtimmen (d). Dieſe ungewöhnlich ausgedehnte richterliche

Willkühr wird in den am genaueſten redenden Stellen

durch den Ausdruck: actio in bonum et aequum concepta

bezeichnet. Auf den erſten Blick moͤchte man vielleicht Be-

denken tragen, jenem Beywort eine ſolche unterſcheidende

Kraft beyzulegen, es rechtfertigt ſich jedoch dieſe, etwas

ſubtil ſcheinende, Annahme auf folgende Weiſe. Durch

das concepta wird ausgedrückt, daß die Hinweiſung auf

das bonum et aequum wörtlich in der Formel enthalten

war; ſie lag nämlich bei der actio rei uxoriae (wahr-

ſcheinlich dem älteſten Fall dieſer Art) in den der Formel

eingerückten Worten quod aequius melius (e), bey mehre-

ren ſpäterhin in das Edict aufgenommenen Fällen in den

weniger alterthümlichen Ausdrücken: quanti aequum, oder

quanti bonum aequum judici videbitur (f). Dieſer Theil

(d) Am anſchaulichſten iſt die-

ſes bei der Injurienklage (Gajus

III. § 224), worin doch gewiß die

Beſtimmung der Summe lediglich

auf ſubjectivem Gefühl betuht,

alſo mit der Beſtimmung der Ent-

ſchädigungsſumme z. B. aus ei-

nem Kaufcontract gar keine Ähn-

lichkeit hat. Daß aber daſſelbe

Verhältniß, wenngleich weniger

augenſcheinlich, auch in vielen an-

deren Fällen ſtatt findet, wird

unten gezeigt werden.

(e) Cicero top. C. 17, de of-

ficiis III. 15. Wörtliche Anſpie-

lungen auf dieſen im Edict vor-

kommenden Ausdruck der Formel

kommen vor in L. 82 de solut.

(46. 3.), L. 66 § 7 sol. matr.

(24. 3.), — Über die Ähnlichkeit

und Verſchiedenheit dieſer Klage

mit anderen gleichartigen Klagen

vgl. unten § 72 ee.

(f) Dieſer Ausdruck findet ſich

|0109 : 95|

§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.

der Formel war dazu beſtimmt, die ungewöhnliche Frey-

heit des richterlichen Ermeſſens, wodurch ſich ſolche Kla-

gen vor den regelmäßigen bonae fidei actiones auszeich-

neten, auszudrücken (g). Wenn alſo eine Klage im Rö-

miſchen Recht geradezu als in bonum et aequum concepta

bezeichnet wird, ſo iſt es unzweifelhaft, daß ihr die hier

dargeſtellte Anomalie zukommt. Allein nicht immer beob-

achten die alten Juriſten dieſen genauen Sprachgebrauch (h);

nicht ſelten gebrauchen ſie in derſelben Bedeutung auch den

allgemeineren, unbeſtimmteren Ausdruck: ex bono et ae-

quo est oder oritur (i), und da deſſen Zweydeutigkeit ſchon

in folgenden Edictſtellen: L. 1 pr.

de his qui effud. (9. 3.). L. 42

de aed. ed. (21. 1.). L. 3 pr.

de sepulchro viol. (47. 12.).

(g) Es iſt alſo kein Wider-

ſpruch, wenn die actio rei uxo-

riae, die (wegen der Worte ae-

quius melius) in bonum et ae-

quum concepta war, doch auch

unter die b. f. actiones gezählt

wird (§ 29 J. de act. 4. 6). Denn

es ſollte in ihr alles Das gelten,

was für die b. f. actiones über-

haupt Regel war, und nur noch

eine ausgedehntere Freyheit des

richterlichen Ermeſſens daneben.

(h) Die Benennung actio in

bonum et aequum concepta

kommt nur bey zwey Klagen vor:

1) der actio rei uxoriae. L. 8

de cap. min. (4. 5). 2) der a. se-

pulchri violati. L. 10 de sepul-

chro viol. (47. 12.). — Daß nun

jede Klage, welche dieſen Cha-

racter an ſich trug, ſtets zugleich

auch von der Einwirkung der ca-

pitis deminutio frey war, ſagt

ausdrücklich L. 8 de cap. min.

(4. 5.), ſ. u. § 72 Note y.

(i) Dahin gehört: 1) die In-

jurienklage. L. 11 § 1 de injur.

(47. 10.), und bey dieſer iſt es

aus mehreren Anſpielungen un-

zweifelhaft, daß die Worte bonum

aequum in ihrer Formel vorka-

men. L. 18 pr. eod. L. 34 pr.

de O. et A. (44. 7.). — 2) Die

actio de effusis. L. 5 §. 5 de

his qui effud. (9. 3.), und bey

dieſer wiſſen wir unmittelbar aus

der Edictſtelle, daß jene entſchei-

denden Worte in der Formel

ſtanden. L. 1 pr. eod. — Sehr

merkwürdig iſt in dieſer Hinſicht

die funeraria actio. Sie ent-

ſteht nicht nur ex bono et ae-

quo, ſondern der Judex hat in

ihr auch ein überaus freyes Er-

meſſen. (L. 14 § 6 de relig. 11.

7.); dennoch iſt ſie eine gewöhn-

|0110 : 96|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

oben bemerklich gemacht worden iſt, ſo dürfen wir aus

ihm allein niemals die anomaliſche Natur einer Klage

ſchließen, dieſe iſt vielmehr in ſolchen Fällen ſtets erſt aus

anderen Gründen zu erweiſen (k).

Es iſt ſchon oben bemerkt worden, daß die anomali-

ſchen Rechte, von welchen hier die Rede iſt, großentheils

in Klagrechten beſtehen, und zwar beſonders in ſol-

chen, die ausnahmsweiſe von einem filiusfamilias geltend

gemacht werden können. Damit dieſes in den einzelnen

Anwendungen völlig klar werde, ſoll hier noch vorberei-

tungsweiſe die Klagfähigkeit des filiusfamilias genauer

beſtimmt werden, als es oben in der allgemeinen Dar-

ſtellung ſeiner Rechtsfähigkeit überhaupt (§ 67) geſchehen iſt.

Es kann nämlich der filiusfamilias in Betracht kommen:

 

I. Als Beklagter, und zwar:

 

A. In eigenem Namen. Hier iſt gar keine Schwie-

 

liche Vermögensklage, und unſre

Anomalien galten bey ihr gewiß

nicht. Daher war ſie denn auch

nicht in bonum et aequum con-

cepta, das heißt nicht blos, die-

ſer Name wird bey ihr nicht er-

wähnt (welches eben ſo zufällig

ſeyn könnte wie bey der Inju-

rienklage), ſondern wir wiſſen aus

der erhaltenen Stelle des Edicts,

daß jene Worte nicht in ihrer

Formel ſtanden. L. 12 § 2 de re-

lig. (11. 7.).

(k) Cujacius hat die Eigen-

thümlichkeit der actio in bonum

et aequum concepta, verſchieden

von der bloßen b. f. actio, und

zuſammenhängend mit der For-

mel aequius melius, richtig er-

kannt, und eben ſo richtig auf

vier Klagen angewendet: de dote

(rei uxoriae), injuriarum, de

effusis, und sepulchri violati.

Cujacii observ. XXII. 14, und

faſt ganz wörtlich gleichlautend in

dem Comm. zu Paulus ad edic-

tum, in L. 9 de cap. min. (Opp.

T. 5 p. 161). Er hat aber der

Sache nicht die Ausdehnung ge-

geben, die ihr gebührt, und worin

allein ſie in ihrem wahren Lichte

erkannt werden kann.

|0111 : 97|

§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.

rigkeit, da der filiusfamilias, völlig ſo wie ein Unabhängi-

ger, in vollgültigen Schuldverhältniſſen ſtehen, und aus

denſelben verklagt werden kann (§ 67).

B. Im Namen des Vaters. Der Sohn kann, eben

ſo wie jeder Fremde, vom Vater als Procurator beſtellt

werden (l), außerdem aber kann er, gleichfalls wie jeder

Fremde, den verklagten Vater nicht vertreten. Namentlich

würde es ganz unrichtig ſeyn, wenn man annehmen wollte,

der Sohn könne die durch ihn hervorgebrachte actio de

peculio nun auch ohne Auftrag für den Vater übernehmen.

Veranlaßt hat er ſie allerdings, aber ſobald ſie einmal

entſtanden iſt, hat ſie mit ihm keine Verbindung mehr, ſon-

dern nimmt die Natur jeder andern Schuld des Vaters an.

 

II. Als Kläger:

 

A. Im Namen des Vaters. Auch hier kann er, ſo

wie jeder Andere, als Procurator vom Vater beſtellt wer-

den (Note l), außerdem iſt er zu dieſer Vertretung in

der Regel nicht berechtigt. Namentlich liegt in dem Pe-

culium, welches der Vater etwa dem Sohn gegeben hat,

durchaus nicht der Auftrag, die darin enthaltenen Rechte

durch Klagen vor Gericht geltend zu machen (m). — Aus-

nahmsweiſe aber kann zuweilen der Sohn mit einer utilis

 

(l) L. 8 pr. in f., L. 35 pr.

de proc. (3. 3.).

(m) Eine merkwürdige Remi-

niscenz findet ſich in L. 8 pr.

C. de bon. quae lib. (6. 61.).

Bey dem ſogenannten adventi-

tium extraordinarium bedarf der

Sohn, um zu klagen, noch immer

der väterlichen Einwilligung, aber

dieſe kann erzwungen werden, iſt

alſo eine leere Formalität zum

Andenken des älteren Rechts.

„Necessitate per officium ju-

dicis patri imponenda tantum-

II. 7

|0112 : 98|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

actio, als präſumtiver Procurator des Vaters, klagen, wenn

der Vater abweſend iſt, und deswegen die Klage ſonſt

unterbleiben, oder doch lange verſchoben werden müßte.

Dieſes gilt unter andern bey Klagen aus einem Diebſtahl,

koͤrperlicher Beſchädigung, Darlehen, Depoſitum, Mandat,

beſonders wenn dieſe Verletzungen oder Rechtsgeſchäfte in

Beziehung auf die Perſon des Sohnes ſtattgefunden ha-

ben, ſo daß vielleicht er ſelbſt dieſe Klagerechte dem Va-

ter erworben hat. In einigen dieſer Fälle wird noch der

unterſtützende Grund hinzugefügt, daß ſonſt der Sohn

ſelbſt in Noth kommen könne, wenn er z. B. ſein Reiſe-

geld ausgeliehen oder durch Diebſtahl verloren hat; dieſes

iſt jedoch keinesweges als allgemeiner Grund oder als Be-

dingung der Regel anzuſehen (n). In dieſen Fällen nun

iſt es ganz gleichgültig, ob der Erwerb dieſer Klagen mit

einem Peculium zuſammenhieng oder nicht. Eine ſcharfe

Gränze für die ſo zuläſſigen Klagen zu ziehen war nicht

nöthig, da die Zulaſſung des Sohnes in dieſen Fällen

ſtets auf dem freyen Ermeſſen der Obrigkeit beruhte. Es

verſteht ſich von ſelbſt, daß der Ertrag dieſer Klagen

immer wieder dem Vater erworben werden muß.

modo filio consentire, vel agen-

ti, vel fugienti, ne judicium

sine patris voluntate videatur

consistere.” Die Worte vel fu-

gienti (als Beklagter) ſcheinen

aus Verſehen herein gekommen

zu ſeyn, veranlaßt durch einen

falſchen Schein conſequenter Voll-

ſtändigkeit; denn verklagt werden

konnte der Sohn ſchon nach altem

Recht für ſich allein, ohne des

Vaters Wiſſen, ja wider deſſen

Willen. L. 3 § 4 de minor. (4. 4.).

(n) L. 18 § 1 de judic. (5. 1.).

L. 17 de reb. cred. (12. 1.).

|0113 : 99|

§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.

B. In eigenem Namen. Dieſer Fall gehört allein

hierher zu unſren anomaliſchen Rechten, und um ſeinet-

willen ſind bis jetzt auch die verwandten Fälle feſtgeſtellt

worden, weil er nur in dieſer Umgebung nach ſeiner Ei-

genthümlichkeit richtig aufgefaßt werden kann. — In der

Regel nun kann der Sohn in eigenem Namen deswegen

nicht klagen, weil er keine eigenen Rechte haben kann,

die durch Klage zu verfolgen wären (o): er kann nicht

vindiciren weil er kein Eigenthum hat, keine Schuldklage

anſtellen weil er nicht Gläubiger ſeyn kann. Der Grund

dieſer Unfähigkeit iſt alſo materieller Art, und liegt nicht

etwa in einer beſondern Ausſchließung des Sohnes von

gerichtlichen Geſchäften: daher kann derſelbe aus ſolchen

Thatſachen, die während der väterlichen Gewalt vorfallen,

in der Regel auch nach deren Aufloͤſung nicht klagen (p).

— Allein es giebt wichtige ausgenommene Fälle, in wel-

chen der filiusfamilias in eigenem Namen klagen kann,

 

(o) L. 13 § 2 quod vi (43. 24.).

„Idem ait, adversus filiumfa-

milias in re peculiari neminem

clam videri fecisse: namque

si scit eum filiumfamilias esse,

non videtur ejus celandi gratia

fecisse, quem certum est nul-

lam secum actionem habere.”

(p) So z. B. wenn dem Sohn

eine Sache aus dem Peculium

geſtohlen wird, ſo erwirbt die

furti actio der Vater, nicht der

Sohn, weil der Diebſtahl nur dem

Vater ein Recht verletzt hat; auch

die Emancipation kann hieran

Nichts ändern. Geſetzt aber, der

Sohn hatte ein Pferd gemiethet,

und dieſes ſtehlen laſſen, ſo iſt

weder dem Vater noch dem Sohn

ein Recht verletzt; allein der Sohn

iſt dem Vermiether zur Entſchä-

digung verpflichtet, und deswegen

wird auf ihn, eben ſo wie auf

einen Miether der sui juris iſt,

die furti actio übertragen (L. 14

§ 16 de furtis 47. 2.), und dieſe

kann er nach aufgelöſter väterli-

cher Gewalt ſelbſtändig anſtellen,

weil ſeine Schuld gegen den Ver-

miether ſtets fortdauert. (Wäh-

7*

|0114 : 100|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

und dieſes ſind eben unſre anomaliſchen Rechte, die ſo-

gleich einzeln dargeſtellt werden ſollen, und um derenwil-

len dieſe ganze Betrachtung vorausgeſchickt worden iſt (q).

Beſonders wichtig iſt es, dieſe ausgenommenen Fälle von

den oben erwähnten genau zu unterſcheiden, worin der

Sohn nicht in eigenem Namen, ſondern als präſumtiver

Procurator klagt; unſre Schriftſteller haben beide Fälle

vielfach mit einander verwechſelt. — Ein Hauptunter-

ſchied liegt darin, daß in dieſen Fällen, worin der Sohn

in eigenem Namen auftritt, das Ermeſſen der Obrigkeit,

rend der väterlichen Gewalt ruht

die Klage, weil der Vater kein

Intereſſe hat. L. 14 § 10 de fur-

tis 47. 2.). So iſt zu erklären

L. 58 de furtis (47. 2.): „Si

filiofamilias furtum factum es-

set, recte is paterfamilias factus

eo nomine aget. Sed et si res

ei locata subrepta fuit, pater-

familias factus ibidem agere

poterit.” Der erſte Fall der

Stelle kann nur von einem ca-

strense peculium verſtanden wer-

den, weil man zu Julians Zeit

nur in dieſem Fall ſagen konnte,

es ſey gegen den Sohn ein

Diebſtahl begangen worden; viel-

leicht hatte das Julian ausge-

drückt, und die Compilatoren ha-

ben es weggelaſſen, weil ſie daran

dachten, daß zu ihrer Zeit der

Sohn auch außerdem eigenes Ver-

mögen haben könne. Vgl. über

dieſe Stelle Cujacius obs. XXVI.

5, und, faſt wörtlich gleichlau-

tend, Recitat. in Julianum, Opp.

VI. 500.

(q) Auf das Daſeyn ſolcher Aus-

nahmen überhaupt deutet L. 8

pr. de proc. (3. 3.) „si quae

sit actio qua ipse experiri po-

test.” Weit beſtimmter aber

ſpricht L. 9 de O et A. (44. 7.).

„Filiusfamilias suo nomine nul-

lam actionem habet, nisi inju-

riarum, et quod vi aut clam,

et depositi, et commodati, ut

Julianus putat.” Das suo no-

mine bezeichnet den ſcharfen Ge-

genſatz gegen die Fälle des prä-

ſumtiven Mandats in L. 18 § 1

de judic. (5. 1.). Da es jedoch,

wie ſich ſogleich zeigen wird, au-

ßer dieſen vier Klagen noch meh-

rere andere giebt, die der Sohn

suo nomine anſtellen kann, ſo

fragt es ſich, wie dieſer Wider-

ſpruch aufzulöſen iſt. Wahrſchein-

lich ſind dieſe vier Fälle früher

als andere bemerkt und allgemein

anerkannt worden.

|0115 : 101|

§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.

beſonders aber der Widerſpruch des Vaters, ohne Einfluß

iſt, welcher Widerſpruch in den oben erwähnten allgemei-

neren Fällen die Klage des Sohnes gewiß hindert (q¹).

Wenn nun durch ſolche Klagen der Erwerb eines Ver-

mögensrechts, z. B. durch eine Geldzahlung, bewirkt wird,

ſo gehört dieſer Ertrag doch immer wieder dem Vater,

obgleich der Sohn in eigenem Namen klagen konnte und

wirklich geklagt hat.

Dabey muß jedoch noch eine im alten Prozeß liegende

Schwierigkeit erwähnt werden. In den meiſten Klagfor-

meln wurde der Kläger als Inhaber eines Rechts be-

zeichnet, z. B. si paret hominem ex jure quiritium Auli

Agerii esse, oder: si paret N. Negidium A. Agerio SS.

X. Milia dare oportere. Im erſten Fall war der Kläger

als Eigenthümer angegeben, im zweyten als Ereditor,

beides aber konnte ein filiusfamilias überhaupt nicht ſeyn.

 

(q¹) Allerdings wird in L. 18

§ 1 de jud. (Note n) nicht aus-

drücklich geſagt, daß der Sohn

als Procurator des Vaters klage,

dennoch muß es aus folgenden

Gründen angenommen werden.

Erſtlich wegen des Gegenſatzes

des suo nomine in L. 9 de O.

et A., welches auf beſtimmte ein-

zelne Fälle beſchränkt iſt, anſtatt

daß das in L. 18 cit. erwähnte

Recht des Sohnes eine ſo all-

gemeine Natur hat, daß dafür

nur einzelne Beyſpiele angegeben

werden. Zweytens ſoll das Recht

des Sohnes nach L. 18 cit. nur

gelten „si non sit qui patris

nomine agat;” durch jeden wah-

ren Procurator, und noch mehr

durch des Vaters Widerſpruch,

iſt alſo der Sohn ausgeſchloſſen.

Drittens iſt dieſes präſumtive

Mandat nur eine einzelne An-

wendung eines gleichen Mandats

vieler Cognaten und Affinen (L. 35

pr. de proc.). Daß daſſelbe hier

bey dem Sohn beſonders hervor-

gehoben und ausführlich gerecht-

fertigt wird, kommt daher, daß

in der Regel der filiusfamilias

gar nicht als Kläger ſoll auftre-

ten können (Note o).

|0116 : 102|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Dieſe Schwierigkeit war ſo bedeutend, daß deshalb ein

Sohn dem Vater zwar durch Mancipation erwerben

konnte, aber nicht durch in jure cessio, weil dieſer eine

(wenngleich nur ſymboliſche) Vindication zum Grunde

lag (r). Wie war hier in unſren anomaliſchen Fällen zu

helfen? Auf zweyerley Weiſe. Erſtlich durch eine for-

mula in factum concepta, worin als Bedingung der Ver-

urtheilung nicht, wie in den oben angeführten Formeln,

ein Recht des Klägers, ſondern eine bloße Thatſache aus-

gedrückt wurde. Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß dieſe

Art der Formeln vorzugsweiſe um unſrer anomaliſchen

Fälle willen eingeführt wurden, wenigſtens iſt es merk-

würdig, daß mehrere von Gajus angegebene Beyſpiele

der formula in factum concepta zugleich auch unter die

anomaliſchen Fälle gehören, worin ein Sohn suo nomine

klagen kann (s). Zweytens auf viel durchgreifendere

Weiſe, wenn der Rechtsſtreit überhaupt nicht durch einen

judex und durch formula, ſondern durch die extraordina-

(r) Gajus II. § 96.

(s) Gajus II. § 46. 47. — Hier-

aus iſt zu erklären L. 13 de O.

et A. (44. 7.). „In factum ac-

tiones etiam filiifamiliarum pos-

sunt exercere.” Dieſe Stelle iſt

nicht ſelten ſo misverſtanden wor-

den, als ob ein Sohn alle ac-

tiones in factum anſtellen könn-

te, was ſchon mit L. 9 eod. (ſ. o.

Note q) im ſchneidenden Wider-

ſpruch ſtehen würde, nach wel-

cher doch auf jeden Fall nur ein-

zelne Klagen zugelaſſen werden

können, mag auch deren Aufzäh-

lung in L. 9 cit. nicht vollſtändig

genug ſeyn. Der wahre Sinn

der L. 13 cit. iſt aber dieſer:

Bey der formula in factum con-

cepta ſind filiifamilias durch

die Prozeßform nicht verhin-

dert, die Klage anzuſtellen; ſie

können alſo überhaupt dieſe Kla-

gen gebrauchen, vorausgeſetzt, daß

ſie auch eine materielle Berechti-

gung dazu haben. — Übrigens iſt

auch auf dieſen Unterſchied zu

beziehen der Gegenſatz des: in

|0117 : 103|

§. 71. Anomaliſche Rechte. Allgemeine Natur.

ria cognitio eines Magiſtratus entſchieden wurde (t). Die

erſte Auskunft war nur anwendbar auf die anomaliſchen

Klagrechte eines filiusfamilias, die zweyte war der aus-

gedehnteſten Anwendung fähig, ſie diente daher namentlich

auch als Prozeßform für die anomaliſchen Anſprüche der

Sklaven, von welchen ſogleich die Rede ſeyn wird.

Alles, was hier über die Klagfähigkeit des filiusfamilias

geſagt worden iſt, gilt ohne Unterſchied des Geſchlechts,

alſo für Söhne und Töchter auf gleiche Weiſe (u).

 

Es iſt aber dieſes Alles bisher von dem Standpunkte

des älteren Rechts aus betrachtet worden; die Modifica-

tionen, welche ſpäterhin für die Einwirkung der väterli-

chen Gewalt eingetreten ſind, haben auch darin die größ-

ten Veränderungen hervorgebracht, und es wird davon

noch weiter unten die Rede ſeyn.

 

facto potius quam in jure con-

sistit (Note a), nur nicht auf

dieſen allein.

(t) L. 17 de reb. cred. (12.

1.) „extraordinario judicio”

(Note n).

(u) Über die gleiche Schulden-

fähigkeit bey Söhnen und Töch-

tern vgl. Beylage V. — Was die

beſondere Anwendung auf die

Klagfähigkeit betrifft, ſo erwähnt

L. 8 pr. de proc. (3. 3.) beide

auf ganz gleiche Weiſe. Eben ſo

auch, bey genauerer Betrachtung,

L. 3 § 4 commod. (13. 6.), worin

ganz zufällig der zweyte Satz:

cum filio autem familias etc.

bey der Tochter nicht wiederholt

iſt, ohne Zweifel weil der Juriſt

annahm, dieſe Wiederholung wer-

de jeder Leſer von ſelbſt hinzu

denken. Hätte der Juriſt einen

Unterſchied unter beiden Geſchlech-

tern im Sinn gehabt, ſo würde

er ſich gewiß anderer Ausdrücke

bedient haben. — Eine Procura-

tur freylich durften Frauen über-

haupt nicht übernehmen (L. 1 § 5

de postul. 3. 1.), und ſelbſt für

den Vater nur ausnahmsweiſe,

causa cognita, wenn er keinen

andern Procurator finden konnte.

L. 41 de proc. (3. 3.).

|0118 : 104|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 72.

Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähigkeit

und capitis deminutio. (Fortſetzung.)

Nachdem die Natur dieſer Anomalie im § 71 feſtge-

ſtellt worden iſt, gehe ich jetzt zur Angabe der einzelnen

dahin gehörenden Fälle über. Dieſelben laſſen ſich auf

Vier Klaſſen zurückführen.

 

I. Rechte auf unmittelbare Lebensverſor-

gung.

Durch das Eigenthum, wie durch die Obligationen

die zum Eigenthum führen, werden uns die Mittel dar-

geboten zur Erreichung unſrer Zwecke, jedoch ſo, daß in

der Wahl und Ausbildung der Zwecke, ſo wie in der

Verwendung der Mittel, unſre Freyheit unbedingt herr-

ſchen ſoll. Wenn daher oben das Vermögen für eine er-

weiterte Macht der Perſon erklärt wurde (§ 53), ſo war

damit eben dieſe Herrſchaft unſres Willens über äußere

Mittel zu unbeſtimmten Zwecken gemeynt. Dieſes Ver-

hältniß wird am anſchaulichſten dargeſtellt durch den Gel-

deswerth, in welchen ſich jedes Vermögensrecht auflöſen

läßt. Denn das Geld, an ſich ſelbſt ohne Brauchbarkeit,

hat nur die Bedeutung eines Mittels zu unbeſtimmten

Zwecken, alſo einer unbedingt erweiterten Freyheit. Nun

giebt es aber Rechte, wodurch zwar auch für unſre Zwecke

und Bedürfniſſe geſorgt wird, jedoch ſo, daß die vermitt-

 

|0119 : 105|

§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.

lende Freyheit entweder ganz verſchwindet, oder doch zu-

rücktritt, ſo daß wir ſelbſt dabey unter eine Art von Vor-

mundſchaft treten. Dieſe Rechte ſind es, bey welchen die

regelmäßigen Einſchränkungen der Rechtsfähigkeit zuwei-

len ganz verſchwinden, zuweilen modificirt erſcheinen. Ein

Beyſpiel wird dieſen Gegenſatz anſchaulich machen. Wenn

einem Unbemittelten freye Koſt verſchafft werden ſoll, ſo

kann dieſes dadurch geſchehen, daß für ihn in einem Gaſt-

haus monatlich eine beſtimmte Summe bezahlt wird, wo-

durch er das Recht erhält, täglich daſelbſt zu eſſen. Die-

ſes wäre ein ſolches anomaliſches Recht, die Wohlthat

wäre mit einer vormundſchaftlichen Beſchränkung verbun-

den. Zu demſelben Zweck aber könnten Jenem am An-

fang des Monats dieſelbe Summe baar gezahlt werden,

wodurch er denſelben Vortheil wie im erſten Fall erlan-

gen könnte. Allein hier wäre ſeiner Freyheit keine Schranke

geſetzt, er koͤnnte das Geld auch anders verwenden, gut

oder ſchlecht, indem er ſich etwa mit ärmlicher Koſt be-

gnügte, und den größten Theil des Geldes den Armen

gaͤbe, oder aber im Spiel verſchwendete. — In einer

Stelle des Römiſchen Rechts wird von denjenigen Obli-

gationen, die jenen anomaliſchen Character an ſich tra-

gen, mit treffendem Ausdruck geſagt: naturalem praesta-

tionem habere intelliguntur (a), das heißt ſie zwecken ab

auf Naturalverpflegung, auf eine unmittelbare Darrei-

chung der Lebensbedürfniſſe, unvermittelt durch unſre Frey-

(a) L. 8 de cap. min. (4. 5.).

|0120 : 106|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

heit, wie ſie ſich in der Verfügung über Geldſummen äu-

ßert. Es iſt alſo ganz unrichtig, wenn unſre Juriſten

jenem Ausdruck entweder die allgemeine Beziehung auf das

jus gentium, auf bona fides, oder gar auf eine naturalis

obligatio beylegen wollten; beſonders die letzte Deutung

widerlegt ſich unmittelbar dadurch, daß die angeführte

Stelle von einer klagbaren Obligation (civilis obliga-

tio) ſpricht.

Die einzelnen zu dieſer Klaſſe gehörenden Rechtsinſti-

tute ſind folgende:

 

A. Legat von Alimenten.

Alimente werden hier im ſtrengen Sinn genommen, als

Mittel zur Erhaltung des leiblichen Daſeyns. Dahin ge-

hört der Schutz gegen Hunger und Kälte, alſo Nahrung,

Kleidung, Wohnung: alles Andere liegt hier außer die-

ſem Begriff, namentlich die Mittel zu geiſtigen Genüſſen

und geiſtiger Ausbildung (b). Auch findet ſich nur in je-

nen Stücken etwas Gleichförmiges, Allgemeingültiges, denn

die Bedürfniſſe wofür dort Befriedigung verſchafft werden

ſoll, ſind für alle Menſchen dieſelben, wie verſchieden auch

die Art und der Umfang der Befriedigung ſeyn mögen.

Deshalb haben hierin die Roͤmer die größte Abweichung

von der Regel der Rechtsfähigkeit eintreten laſſen, indem

dieſe Rechte auch den Sklaven zuſtehen koͤnnen, und auch

 

(b) L. 6 de alim. leg. (34. 1.).

„Legatis alimentis cibaria, et

vestitus, et habitatio debebitur,

quia sine his ali corpus non po-

test: cetera, quae ad discipli-

nam pertinent, legato non con-

tinentur.”

|0121 : 107|

§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.

durch maxima capitis deminutio nicht verloren gehen.

Dieſes muß jedoch ſo verſtanden werden. Wenn einem

gewoͤhnlichen Sklaven Alimente legirt werden, ſo iſt von

jener Ausnahme nicht die Rede; es wird dadurch dem

Herrn der Vortheil verſchafft, daß er die Nahrungskoſten

des Sklaven erſpart, und er erwirbt dieſes Recht durch

den Sklaven eben ſo, wie er jedes dem Sklaven legirte

Eigenthum durch dieſen erwirbt, welches auch keine Aus-

nahme von der Regel der Rechtsfähigkeit bildet (c). Da-

gegen kommt jene Anomalie in folgenden Fällen zur An-

wendung. Zuerſt bey einem herrenloſen Sklaven. Der

servus poenae kann dieſes Legat erwerben, und der Freye

der es erworben hat, verliert es durch die maxima capi-

tis deminutio nicht; jedes andere Legat, das einem servus

poenae gegeben wäre, würde nichtig ſeyn, weil er ſelbſt

perſoͤnlich unfähig iſt, und doch auch keinen Herrn hat,

dem es durch ihn erworben werden koͤnnte (d). — Ferner

wird jene Anomalie ſichtbar in manchen Fällen, in welchen

(c) L. 42 de condit. (35. 1.).

„.. si cibaria servis Titii le-

gentur, procul dubio domini

est, non servorum legatum.”

L. 15 § 1 de alim. leg. (34. 1.).

(d) L. 3 pr. § 1 de his quae

pro non scr. (34. 8.). „Si in

metallum damnato quid extra

causam alimentorum relictum

fuerit, pro non scripto est (die

Alimente alſo ſind gültig), nec

ad fiscum pertinet: nam poenae

servus est non Caesaris et ita

D. Pius rescripsit” etc. L. 11

de alim. leg. (34. 1). „Is cui

annua alimenta relicta fuerant,

in metallum damnatus, indul-

gentia Principis restitutus est.

Respondi, eum et praeceden-

tium annorum recte cepisse ali-

menta, et sequentium deberi

ei.” Die praecedentes anni ſind

die vor der Reſtitution, alſo wäh-

rend des Sklavenſtandes, nicht

die vor der Verurtheilung, bey

welcher ja ohnehin kein Zweifel

denkbar war.

|0122 : 108|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

der eigene Herr gezwungen wird ſeinem Sklaven Alimente

zu geben, anſtatt daß er ihn ſonſt hungern laſſen könnte;

dieſes kommt vor, da wo ohnehin ſchon für die Zukunft

die Freyheit des Sklaven, oder deſſen Übergang an einen

andern Herrn rechtlich geſichert iſt (e). — In welcher

Form dieſe Sätze durchgeführt wurden, iſt nicht ganz klar;

ohne Zweifel geſchah es extra ordinem, durch die Obrig-

keit, nach der Form der Fideicommiſſe, und alſo auch

wahrſcheinlich erſt ſeit der Zeit, in welcher die Fideicom-

miſſe Rechtsgültigkeit erlangten (f).

Mit dieſem Fall darf nicht verwechſelt werden ein an-

derer, der nur eine äußere und ſcheinbare Ähnlichkeit mit

demſelben hat. Das Legat einer periodiſchen Geldrente

 

(e) L. 17 de alim. leg. (34.

1.). L. 16 de annuis leg. (33. 1.).

„Servus post decem annos li-

ber esse jussus est, legatumque

ei ex die mortis domini in an-

nos singulos relictum est: eo-

rum quidem annorum, quibus

jam liber erit, legatum debe-

bitur: interim autem heres ei

alimenta praestare compelli-

tur.” Dieſer letzte Fall iſt be-

ſonders merkwürdig und erläu-

ternd. Das Legat einer jährlichen

Geldrente iſt ein gewöhnliches,

deſſen der Sklave nicht fähig iſt;

daher wird es für die beſchränkte

Zeit, worin der Legatar noch

Sklave iſt, ganz nach dem un-

zweifelhaften Sinn des Teſtators,

in ein Alimentenlegat umgewan-

delt, deſſen iſt der Sklave fähig,

und der eigene Herr wird zur

Entrichtung gezwungen.

(f) Daß es in L. 17 de alim.

leg. (34. 1.) heißt officio judicis,

kann nicht als Einwurf gelten,

denn auch in L. 3 eod. heißt es:

Solent judices ex causa alimen-

torum libertos dividere, und

doch iſt ſowohl aus dem Fortgang

der Stelle, als aus der Inſcrip-

tion klar, daß die Conſuln ge-

meynt ſind. (Vgl. § 1 J. de fid.

her. 2. 23.). Der allgemeinere

Name judex wurde vielleicht hier

gebraucht, um die Conſuln und

den Fideicommiſſarprätor zugleich

zu umfaſſen. Gewiß iſt es we-

nigſtens, daß nicht der Sklave

im ordentlichen Prozeß vor dem

praetor urbanus auftreten konnte.

|0123 : 109|

§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.

(annuum, menstruum legatum) hat die Natur jedes ande-

ren Geldlegats, da es dem Legatar, ganz verſchieden von

den Alimenten, die freyeſte Verfügung über die jedesmalige

Geldſumme giebt. Daher gehört es nicht zu unſren anoma-

liſchen Rechten, und ein Sklave war dazu nicht fähig (g).

Dennoch wird auch von einem ſolchen Legat geſagt, daß

es durch capitis deminutio nicht untergehe (h). Dieſes aber

hat einen ganz andren Grund, als bey den Alimenten.

Eine ſolche Jahresrente nämlich wurde betrachtet als ob

es verſchiedene, von einander unabhängige Legate wären,

und deswegen ſollte z. B. die Emancipation des Legatars

demſelben nicht den Anſpruch auf das künftige, noch gar

nicht deferirte Legat entziehen (i). Der Fall wurde als

ganz gleichartig behandelt mit dem eines Uſusfructus, wel-

(g) Nach L. 3 de his quae

pro non scr. (Note d) iſt Alles

ungültig, was dem servus poenae

außer den Alimenten legirt

wird; alſo auch das annuum le-

gatum. — Eben ſo muß in dem

Fall der L. 16 de ann. leg.

(Note e) das annuum legatum

erſt in ein Alimentenlegat ver-

wandelt werden, um auf den

Sklaven anwendbar zu ſeyn.

(h) L. 10 de cap. min. (4. 5.).

L. 8 L. 4 de ann. leg. (33.1.)

(i) Ob nicht zuweilen ſelbſt von

den Römiſchen Juriſten dieſer Un-

terſchied überſehen worden iſt, mag

dahin geſtellt bleiben. Man könnte

es glauben nach L. 10 de cap.

min. (4. 5.) „Legatum in annos

singulos, vel menses singulos

relictum, vel si habitatio lege-

tur, … capitis deminutione …

interveniente perseverat, quia

tale legatum in facto potius

quam in jure consistit.” Dieſer

Grund bezeichnet recht eigentlich

unſre anomaliſchen Rechte (§ 71).

Er paßt auch in der That, wie

ſich ſogleich zeigen wird, auf die

habitatio, und würde eben ſo

auf ein Alimentenlegat gepaßt ha-

ben, auf das annuum legatum

paßt er nicht. Ob aber wirklich

den alten Juriſten deshalb ein

Vorwurf trifft, läßt ſich nicht be-

ſtimmt behaupten, da dieſer Schein

vielleicht nur aus der Art entſtan-

den iſt, wie das Excerpt aus ſei-

nem Zuſammenhang abgetrennt

wurde.

|0124 : 110|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

cher auch ausnahmsweiſe durch capitis deminutio nicht

untergehen ſollte, wenn er wiederholt auf einzelne Jahre,

oder wiederholt auf den Fall des Untergangs durch capitis

deminutio, oder mit ausdrücklicher Angabe eines Zeitraums

(Lebenszeit, oder zehen Jahre) legirt wurde (k); ein ſolcher

Uſusfructus war gewiß kein anomaliſches Recht, ſondern

durch die allgemeine Regel der Rechtsfähigkeit bedingt,

und die capitis deminutio ſollte nur nicht die darin enthal-

tenen künftigen (noch gar nicht deferirten) Legate zerſtören.

B. Legat der habitatio und der operae.

Habitatio iſt dem Wort nach das Recht in einem be-

ſtimmten Gebäude Obdach zu finden, alſo eines der Stücke,

woraus der vollſtändige Begriff der Alimente beſteht (Note b).

Es war alſo natürlich, daß dabey dieſelbe mehr factiſche

als juriſtiſche Natur, wie bey den vollſtändigen Alimenten,

angenommen wurde, alſo auch eine ähnliche Unabhängigkeit

von Rechtsfähigkeit und capitis deminutio. Nur dieſer

letzte Punkt wird ausdrücklich bezeugt, und zwar geradezu

mit Zurückführung auf den Grund der factiſchen Natur

dieſes Juſtituts (l). Es liegt alſo dabey folgende Betrach-

tung zum Grunde. Wer einem Andern den Vortheil der

Wohnung verſchaffen will, kann dazu verſchiedene Mittel

anwenden. Er kann ihm Geld geben, um ein Haus zu

kaufen oder zu miethen: er kann ihm das Eigenthum oder

 

(k) L. 1 § 3 L. 2 § 1 L. 3 pr.

§ 1 quib. mod. ususfr. (7. 4.).

L. 8 de ann.leg.(33.1.). Fragm.

Vat. §. 63. 64.

(l) L. 10 de cap. min. (ſ. o.

Note i). L. 10 pr. de usu (7.8.).

|0125 : 111|

§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.

den Uſusfructus eines Hauſes geben. In allen dieſen Fäl-

len behält die Freyheit des Andern einen weiten Spielraum,

denn ſelbſt im Fall des Uſusfructus kann er das Haus

vermiethen und das Miethgeld verſchwenden. Selbſt der

Uſus umfaßt doch das ganze Haus, ſo daß der Uſuar

den leerſtehenden Theil des Hauſes vermiethen kann.

Beſchränkt man aber das Recht ſtreng auf den Vortheil

des Obdachs, das der Andere in dem Hauſe finden ſoll,

ſo hat es die größte Ähnlichkeit mit der oben erwähnten

Anweiſung auf einen Freytiſch, es iſt dann partielle Ver-

ſorgung mit ſtrenger Vormundſchaft, das heißt ohne allen

Spielraum der Freyheit des Berechtigten, oder mit ande-

ren Worten eine naturalis praestatio, wobey natürlich die

capitis deminutio außer Anwendung bleiben konnte (m).

Es ſteht nicht im Widerſpruch mit dieſer Erklärung, daß

ein ſolches Legat ſpäterhin durch wohlwollende Interpre-

tation erweitert wurde, zuerſt durch die Juriſten auf den

Umfang des Uſus, dann durch Juſtinian auf den des Uſus-

fructus (n); dieſe Erweiterung gehört zu der ſpäteren Um-

bildung des Inſtituts, neben welcher die aus der in alter

Zeit beſchränkteren Natur hervorgegangene Ausſchließung

(m) Thibaut Abhandlungen

N. 2 nimmt an, nach dem Sprach-

gebrauch habe habitatio ein Quar-

tier als Almoſen für Arme bedeu-

tet, deswegen habe man ſie mit

den Alimenten gleich geſtellt, und

aus bloßer Milde die capitis de-

minutio ausgeſchloſſen. In den

meiſten Fällen mag wohl die ha-

bitatio in dieſem Sinn gegeben

worden ſeyn, aber dieſes Zuſam-

mentreffen war doch blos zufällig,

und der wahre Grund der juriſti-

ſchen Eigenthümlichkeit lag hierin

nicht.

(n) L. 10 pr. de usu (7. 8.).

L. 13 C. de usufructu (3. 33.).

§ 5 J. de usu (2. 5.).

|0126 : 112|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

der capitis deminutio inconſequenterweiſe beybehalten wurde.

Hätte man von jeher die habitatio als usus oder usus-

fructus aedium angeſehen, ſo wäre ja durchaus kein Grund

denkbar geweſen, weswegen ſie weniger juriſtiſch als jeder

andere Uſus oder Uſusfructus hätte ſeyn ſollen.

Eine ähnliche Bewandniß hatte es mit den operae,

das heißt dem Recht durch einen beſtimmten Sklaven

Dienſte zu erhalten. Auch dieſer Vortheil konnte verſchafft

werden durch Eigenthum oder Uſusfructus an dem Skla-

ven, welches ſtreng juriſtiſche Verhältniſſe waren: es konnte

aber auch geſchehen als naturalis praestatio, ähnlich der

habitatio. Freylich iſt es hier weniger möglich einen Un-

terſchied vom Uſus an einem Sklaven aufzufinden; auch

gehört die Bedienung nicht ſo wie die Wohnung zu den

ſtrengen Lebensbedürfniſſen, alſo den Alimenten. Dennoch

war bey den Römern irgend eine Sklavenbedienung für

jeden Freyen ſo ſehr zum hergebrachten Bedürfniß gewor-

den, daß man ohne Zweifel aus denſelben Gründen, wie

bey der habitatio, auch bey den operae den Untergang

durch capitis deminutio ausſchloß (o). Daß man auch

hier ſpäterhin das Recht ſo weit ausdehnte wie den Uſus-

fructus, ja daß man es endlich auf den Erben übergehen

ließ, gehoͤrt zu den Umbildungen, deren Gründe wir nicht

kennen (p). — Beide Rechte, worauf ſich dieſe Eigen-

 

(o) L. 2 de op. serv. (7. 7.).

(p) L. 2 de usu leg. (33. 2.).

Es ſcheint übrigens dieſes das

einzige unter den hier zuſammen-

geſtellten Rechten zu ſeyn, welches

auf die Erben übergeht: aber

freylich auch nur nach ſeiner neu-

eren Umbildung, nicht nach dem

|0127 : 113|

§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.

thümlichkeit bezieht, werden übrigens blos als Gegenſtände

von Legaten erwähnt, ſo daß wir eine Entſtehung derſelben

auf anderen Wegen anzunehmen keinen Grund haben (q).

C. Das Dotalrecht der Ehefrau.

Die Eigenthümlichkeiten dieſes wichtigen Rechtsinſtituts

erklären ſich großentheils aus der hier dargeſtellten ano-

maliſchen Natur, die auch ihm zukommt, und die Irrthü-

mer neuerer Juriſten ſind vorzüglich dadurch erzeugt oder

befeſtigt worden, daß ſie verſäumt haben, das Inſtitut

unter dieſen Geſichtspunkt zu bringen. Es zeigt ſich aber

dieſe beſondere Beſchaffenheit deſſelben ſowohl während der

Ehe, als auch nach deren Auflöſung.

 

Während der Ehe iſt die Dos ganz und gar im

Vermögen des Mannes, und gar nicht in dem der Frau.

Der Mann hat die Dotalſachen im wahren Eigenthum,

ex jure quiritium und in bonis (r); er kann dieſelben,

 

Begriff, durch welchen allein es

in die Reihe unſrer anomaliſchen

Rechte kam. — Andere nahmen

darin blos die Befugniſſe des Uſus

an. L. 5 de op. serv. (7. 7.). —

Als praktiſche Veranlaſſung könnte

man ſich etwa die Rückſicht auf

einen Deportirten denken, dem

in dieſer Form die Bedienung

eines Sklaven zugewendet oder

erhalten werden konnte, während

er weder Eigenthum, noch Uſus-

fructus oder Uſus, zu erwerben

oder zu behalten fähig war.

(q) Eine Entſtehung durch in

jure cessio würde zu der nicht

ſtreng juriſtiſchen Natur dieſer In-

ſt tute nicht gepaßt haben. Wenn

der Eigenthümer bey der Veräu-

ßerung eines Hauſes die habitatio

ſich vorbehielt, ſo war das was

ihm blieb der gewöhnliche Uſus,

nicht das beſondere Recht der ha-

bitatio. L. 32 de usufr. (7. 1.).

— Ob jene Rechte eine Klage er-

zeugten, wird nicht geſagt, es

könnte aber höchſtens eine actio

in factum concepta geweſen

ſeyn, z. B. si paret habitatio-

nem legatam Gajo esse etc.

(r) L. 75 de j. dot. (23. 3.)

„Quamvis in bonis mariti dos

II. 8

|0128 : 114|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

wenn der Geber nicht Eigenthümer war, pro dote uſu-

capiren; er vindicirt ſie, und zwar ſogar gegen die Frau

ſelbſt, wenn dieſe den Beſitz der Sachen hat (s); er kann

ſie veräußern, ſogar an die Frau ſelbſt (t), und wenn

ihm durch poſitives Geſetz (die Lex Julia) die Veräuße-

rung der unbeweglichen Dotalſachen beſonders unterſagt

wurde, ſo iſt gerade die Möglichkeit und das Bedürf-

niß eines ſolchen poſitiven Verbots, der entſcheidendſte

Beweis ſeines wahren Eigenthums. Dennoch wird auf

der andern Seite geſagt, die Dos gehöre der Frau, ſie

ſey ihr patrimonium (u). Dieſer ſcheinbare Widerſpruch

iſt nur durch die Anerkennung der anomaliſchen Beſchaf-

fenheit des ganzen Inſtituts zu erklären. Der Mann hat

die Dos in ſeinem Vermögen, aber er trägt die Laſten

der Ehe, und zu dieſen gehört vorzüglich die Erhaltung

der Perſon der Frau. Sie hat alſo den Vortheil und

Genuß der Dos, aber dieſer iſt ihr nicht durch eine gegen-

wärtige Klage, ſondern nur durch die allgemeine Einrichtung

des ehelichen Lebens geſchützt. Ihr Vortheil alſo beſteht in

der naturalis praestatio, und man kann von ihm recht

eigentlich ſagen: in facto potius quam in jure consistit.

Juſtinian drückt einmal dieſelbe Anſicht in folgenden Wor-

ten aus (v): „cum eaedem res et ab initio uxoris fuerint,

sit, mulieris tamen est … quam-

vis apud maritum dominium

sit” etc. Gajus II. §. 63.

(s) L. 24 de act. rer. amot.

(25. 2.).

(t) L. 58 sol. matr. (24. 3.).

(u) L. 75 de j. dot. (ſ. oben

Noter) L. 3 § 5 de minor. (4.4.).

(v) L. 30 C. de j. dot. (5.12.).

|0129 : 115|

§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.

et naturaliter in ejus permanserint dominio.

Non enim, quod legum subtilitate transitus ea-

rum in patrimonium mariti videatur fieri, ideo rei

veritas deleta vel confusa est.” Hierin liegt nicht, wie

es Viele angeſehen haben, der Gegenſatz des in bonis und

ex jure quiritium, oder auch irgend eine neu erfundene

Eintheilung des Eigenthums, ſondern ganz daſſelbe, was

anderwärts durch das in facto potius quam in jure consistit

ausgedrückt wird. — Nun iſt es ſehr natürlich, daß dieſer

faktiſche Vortheil der Frau ganz derſelbe iſt, ſie mag in

väterlicher Gewalt leben oder nicht, und daß ſelbſt ihre

capitis deminutio darauf keinen Einfluß hat (w). Auch

erklären ſich daraus die eigenthümlichen Schickſale des

Dotalvermögens. Steht nämlich der Ehemann in väter-

licher Gewalt, ſo iſt ſein Vater wahrer Eigenthümer der

Dos, aber ſie wird keinesweges wie ſein übriges Vermö-

gen behandelt. Denn wenn der Sohn emancipirt oder in

Adoption gegeben oder erheredirt wird, eben ſo wenn der-

ſelbe bey des Vaters Tod nur einen Theil der väterlichen

Erbſchaft bekommt, ſo wird ſtets die Dos von des Vaters

Vermögen ausgeſchieden, ſo daß ſie, in unzertrennter Ver-

bindung mit den Laſten der Ehe, dem Ehemann folgt (x).

Nach aufgelöſter Ehe treten an die Stelle jenes

 

(w) Darum muß auch die Ehe-

frau, die sua heres ihres Vaters

iſt, die Dos conferiren. L. 1 pr.

§ 8 de dotis coll. (37. 7.).

(x) L. 1 § 9 de dote praeleg.

(33. 4.). L. 46 L. 20 § 2 L. 51

pr. fam. herc. (10. 2.). L. 45

de adopt. (1. 7.) verbunden mit

L. 56 § 1. 2 de j. dot. (23. 3.).

8*

|0130 : 116|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Verhältniſſes Obligationen, die den Inhalt der alten actio

rei uxoriae bilden, und auch in dieſer Klage ſetzen ſich

jene früheren Eigenthümlichkeiten fort, ja ſie werden hier

erſt recht ſichtbar. Weil der Gegenſtand dieſer Obliga-

tion, ſeiner Beſtimmung nach, die Grundlage einer naturalis

praestatio ſeyn ſollte, (und zwar auch nach aufgelöſter

Ehe, wegen einer möglichen neuen) ſo iſt die Klage von

der Einwirkung der beſchränkten Rechtsfähigkeit und der

capitis deminutio großentheils unabhängig (y). Dieſer

wichtige Grundſatz zeigt ſich in folgenden Anwendungen.

Wenn der Ehemann eine capitis deminutio erleidet, ſo

müßte nach der für andere Schulden geltenden Regel

(§ 70. k.) auch ſeine Dotalſchuld eigentlich untergehen;

dieſe aber geht in der That nicht unter, ſondern bleibt

ſtets mit der Perſon des Ehemannes verbunden (Note x),

ſo daß es dabey nicht einmal der für andere Schulden

vorgeſchriebenen Reſtitution bedarf. — Die Ehefrau,

die in väterlicher Gewalt ſteht, kann nicht nur durch ihren

Widerſpruch die actio rei uxoriae, die allerdings ihrem

Vater zuſteht, verhindern (z), ſondern ſie kann dieſelbe auch

(y) L. 8 de cap. min. (4. 5.)

„Eas obligationes, quae natu-

ralem praestationem habere in-

telliguntur, palam est capitis

deminutione non perire, quia

civilis ratio naturalia jura cor-

rumpere non potest. Itaque de

dote actio, quia in bonum et

aequum concepta est, nihilo mi-

nus durat etiam post capitis

deminutionem.” Hier iſt zunächſt

nur von der capitis deminutio

die Rede, ganz aus demſelben

Grunde iſt aber auch die urſprüng-

liche Rechtsunfähigkeit oft ohne

Einfluß.

(z) L. 22 § 1 L. 3 sol. matr.

(24. 3.). Ulpian: VI. § 6. Fragm.

Vat. § 269.

|0131 : 117|

§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.

oft ſelbſt anſtellen; und zwar im Namen des Vaters, wenn

dieſer durch Wahnſinn oder andere Gründe verhindert

iſt (aa): in eigenem Namen, alſo ſelbſt gegen des Vaters

Willen, wenn der Vater einen verwerflichen Lebenswandel

führt (bb). Wird ſie emancipirt, ſo iſt durch dieſe capitis

deminutio ihre Forderung ſo wenig zerſtört, daß gerade

umgekehrt das ganze Recht derſelben jetzt uneingeſchränkt

auf ihre Perſon übertragen wird (cc). Ja ſelbſt die in

der Deportation liegende media capitis deminutio entzieht

ihr für die ſpätere Zeit den Gebrauch der Klage nicht (dd).

— Zugleich iſt die Klage in bonum et aequum concepta

(§ 71. e), und die Römer ſelbſt betrachten dieſe ihre Ei-

genſchaft als zuſammenhängend mit der eben dargeſtellten

anomaliſchen Natur (Note y). Es hat aber in ihr das

bonum et aequum, oder das aequius melius, die wichtige

praktiſche Bedeutung, daß der Richter eine weit freyere

Gewalt hat, als bey den gewöhnlichen b. f. actiones, ſo

daß er namentlich jede Bereicherung des einen Theils

auf Koſten des unvorſichtigen andern Theils verhüten kann

(aa) L. 22 § 4 10. 11. sol. matr.

(24. 3.). L. 8 pr. de proc. (3. 3.).

(bb) L. 8 pr. de proc. (3. 3.).

(cc) L. 44 pr. L. 22 § 5 sol.

matr. (24. 3.). L. un. § 11 C.

de rei ux. act. (5. 12.). — L. 9

de cap. min. (4. 5.) „Ut quan-

doque emancipata agat,” das

heißt: die Emancipation mag vor

oder nach Auflöſung der Eh einge-

treten ſeyn, welches beſonders für

den zweyten Fall zu bemerken wich-

tig war, weil hier der Vater das

Klagrecht ſchon wirklich erworben

hatte. Der Satz der L. 9 cit. iſt

zwar unlaugbar eine Folgerung

aus der vorhergehenden L. 8, aber

keinesweges die einzige, ſo daß

es ganz irrig ſeyn würde, den

Sinn der L. 8 cit. auf den dar-

aus in L 9 gefolgerten Satz ein-

ſchränken zu wollen.

(dd) L. 5 de bonis damn.

(48. 20.).

|0132 : 118|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

und ſoll, die doch bey anderen Obligationen durchaus nicht

ausgeſchloſſen wird (ee).

Beſonders zu bemerken iſt dabey, daß faſt alle dieſe

Eigenthümlichkeiten des Dotalverhältniſſes von Juſtinian

unverändert beybehalten worden ſind. Die wichtigſte Än-

derung, die er eingeführt hat, beſteht in der Verwandlung

der vorher unvererblichen Dotalklage in eine vererbliche

Klage, welches er dadurch ausdrückt, daß an die Stelle

der (von jeher unvererblichen) actio rei uxoriae hinfort

ſtets eine actio ex stipulatu treten ſoll, bey welcher ſich

die Vererblichkeit von ſelbſt verſteht.

 

D. Die Alimentenklage unter nahen Ver-

wandten.

Sie gilt wechſelſeitig zwiſchen Aſcendenten und Deſcen-

denten. Die gewöhnlichen Regeln von der beſchränkten

Rechtsfähigkeit und der capitis deminutio haben darauf

gar keinen Einfluß, denn das Kind hat ſie gegen den eige-

nen Vater ſelbſt während der väterlichen Gewalt, und

eben ſo auch nach der Emancipation, ſo daß alſo die

 

(ee) L. 6 § 2 L. 12 § 1 de j.

dot. (23. 3.). L. 9 § 1 de minor.

(4. 4.), die durchaus nicht auf

minderjährige Frauen beſchränkt

werden darf, wie die Vergleichung

mit den ganz ähnlichen Ausdrücken

der vorhergehenden Stellen deut-

lich zeigt. L. un. C. si adv. dotem

(2. 34.). — Indem aber hier die-

ſer Klage eine größere Freyheit

des richterlichen Ermeſſens, als bey

den meiſten anderen Klagen, zu-

geſchrieben wird, ſoll damit kei-

nesweges eine abſolute Freyheit,

und namentlich nicht völlige Gleich-

heit mit anderen Klagen ähnlicher

Art behauptet werden. Bey der

Injurienklage z. B. beſtimmt der

Richter die Strafe nach ganz freyem

Ermeſſen, bey der a. rei uxoriae

iſt er durch den Umfang der em-

pfangenen Dos beſchränkt.

|0133 : 119|

§. 72. Anomaliſche Rechte. Lebensverſorgung.

capitis deminutio ſie nicht zerſtoͤrt haben kann (ff). Eben

ſo iſt kein Zweifel, daß auch der Vater gegen ſeinen filius-

familias dieſe Klage hat, wenn dieſer ein castrense pecu-

lium, oder ein ſogenanntes adventitium extraordinarium

beſitzt. — Es wird nicht ausdrücklich geſagt, daß die Klage

in bonum et aequum concepta ſey, in der That aber iſt

ſie es, weil der Richter unvermeidlich mit viel freyerem

Ermeſſen, als bey den meiſten anderen Klagen, den Um-

fang des Bedürfniſſes und der Zahlungsfähigkeit feſtzuſtel-

len hat (gg). — Übrigens iſt noch zu bemerken, daß der

Begriff der Alimente hier eine weit freyere Ausdehnung

erhält, als bey dem Legat von Alimenten (Note b), und

namentlich auch die geiſtige Ausbildung in ſich ſchließt (hh).

Dafür iſt aber auch hier die Anomalie ſelbſt weit be-

ſchränkter, indem hier nur die väterliche Gewalt und die

minima capitis deminutio, bey dem Alimentenlegat aber

ſogar der Sklavenſtand und die maxima capitis deminutio

kein Hinderniß des Rechts ſeyn ſoll.

E. Die Klage der Tochter gegen den Vater

auf Dotation(ii).

Auch hier iſt die Abhängigkeit von väterlicher Gewalt

 

(ff) L. 5 § 1 de agnoscendis

(25. 3.).

(gg) L. 5 § 2. 7. 10 de agnosc.

(25. 3.). Es heißt hier, mit wenig

abweichendem Ausdruck, ex ae-

quitate haec res descendit. Das

freye Ermeſſen iſt hier ſehr ähnlich

dem in der funeraria actio, welche

jedoch nicht in bonum et ae-

quum concepta war. Vgl. § 71

Note i. — Wahrſcheinlich war je-

doch die Alimentenklage überhaupt

kein ordinarium judicium, ſon-

dern eine extraordinaria cogni-

tio vor dem magistratus. Zeit-

ſchrift für geſchichtl. Rechtswiſſ.

B. 6. S. 238.

(hh) L. 5 § 12 de agnosc.

(25. 3.).

(ii) L. 19 de ritu nupt. (23. 2.).

|0134 : 120|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

kein Hinderniß des Klagrechts, da ſie ſogar die Bedingung

deſſelben ausmacht. Übrigens fällt dieſes Recht ſeinem

Weſen nach mit dem vorhergehenden zuſammen, da die

Dotation eigentlich nur eine andere Form iſt, in welcher

der Vater ſeiner Tochter die Alimente darreicht. Bey die-

ſem Recht nun iſt es ganz gewiß, (was bey der Alimen-

tenforderung als Vermuthung aufgeſtellt worden iſt), daß

es extra ordinem durch die Obrigkeit geltend gemacht

wurde, nicht durch eine gewöhnliche Klage.

|0135 : 121|

§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.

§. 73.

Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähigkeit

und capitis deminutio. (Fortſetzung.)

II. Klagrechte, deren Zweck auf Vindicta

geht(*).

Die Klagrechte, welche als eigenthümliche Wirkungen

von Rechtsverletzungen entſtehen (quae poenae causa dan-

tur) kommen in verſchiedenen Abſtufungen vor. Einige

ſollen blos die Verletzung ſelbſt ausgleichen, wie die doli

actio, die ſich auf die Entſchädigung des Betrogenen be-

ſchränkt. Andere ſollen dem Verletzten eine Bereicherung

(poena) verſchaffen, und zwar bald nur dieſe (wie die

furti actio), bald die poena noch neben der Entſchädigung

(wie die vi bonorum raptorum actio). Eine dritte Klaſſe

endlich geht zwar zunächſt auch auf ein Vermögensrecht,

aber dieſes iſt nicht, wie bey den erſten Klaſſen, der

Zweck, ſondern nur ein Mittel: der wahre Zweck iſt vin-

dicta. Unter dieſer iſt jedoch nicht Das zu verſtehen, was

wir im gewöhnlichen Leben Rache nennen, Befriedigung

unſres Gefühls durch das Wehe des Andern, ſondern viel-

 

(*) In den Rechtsquellen heißt

es von einer ſolchen Klage: ad

ultionem pertinet, in sola vin-

dicta constitutum est, vindic-

tam continet. L. 6. 10 de se-

pulchro viol. (47. 12.), L. 20

§ 5 de adqu. vel om. her. (29.

2.). Die Neueren ſagen: actio-

nes quae vindictam spirant.

Vergl. hierüber Burchardi

Grundzüge des Rechtsſyſtems der

Römer S. 231, der mit Unrecht

die Zuſammenſtellung dieſer Kla-

gen verwirft.

|0136 : 122|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

mehr die Ausgleichung der in unſrer Perſon geſtörten

Rechtsordnung, wobey alſo der Einzelne den Beruf aus-

übt, der von Seiten des Staats durch das ganze Crimi-

nalrecht geübt wird. Auch dieſen Rechten ſind manche

Abweichungen von der Regel der Rechtsfähigkeit und der

capitis deminutio eigen, und auch bey ihnen hat dieſes

ſeinen Grund darin, daß ſie ſich auf den natürlichen,

nicht auf den juriſtiſchen Menſchen (den Vermögensinha-

ber) beziehen; denn ſie ſind unmittelbar auf ein ſittliches

Bedürfniß gegründet, ſo wie die Rechte der erſten Klaſſe

auf das Bedürfniß der Lebenserhaltung gegründet waren.

Dahin gehoͤren folgende Fälle.

A. Actio injuriarum.

Wenn ein filiusfamilias beleidigt wird, ſo liegen in

dieſer einen Handlung zwey ganz verſchiedene Injurien:

gegen den Vater, weil der Sohn unter ſeinem Schutze

ſteht, und gegen den Sohn ſelbſt. Aus jeder derſelben

entſteht eine eigene Injurienklage, in der Regel auf Geld

gerichtet: die aus der Injurie gegen den Sohn ſelbſt iſt

es, die hierher gehört. Auch ſie ſtellt in der Regel der

Vater an, weil er überhaupt durch den Sohn Klagen

aller Art erwerben kann: auch kann ihn der Widerſpruch

des Sohnes daran nicht hindern (a). Ausnahmsweiſe aber

kann auch der Sohn ſelbſt, in eigenem Namen, mit Er-

laubniß des Prätors klagen, wenn der Vater abweſend

 

(a) L. 1 § 5. L. 41 de injur.

(47. 10.). L. 30 pr. de pactis

(2. 14.). L. 39 § 3. 4 de proc.

(3. 3.).

|0137 : 123|

§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.

oder ſonſt verhindert, und nicht durch einen Procurator

vertreten iſt: ja ſelbſt gegen des Vaters Willen, wenn

deſſen Nichtswürdigkeit einen gänzlichen Mangel an Ehr-

gefühl annehmen läßt (b). Wird der Sohn emancipirt,

ſo geht das Klagrecht unbedingt auf ihn über, ſo daß

alſo die capitis deminutio daſſelbe nicht zerſtört (c). Das

Geld übrigens, welches der filiusfamilias auf dieſe Weiſe

einklagt, gehört ohne Zweifel dem Vater, ſo daß alſo

der Sohn ſtets in einem gemiſchten Verhältniß auftritt:

suo nomine wegen der vindicta, als Vertreter des Va-

ters wegen des eingeklagten und erworbenen Geldes.

Eben auf dieſes gemiſchte Verhältniß gründen ſich die

großen Beſchränkungen, unter welchen der Sohn zu der

Klage zugelaſſen wird. Iſt die Injurie von ſo ſchwerer

Art, daß die Klage aus der lex Cornelia begründet iſt,

ſo fallen alle jene Beſchränkungen weg, und der Sohn

hat dann ein unbedingtes Klagrecht (d).

Die gewöhnliche, auf Geld gerichtete Injurienklage,

von welcher hier die Rede war, iſt in bonum et aequum

concepta (e), denn die Beſtimmung der Strafſumme hängt

ganz von ſubjectivem Gefühl ab, iſt alſo in hohem Grade

willkührlich. Auch iſt die Klage unvererblich, und gehört

 

(b) L. 17 § 10—14. § 17. 20.

L. 11 § 8 de injur. (47. 10.).

L. 9 de O. et A. (44. 7.). L. 8

pr. de proc. (3. 3.). L. 30 pr.

de pactis (2. 14.).

(c) L. 17 § 22 de injur. (47. 10.).

(d) L. 5 § 6 de injur. (47. 10.).

— Auch dieſe Klage übrigens „etsi

pro publica utilitate exercetur,

privata tamen est.” L 42 § 1

de proc. (3. 3.).

(e) L. 11 § 1 de injur. (47. 10.)

ſagt blos: ex bono et aequo est,

welcher Ausdruck an ſich zwey-

|0138 : 124|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

überhaupt nicht zu den Vermögensrechten. Beides freylich

ändert ſich ſobald ſie einmal wirklich angeſtellt iſt (f).

B. Actio sepulchri violati.

Wegen der Verletzung eines Grabmals klagen vor

Allem Die, welche eine perſönliche Beziehung dazu haben,

das heißt die Kinder des Beerdigten (auch wenn ſie ſich

der Erbſchaft entſchlagen), oder die Erben. Ihre Klage

geht auf bloße vindicta durch eine willkührlich zu beſtim-

mende Summe, ſie iſt daher in bonum et aequum con-

cepta (g). Daraus folgt, daß die capitis deminutio dieſe

Klage nicht entziehen kann (h). Wollen jene beſonders

Berechtigte die Klage nicht anſtellen, ſo iſt Jeder aus dem

Volk dazu fähig, nun geht ſie auf 100 aurei, und hat

jene Eigenthümlichkeit nicht.

 

deutig iſt (§ 71). Allein die An-

ſpielungen in L. 18 pr. eod. und

in L. 34 pr. de O. et A. (14. 7.)

machen es unzweifelhaft, daß jene

Ausdrücke in der Klagformel des

Edicts ſtanden, und die völlig will-

kührliche Beſtimmung der Straf-

ſumme beſtätigt dieſes.

(f) L. 13 pr. L. 28 de injur.

(47. 10.). Darum iſt denn auch

das Aufgeben dieſer Klage keine

Veräußerung oder Vermögens-

verminderung; ganz eben ſo auch

das Aufgeben der querela inof-

ficiosi. L. 1 § 8 si quid in

fraud. patr. (38. 5.), verglichen

mit § 7 eod.

(g) L. 3 pr. L. 6. 10 de sep.

viol. (47. 12.) L. 20 § 5 de ad-

quir. hered. (29. 2.).

(h) Nach der allgemeinen Re-

gel in L. 8 de cap. min. (4. 5.),

welche dieſes für jede actio in

bonum et aequum concepta an-

erkennt. Man müßte den Fall

etwa ſo denken. Der Verſtorbene

hinterließ einen Suus, welcher ab-

ſtinirte, und ſich nachher arrogi-

ren ließ; hier hätte der Arrogirte

noch immer die Klage. Hätte er

nicht abſtinirt, ſo würde durch ihn

der Adoptivvater wirklicher heres

geworden ſeyn, und wäre nun

ſelbſt der Klagberechtigte (ad quem

ea res pertinet).

|0139 : 125|

§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.

C. Actio de effusis.

Wenn Etwas aus einem Hauſe ausgegoſſen oder her-

abgeworfen, und wenn dadurch ein freyer Menſch beſchä-

digt wird, ſo gilt eine Klage auf eine willkührlich zu be-

ſtimmende Summe. Dieſe Klage geht auf vindicta, ſie

iſt nicht erblich, und ſie iſt in bonum et aequum con-

cepta, alſo iſt ſie nach der allgemeinen Regel frey von

der Wirkung der capitis deminutio (i).

 

D.

Die Klage wegen Verwundung durch ge-

fährliche Thiere, wenn dabey eine Unvorſichtigkeit des

Herrn zum Grunde lag, iſt gleichfalls in bonum et ae-

quum concepta, und hat daher dieſelbe Beſchaffenheit wie

die vorhergehende Klage (k).

 

E. Interdictum quod vi aut clam.

Dieſes gehört unter die Klagen, welche ein filiusfami-

lias in eigenem Namen anſtellen kann (l). Der Grund

liegt darin, daß daſſelbe auf vindicta geht wegen der ver-

letzten perſönlichen Würde durch Nichtachtung des Ein-

ſpruchs (vi factum), welche Verletzung ja auch gegen den

Sohn in väterlicher Gewalt möglich iſt (m). Ein Recht

 

(i) L. 5 § 5 de his qui effud.

(9. 3.). Der allgemeine Ausdruck

dieſer Stelle: ex bono et aequo

oritur würde Nichts beweiſen

(§ 71). Allein in der erhaltenen

Stelle des Edicts ſtehen geradezu

die Worte: quantum ob eam

rem aequum judici videbitur.

L. 1 pr. eod.

(k) L. 42 de aedil. ed. (21. 1.)

„quanti bonum aequum judici

videbitur.” Vgl. § 1 J. si quadr.

(4. 9.).

(l) L. 9 de O. et A. (44. 7.).

L. 19. L. 13 § 1 quod vi (43. 24.).

(m) L. 13 § 1. 2 quod vi (43.

24). Es wird hier ausdrücklich

bemerkt, vi könne etwas gegen

den Sohn gethan werden, clam

nicht, weil dieſer keine Klage ha-

|0140 : 126|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

des Klägers an der Sache, welches freylich dieſer nicht

haben könnte, iſt auch ſonſt dazu nicht erforderlich (n),

und eben ſo wenig ein wirkliches materielles Unrecht des

Beklagten (o). Auch der unmittelbare Erfolg des Inter-

dicts, der in der Reſtitution der vorgenommenen eigen-

mächtigen Veränderung beſteht (p), kann zum Vortheil des

klagenden filiusfamilias unbedenklich in Erfüllung gebracht

werden, wenn z. B. der Sohn ein Haus des Vaters,

oder auch ein von einem Fremden gemiethetes Haus be-

wohnt, und durch einen eigenmächtigen Bau des Nach-

bars in dem bequemen Gebrauch der Wohnung geſtört

wird. Kommt es freylich zu einem durchgeführten Rechts-

ben könne, auf deren Umgehung

die Heimlichkeit abzwecken möchte.

Das heißt alſo, wegen vi factum

ſteht das Interdict dem Vater und

dem Sohn zu, wegen clam nur

dem Vater. — Ohne Zweifel wird

nun auch das Klagrecht des Soh-

nes durch capitis deminutio nicht

aufgehoben.

(n) L. 13 § 5. L. 12 quod vi

(43. 24.). — Eben daher iſt es

ganz irrig, wenn Manche dieſe

Befugniß des filiusfamilias auch

auf die poſſeſſoriſchen Inter-

dicte ausdehnen wollen, unter

welche das Int. quod vi ganz und

gar nicht gehört (ſo z. B. Bur-

chardi, Archiv für civil. Praxis

B. 20 S. 33). Denn die poſſeſ-

ſoriſchen Interdicte ſind bedingt

durch die juriſtiſche possessio,

ein Verhältniß des Klägers, wel-

ches zwar urſprünglich factiſch,

durch ſeine Folgen aber einem

Rechte ähnlich iſt (Savigny

Beſitz § 5. 6); zu dieſem Ver-

hältniß iſt ein filiusfamilias ganz

unfähig. Durch die Dejection des

Sohnes aus einem fundus pe-

culiaris erwirbt alſo der Vater

das Interdict, und der Sohn hat

zu deſſen Anſtellung nicht mehr

Recht als zur Anſtellung der vä-

terlichen Vindication. Der Grund

liegt eben darin, daß der Zweck

des Int. quod vi in der vindicta

beſteht, der Zweck des Int. de vi

dagegen in der Verfolgung eines

gewöhnlichen Privatintereſſe, ſo

gut als der Zweck der Vindication.

(o) L. 1 § 2. 3 quod vi (43. 24.).

(p) L. 1 pr. § 1 quod vi (43.

24.).

|0141 : 127|

§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.

ſtreit, ſo löſt ſich am Ende jene Reſtitution in die Ver-

urtheilung zu einer Geldſumme auf, die in dem erweisli-

chen Intereſſe beſteht (q), und dieſes Geld wird wieder,

eben ſo wie bey der Injurienklage, dem Vater erworben.

Die Klage iſt alſo, da ſie einen völlig beſtimmten Ge-

genſtand hat (Reſtitution oder Intereſſe), keinesweges in

bonum et aequum concepta (r).

F. Die Klage gegen den Freygelaſſenen

wegen einer in jus vocatio.

Dem Freygelaſſenen war es verboten, ohne beſondere

Erlaubniß des Prätors, gegen den Patron ſelbſt oder

deſſen Kinder eine in jus vocatio vorzunehmen: die Über-

tretung dieſes Verbots hatte eine Strafklage auf 50 aurei

zur Folge. War nun dieſe Verletzung gegen den Sohn

begangen, und der Vater war abweſend, ſo gehörte die

Klage unter diejenigen, die der Sohn ſelbſt anſtellen

konnte, ähnlich der Injurienklage (s).

 

G. Querela inofficiosi.

Daß auch dieſe Klage, die doch auf reines Vermoͤ-

 

(q) L. 15 § 12 quod vi (43. 24.).

(r) Dagegen hat es wohl kei-

nen Zweifel, daß das Interdict,

eben ſo wie die Injurienklage,

unvererblich iſt. Die ſcheinbar

entgegenſtehende L. 13 § 5 quod

vi (43. 24.) geht nur auf den

beſonderen Fall, wenn die ta-

delnswerthe Handlung nach dem

Tode des Erblaſſers, aber vor

dem Antritt der Erbſchaft, ge-

ſchah, in welchem Fall auch die

Injurienklage dem Erben erwor-

ben wird. L. 1 § 6 de injur.

(47. 10.).

(s) L. 12 de in jus voc. (2.

4.). Die Klage gieng auf vin-

dicta und war unvererblich (L. 24.

eod.), aber in bonum et aequum

concepta konnte ſie, wegen ihres

genau beſtimmten Gegenſtandes,

nicht ſeyn. Daß für dieſen Fall

eine formula in factum con-

cepta galt (deren Ausdruck dem

|0142 : 128|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

gensrecht abzweckt, unter unſre anomaliſchen Rechte ge-

hört, muß beſonders bewieſen und erklärt werden.

Wenn ein Teſtator die nächſten Verwandten, die ſeine

Inteſtaterben hätten werden können, gar nicht oder zu

wenig bedenkt, ſo entſteht dadurch im Volke die Mey-

nung, der Ausgeſchloſſene müſſe eine ſolche Strafe durch

ſchlechte oder liebloſe Handlungen verdient haben. Iſt

nun dieſe Meynung ungegründet, ſo liegt darin eine un-

verdiente Ehrenkränkung (t), zu deren Austilgung dem Ge-

kränkten folgendes Rechtsmittel dargeboten iſt. Er darf

das Teſtament als inofficiosum anklagen, und findet ſich

ſeine Behauptung gegründet, ſo wird angenommen, das

Teſtament ſey in blinder Leidenſchaft, dem Wahnſinn ähn-

lich, gemacht worden (u), es wird aufgehoben, die Inte-

ſtaterbfolge wird eroͤffnet, und dadurch wird auf recht

öffentliche und feyerliche Weiſe die Unſchuld des Ausge-

ſchloſſenen anerkannt. — Dieſe Behandlung der Sache

zieht aber die erwähnte Klage, ähnlich der Injurienklage,

unter unſre anomaliſchen Rechtsmittel. Wenn nämlich

einem filiusfamilias eine ſolche Kränkung wiederfuhr, z. B.

im Teſtament ſeiner Mutter oder ſeines mütterlichen Groß-

vaters, ſo wird dieſes als eine höchſt perſönliche Angele-

genheit des Sohnes betrachtet (weit mehr als die Inju-

 

filiusfamilias als Kläger nicht im

Wege ſtand) ſagt ausdrücklich Ga-

jus IV. § 46.

(t) Es heißt injuria L. 4 L. 8

pr. de inoff. test. (5. 2.). — Auch

indignatio L. 22 pr. eod. — „To-

tum de meritis filii agitur.”

L. 22 § 1 eod.

(u) L. 2. 4. 5 de inoff. test.

(5. 2.).

|0143 : 129|

§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.

rienklage), obgleich durch die Klage der Vater wirklicher

Erbe werden kann. Daher kann der Vater die Klage

nicht gegen den Willen des Sohnes anſtellen, noch nach

deſſen Tod fortführen (v). Umgekehrt aber kann der Sohn

klagen, ſelbſt wenn der Vater das Teſtament, worin er

ſelbſt bedacht war, anerkannt hat, alſo auch gegen des

Vaters Willen (w). Es iſt alſo auch kein Zweifel, daß

die capitis deminutio des Sohnes dieſe auf blos ſittlichen

Gründen beruhende Klage nicht zerſtören kann. — Sehr

natürlich geht dieſe Klage nicht auf die Erben über (x).

In bonum et aequum concepta konnte ſie nicht ſeyn, weil

ſie einen höchſt beſtimmten Gegenſtand hatte; dennoch galt

darin ein äußerſt freyes richterliches Ermeſſen, welches

nur nicht den Umfang der Verurtheilung (ſo wie die mit

jenem Namen bezeichneten Klagen), ſondern die Zulaſ-

ſung derſelben betraf, indem dieſe von der Prüfung des

(v) L. 8 pr. de inoff. test.

(5. 2.). — Hier iſt das Wider-

ſpruchsrecht des unbillig ausge-

ſchloſſenen Kindes gegen die von

ſeinem Vater anzuſtellende Querel

ganz ähnlich dem Widerſpruchs-

recht der Tochter gegen die actio

rei uxoriae, womit ihr Vater ge-

gen den Ehemann oder deſſen Er-

ben klagen will (§ 72 z).

(w) L. 22 pr. § 1 de inoff.

test. (5. 2.). — Natürlich kann

aber der Vater nicht gezwungen

werden, wider ſeinen Willen die

Erbſchaft anzunehmen. Dann ge-

ſchieht es alſo, daß die Inteſtat-

erbfolge, die einmal unabänder-

lich eröffnet iſt, einem Andern als

dem Kläger zufällt, was aber auch

in anderen Fällen vorkommt. L. 6

§ 1 eod. Der Sohn hat dennoch

ſeinen Zweck erreicht, denn ſei-

ner Ehre iſt öffentliche Genug-

thuung widerfahren.

(x) L. 6 § 2. L. 7. L. 15 § 1

de inoff. test. (5. 2.). — Sie iſt

nämlich überhaupt nicht in bonis,

und wer ſie aufgiebt, vermindert

dadurch nicht ſein Vermögen, eben

ſo wie bey der Injurienklage (ſ. o.

Note f).

II. 9

|0144 : 130|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſittlichen Verhaltens des Klägers abhing, die doch nicht

auf ſo feſte Regeln zurück zu führen war, wie die Beur-

theilung anderer Klagen.

Über die Natur der Querel iſt von alter Zeit her viel

Streit geweſen, und dieſer erneuert ſich noch immer wie-

der. Einige ſehen ſie als eine Klage in rem an, und

zwar namentlich als eine eigenthümliche Art der hereditatis

petitio: andere als gar keine eigene, ſelbſtändige Klage,

ſondern nur als Vorbereitung einer andern: neuerlich iſt

auf die Anſicht derſelben, als einer in personam actio,

hingearbeitet worden (y). Die Erörterung dieſes Streites

kann hier freylich nicht ihre Stelle finden. Allein zur

Vermittlung der ſtreitenden Meynungen dürfte die hier

dargelegte Unterſcheidung des unmittelbaren Gegenſtandes

der Klage von ihrem entfernteren, aber nicht minder we-

ſentlichen, Zweck (worin die ganze Eigenthümlichkeit der-

ſelben ihren Grund hat) wohl beytragen können, indem

hierin Dasjenige, was jeder Partey in der entgegenge-

ſetzten Meynung am meiſten Anſtoß erregte, ſeine Anflö-

ſung findet. Zu dieſem Zweck ſoll hier nochmals das

ganze Verhältniß kurz zuſammengefaßt werden. Der Aus-

geſchloſſene verlangt, durch Aufhebung des Teſtaments

Inteſtaterbe zu werden, verfolgt alſo das Erbrecht, wel-

ches ohne Zweifel ein reines Vermögensrecht iſt. Allein

der eigentliche Zweck dieſer Klage iſt die feyerliche, offen-

 

(y) Vergl. Klenze querelae

inoff. test. natura Berol. 1820.

Mühlenbruch Fortſ. ron Glück

B. 35 § 1421. e.

|0145 : 131|

§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.

kündige Herſtellung des durch das Teſtament gefährdeten

Rufs: der Kläger erſcheint darin in einem feindlichen Ver-

hältniß zu dem verſtorbenen Teſtator, der ſeinen Ruf in

dieſe Gefahr brachte, und die Klage geht daher auf vin-

dicta. Eben ſo war die Genugthuung für die verletzte

Ehre Zweck der Injurienklage, und beide Klagen haben

alſo etwas Gemeinſchaftliches in ihrem Zweck. Als Mit-

tel dazu dient bey der Injurienklage die Einforderung ei-

ner Geldobligation: bey der querela inofficiosi die Ver-

folgung eines Erbrechts, welches erſt durch eine richterliche

Handlung eröffnet werden ſoll. Die Eigenthümlichkeiten

beider Klagen erklären ſich aus der Verſchiedenheit jenes

weſentlichen Zweckes von dem nächſten juriſtiſchen Gegen-

ſtand, der blos als Mittel zu jenem Zweck gebraucht wer-

den ſoll.

H. Alle populares actiones.

Dieſe ſind Klagen auf eine dem Kläger zu zahlende

Geldſtrafe, wodurch aber ein öffentliches Intereſſe ver-

folgt und geſchützt werden ſoll (z); ſo daß dabey der Klä-

ger in ſeiner politiſchen, nicht in ſeiner juriſtiſchen (pri-

vatrechtlichen) Eigenſchaft thätig iſt (§ 71). Wenn in

ſolchen Fällen zugleich einzelne Perſonen, wegen der ihnen

widerfahrenen Verletzung, ein beſonderes Intereſſe haben,

ſo werden dieſe allen anderen Klägern vorgezogen (aa);

 

(z) L. 1 de pop. act. (47. 23.).

„Eam popularem actionem di-

cimus, quae suum jus populi

tuetur.”

(aa) L. 3 § 1 de pop. act. (47.

23.). L. 42 pr. de proc. (3. 3.).

L. 45 § 1 eod.

9*

|0146 : 132|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

die Klage hat dann eine gemiſchte Natur, und tritt nicht

in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit hervor (bb). Dahin ge-

hoͤren mehrere der in dieſem §. abgehandelten einzelnen

Obligationen, z. B. die actio sepulchri violati (lit. B).

Anders, wenn ſolche Intereſſenten entweder gar nicht vor-

handen ſind, oder nicht klagen wollen. Nun kann Jeder

aus dem Volke, als Vertreter der allgemeinen Sicherheit,

die Klage anſtellen, und er erſcheint dann gleichſam als

ein Procurator des Staats, jedoch ohne die einem Pri-

vatprocurator obliegende Cautionspflicht (cc). Dazu iſt

denn auch ohne Zweifel jeder filiusfamilias befugt (dd),

und eben ſo kann Keiner durch minima capitis deminutio

dieſe Befugniß verlieren, da er doch gewiß nicht aufge-

hört hat, unus ex populo zu ſeyn. Das Klagerecht ſelbſt

iſt auch zunächſt gar nicht ein Beſtandtheil des Vermö-

gens; durch die Litisconteſtation verwandelt es ſich in ei-

nen ſolchen, es wird nun, was es bis dahin nicht war,

eine wahre Obligation (ee), und dieſe Forderung, ſo wie

(bb) S. Note cc.

(cc) S. o. Note z. — L. 43

§ 2 de proc. (3. 2.). „In po-

pularibus actionibus, ubi quis

quasi unus ex populo agit, de-

fensionem ut procurator prae-

stare cogendus non est.” —

Weil er gleichſam ein Procurator

iſt, kann er nicht wieder einen

Procurator beſtellen (L. 5 de pop.

act. L. 42 pr. de proc.); eben

deswegen ſind zu dieſen Klagen

unfähig Diejenigen, welche über-

haupt nicht Procuratoren ſeyn

können (L. 4. 6 de pop. act.).

Beides aber iſt anders, wenn der

Kläger zugleich ein eigenes In-

tereſſe verfolgt, d. h. wenn es

keine reine Popularklage iſt. LL.

citt. und L. 45 § 1 de proc.

(3. 3.).

(dd) Gerade ſo kann auch der

filiusfamilias im Criminalprozeß

Ankläger ſeyn. Keinesweges wol-

len das L. 6 § 2 L. 37 ad L. Jul.

de adult. (48. 5.) auf den Ehe-

bruch beſchränken.

(ee) L. 7 § 1 de pop. act. (47.

|0147 : 133|

§. 73. Anomaliſche Rechte. Vindicta.

das dadurch erzwungene Eigenthum der Geldſtrafe, er-

wirbt der klagende filiusfamilias allerdings wieder dem

Vater. — In bonum et aequum conceptae ſind übrigens

die reinen Popularklagen nicht, vielmehr gehen ſie auf

allgemein beſtimmte Geldſummen, welches der gleichmäßi-

gen Befugniß Aller zu ihrer Anſtellung angemeſſen iſt.

Eine ähnliche Natur, wie die populares actiones, ha-

ben auch die Interdicta publica oder popularia (ff), und

eben ſo auch die operis novi nunciatio, welche publici

juris tuendi gratia geſchieht (gg); nur mit dem Unter-

ſchied, daß dieſe Rechtsmittel nicht auf Zahlung von

Geldſtrafen gerichtet ſind. In der unbeſchränkten Befug-

niß zu ihrem Gebrauch, unabhängig von den gewöhnli-

chen Regeln über die Rechtsfähigkeit, kommen alle dieſe

Rechtsmittel mit einander überein.

 

23.). L. 12 pr. de V. S. (50. 16.).

L. 32 pr. ad L. Falc. (35. 2.).

L. 56 § 3 de fidejuss. (46. 1.).

(ff) L. 1 pr. L. 2 § 1 de in-

terd. (43. 1.), L. 2 § 34 ne quid

in loco (43. 8.), L. 1 § 9 ne

quid in flum. (43. 13.).

(gg) L. 1 § 16. 17, L. 4, L. 5

pr. de op. novi nunc. (39. 1.).

|0148 : 134|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 74.

Anomaliſche Rechte in Beziehung auf Rechtsfähigkeit

und capitis deminutio. (Fortſetzung.)

III.

Eine dritte Klaſſe ſolcher anomaliſchen Rechte

bilden folgende Verhältniſſe, welche an ſich blos fakti-

ſcher Natur ſind, und nur durch enge Verbindung mit

eigentlichen Rechten an der juriſtiſchen Natur derſelben

Theil nehmen.

 

A. Societät.

Sie beſteht in einer fortgehenden faktiſchen Verbindung

zu gemeinſamen Unternehmungen, wobey die Rückſicht auf

die Eigenſchaften des natürlichen Menſchen (ſeine Redlich-

keit und Geſchicklichkeit) vorherrſchend iſt. Sie ſelbſt alſo

iſt, ihrem allgemeinen Daſeyn nach, verſchieden von den

daraus entſtehenden Obligationen, die durch die actio pro

socio verfolgt werden.

 

Wenn daher ein filiusfamilias eine Societät eingeht,

ſo bleibt dieſe unverändert dieſelbe auch nach der Eman-

cipation, und eben ſo wird umgekehrt die Societät durch

die Arrogation weder aufgelöſt, noch auf den neuen Va-

ter übertragen (a). Es hat alſo auf dieſelbe die minima

capitis deminutio gar keinen Einfluß, und nur durch die

maxima und media, in welchen ein bürgerlicher Tod liegt

(§ 69), wird ſie ſtets aufgelöſt (b). Was aber die actio

 

(a) L. 58 § 2. L. 65 § 11 pro

socio (17. 2.).

(b) L. 63 § 10 pro socio (17.

2.). Gajus III. § 153. Wenn da-

|0149 : 135|

§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.

pro socio betrifft, ſo folgt dieſe den gewoͤhnlichen Regeln.

Nach der Emancipation alſo kann damit gegen den Vater

geklagt werden nur aus früheren Handlungen des Soh-

nes, und nur de peculio: gegen den Sohn ſowohl aus

früheren, als aus ſpäteren Geſchäften (c). Das Recht

auf den activen Gebrauch der Klage hat aus den frühe-

ren Geſchäften ausſchließend der Vater, ſelbſt nach der

Emancipation, weil ihm die Klage ſchon früher unabän-

derlich erworben war: aus den ſpäteren der Sohn.

Auch ein Sklave kann in der Societät ſtehen: er ſelbſt

wird dadurch nicht verpflichtet, aber die actio pro socio

geht wegen ſeiner Handlungen gegen den Herrn als actio

de peculio oder quod jussu (d): ohne Zweifel auch gegen

jeden Dritten, der den Sklaven als Inſtrument zur So-

cietät gebraucht, und der nun ſelbſt als durch ihn han-

delnd anzuſehen iſt. Wird der Sklave veräußert, ſo hört

jedoch die bisherige Societät auf und das was äußerlich

 

her L. 4 § 1 eod. ſagt: „Disso-

ciamur renuntiatione, morte,

capitis minutione, et egestate,”

ſo iſt hier die Unbeſtimmtheit des

Ausdrucks nicht als Allgemeinheit

anzuſehen, ſondern einſchränkend

hinzu zu denken: maxima vel me-

dia. Haloander lieſt: maxima

capitis deminutione, nimmt alſo

jenen Gedanken theilweiſe in den

Text auf, weshalb er von Au-

gustin. emend. III. 6 getadelt

wird. Indeſſen möchte es wohl

die wahre Vulgata ſeyn, wenig-

ſtens leſen ſo ed. Jenson s. a.

und ed. Koberger 1482, Hand-

ſchriften müßten darüber entſchei-

den. Für richtig jedoch halte ich

dieſe Leſeart nicht, ſondern die

Florentiniſche, weil durch die be-

ſtimmte Bezeichnung maxima die

media ausgeſchloſſen wäre, ganz

gegen die angeführten Zeugniſſe.

(c) L. 58 § 2 pro socio (17.

2). Bey der Klage gegen den

Sohn aus früheren Geſchäften

muß natürlich die Reſtitution hin-

zugedacht werden. Vgl. § 70 u.

(d) L. 18. L. 58 § 3. L. 63

§ 2. L. 84 pro socio (17. 2).

|0150 : 136|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

als Fortſetzung erſcheint, kann doch nur als eine neue

Societät angeſehen werden (e).

Aus dieſer ſtrengen Unterſcheidung der Societät ſelbſt,

von den daraus entſpringenden Obligationen, iſt es denn

auch allein zu erklären, warum jene unvererblich iſt, an-

ſtatt daß dieſe, ſo wie alle andere Obligationen forterben.

 

B. Mandat und negotiorum gestio.

Das Mandat hat mit der Societät eine ganz ähnliche

Natur, denn auch bey ihm iſt zu unterſcheiden das fakti-

ſche, unvererbliche, auf die Eigenſchaften des natürlichen

Menſchen großentheils gerichtete Verhältniß des Auftrags

ſelbſt, und die daraus entſtehende Obligation, welche durch

die mandati actio verfolgt wird, und in ihrer Beſchaffen-

heit von jeder andern Obligation gar nicht verſchieden

iſt. Die negotiorum gestio hat hierin gleiche Natur mit

dem Mandat.

 

Hieraus folgt, daß der Sohn ein wahres Mandat von

ſeinem Vater erhalten kann (f), obgleich Obligationen mit

civiler Gültigkeit unter ihnen nicht möglich ſind (§ 67).

Hat ein filiusfamilias von einem Fremden ein Mandat er-

halten, und wird dann emancipirt, ſo dauert das vorige

Mandat unverändert fort, ſo daß alſo die capitis demi-

nutio keinen Einfluß auf daſſelbe hat (g). Geht der Auf-

trag eines Fremden darauf, daß der filiusfamilias für ihn

eine Adſtipulation ſchließe, ſo erwirbt die Klage daraus

 

(e) L. 58 § 3 pro socio (17. 2.).

(f) L. 8 pr. in f. L. 35 pr.

de proc. (3. 3.), ſ. o. § 71.

(g) L. 61 mandati (17. 1.).

|0151 : 137|

§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.

nicht der Vater, weil auf deſſen Perſon dabey nicht ge-

rechnet war; auch in der Perſon des Sohnes ruht einſt-

weilen die Klage aus der Adſtipulation, weil ſonſt das

eingeklagte Geld dem Vater erworben werden würde; ſie

kann daher erſt geltend gemacht werden, wenn der Sohn

aus der väterlichen Gewalt ausgetreten iſt, und zwar

ohne capitis deminutio, weil durch dieſe die Stipula-

tionsklage ganz untergehen würde (h).

Auch ein Sklave kann gegen Jeden im Verhältniß ei-

nes Mandats oder einer negotiorum gestio ſtehen, und

dieſes Verhältniß nach der Manumiſſion unverändert fort-

ſetzen. Allein eine Klage daraus gieng gegen ihn nur

wegen der nach der Freylaſſung vorgenommenen Hand-

lungen, nicht wegen der früheren, weil die contractlichen

Handlungen eines Sklaven überhaupt keine Klagen erzeu-

gen (§ 65): eine Ausnahme dieſer Einſchränkung gilt für

den Fall, wenn die frühere Geſchäftsführung mit der ſpä-

teren unzertrennlich zuſammenhängt, indem nun die Klage

die früheren und ſpäteren Handlungen zugleich umfaßt (i).

 

C. Actio depositi.

Ulpian ſagt, ein filiusfamilias könne nicht ſelten im

Namen des abweſenden Vaters klagen, als deſſen prä-

ſumtiver Procurator, jedoch immer nur mit beſonderer

Erlaubniß der Prätors: beyſpielsweiſe nennt er als ſolche

 

(h) Gajus III. § 114. S. o.

§ 67 l und § 70 i.

(i) L. 17 de negot. gestis (3.

5.). S. o. § 65 und Beylage IV.

Note n.

|0152 : 138|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Klagen (nicht um andere damit auszuſchließen) die aus

Diebſtahl, Beſchädigung, Mandat, Darlehen, und auch

die actio depositi (k). Dagegen zählt Paulus einige we-

nige Klagen auf, die ein Sohn ausnahmsweiſe in eige-

nem Namen anſtellen könne, alſo unabhängig von des

Vaters Willen oder Abweſenheit, und eben ſo von einer

Erlaubniß des Prätors, unter dieſen Ausnahmen nennt

er die actio depositi (l), mit welcher Angabe auch Ulpian

in einer anderen Stelle übereinſtimmt (m). Dieſe beiden

Möglichkeiten ſind an ſich völlig verſchieden (§ 71), und

da ſie beide in Beziehung auf die actio depositi aufge-

ſtellt werden, zum Theil von demſelben alten Juriſten

(welches den Gedanken an eine Controverſe der Alten aus-

ſchließt), ſo liegt darin ein ſcheinbarer Widerſpruch, wel-

cher nur durch folgende Unterſcheidung geloͤſt werden kann.

Wenn der Sohn eine Sache des Vaters, z. B. aus dem

Peculium, einem Andern zur Aufbewahrung übergiebt, ſo

erwirbt dadurch der Vater die actio depositi, weil es ſein

Intereſſe iſt, die Sache ſelbſt wieder zu bekommen, oder

in Geld entſchädigt zu werden. Hier kann der Sohn gar

nicht klagen, außer als Procurator des Vaters, und auf

(k) L. 18 § 1 de judic. (5. 1.).

S. o. § 71 n.

(l) L. 9 de O. et A. (44. 7.).

S. o. § 71 q.

(m) L. 19 depositi (16. 3.).

„Julianus et Marcellus putant,

filiumfamilias depositi recte

agere posse.” Hier iſt offenbar

das Depoſitum als etwas Beſon-

deres gemeynt, und in ganz an-

derer Weiſe, als es derſelbe Ul-

pian in L. 18 § 1 de jud. (Note k),

mitten unter vielen anderen Kla-

gen, und ſelbſt mit dieſen nur

beyſpielsweiſe anführt.

|0153 : 139|

§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.

dieſen Fall, der ohnehin der gewöhnlichſte iſt, geht die

erſte Stelle des Ulpian. Das Depoſitum kann aber auch

ſo beſchaffen ſeyn, daß der Vater dabey gar kein rechtli-

ches Intereſſe hat, wenn etwa der Sohn die Sache von

einem Fremden miethweiſe, oder als Commodat, oder als

Depoſitum empfangen, oder wenn er ſie gar geſtohlen

hatte. Hier hat der Sohn ein zwiefaches Intereſſe die

Klage anzuſtellen, wovon der Vater nicht berührt wird:

erſtlich, in manchen Fällen (wie wenn er die Sache als

Miether oder Commodatar erhielt), weil er dadurch den

faktiſchen Vortheil der Detention und des Gebrauchs der

Sache wieder erlangt, der nicht im Vermoͤgen iſt, und

daher auch dem Vater nicht zu gut kommt: zweytens, in

allen hier bezeichneten Fällen, weil er ſelbſt gegen andere

Perſonen verpflichtet iſt, ihnen die Sache oder eine Geld-

entſchädigung zurück zu geben, welche Verpflichtung wie-

der nicht den Vater berührt. Da nun überhaupt ein De-

poſitar, ein Dieb u. ſ. w., wenn er die Sache einem An-

dern aufzubewahren giebt, gegen dieſen die actio depositi

erwirbt (n), ſo muß in den angegebenen Fällen auch der

Sohn dieſelbe in eigenem Namen haben, und auf dieſe

Fälle geht denn die Stelle des Paulus, ſo wie die zweyte

Stelle des Ulpian, welche daher mit der erſten Stelle

des Ulpian nicht im Widerſpruch ſtehen. Wenn freylich

der Rechtsſtreit nicht durch die Reſtitution der Sache

ſelbſt (wodurch jene Zwecke rein zur Erfüllung kommen)

(n) L. 16. L. 1 § 39. L. 31 § 1 depos. (16. 3.).

|0154 : 140|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

beendigt wird, ſondern durch eine Entſchädigung in Geld,

ſo wird dieſes Geld allerdings dem Vater erworben, und

dieſer kann darüber willkührlich verfügen; wenn aber der

Sohn es verwendet, um damit Denjenigen abzufinden, ge-

gen welchen er aus dem früheren Commodat oder aus

dem Diebſtahl verpflichtet war, ſo iſt dadurch ſeine Schuld

getilgt, und der oben angegebene Zweck iſt dennoch er-

füllt; ja er kann ſich dieſe Erfüllung noch dadurch ſichern,

daß er die Klage gar nicht ſelbſt anſtellt, ſondern ſeinem

Gläubiger cedirt, und auf dieſem Wege ſeine Schuld

tilgt. — Es iſt bemerkenswerth, daß gerade bey dem De-

poſitum auch eine formula in factum vorkommt, die dem

Sohn die Anſtellung der Klage in eigenem Namen mög-

lich machte (o). — Wie wirkt nun auf dieſe Verhältniſſe

die capitis deminutio, nämlich die Emancipation oder die

datio in adoptionem? Die Klage für den Vater fällt

gewiß weg, weil der Grund der präſumtiven Vertretung

aufgehoben iſt, aber die Klage in eigenem Namen muß

fortdauern, da die Gründe und Zwecke derſelben ſelbſt

fortwähren: namentlich die Schuld gegen den Dritten

durch die oben abgehandelte Reſtitution gegen die capitis

deminutio.

Alles dieſes ſtellt ſich ganz anders bey dem Sklaven,

welcher eine Sache deponirt: dieſer kann weder als Sklave

die Klage anſtellen, weil er überhaupt zu allen Klagen

unfähig iſt, noch nach der Manumiſſion, weil bey ihm

 

(o) Gajus IV. § 47.

|0155 : 141|

§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.

das Hauptintereſſe des Sohnes (die klagbare Verpflich-

tung gegen den Dritten) ohnehin wegfällt (§ 65). Daher

hatte dieſe Klage ſtets der Herr, in deſſen Dienſt der

Sklave zur Zeit des gegebenen Depoſitum ſtand (p).

Ähnliche Rückſichten, wie bey dem Recht zur actio de-

positi, treten auch bey der Verpflichtung aus dem Depo-

ſitum ein. Wenn alſo ein filiusfamilias ein Depoſitum

übernimmt, und wenn derſelbe noch nach der Emancipa-

tion im Beſitz der Sache bleibt, ſo geht die Klage gegen

ihn (hier gewiß ſelbſt ohne Reſtitution), und gar nicht

als Peculienklage gegen den Vater (q); denn es handelt

ſich hier um die ganz faktiſche Reſtitution des natürlichen

Beſitzes, die von dem juriſtiſchen Verhältniß im Peculium

unabhängig iſt. Daß man dieſes wirklich als etwas Be-

ſonderes dachte, und zwar gerade aus dieſem Grunde,

erhellt unwiderſprechlich aus der ganz ähnlichen, und noch

mehr anomaliſchen, Weiſe, wie das einem Sklaven ge-

gebene Depoſitum behandelt wird: denn wenn dieſer nach

der Manumiſſion die Sache beſitzt, ſo geht gegen ihn die

actio depositi, da doch andere Contractsklagen aus der

Zeit des Sklavenſtandes durchaus nicht gegen ihn ange-

ſtellt werden können (r).

 

(p) L. 1 § 30 depos. (16. 3.).

(q) L. 21 pr. depos. (16. 3.).

(r) L. 21 § 1 depos. (16. 3.).

Die ganze Stelle, deren erſte

Hälfte in Note q angeführt iſt,

lautet im Zuſammenhang ſo:

„Si apud filiumfamilias res de-

posita sit, et emancipatus rem

teneat, pater nec intra annum

de peculio debet conveniri: sed

ipse filius. — Plus Trebatius

existimat, etiam si apud servum

depositum sit, et manumissus

rem teneat, in ipsum dandam

|0156 : 142|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

D. Actio commodati.

Eine ganz ähnliche Bewandniß wie mit dem Depoſi-

tum, hat es auch mit dem Commodat, und wir dürfen

unbedenklich annehmen, daß die eben aufgeſtellten Sätze

auch auf das Commodat anwendbar ſind. Einer der wich-

tigſten derſelben iſt ſogar ausdrücklich anerkannt, und wenn

die übrigen nicht gleichfalls erwähnt werden, ſo iſt dieſes

nur als zufällig anzuſehen. Auch die actio commodati

nämlich wird ausdrücklich unter diejenigen Klagen gerech-

net, die ein filiusfamilias ausnahmsweiſe in eigenem Na-

men anſtellen kann (s). Dieſes iſt ohne Zweifel aus den-

ſelben Gründen abzuleiten, und mit denſelben Unterſchei-

dungen anzuwenden, welche ſo eben bey dem Depoſitum

dargeſtellt worden ſind. Auch kommt bey dem Commodat,

eben ſo wie bey dem Depoſitum, eine formula in factum

concepta vor (t).

 

Man könnte fragen, ob nicht ein filiusfamilias auch

die actio locati gebrauchen könne, um eine von ihm ver-

miethete Sache zurück zu fordern? Wenn blos von die-

 

actionem, non in dominum, li-

cet ex ceteris causis in manu-

missum actio non datur.” —

Von dieſer Ausnahme iſt ſchon

anderwärts die Rede geweſen, vgl.

§ 70 s und Beylage IV. Note m.

Beſaß der Freygelaſſene die Sache

nicht, ſo konnte die Klage nicht

gegen ihn angeſtellt werden, ſelbſt

nicht wenn er ſich als Sklave ei-

nes dolus dabey ſchuldig gemacht

hatte. L. 1 § 18 depos. (16. 3.).

(s) L. 9 de O. et A. (44. 7.).

Vgl. oben § 71 q. — Auch hier

gilt die Regel, daß ſelbſt der Dieb

die Klage anſtellen kann (L. 15.

16 comm. 13. 6.), gewiß alſo

auch ein Commodatar oder De-

poſitar, der die Sache einem Drit-

ten als Commodat überließ.

(t) Gajus IV. § 47.

|0157 : 143|

§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.

ſer Rückforderung die Rede iſt, ſo ſind allerdings die Ver-

hältniſſe ganz ähnlich denjenigen, welche ſo eben bey der

actio depositi und commodati erwähnt worden ſind. Daß

ſie demungeachtet nicht in dieſer Verbindung erwähnt wird,

mag wohl daher rühren, daß hier die Klage zugleich auf

die Zahlung des Miethgeldes gerichtet, alſo die Rückfor-

derung meiſt mit der Verfolgung eines reinen und voll-

ſtändigen Vermögensrechts vermiſcht iſt.

E. Der natürliche Beſitz (die bloße Detention).

Kinder in väterlicher Gewalt, eben ſo wie Sklaven,

ſind des juriſtiſchen Beſitzes unfähig, der Detention aber,

da ſie blos faktiſch iſt, fähig (u). Dieſe Fähigkeit zeigt

ſich in folgenden Anwendungen.

 

Wenn der Vater dem Sohn etwas ſtipulirte, das ju-

riſtiſche Natur hatte, z. B. Eigenthum, ſo war es gültig,

weil das dem Sohn gegebene Eigenthum ſo gut als dem

ſtipulirenden Vater ſelbſt gegeben iſt. Geht aber die Sti-

pulation auf etwas blos Faktiſches, z. B. auf Detention

des Sohnes oder auf deſſen Gehen über einen beſtimmten

Weg, ſo iſt es ungültig, weil dieſes Faktum nicht in des

Vaters Vermögen kommen kann, ſo daß es wie jede Sti-

pulation für einen Andern, den der Stipulator nicht re-

präſentirt, zu betrachten iſt. Wenn umgekehrt der Sohn

ſtipulirt, daß der Vater Eigenthum, oder Detention, oder

die Erlaubniß zu gehen erhalte, ſo iſt dieſes Alles gültig,

weil der Sohn allgemein den Vater repräſentiren kann.

 

(u) Savigny Recht des Beſitzes § 9. 26.

|0158 : 144|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Wenn endlich der Sohn für ſich ſelbſt die Detention oder

das Gehen ſtipulirt, ſo iſt das gültig, und zwar in dem

Sinn, daß nun der Vater (nicht der Sohn) gegen den

Schuldner die Intereſſenklage wegen Verweigerung der

Detention oder des Gehens erwirbt. Dieſes Alles galt

bey dem Sklaven ganz eben ſo wie bey dem Sohn (v).

Eine andere Anwendung findet ſich bey der von einem

filiusfamilias beſeſſenen Erbſchaft. Dieſer muß die here-

ditatis petitio, ſo wie jeder Unabhängige, gegen ſich er-

gehen laſſen, weil die Verpflichtung zu derſelben auf dem

natürlichen Beſitz beruht. Läßt er ſich nun auch arrogi-

ren, ſo ändert hierin ſelbſt die capitis deminutio Nichts,

und es bedarf nicht einmal einer Reſtitution, um die An-

ſtellung der Klage gegen ihn auch ferner möglich zu ma-

chen (w).

 

F. Die erzwungene Reſtitution eines Fi-

deicommiſſes der Erbſchaft.

Wenn der Vater, der zum Erben eingeſetzt, und zur

Reſtitution der Erbſchaft an den Sohn verpflichtet iſt,

die Erbſchaft bedenklich findet, ſo kann ihn der Sohn zum

Antritt und zur Reſtitution zwingen, weil nun in Folge

des Zwanges alle Schulden auf den Sohn übergehen,

und der Vater frey von aller Gefahr bleibt (x). Anders

 

(v) L. 130. L. 37 § 6. 7. 8 de

V. O. (45. 1.). § 2 J. de stipul.

serv. (3. 17.). Vgl. Cujacius in

Lib. 15 quaest. Pauli (L. 130

de V. O.), opp. T. 5 p. 1107.

(w) L. 36 § 1 de her. pet.

(5. 3.).

(x) L. 16 § 11. 12 ad Sc.

Treb. (36. 1.).

|0159 : 145|

§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.

verhält es ſich, wenn der Herr gebeten wird, ſeinen Skla-

ven frey zu laſſen, und dann demſelben die Erbſchaft zu

reſtituiren. Denn da der Sklave ſich nicht durch Rechts-

geſchäfte klagbar verpflichten kann (§ 65), ſo verpflichtet

ihn auch nicht der gegen den Herrn ausgeübte Zwang

zum Antritt; er könnte alſo nach der Freylaſſung die An-

nahme der Reſtitution verweigern, in welchem Fall der

Herr mit den Erbſchaftsſchulden belaſtet bleiben würde (y).

Der Grund dieſes anomaliſchen Klagrechts zwiſchen

Vater und Sohn liegt darin, daß die durch Klage er-

zwungene Handlung eine bloße Formalität iſt, alſo etwas

blos Faktiſches, ohne alle rechtliche Wirkung für den Be-

klagten. Die Prozeßform war kein Hinderniß, weil der

Zwang extra ordinem durch die Fideicommißobrigkeit

durchgeführt wurde.

 

IV.

Endlich eine vierte Klaſſe anomaliſcher Rechte

bezieht ſich auf den Zwang zu ſolchen Handlungen, wo-

durch Veränderungen in Familienverhältniſſen

hervorgebracht werden ſollen. In der Regel nämlich ſind

ſolche Handlungen überhaupt ganz frey; wo aber ein

rechtlicher Zwang zu denſelben zugelaſſen wird, da iſt die-

ſer auch von den gewöhnlichen Regeln über die Rechts-

fähigkeit unabhängig, weil ein ſolcher Zwang gerade dar-

auf abzweckt, jene Regeln zu modificiren. Dahin gehoͤren

folgende Fälle.

 

(y) L. 16 § 13. 14 ad Sc. Treb. (36. 1.).

II. 10

|0160 : 146|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

A. Fideicommissaria libertas.

Wenn ein Teſtator ſeinem Sklaven die directa libertas

giebt, ſo liegt darin keine Abweichung von den Regeln

über die Rechtsfähigkeit. Der Sklave geht unmittelbar

in den Zuſtand der Freyen über, und es erſcheint alſo

gar nicht das Bedürfniß, während des Sklavenſtandes die

Ausübung eines Rechts, z. B. eine Klage gegen den Er-

ben, zuzulaſſen. Anders wenn der Teſtator ſeinem eige-

nen Sklaven, oder dem des Erben, oder auch eines Drit-

ten, die Freyheit durch Fideicommiß hinterläßt. Denn

dadurch erhält der Sklave eine Klage gegen den eigenen

Herrn unmittelbar auf Freylaſſung, gegen den Erben der

nicht ſein Herr iſt, auf Ankauf und Freylaſſung. Dieſes

bey den Römern ſo ſehr häufige und wichtige Rechtsver-

hältniß wurde für die Ausführung dadurch möglich ge-

macht, daß nicht eine gewoͤhnliche Klage, ſondern eine

extraordinaria cognitio der Obrigkeit, dazu angewendet

wurde (z).

 

B.

Wenn einem Erben oder Legatar durch Fideicom-

miß zur Pflicht gemacht wurde, ſeine Kinder zu emanci-

piren, ſo war dieſes zwar durch die gewöhnliche fidei-

commiſſariſche Jurisdiction nicht geſchützt: außerordentli-

cherweiſe aber konnte auch hier durch Einwirkung der

Kaiſer ein Zwang gegen den Vater eintreten, der ſich

durch Annahme der Erbſchaft oder des Legats zu einer

 

(z) § 2 J. de sing. reb. (2. 24.). Ulpian. XXV. § 12. 18. Tit. Dig.

de fid. libert. (40. 5.).

|0161 : 147|

§. 74. Anomaliſche Rechte. Faktiſche Natur. Familie.

Handlung verpflichtet hatte, die er hinterher verwei-

gerte (aa). — Vielleicht konnte ſogar im ordentlichen Pro-

zeß die Emancipation erzwungen werden, wenn ein Un-

mündiger arrogirt war, und dieſer nach erlangter Mün-

digkeit die Auflöſung der Gewalt verlangte (bb).

C.

Noch weit wichtiger aber iſt die durch die Lex

Julia eingeführte Regel, daß der Vater von ſeinen Kin-

dern durch Einwirkung der Obrigkeit gezwungen werden

kann, in ihre Ehe einzuwilligen, wenn er dieſe Einwilli-

gung ohne gehörigen Grund verweigert (cc).

 

 

(aa) L. 92 de cond. et de-

monstr. (35. 1.).

(bb) L. 32. 33 de adopt. (1.

7.). Doch könnte man auch un-

ter dem in L. 32 pr. cit. er-

wähnten judex den magistratus

verſtehen, worauf der Zuſatz causa

cognita zu deuten ſcheint; dann

wäre es eine extraordinaria

cognitio.

(cc) L. 19 de ritu nupt. (23. 2.).

10*

|0162 : 148|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 75.

Heutige Anwendbarkeit der Lehre von der Rechtsfä-

higkeit und der capitis deminutio.

Es bleibt nun noch zu unterſuchen übrig, welche Be-

deutung der hier dargeſtellten Lehre von der Rechtsfähig-

keit und der capitis deminutio (§ 64 — 74) in unſrem heu-

tigen Recht übrig geblieben iſt.

 

Wir haben von der Römiſchen Unfreyheit Nichts übrig,

alſo kann auch nicht mehr die Rede ſeyn von der Rechts-

unfähigkeit der Roͤmiſchen Sklaven.

 

Eben ſo wenig beſteht unter uns ein Stand der Civi-

tät oder Latinität, mit ihrem Gegenſatz in dem Stand

der Peregrinen; alſo hat auch bey uns die beſchränkte

Rechtsfähigkeit der Peregrinen aufgehört: die der Latinen

war ohnehin ſchon durch Juſtinians Geſetzgebung ver-

ſchwunden.

 

Dagegen beſteht in unſrem heutigen Recht allerdings

noch die Abhängigkeit von väterlicher Gewalt. Auch die

hierauf gegründete beſchränkte Rechtsfähigkeit iſt zum Theil

unverändert geblieben; und ſelbſt da, wo ſie durch die

Geſetze der chriſtlichen Kaiſer ſtarke Modificationen erhal-

ten hat, iſt ſie doch nur in Verbindung mit dem älteren

Recht zu verſtehen und anzuwenden möglich.

 

Ich gehe über zur capitis deminutio. Haben wir keine

Sklaven und Peregrinen mehr, ſo iſt auch eine maxima

 

|0163 : 149|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

und media capitis deminutio unmöglich geworden; mit ih-

nen zugleich der bürgerliche Tod, den die Römer darin

annahmen (§ 69).

Die minima capitis deminutio kann allerdings noch

vorkommen; denn wenn ſich ein Unabhängiger von einem

Andern arrogiren läßt, ſo unterwirft er ſich allen Be-

ſchränkungen, welche überhaupt einem filiusfamilias zu-

kommen, und erleidet alſo eine nachtheilige Veränderung

in ſeiner Rechtsfähigkeit. Eine andere Frage iſt es, ob

für ihn auch die ganz eigenthümlichen, poſitiven Wirkun-

gen der capitis deminutio (§ 69) noch jetzt eintreten, um

deren willen allein dieſer Begriff mit ſeinem Kunſtaus-

druck jemals praktiſchen Werth hatte? Dieſe Frage aber

muß verneint werden. Denn die Agnation, die dadurch

verloren gieng, iſt überhaupt ſeit der neueſten Geſetzgebung

von Juſtinian ohne praktiſche Bedeutung. Das Patro-

natsverhältniß exiſtirt gar nicht mehr. Den Einfluß der

minima capitis deminutio auf die perſönlichen Servituten

hat Juſtinian ausdrücklich aufgehoben. Endlich auch der

Untergang der Schulden durch capitis deminutio iſt im

Juſtinianiſchen Recht nicht mehr als praktiſches Recht zu

finden, ſondern nur noch für das Recht der früheren Zeit

zu errathen; jedoch auch hier ſo, daß ihm ſchon längſt

ſein praktiſcher Einfluß ganz entzogen war. Wir müſſen

alſo ſagen: die Lehre von der capitis deminutio iſt hiſto-

riſch und exegetiſch wichtig; für das praktiſche Recht iſt

der Begriff und der Name vollkommen entbehrlich.

 

|0164 : 150|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Am meiſten lebendige Fortdauer älterer Rechtsanſichten

iſt noch wahrzunehmen in den anomaliſchen Rechtsinſtituten,

welche ſich von den poſitiven Einſchränkungen der Rechtsfä-

higkeit ganz oder theilweiſe unabhängig erhalten haben (§ 71

— 74). Zwar iſt auch hier Vieles ganz verſchwunden, wie

z. B. das Alimentenlegat an Sklaven (§ 72) und die Frey-

laſſung durch Fideicommiß (§ 74). Dagegen hat ſich er-

halten die eigenthümliche Beſchaffenheit des Dotalrechts,

der Klagen auf Alimente und auf Dotation (§ 72), der

Injurienklage, der querela inofficiosi (inſofern man dieſe

noch nach der Novelle 115 gelten laſſen will) (§ 73), der

Societät, des Mandats u. ſ. w. (§ 74).

 

Die hier aufgeſtellten Behauptungen über die Gränze

der Anwendbarkeit der vorgetragenen Rechtsregeln ſtehen

auch mit den Anſichten neuerer Schriftſteller nicht im

Widerſpruch. Zwar pflegen ſich dieſelben nicht ſo aus-

drücklich und vollſtändig darüber zu erklären, allein man

kann mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß die meiſten

der hier aufgeſtellten Sätze, wenn es zu einer Erklärung

darüber käme, keinen erheblichen Widerſpruch finden wür-

den. Selbſt der ſcheinbare Widerſpruch von Glück (a)

kann nur zur Beſtätigung meiner Behauptung dienen. Er

nimmt an, wir hätten eine maxima capitis deminutio,

wenn Jemand ſich als Leibeigenen hingäbe, oder lebens-

länglich zu Feſtung oder Zuchthaus verurtheilt würde:

 

(a) Glück B. 2 § 128.

|0165 : 151|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

desgleichen eine media, in dem Verluſt des Bürgerrechts

eines einzelnen deutſchen Staats, oder auch des allgemei-

nen deutſchen Bürgerrechts. Er fügt aber hinzu, die Rö-

miſchen Rechtsſätze könnten darauf nicht angewendet wer-

den. Gerade davon aber iſt hier allein die Rede, und

insbeſondere von der aufgehobenen oder verminderten

Rechtsfähigkeit im Römiſchen Sinn. Daß zu allen Zeiten

mancherley Veränderungen in dem Zuſtand der Menſchen

vorkommen, wird Niemand bezweifeln; will man aber dieſe

als capitis deminutiones behandeln und bezeichnen, ſo kann

das nur zu einem leeren, verwirrenden Spiel mit Wor-

ten führen.

So verhält es ſich nun insbeſondere auch mit dem

bürgerlichen Tod; unſre Schriftſteller geben wohl den Rö-

miſchen Begriff an (b), aber nicht um damit eine prakti-

ſche Anwendung deſſelben zu behaupten. Anders hat ſich

die Sache ſeit langer Zeit in Frankreich geſtaltet, und ob-

gleich dieſer Gegenſtand nicht in den Gränzen unſrer Auf-

gabe liegt, ſo will ich ihn dennoch anhangsweiſe darſtel-

len, weil er ein warnendes Beyſpiel darbietet, wie weit

die ungeſchickte Anwendung misverſtandener hiſtoriſcher

Rechtsbegriffe führen kann.

 

Domat ſpricht von der mort civile in wenigen Zei-

len, die ihm jedoch zu zwey großen Irrthümern Raum

laſſen: Mort civile, ſagt er, war der Zuſtand des zum

Tod oder zu irgend einer Strafe mit Vermögensconfisca-

 

(b) So z. B. Mühlenbruch T. 1 § 184.

|0166 : 152|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

tion Verurtheilten, welcher dieſen Namen deswegen führte,

weil er esclave de la peine war (c). — Allein mit der

Confiscation hat der bürgerliche Tod gar Nichts zu ſchaf-

fen: denn der kriegsgefangene Roͤmer erlitt ihn ohne Con-

fiscation, und der relegatus erlitt ihn niemals, obgleich

auch bey ihm die Confiscation des Vermögens zuweilen

(nicht immer) vorkam. Ferner erlitt der Deportirte den

bürgerlichen Tod, ohne doch esclave de la peine zu ſeyn.

So ſtand es in der Theorie. In der Praxis (d) wurde

jener Begriff angewendet auf die lebenslängliche Galee-

ren- und Verbannungsſtrafe; in einigen anderen Fällen

war die Anwendung beſtritten. Die wichtigſte Anwendung,

und wodurch alle böſe Leidenſchaften in Bewegung geſetzt

wurden, machte das Geſetz von Ludwig XIV. auf die

religiöſen Emigranten, die réfugiés; weil aber dieſes Ge-

ſetz mit der öffentlichen Meynung im Widerſpruch ſtand,

ſo ſetzte man ſich in der Anwendung oft darüber hinweg,

beſonders in Beziehung auf die Kinder der Ausgewanderten.

 

Die Revolution brach aus, und bald fanden ſich neue

hoͤchſt wichtige Anwendungen, indem die Geſetze vom

28. März und vom 17. Sept. 1793 den bürgerlichen Tod

auf die Emigranten und auf die Deportirten anwendeten.

Die Rüſtkammer der alten Jurisprudenz mußte jetzt die

Waffen zur Verfolgung der Emigranten hergeben.

 

(c) Domat Liv. prélim. Tit. 2

Sect. 2 § 12.

(d) Ausführlich handelt davon

Merlin Répertoire art. Mort

civile, wo ſich die Beläge zu den

nachfolgenden Sätzen des Textes

finden.

|0167 : 153|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

Endlich ſollte der Code gemacht werden. Nichts iſt

irriger, als wenn Viele glauben, dieſer wäre ganz aus

neuer revolutionärer Weisheit, kraft einer Art von In-

ſpiration, hervorgegangen. Vielmehr brachten ſowohl die

erſten Redactoren, als nachher die Mitglieder des Staats-

raths, alle ihre Kenntniſſe und Irrthümer aus der Zeit

der alten Jurisprudenz mit hinzu. Als Fälle der Anwen-

dung des bürgerlichen Todes wurden nun folgende ange-

nommen:

 

1) Die Emigranten. Zwar wurden die Geſetze gegen

die Emigration ſchon im J. VIII. aufgehoben und die mei-

ſten Einzelnen, die es wollten, waren aus der Emigran-

tenliſte geſtrichen, und dadurch wieder von dem bürgerli-

chen Tod befreyt worden; allein theils blieben immer noch

Viele übrig, die nicht zurückgekehrt waren, theils ſollten

und konnten auch die Wiederaufgenommenen von der Wir-

kung ihres bürgerlichen Todes auf die in der Vergangen-

heit eingetretenen Ehen und Erbfälle nicht befreyt werden (e).

 

Dagegen ſollte in Zukunft die freywillige Aufloͤſung

der Verhältniſſe zum Vaterland nicht mehr als bürgerli-

cher Tod gelten, ſondern nur noch die Eigenſchaft eines

Franzoſen aufheben (art. 17 — 21), welche Veränderung

aber gar nicht von Erheblichkeit iſt.

 

(e) Die Geſetze über die Emi-

granten citirt Merlin l. c., p. 373.

— Bey der Discuſſion des Code

im Staatsrath wurde die fort-

dauernde Wirkſamkeit und Wich-

tigkeit der Emigrantengeſetze über-

haupt, und beſonders in Bezie-

hung auf ihren bürgerlichen Tod,

ausdrücklich anerkannt. Confé-

rence du code civil T. 1 p. 76.

77 (zu art. 24).

|0168 : 154|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

2) Die zum Tod Verurtheilten: theils für die Zwi-

ſchenzeit bis zu ihrer Hinrichtung, theils für die Fälle,

worin ſie ſich der Hinrichtung durch die Flucht entziehen

würden (art. 23).

 

3) Die zu gewiſſen anderen Strafen Verurtheilten

(art. 24). Der Code civil behielt die nähere Beſtimmung

noch vor, der Code pénal art. 18 knüpfte den bürgerli-

chen Tod an die lebenslängliche Zwangsarbeit (Galeeren)

und an die Deportation; dieſer letzte Fall wurde mit Recht

als der erheblichſte und ſchwierigſte behandelt, weil der De-

portirte am Ort der Verbannung in Freyheit leben ſollte.

 

Das Wichtigſte aber ſind nun die Wirkungen des bür-

gerlichen Todes, die ſich in folgenden Hauptſätzen, nach

Vorſchrift des art. 25, darſtellen laſſen:

 

1) Das ganze gegenwärtige Vermoͤgen des bürgerlich

Todten fällt, im Augenblick dieſes Ereigniſſes, auf ſeine

Inteſtaterben.

 

2) Er iſt für die Zukunft unfähig zu allen droits civils,

fähig zu allen droits naturels (f). Dieſe Grundverſchie-

denheit wird folgendergeſtalt angewendet:

 

(f) Es war dieſes wörtlich aus-

geſprochen im Projet de code

civil Liv. 1 Tit. 1 art. 30 „pri-

vés des avantages du droit ci-

vil proprement dit.” § 31 „Ils

demeurent capables de tous les

actes qui sont du droit natu-

rel et des gens.” Der Code

civil ſelbſt enthält dieſe formelle

Beſtimmung nicht, ſondern nur

(beyſpielsweiſe) die Aufzählung

der wichtigſten einzelnen entzo-

genen Rechte, der Sinn aber iſt

derſelbe geblieben, wie aus der

Discuſſion im Staatsrath deut-

lich erhellt. Vgl. Toullier droit

civil Français Liv. 1 § 279.

|0169 : 155|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

a) Er kann nicht durch Erbſchaft erwerben, mit Aus-

nahme legirter Alimente.

b) Er kann weder Teſtaments- noch Inteſtaterben hin-

terlaſſen. Was er während des bürgerlichen Todes er-

wirbt, fällt bey ſeinem natürlichen Tod an den Staat

(art. 33).

c) Er kann weder ſchenken, noch Geſchenke empfan-

gen, mit Ausnahme von Alimenten (g).

d) Die Ehe, in welcher er bis jetzt lebte, iſt aufge-

löſt in Anſehung aller civilen Wirkungen.

e) Die Ehe, die er von jetzt an ſchließen möchte, iſt

in Anſehung derſelben Wirkungen ungültig.

f) Dagegen iſt er fähig, durch jede andere juriſtiſche

Handlung, als die oben genannten, Vermögen zu erwer-

ben und zu veräußern. Er iſt alſo fähig zu Kauf, Tauſch,

Pacht und Miethe, Darlehen, ſo wie zu allen Klagen aus

Injurien oder anderen Delicten (h).

Gegen dieſe Gränzbeſtimmung iſt nun Folgendes einzu-

wenden. Die Unterſcheidung der droits civils und natu-

 

(g) So iſt es im art. 25 wört-

lich ausgedrückt. Toullier § 282

ſagt dagegen, der bürgerlich Todte

ſey fähig zu erwerben und zu ver-

äußern durch donations manuel-

les, d. h. durch Schenkung be-

weglicher Sachen vermittelſt der

Tradition, aber nicht durch Schen-

kung von Immobilien, oder ſol-

che, die ſchriftlich abgefaßt wer-

den müßten. Dann würde alſo

ein großes Vermögen in baarem

Geld oder Staatspapieren gültig

geſchenkt werden können, was

doch dem Geſetz geradezu entge-

gen iſt. Das Projet de code

civil art. 32. 33 erlaubte den Em-

pfang einer Schenkung von ge-

ringen beweglichen Sachen und

die von Alimenten, dagegen die

Veräußerung durch Schen-

kung unbedingt.

(h) Das Projet de code civil

§ 31 hatte die erlaubt bleibenden

|0170 : 156|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

rels ſtammt augenſcheinlich aus dem Römiſchen Recht, hat

aber in dieſem eine ganz andere Bedeutung, indem das

Römiſche jus gentium ein in ſich ausgebildetes, gleichfalls

poſitives Recht war (§ 22). Unvermerkt hat man dem

Roͤmiſchen Gegenſatz den davon verſchiedenen Gegenſatz

der mehr poſitiven und willkührlichen, oder mehr natürli-

chen und ſich von ſelbſt verſtehenden Rechtsinſtitute unter-

geſchoben. Dieſer letzte aber iſt theils für die Anwendung

unerheblich, theils in der Gränzbeſtimmung ſchwankend und

unbeſtimmt, welches ſich in folgenden Anwendungen deut-

lich zeigt. Ganz inconſequent iſt es, daß der Deportirte

Vermögen erwerben kann, dieſes aber bey ſeinem Tode

an den Staat fallen ſoll, was doch im Grunde nur eine

partielle Confiscation, alſo eine halbe Maasregel iſt. Im

Römiſchen Recht galt zwar derſelbe Rechtsſatz (i), aber

hier hatte er die conſequente Bedeutung einer Fortſetzung

der gleich Anfangs eintretenden Confiscation, die ja aber

das Franzöſiſche Recht verwirft. Blos als Peregrine be-

trachtet hätte der Deportirte wohl Erben hinterlaſſen koͤn-

nen, denn die Peregrinen als ſolche wurden ja niemals

vom Staate beerbt. In der poſitiven Natur alles Erb-

rechts liegt gewiß keine Rechtfertigung des Franzöſiſchen

Rechtsſatzes, und doch ſcheint man ihn blos darauf ge-

Geſchäfte ausdrücklich aufgezählt,

der Code ſelbſt ſchweigt darüber,

aber der Sinn iſt auch bey ihm

derſelbe. Vgl. Toullier § 280.

283. Ferner die Äußerungen von

Tronchet im Staatsrath, Con-

férence T. 1 p. 119.

(i) L. 2 C. de bonis proscript.

(9. 49.).

|0171 : 157|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

gründet zu haben. — Noch auffallender iſt die Behandlung

der Schenkung, die doch gewiß um gar Nichts poſitiver

iſt, als der Kauf und die Miethe. Auch geht hierin der

Code ganz von dem Projet ab, und die Juriſten gehen

wieder ihren eigenen Weg (Note g). Der Grund, den

Toullier für die civile Natur der Schenkung angiebt,

daß die Schenkung an poſitive Formen gebunden ſey,

kann gar Nichts entſcheiden; denn auch der Kauf und die

Miethe, ſo bald ſie einen Werth von 150 Franken über-

ſteigen, ſind einer poſitiven Form unterworfen (art. 1341),

und doch ſollen dieſe Verträge unbedingt dem Deportirten

zugänglich ſeyn.

Doch wichtiger als alles Andere iſt die Behandlung

der Ehe. In dieſer unterſchied man zwar ein natürliches,

civiles und religiöſes Element (k); indem man ihr aber

die effets civils verſagte, meynte man damit unzweifelhaft

alle und jede juriſtiſche Wirkungen, wie es auch im Lauf

der Discuſſionen ausdrücklich anerkannt worden iſt. In

Beziehung auf die Ehe eines Deportirten iſt alſo, da ſie

juriſtiſch gar nicht exiſtirt, weder Ehebruch noch Bigamie

möglich. Die Kinder eines Deportirten ſind uneheliche,

ſind bâtards, ſie haben keinen Vater, und es gilt für ſie

kein Erbrecht, ſelbſt nicht in das Vermögen der Seiten-

verwandten (l). In beiden Beziehungen macht es auch

 

(k) Conférence T. 1 p. 86.

92. 98.

(l) Conférence p. 86. 110. —

Toullier § 285. 293 behauptet die

Legitimität der Kinder, weil ja

doch das vinculum matrimonii

(le lien) fortdauere. Offenbar

im Widerſpruch gegen das Ge-

|0172 : 158|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

gar keinen Unterſchied, ob der Deportirte blos eine frü-

here Ehe fortgeſetzt, oder ob er erſt während der Depor-

tation eine Ehe geſchloſſen hat. — Vergleichen wir damit

das frühere Recht.

Nach Römiſchem Recht war die Ehe eines Deportirten

nach jus civile ungültig, nach jus gentium gültig, alſo

völlig eben ſo gültig, wie die Ehen der vielen Millionen

Provinzialen vor der durch Caracalla allgemein gemachten

Civität (m). Die Folgen dieſes Grundſatzes beſtanden darin,

daß die Kinder aus einer ſolchen Ehe nicht in der väterlichen

Gewalt des Deportirten, noch in der Agnation mit deſſen

Verwandten ſtanden. Dagegen waren ſie ehelich, ſie hatten

einen juriſtiſch gewiſſen Vater, ſie ſtanden in einer wah-

ren Cognation mit ihren Eltern und deren Verwandten,

und konnten hieraus jedes cognatiſche Erbrecht (nur nicht

in das Vermoͤgen des Vaters, welches immer wieder con-

fiscirt wurde) geltend machen. Alle dieſe Beſtimmungen

giengen aus rein juriſtiſcher Conſequenz hervor, nicht aus

religiöſen Anſichten, denn ſie waren lange vor der Herr-

ſchaft des Chriſtenthums anerkannt. — Indem man nun

 

ſetz. Was er vertheidigt, wurde

von der Minorität des Staats-

raths geltend gemacht, um eine

Abänderung des Projects durch-

zuſetzen; ihre Meynung fiel aber

durch, und das Project wurde un-

verändert angenommen. Gerade

durch den vorhergehenden gründ-

lichen Streit wird der wahre

Sinn des Geſetzes ganz außer

Zweifel geſetzt.

(m) Ja ſogar hatte man aus

Menſchlichkeit noch etwas von den

ſtrengen Grundſätzen nachgege-

ben; die Dos, die eigentlich nur

neben einem justum matrimoni-

um gelten konnte, ſollte hier fort-

dauern dürfen, obgleich die Ehe

nicht mehr justum matrimo-

nium war.

|0173 : 159|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

bey der Abfaſſung des Code die dem Roͤmiſchen jus civile

eigenthümlichen Wirkungen mit den juriſtiſchen Wirkungen

überhaupt verwechſelte, kam man unvermerkt zu dem ſelt-

ſamen Reſultat, die Ehe des Franzöſiſchen Deportirten

nicht (wie es natürlich geweſen wäre) mit der Ehe des

Römiſchen Deportirten gleich zu ſtellen, ſondern mit der

Ehe des Roͤmiſchen Bergwerkarbeiters, welche allerdings

durch den Sklavenſtand des verurtheilten Ehegatten con-

ſequenterweiſe vernichtet werden mußte. Ja man gieng

darin noch weiter, als das Römiſche Recht in ſeiner neue-

ſten Geſtalt; denn Juſtinian hat den Sklavenſtand dieſer

Verurtheilten aufgehoben, damit ihre Ehe fortdauern könne

(Nov. 22 C. 8), und ſelbſt dieſe Milderung iſt den Fran-

zöſiſchen Deportirten verſagt.

Das altfranzöſiſche Recht, und insbeſondere die ordon-

nance von 1639, deren Härte ſtets mit der oͤffentlichen

Meynung im Widerſpruch ſtand, und eine ſtille Widerſetz-

lichkeit der Gerichte zur Folge hatte, erkannte dennoch an,

daß die früher geſchloſſene Ehe als Sacrament fortdauere,

daß daher die ſpäter in derſelben erzeugten Kinder ehelich

ſeyen, und gegen alle Verwandte Erbrecht hätten (n).

 

Auch erregte der Vorſchlag des neuen Geſetzes den

lebhafteſten und gründlichſten Widerſpruch: zuerſt von

Seiten des Appellationshofes in Paris (o): dann im Staats-

rath von Seiten des erſten Conſuls (der darüber ſehr ver-

 

(n) Conférence p. 89. 90.

(o) Observations des tribu-

naux d’appel sur le projet de

code civil p. 38.

|0174 : 160|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſtändig ſprach), des Juſtizminiſters, und anderer Mitglie-

glieder (p): endlich auch von Seiten des Tribunats, an

welches die Redaction des Staatsraths zur Prüfung ge-

langte (q). Man beſtritt den Vorſchlag theils aus dem

Römiſchen und altfranzöſiſchen Recht, theils aus Gründen

der Menſchlichkeit; beſonders hob Bonaparte hervor, wie

empörend es ſey, daß die Frau eines Deportirten, deren

edle Treue, wenn ſie ſein Unglück theile, Verehrung ver-

diene, durch das Geſetz zur Concubine herabgewürdigt

werde. Alles vergebens. Das Geſetz wurde dennoch an-

genommen, und dazu wirkten folgende verſchiedene Gründe

zuſammen. Erſtlich die ſtarre Conſequenz aus hiſtoriſch

falſchen Prämiſſen, alſo die Nachwirkung der Irrthümer,

welche die meiſten Juriſten von ihrer Jugend an aus einer

oberflächlichen Kenntniß des Römiſchen Rechts in ſich auf-

genommen hatten, und nun nicht los werden konnten (r).

Zweytens der von der Revolution her eingewurzelte Haß

gegen die Emigranten, obgleich der groͤßte Theil derſelben

(p) Conférence p. 86. 87. 88.

Vgl. beſonders auch Maleville

analyse raisonnée T. 1 p. 47—50.

(q) Conférence T. 1 p. 174—

176.

(r) Wer etwa glauben möchte,

die Einwirkung des Römiſchen

Rechts (in irriger Auffaſſung) ſey

hier nur von mir willkührlich ange-

nommen, in der That nicht ge-

gründet, der wolle doch den Ar-

tikel Mort civile in Merlin Ré-

pertoire nachleſen, worin ſich der

Verfaſſer die größte und über-

flüſſigſte Noth macht mit der Er-

klärung und ſelbſt mit der Text-

kritik von Pandektenſtellen. Un-

ter andern wird das völlig un-

paſſende postliminium mit her-

eingezogen, und p. 373 werden

die Worte der L. 4 de capt. „An

qui hostibus deditus, reversus,

nec a nobis receptus est,” von

einem Überläufer erklärt, einem

enfant ingrat de la patrie, und

mit art. 18. 19. 21 des Code in

Verbindung geſetzt, welches doch

faſt in’s Unglaubliche geht.

|0175 : 161|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

bereits begnadigt war, und die Ubrigen ihre Wichtigkeit

und Gefährlichkeit längſt verloren hatten. Drittens das

ängſtliche Beſtreben, die frühere Einwirkung religioͤſer An-

ſichten auf das Recht ſtreng abzuwehren. Recht auffallend

wird das Reſultat dieſer ſiegenden Beweggründe in der

Vertheidigungsrede, womit der Tribun Gary das defini-

tive Project, d. h. die jetzt in dem Code ſtehende Abfaſ-

ſung, zur Annahme empfahl. Er giebt zu, wenn die Frau

dem Deportirten in die Verbannung folge, ſey es hart,

daß die Kinder unehelich ſeyen, ſie ſelbſt eine Con-

cubine; allein Härten gebe es auch ſonſt wohl im Recht,

und eine ſolche Frau möge ſich mit ihrem Gewiſſen, mit

der Religion, mit der Meynung anderer Menſchen tröſten,

daran hindere ſie das Geſetz ganz und gar nicht, aber

die Conſequenz des Geſetzes gehe über Alles (s). Ohne

Zweifel wird ſtets die öffentliche Meynung das Geſetz ent-

kräften, ja auch die Gerichte werden es, ſo wie ſie früher

thaten, in der Anwendung unvermerkt untergraben, allein

dadurch wird deſſen voͤllige Verwerflichkeit nicht vermin-

dert, ſondern nur noch mehr außer Zweifel geſetzt.

Fragt man zuletzt nach der künftigen Wirkung des Ge-

ſetzes, ſo iſt darüber Folgendes zu ſagen. Fuͤr die zum

Tod oder zu lebenslänglicher Zwangsarbeit Verurtheilten

iſt es faſt ganz gleichgültig, weil die Natur ihrer Strafe

ohnehin alles Dasjenige unmöglich macht, worin die An-

nahme eines bürgerlichen Todes bedenklich ſcheinen könnte;

 

(s) Code civil suivi des motifs T. 2 p. 86.

II. 11

|0176 : 162|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

hier bleibt alſo nur die augenblickliche Beerbung als Folge

übrig, und gegen dieſe läßt ſich am wenigſten ſagen. Bey

den Emigranten iſt das Geſetz wichtig, wegen der Folgen

der während der Emigration eingetretenen Rechtsverhält-

niſſe; allein dieſe Wichtigkeit muß allmälig aufhören. Die

bleibend wichtige Folge wird ſich bey der Deportation

zeigen; daraus wollte man ein politiſch wichtiges, plan-

mäßiges Inſtitut machen, welches jedoch bis auf dieſen

Tag noch nicht zur Reife gekommen iſt. Hier werden ſich

alle oben gerügte Mängel fühlbar machen. Die gerade

hier vorgebrachte Rechtfertigung, es ſey gefährlich, dem

Deportirten durch ausgedehntere Rechtsfähigkeit die Mittel

zur Flucht oder zu feindſeligen Unternehmungen zu ge-

währen (t), iſt völlig ohne Grund. Denn gegen dieſe Ge-

fahr ſchützt, auch ohne bürgerlichen Tod, die bloße In-

terdiction, das heißt dieſelbe Maasregel, die neben man-

chen anderen Strafen wirklich angewendet, und ganz aus-

reichend befunden wird (u).

Keine einzelne Anwendung jener Grundſätze hat ſolche

Celebrität erlangt, als die auf den Fürſten Polignac.

Dieſer wurde durch das Urtheil des Pairshofes vom

21. Dec. 1830 zu lebenslänglicher Haft verurtheilt, welche

die Stelle einer, nicht ausführbaren, Deportation vertre-

ten ſollte, und in Folge dieſer Strafe wurde er zugleich

ausdrücklich für bürgerlich todt erklärt, mit allen Folgen,

die das Geſetz an die Deportation und den bürgerlichen

 

(t) Conférence T. 1. p. 128.

(u) Code pénal art. 29. 30. 31.

|0177 : 163|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

Tod knüpfe. Seine Ehe hat in Ham fortgedauert, es

ſind ihm Kinder geboren worden, und ſo kann dieſer Fall

vorzüglich dazu dienen, die ganze hier dargelegte Verwerf-

lichkeit des Franzöſiſchen Geſetzes über den bürgerlichen

Tod anſchaulich zu machen.

Im Jahr 1831 wurde eine Commiſſion niedergeſetzt

zur Abänderung einiger Beſtimmungen des Strafgeſetz-

buchs, und durch ſie ſind in der That manche Modifica-

tionen herbeygeführt worden. Von dieſer Commiſſion

wurde die Verwerflichkeit des Geſetzes über den bürgerli-

chen Tod anerkannt, und in den ſtärkſten Ausdrücken ge-

ſchildert. Sie enthielt ſich nur deswegen des Antrags auf

Abſchaffung, weil ſie mit Recht annahm, daß dieſe Ände-

rung nicht ohne gleichzeitige neue Beſtimmungen über

manche verwandte Stücke des Privatrechts erfolgen dürfe,

die außer dem Auftrag der Commiſſion lagen (v). In

dieſem Zuſtand iſt die Sache bis jetzt geblieben.

 

Indem aber hier die der Franzoͤſiſchen Geſetzgebung

zum Grund liegenden Irrthümer über den bürgerlichen

Tod im Einzelnen dargelegt worden ſind, wird dadurch

zugleich zu einer umfaſſenderen Betrachtung dieſes Gegen-

ſtandes, in Beziehung auf mögliche und räthliche heutige

Anwendung, der Weg gebahnt ſeyn. Für überflüſſig wird

 

(v) Der Bericht der Commiſ-

ſion wurde in der Sitzung der

Deputirtenkammer vom 11. No-

vember 1831 erſtattet. Vgl. Mo-

niteur 1831 vom 12. November.

11*

|0178 : 164|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

dieſer Zuſatz nicht gehalten werden können, wenn man er-

wägt, daß dieſer Theil des Franzöſiſchen Rechts auch in

den Geſetzen deutſcher Länder Eingang gefunden hat, und

leicht noch ferner Eingang finden könnte.

Im Roͤmiſchen Recht erſcheinen bey den meiſten ſchwe-

ren Verbrechen viererley Folgen vereinigt: Criminalſtra-

fen, Magna capitis deminutio, der bürgerliche Tod, die

Confiscation des Vermögens. Dieſe vier Folgen werden

häufig in einem unrichtigen Verhältniß zu einander ge-

dacht, und hierin liegt der Grund der bedenklichſten Mis-

verſtändniſſe.

 

Die magna capitis deminutio iſt nicht identiſch mit

den Criminalſtrafen, denn die relegatio iſt eine Criminal-

ſtrafe ohne capitis deminutio (w); auf der andern Seite

erlitt eine magna capitis deminutio der Römiſche Bürger,

der in Kriegsgefangenſchaft gerieth, oder der in eine La-

tiniſche Colonie eintrat, und bey dieſen Beiden wird Nie-

mand an eine Strafe denken. Beide Rechtsbegriffe liegen

alſo außer einander, und man kann nur ſagen, daß an

mehrere Criminalſtrafen die capitis deminutio als eine ganz

poſitive Folge angeknüpft iſt, ohne aus dem Begriff die-

ſer Strafen von ſelbſt zu folgen.

 

Der Ausdruck des bürgerlichen Todes (mors civilis)

iſt erſt in neuerer Zeit entſtanden; um den Begriff be-

ſtimmter zu bezeichnen, will ich es die Fiction des Todes

nennen, das heißt die Behandlung eines lebenden Men-

 

(w) L. 7 § 5 de bonis damn. (48. 20.).

|0179 : 165|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

ſchen als ob er todt wäre. Dieſe Fiction iſt als ganz

poſitive Folge an jede magna capitis deminutio ange-

knüpft, ohne aus dem Begriff derſelben von ſelbſt zu fol-

gen (§ 69 S. 71). Sie ſteht alſo in demſelben Verhält-

niß wie die capitis deminutio zu den Criminalſtrafen; der

Kriegsgefangene unterliegt der Fiction des Todes, der re-

legatus iſt davon frey, und man kann alſo auch von die-

ſer Fiction nur ſagen, daß ſie als poſitive Folge mit

mehreren Criminalſtrafen verknüpft iſt. Allein auch wo

ſie in dieſer Verbindung erſcheint, iſt ſie von den Römern

niemals als Strafe, oder als Schärfung einer andern

Strafe, oder als eine Verſtärkung des moraliſchen Ein-

drucks derſelben, gedacht worden, ſondern nur als eine

billige, einfache, bequeme Auskunft zur Beſeitigung derje-

nigen Schwierigkeiten, die bey Erbſchaftsfällen entſtehen

konnten. Denn der ſo Verurtheilte konnte ſelbſt nicht Erbe

ſeyn wegen der capitis deminutio (x); damit nun nicht

durch ſein bloßes Daſeyn auch Andere an der Erbfolge

gehindert werden möchten, fingirte man ſeinen Tod, wo-

durch ſein Daſeyn bey einer ſolchen Erbſchaft ganz außer

Betracht kam. Ebendaher aber wurde dieſe Fiction nur

angewendet, wo ſie dieſem beſonderen Zweck dienen konnte,

alſo auch nur in Anſehung der an das Leben geknüpften

civilen Wirkungen, außerdem nahm man darauf keine

Rückſicht, ſo daß hierin eine buchſtäbliche Conſequenz nicht

(x) Er war nicht einmal zu ei-

ner Bonorum possessio fähig

(L. 13 de B. P.), alſo noch viel

weniger zu einer hereditas.

|0180 : 166|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

erwartet werden darf. So konnte der Deportirte Vermoͤ-

gen erwerben, und eine Ehe führen, wiewohl bekanntlich

todte Menſchen zu Beidem ganz unfähig ſind; die Fähig-

keit dazu gründete ſich bey ihm auf das jus gentium, nicht

auf das jus civile.

Die Vermögensconfiscation iſt, überall wo ſie vor-

kommt, eine wahre Strafe. Mit der magna capitis de-

minutio erſcheint ſie nur zufällig und äußerlich verknüpft

(§ 69. b), ſo daß beide Rechtsbegriffe außer einander lie-

gen. Zur Zeit der freyen Republik trat ſelbſt neben den

ſchwerſten Strafen die Confiscation in der Regel nicht

ein (y). Unter den Kaiſern war ſie allerdings die regel-

mäßige Folge jeder als Strafe verhängten magna capitis

deminutio (z); doch auch nun noch mit ſehr mildernden

Modificationen. Portionen des Vermögens wurden ſchon

frühe den Kindern des Verbrechers überlaſſen, und nach

manchen Schwankungen der Rechtsregeln beſtimmte zuletzt

Juſtinian, daß, mit Ausnahme des Majeſtätsverbrechens,

das Recht des Fiscus ganz wegfallen ſollte zum Vortheil

der Descendenten und der drey nächſten Grade der Ascen-

denten des Verbrechers (aa). Umgekehrt aber konnte auch

 

(y) Der verurtheilte Vatermör-

der wurde auf gewöhnliche Weiſe

beerbt, und es war nur zweifel-

haft, ob er noch nach der Ver-

urtheilung ein gültiges Teſtament

machen könne. Cicero de invent.

II. 50. Auct. ad Herenn. I. 13.

(z) L. 1 pr. de bonis damn.

(48. 20.).

(aa) L. 1 § 1. 2. 3 de bonis

damn. (48. 20.), L. 10 C. de

bonis proscr. (9. 49.). Nov. 17

C. 12. — Das neueſte Geſetz iſt

Nov. 134 C. 13, wovon Auth.

Bona damnatorum C. de bonis

proscr. (9. 46.) Etwas abweicht.

|0181 : 167|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

die Confiscation eintreten ohne alle capitis deminutio (bb).

— Eben ſo zufällig zuſammentreffend, und den Begriffen

nach von einander unabhängig, ſind die Confiscation, und

die Fiction des Todes. Bleibt man bey dem ſtrengen Be-

griff dieſer Fiction ſtehen, ſo folgt daraus nicht Confis-

cation, ſondern Beerbung, da ja auch das Vermögen des

wirklich Todten nicht confiscirt, ſondern vererbt wird.

Von den hier aufgeſtellten Sätzen ſoll nun noch eine

beſondere Anwendung auf die Teſtamentsfähigkeit eines

Verurtheilten gemacht werden. Wo Confiscation des Ver-

moͤgens eintritt, iſt es ſehr einleuchtend, daß jedes Teſta-

ment des Verurtheilten unwirkſam bleiben muß, es mag

vor oder nach der Verurtheilung gemacht ſeyn. Dieſer

Grund verſchwindet alſo für eine heutige Geſetzgebung,

wenn darin die Confiscation überhaupt nicht aufgenom-

men wird.

 

Bey den Römern war der entſcheidende Grund, der

jedes frühere Teſtament bey ſolchen Strafen vernichten

mußte, die capitis deminutio, da ſelbſt die minima dieſe

Wirkung hatte. Nur wenn zur Zeit des Todes eine Her-

ſtellung des vorigen Zuſtandes erfolgt war, ſollte das frü-

here Teſtament, welches nach jus civile ungültig war und

blieb, durch den Prätor aufrecht erhalten werden (cc).

Nach der Verurtheilung konnte kein Teſtament gemacht

 

(bb) L. 7 § 5 de bonis damn.

(48. 20).

(cc) Gajus II. § 145. 147. Ul-

pian. XXIII. § 4. 6. L. 1 § 8.

L. 11 § 2 de B. P. sec. tab. (37.

11.). L. 8 § 3 de j. codic. (29.

7.). L. 6 § 5—13 de injusto

(28. 3.).

|0182 : 168|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

werden, weil kein Peregrinus die testamentifactio hatte (dd).

Dieſes Hinderniß kann in einer neueren Geſetzgebung nicht

vorkommen, weil wir die Römiſche magna capitis demi-

nutio nicht kennen.

Die Fiction des Todes endlich, wenn ſie ſtreng durch-

geführt wird, macht allerdings ein ſpäteres Teſtament un-

moͤglich, weil ein todter Menſch kein Teſtament machen

kann. Dagegen ſteht ſie der Wirkſamkeit des früheren

Teſtaments gewiß nicht im Wege, indem ja auch der

wirkliche Tod ein vorhandenes Teſtament nicht entkräftet,

ſondern erſt recht in Kraft ſetzt. Dieſes wird beſonders

einleuchtend in einem Fall, worin die Fiction des Todes,

ganz beſonders zu dieſem Zweck, durch einen eignen Volks-

ſchluß (die Lex Cornelia) ausgeſprochen war. Wenn

naͤmlich ein Römer als Kriegsgefangner ſtarb, ſo wurde

fingirt, er ſey im Augenblick der Gefangennehmung ge-

ſtorben; dadurch wurde ſein früher gemachtes Teſtament

aufrecht erhalten, welches ohne dieſe Fiction durch die

maxima capitis deminutio vernichtet worden wäre (ee).

 

In den Römiſchen Begriffen und Rechtsregeln alſo,

wenn wir ſie conſequent auf unſren veränderten Rechts-

zuſtand anwenden, liegt kein durchgreifender Grund, dem

Teſtament eines Verurtheilten in einer heutigen Geſetzge-

bung die Wirkſamkeit zu verſagen.

 

(dd) L. 8 § 1 — 4 qui test.

(28. 1.).

(ee) L. 6 § 5. 12 de injusto

(28. 3.). L. 12 qui test. (28. 1.).

Ulpian. XXIII. § 5.

|0183 : 169|

§. 75. Rechtsfähigkeit u. cap. deminutio. Heutige Anwendung.

Dieſe Betrachtungen ſollten keinesweges der Aufnahme

des bürgerlichen Todes in ein Strafgeſetzbuch unſrer Zeit

widerſprechen; es ſollte nur der täuſchende Schein eines

Zuſammenhangs mit den Begriffen und Regeln unſres

überlieferten poſitiven Rechts entfernt werden, der uns

verleiten kann, ganz unbegründeten Conſequenzen Raum

zu geben. Was in dieſer Hinſicht beſtimmt werden mag,

iſt etwas Neues, von dem bisher geltenden Recht Unab-

hängiges, welches nicht durch hiſtoriſche Gründe, ſondern

von dem Standpunkt innerer Zweckmäßigkeit aus, gerecht-

fertigt werden muß. Und dieſes gilt namentlich auch für

die Frage, ob die Teſtamente der zu ſchweren Strafen

Verurtheilten als gültig zugelaſſen werden ſollen.

 

|0184 : 170|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 76.

Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Infamie.

Einleitung.

Die bisher dargeſtellten Beſchränkungen der Rechtsfä-

higkeit ſind aus zwey Gründen als Beſtandtheile des heu-

tigen Römiſchen Rechts zu behandeln: erſtlich, weil das

Syſtem des Privatrechts von alter Zeit her ſo ganz mit

ihnen verflochten war, daß eine gründliche Einſicht auch

in deſſen neueſte Geſtalt ohne die genaue Kenntniß jener

Beſchränkungen eben ſo wenig möglich iſt, als die ſichere

Abwehrung der verwirrendſten Irrthümer: zweytens weil

von denſelben auch in dem neueſten Recht bedeutende

Stücke erhalten ſind, die abgetrennt von ihrem früheren

Zuſammenhang in ihrem eigentlichen Weſen nicht verſtan-

den werden können.

 

Beide Gründe ſind nicht vorhanden bey einigen ande-

ren Beſchränkungen, die ſtets nur eine ſehr iſolirte Ein-

wirkung auf die Rechtsfähigkeit gehabt haben, in dem

neueſten Recht aber, wie ich glaube, ganz verſchwun-

den ſind: ich meyne die Infamie, und die Religionsver-

ſchiedenheit. Beide ſind, inſoweit ſie dem Römiſchen Recht

angehören, als antiquirte Inſtitute zu betrachten. Da

aber die herrſchende Meynung mit der hier ausgeſproch-

nen nicht ganz übereinſtimmt, und daher in den neueren

Syſtemen jene Inſtitute als Beſtandtheile des heutigen ge-

meinen Rechts aufgeführt zu werden pflegen, ſo konnte

 

|0185 : 171|

§. 76. Infamie. Einleitung.

eine kritiſche Darſtellung derſelben, nach dem Plan dieſes

Werks, nicht ausgeſchloſſen werden.

Um für die ſchwierige Unterſuchung der Infamie, als

des erſten unter jenen Inſtituten, einen feſten Boden zu

gewinnen, will ich nicht mit der Aufſtellung ihres Begriffs

und ihrer Arten, noch mit einer Geſchichte derſelben, an-

fangen, ſondern mit der Geſtalt, welche ſie in den Juſti-

nianiſchen Rechtsquellen an ſich trägt. Daß dieſe nicht

auf einer gänzlichen Entſtellung des früheren Rechtszu-

ſtandes beruhen kann, iſt einleuchtend: denn ihr liegt zum

Grunde das woͤrtlich aufgenommene Prätoriſche Edict (a),

und alles Übrige iſt nur Ergänzung oder Abänderung deſ-

ſelben. Unſre Kenntniß beruht nun hauptſächlich auf fol-

genden Quellenſtücken:

 

Tit. Dig. de his qui notantur infamia (3. 2.).

Tit. Cod. ex quibus causis infamia irrogatur (2. 12.).

In merkwürdige Verbindung damit tritt ein großer Theil

des Römiſchen Volksſchluſſes, welcher gewoͤhnlich als ta-

bula Heracleensis bezeichnet wird (b), und worüber erſt

weiter unten Auskunft gegeben werden kann.

 

(a) Die Edictſtelle ſteht in

L. 1 de his qui not. (3. 2.). Bey

den in dieſer Stelle unmittelbar

enthaltenen Fällen werde ich, der

Kürze wegen, nur das Edict als

Quelle citiren, womit alſo ſtets

der in der L. 1 de his qui not.

enthaltene Text des Edicts ge-

meynt iſt. Dieſes muß beſonders

bemerkt werden, weil wir zum

Theil noch einen andern und ſehr

abweichenden Text beſitzen, wahr-

ſcheinlich aus dem Commentar des

Paulus genommen, Fragm. Vat.

§ 320 (der Commentar § 321).

Von dieſer Verſchiedenheit wird

weiter unten und in der Bey-

lage VII. die Rede ſeyn.

(b) Tab. Heracl. lin. 108—141

in Haubold monumenta legalia

|0186 : 172|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Folgende neuere Schriftſteller ſind gleich in dieſer Ein-

leitung anzumerken:

 

Donellus Lib. 18 C. 6 — 8.

Hagemeiſter in Hugo’s civil. Magazin B. 3 Num. VIII.

(1803) S. 163—182 der Ausg. des dritten Bandes

von 1812.

G. Chr. Burchardi de infamia. Kilon. 1819. 4. (c).

Th. Marezoll über die bürgerliche Ehre. Gieſſen

1824. 8. (d).

(Über den heutigen Zuſtand dieſes Inſtituts:)

Eichhorn deutſches Privatrecht vierte Ausg. § 83—90.

ed. Spangenberg Berol. 1830

p. 122 — 129. — Das Geſetz wur-

de gegeben im J. der Stadt 709,

und ſein wahrer Name iſt Lex

Julia municipalis. Zeitſchrift für

geſchichtl. Rechtswiſſenſchaft B. 9

S. 348. 371.

(c) Burchardi ſelbſt ſagt p. 5.

11, daß ſeine Anſichten großen-

theils aus meinen von ihm ge-

hörten Vorleſungen entſprungen

ſeyen. Wenn dieſes wirklich der

Fall iſt, ſo hat er wenigſtens das

Geliehene mit reichlichen Zinſen

zurück bezahlt: auf mehrere wich-

tige Punkte dieſer Unterſuchung

bin ich erſt durch ſeine Schrift

aufmerkſam geworden. — Später

hat dieſer Schriftſteller ſeine An-

ſicht dahin modificirt, daß Vieles,

was wir zum Privatrecht zählen,

in der That juris publici ſey,

alſo mit in die Folgen der In-

famie falle, wie connubium,

commercium, testamentifactio.

(Grundzüge des Rechtsſyſtems der

Römer S. 272). Wäre dieſe An-

ſicht richtig, ſo würden ſolche Fol-

gen der Infamie nicht erſt ſo ſpät,

ſo beſchränkt, und ſo vereinzelt

eingeführt worden ſeyn, wie er

ſelbſt es, mit Beziehung auf Vor-

ſchriften der Lex Julia und Con-

ſtantins, behauptet.

(d) Eine ungemein fleißige

Schrift, auf deren reichhaltiges

Material ich im Allgemeinen, als

Ergänzung meiner kürzeren Dar-

ſtellung, verweiſe, wenngleich ich

mehrere Hauptanſichten derſelben

nicht für richtig halte. Beſon-

ders manche kleinere Zuſätze aus

Kaiſergeſetzen, die auf das We-

ſen des Inſtituts keinen Einfluß

gehabt haben, werde ich über-

gehen.

|0187 : 173|

§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.

§. 77.

Einzelne Fälle der Infamie.

Die einzelnen Fälle der Infamie, wie ſie in unſeren

Rechtsquellen aufgeſtellt werden, laſſen ſich auf fünf Klaſſen

zurückführen.

 

I. Verurtheilung wegen eines Criminalverbrechens.

 

Dieſer Fall wurde erſt nach und nach zu einer allge-

meinen Regel ausgebildet. Das Edict ſelbſt knüpfte die

Infamie nur allein an die in einem Criminalprozeß began-

gene calumnia oder praevaricatio, und dieſer Fall ſteht

auch in der Tafel von Heraklea (lin. 120. 122). — Ein

Senatsſchluß verordnete ſie als Folge eines einzelnen Ver-

brechens, der vis privata (a). — Dann ließ man ſie auf

jede Kapitalſtrafe folgen; das war nicht wichtig, denn ſo

lange dieſe Strafe (alſo wenigſtens der Verluſt der Civität)

wirkte, war die Infamie ohne Bedeutung; ſie wurde alſo

erſt fühlbar, wenn der Verurtheilte Erlaß der Strafe er-

halten hatte und nicht zugleich Erlaß der Infamie, welcher

in dieſem Fall überhaupt nicht ertheilt zu werden pflegte (b).

— Endlich aber wurde die allgemeine Regel aufgeſtellt,

daß jede Verurtheilung in einem publicum judicium infa-

mire (c). Damit war alſo ausgeſchloſſen die Verurtheilung

 

(a) L. 1 pr. ad L. Juliam de

vi priv. (48. 7.).

(b) L. 1 § 6. 9 de postulando

(3. 1.). Marezoll S. 127.

(c) L. 7 de publ. jud. (48. 1.).

L. 56 pro socio (17. 2.). Coll.

LL. Mos. Tit. 4 § 3 vergl. mit

§ 12. In der tab. Heracl. lin.

|0188 : 174|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

wegen eines crimen extraordinarium, denn dieſe infamirte

nur ausnahmsweiſe in einigen ſogleich näher anzugebenden

Fällen.

Dagegen wurden einige ähnliche Fälle gleichfalls als

Entſtehungsgründe der Infamie anerkannt, gleichſam aus

der Fiction eines Criminalurtheils, welches in derſelben

wirklich nicht ergangen war. Dahin gehörte (als erſter

im Edict ſelbſt ausgedrückter Fall) die ſchimpfliche Aus-

ſtoßung eines Soldaten aus dem Heer (d). Ferner der

Fall einer im Ehebruch betroffenen (nicht verurtheilten)

Frau (e). Der Meineid, welcher begangen wird durch

Verletzung eines beſchwornen Vergleichs oder Nachlaßver-

trags (e¹). Endlich der Fall einer Delation an den Fiscus,

die von ihrem Urheber nicht erwieſen werden konnte (f).

 

Als die neueſte hierher gehörende Erweiterung der

Römiſchen Lehre von der Infamie kann man die Auth.

Habita des K. Friedrich I. zum Schutz der Scholaren

der Rechtswiſſenſchaft anſehen. Wer einen ſolchen belei-

 

117. 118. 111. 112. findet ſich ſchon

früher eine nur theilweiſe über-

einſtimmende Vorſchrift; das Ge-

ſetz trifft jeden der in dieſer Stadt

nach irgend einem publicum ju-

dicium verurtheilt, ſo wie jeden

der in Rom aus Italien verbannt

oder irgendwo ex L. Plaetoria

verurtheilt iſt. Der Grund dieſer

Verſchiedenheit wird im § 80 an-

gegeben werden.

(d) L. 1 pr. de his qui not.

(3 2) „qui ab exercitu igno-

miniae causa ab Imperatore....

dimissus erit.” Dieſer Fall ſteht

auch in der tab. Heracl. lin. 121.

(e) L. 43 §. 12. 13 de ritu nupt.

(23 2.) „Quae in adulterio de-

prehensa est, quasi publico ju-

dicio damnata est.”

(e¹) Es iſt alſo die Rede nur

von ſolchen Verträgen, die ein

ſtreitiges Rechtsverhältniß zu er-

ledigen beſtimmt ſind. L. 41 C.

de transact. (2. 4.).

(f) L. 18 § 7 L. 2 pr. de j.

fisci (49. 14.).

|0189 : 175|

§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.

digt, oder unter dem Vorwand von Repreſſalien beraubt

oder beſchädigt, ſoll infam ſeyn, vierfachen Erſatz geben,

und (wenn er Beamter iſt) ſeines Amtes entſetzt werden.

II. Einige Privatdelicte, und zwar nach dem Edict

ſelbſt: Diebſtahl, Raub, Injurie, Betrug. Hier infamirte

zunächſt die Verurtheilung; jedoch nur wenn der Beklagte

in eigenem Namen verurtheilt war. Und zwar hatte dieſe

Beſchränkung den zwiefachen Sinn, daß, wenn der Be-

klagte den Prozeß durch einen Procurator geführt hatte,

weder er ſelbſt noch dieſer Procurator infam wurde (g).

Die natürliche Folge davon war die, daß ſeit der allge-

meinen Zulaſſung von Procuratoren dieſe Drohung der

Infamie entkräftet war, indem ſie jeder Beklagte durch

die Beſtellung eines Procurators leicht vermeiden konnte.

— Der Verurtheilung war in dieſen Fällen durch das

Edict ſelbſt der Vergleich an die Seite geſtellt (damnatus

pactusve erit). Dieſe Vorſchrift ſollte jedoch nur verſtan-

den werden von einer Geldabfindung durch Privatüber-

einkunft; alſo weder von einer Abfindung unter richterli-

cher Vermittlung, noch von einem unentgeltlichen Erlaß (h).

 

Wenn in den Fällen jener Privatdelicte nicht die Pri-

vatklage angeſtellt, ſondern ein crimen extraordinarium

anhängig gemacht wurde, ſo ſollte darum nicht minder

die Infamie erfolgen, und dieſes ſind die oben angedeu-

teten Ausnahmen, in welchen auch das crimen extraordi-

 

(g) L. 6 § 2 de his qui not.

(3.2.). L. 2 pr. de obsequ. (37.15.).

(h) L. 6 § 3 de his qui not.

(3. 2.).

|0190 : 176|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

narium die infamirende Kraft hatte, die in der Regel nur

dem publicum judicium vorbehalten war (i). Auch machte

es dabey keinen Unterſchied, ob das Delict ſeinen gewöhn-

lichen Namen (furtum, injuria) behielt (k), oder ob daſ-

ſelbe unter einem ſpecielleren Namen (expilata hereditas, stel-

lionatus) Gegenſtand einer Criminalunterſuchung wurde (l).

In allen dieſen Fällen konnte die Befreyung von der In-

famie, die bey Privatklagen durch die Ernennung eines

Procurators bewirkt wurde, nicht zur Anwendung kom-

men (m).

Unter die infamirenden Privatdelicte kann man gewiſ-

ſermaßen auch den Zinswucher rechnen, da er wenigſtens

im älteren Recht eine Privatſtrafe nach ſich zog. Dieſe

iſt nun zwar in Juſtinians Geſetzgebung nicht anerkannt,

aber die Infamie iſt darin dennoch als Folge des Wu-

chers vorgeſchrieben (n).

 

III. Obligatoriſche Verhältniſſe außer den Delicten.

 

Bey einigen derſelben infamirt wieder die Verurthei-

lung. Dahin gehören nach den Worten des Edicts fol-

gende Klagen: pro socio, tutelae, mandati, depositi. Mit

dieſer Angabe ſtimmen groͤßtentheils überein mehrere Stel-

len des Cicero und die Tafel von Heraklea (o); jedoch

 

(i) L. 7 de publ. jud. (48. 1.).

(k) L. 92 de furtis (47. 2.).

L. 45. de injur. (47. 10.).

(l) Marezoll S. 134—136,

wo der ſcheinbare Widerſpruch

zwiſchen L. 13 § 8 de his qui not.

(3. 2.) u. L. 2 stellion. (47. 20.)

befriedigend gelöſt iſt.

(m) Marezoll S. 167.

(n) L. 20 C. ex quib. caus.

inf. (2. 12.).

(o) Cicero pro Roscio Com.

C. 6, pro Roscio Amer. C. 38.

39, pro Caecina C. 2 (am Ende)

|0191 : 177|

§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.

dieſe alle mit der merkwürdigen Abweichung, daß ſie die

depositi actio weglaſſen, und dagegen die fiduciae actio

aufnehmen, welche als ein veraltetes Inſtitut bei Juſtinian

natürlich nicht mehr vorkommt. Es iſt nicht unwahrſchein-

lich, daß in der älteren Zeit das Depoſitum ohne Fiducia

in der That kein Grund der Infamie war, und daß man

ſpäter, als die Fiducia außer Gebrauch kam, und zwar

ſchon vor Juſtinian (L. 10 C. depos.), das Depoſitum im

Allgemeinen an deren Stelle ſetzte. — Auch bey dieſen

Klagen ſollte die Infamie durch die Aufſtellung eines Pro-

curators vermieden werden können (suo nomine … dam-

natus erit). — Die Infamie ſollte ferner nur aus der

directa actio erfolgen (non contrario judicio damnatus

erit). Doch wurde ausnahmsweiſe auch die contraria actio

infamirend, wenn dabey dem Beklagten gerade eine beſon-

dere Unredlichkeit zur Laſt fiel (p). — Bey der directa

actio ſind unſere Juriſten ſehr verſchiedener Meynung über

die wichtige Frage, ob dieſe Klagen allgemein infamiren,

oder nur unter Vorausſetzung des dolus, welchem hier,

wie anderswo, die lata culpa gleich gilt. Für die erſte

oder ſtrengere Meynung iſt die Edictſtelle geltend gemacht

und C. 3. Tab. Heracl. lin. 111.

— Bey dem Vormund folgt die In-

famie nicht blos aus der Verurthei-

lung in Folge der tutelae actio,

ſondern auch aus der Abſetzung

als Suspectus. § 6 J. de susp.

(1. 26), L. 3 § 18 eod. (26. 10.),

L. 9 C. eod. (5. 43.). — Ja ſogar

entſteht ſie, wenn der Vormund

die Mündel vor der geſetzlichen

Zeit für ſich oder ſeinen Sohn

zur Ehe nimmt, weil dieſes als

eingeſtandener Dolus gelten ſoll.

L. 66 pr. de r. n. (23. 2.), L. 7

C. de interd. matrim. (5. 6.).

(p) L. 6 § 5. 7 de his qui not.

(3. 2.).

II. 12

|0192 : 178|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

worden, welche allgemein, ohne Erwähnung des dolus als

Bedingung, ſagt: Infamia notatur … qui pro socio, tu-

telae, mandati, depositi … damnatus erit; mit derſelben

ſtimmen auch mehrere andere Stellen in eben ſo unbeſtimm-

ter Allgemeinheit überein (q). Dagegen aber ſtreiten meh-

rere andere Stellen, welche ausdrücklich die Unredlichkeit

als Grund, und alſo auch als Bedingung, der Infamie

bezeichnen (r). Man hat darauf erwiedert, ſchon der Um-

ſtand, daß es in dieſen Klagen der Beklagte zum Prozeß

kommen laſſe, anſtatt freywillig zu zahlen, dieſe temeritas

litigandi, ſey als dolus zu betrachten, und verdiene die

Strafe der Infamie. Dieſe Erwiederung führt auf fol-

gende Sätze, in welchen wohl jene entgegengeſetzte Mey-

nungen ihre Vermittelung finden dürften. 1) Für den

Fall des eigentlichen Betrugs, der Unterſchlagung u. ſ. w.

iſt ohnehin kein Streit. 2) Dieſem Fall ſteht aber voͤllig

gleich der andere, wenn der Vormund oder der Depoſitar,

ohne vorher betrogen zu haben, geradezu die Auslieferung

des Vermögens oder der anvertrauten Sache verweigern.

3) Auch für den Fall kann man die Infamie einräumen,

wenn bey einer arbitraria actio der arbiter vor dem Ur-

theil den Beklagten zur Bezahlung einer beſtimmten Summe

auffordert, und dieſer dennoch nicht zahlt, ſondern es auf

(q) § 2 J. de poena temere

litig. (4. 16.). Tabula Heracl.

lin. 111.

(r) L. 6 § 5. 6. 7 de his qui

not. (3. 2.) „fidem,” „male ver-

satus,” „perfidia.” L. 22 C. ex

quib. caus. (2. 12.) „fidem rum-

pens.” Cicero pro Caecina C. 3

„fraudavit.”

|0193 : 179|

§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.

das Urtheil ankommen läßt. Eine ſolche contumacia mag

hierin, wie auch in anderen Wirkungen (s), dem dolus

gleich behandelt worden ſeyn. 4) Weiter aber darf man

nicht gehen, vielmehr muß für alle andere Fälle die In-

famie verneint werden. Geſetzt alſo, der Mandatar hat

eine levis culpa begangen, läßt es aber wegen der ganz

übertriebenen Forderung des Mandanten auf den Prozeß

ankommen, und wird nun auf eine mäßige Summe con-

demnirt, ſo könnte man ihm gewiß keine frevelhafte Streit-

ſucht vorwerfen, und die Infamie würde in ſolchem Fall

mit allem geſunden Rechtsgefühl im Widerſpruch ſtehen (t).

Außerdem aber ſollte, bey allen Obligationen ohne

Unterſchied, die Inſolvenz ein Entſtehungsgrund der In-

famie ſeyn (bona possessa, proscripta, vendita). Dieſes

ſagen mehrere ältere Zeugniſſe ausdrücklich (u). Im Juſti-

nianiſchen Recht findet ſich davon eine unverkennbare in-

directe Spur, indem geſagt wird, die cessio bonorum,

und der durch ſie veranlaßte Verkauf des Vermögens in-

famire nicht (v); offenbar im Gegenſatz des wirklichen

Concurſes, der dabei als Grund der Infamie vorausgeſetzt

 

(s) So z. B. bey dem jusju-

randum in litem. L. 2 § 1 de

in litem. jur. (12. 3.).

(t) Die hier angenommene mil-

dere Meynung iſt vortrefflich aus-

geführt, und beſonders gegen die

Einwürfe aus einzelnen Stellen

durch gründliche Interpretation

geſchützt, von Donellus XVIII.

8 § 8 — 13. Die ſtrengere Mey-

nung wird ausführlich vertheidigt

von Marezoll S. 148 — 155,

welcher irrig den Donellus als

Vertheidiger derſelben Meynung

anführt.

(u) Cicero pro Quinctio C. 15.

Tabula Heracl. lin. 113 — 117.

Gajus II. § 154.

(v) L. 8 C. qui bon. (7. 71.).

L. 11 C. ex quib. caus. inf. (2. 12.).

12*

|0194 : 180|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

wird. Wann und wodurch jener Rechtsſatz verſchwunden

iſt, läßt ſich nicht mit Sicherheit angeben. Die Aufhebung

der alten bonorum venditio erklärt das Verſchwinden der

Infamie nur wenn man annimmt, daß dieſelbe immer erſt

mit der vollendeten venditio eintrat, nicht ſchon mit den

Vorbereitungen derſelben, namentlich der bloßen possessio

bonorum (x).

IV. Handlungen in Beziehung auf das Geſchlechter-

verhältniß. Hierin iſt Vieles dunkel, theils wegen Unzu-

länglichkeit unſerer Quellen, theils wohl auch weil manche

Rechtsregeln ſelbſt über dieſe Gegenſtände vorzugsweiſe

unbeſtimmt und veränderlich waren. Die einzelnen Fälle

ſind folgende:

 

1) Verletzung der Trauerzeit.

 

Das Edict ſelbſt (ſo wie wir es in den Digeſten fin-

den) ſagt: Wenn eine Wittwe vor Ablauf der Trauerzeit

eine neue Ehe ſchließt, ſo werden dadurch infam: der neue

Ehemann, wenn er paterfamilias iſt, ſonſt deſſen Vater:

außer dieſem aber auch der Vater der Wittwe, wenn er

dieſe in ſeiner Gewalt hat, und durch ſeine Einwilligung

die neue Ehe möglich macht. Von der Infamie der Wittwe

ſelbſt, die man zunächſt erwarten möchte, iſt nicht die Rede.

— In der Folge aber wurde die Infamie allerdings auch

auf die Wittwe ſelbſt angewendet (y).

 

(x) Gajus erwähnt allerdings

nur die venditio als Grund der

Infamie, die Stellen aus Cicero

und aus der Tafel von Heraklea,

wenn man ſie buchſtäblich nimmt,

ſprechen für die entgegengeſetzte

Meynung.

(y) L. 11 § 3 de his qui not.

|0195 : 181|

§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.

Hierbey bemerken die alten Juriſten, der Grund der

Infamie ſey nicht etwa die verletzte Pietät gegen den Ver-

ſtorbenen, ſondern lediglich die Gefahr der sanguinis tur-

batio, das heißt der ungewiſſen Paternität im Fall zwey

nahe auf einander folgender Ehen; daraus ziehen ſie die

ganz conſequente Folge, daß die Infamie eintrete, auch

wenn der Verſtorbene aus beſonderen Gründen, z. B. als

Hochverräther, nicht betrauert werde; auf der andern Seite

aber auch, daß die Niederkunft der Wittwe bald nach des

Mannes Tod (wegen der nun unmöglichen sanguinis tur-

batio) die neue Ehe ſogleich zuläſſig mache; imgleichen,

daß jede andere vernachläſſigte Trauer, ſelbſt gegen die

nächſten Verwandten, die Infamie nicht nach ſich ziehe (z).

So ſteht die Sache unzweifelhaft im Juſtinianiſchen Recht:

aus dem ältern Recht aber finden ſich ſo ſcheinbar wider-

ſprechende Zeugniſſe, daß ein ſicheres Reſultat nicht ohne

eine ſehr ausführliche Unterſuchung zu gewinnen iſt (Vgl.

Beylage VII.).

 

Die erwähnte Trauerzeit war übrigens von jeher auf

Zehen Monate beſtimmt, und kam daher ganz mit der

phyſiologiſchen Regel überein, nach welcher die Schwan-

gerſchaft höchſtens Zehen Monate dauern kann (Beyl. III.);

durch Geſetze der chriſtlichen Kaiſer wurde ſie auf Zwölf

 

(3. 2.). Hier ſchwanken die Hand-

ſchriften zwiſchen den Leſearten Si

quis und Si qua: die letzte wird

durch den Zuſammenhang noth-

wendig. — L. 15 C. ex quib.

caus. (2. 12.). L. 1. 2 C. de

sec. nupt. (5. 9.). L. 4 C. ad

Sc. Tert. (6. 56.).

(z) L. 11 § 1. 2. 3. L. 23 de

his qui not. (3. 2.).

|0196 : 182|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Monate ausgedehnt (aa). — Das canoniſche Recht hat für

dieſen Fall die Infamie gänzlich aufgehoben (bb).

2) Doppelte Ehe oder doppelte Sponſalien.

 

Das Edict ſagt: Wenn ein Mann zu gleicher Zeit in

zwey Ehen oder zwey Sponſalien lebt, ſo trifft ihn ſelbſt

die Infamie, wenn er paterfamilias iſt, ſonſt den Vater,

der es veranlaßt. Auch hier ſprach das Edict nur von

dem Mann (cc); in der Folge wurde es gleichfalls auf

die Frau ausgedehnt (dd).

 

War auch das eine der gleichzeitigen Verhältniſſe aus

irgend einem Rechtsgrund ungültig, ſo wurde dadurch die

Infamie nicht abgewendet, indem nur auf die Abſicht ge-

ſehen wurde (ee); ohnehin wäre außerdem die Infamie

wegen doppelter Ehe unmöglich geweſen, weil neben einer

beſtehenden Ehe jede neue Ehe an ſich nichtig war (ff).

 

(aa) L. 2 C. de sec. nupt. (5. 9.).

(bb) C. 4. 5 X. de sec. nupt.

(4. 21.).

(cc) Bey dem Fall des Trauer-

jahrs, der ſo umſtändlich beſchrie-

ben wird, iſt es klar, daß nur

von den mitwirkenden Männern

die Rede ſeyn ſollte: weniger klar

iſt es bey dem Fall der Doppel-

ehe. Stände nun blos das Mas-

culinum Quive im Wege, ſo würde

das die Beziehung auf die Frau

nicht hindern, da in anderen Fäl-

len Quis auf Männer und Frauen

zugleich geht (L. 1 de V. S. 50. 16.).

Allein in dieſer Stelle muß doch

das Quive ausſchließend auf den

Mann bezogen werden, und zwar

nicht blos wegen der Analogie des

Falles vom Trauerjahr, ſondern

vorzüglich wegen der folgenden

Worte: Quive suo nomine …

ejusve nomine quem quamve in

potestate haberet etc. Da zuletzt

beide Geſchlechter ausgedrückt wer-

den, ſo iſt im Anfang der Stelle

das zweyte Geſchlecht abſichtlich

ausgelaſſen, weil es nicht in dem

Gedanken des Prätors lag.

(dd) L. 13 § 3 de his qui not.

(3. 2.).

(ee) L. 13 § 4 de his qui not.

(3. 2.). L. 18 C. ad L. Jul. de

adult. (9. 9.).

(ff) § 6. 7 J. de nupt. (1. 10.).

|0197 : 183|

§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.

Nicht bloß durch Ehe neben Ehe, oder Sponſalien

neben Sponſalien, wird die Infamie erzeugt, ſondern auch

durch Sponſalien neben Ehe (gg).

 

3) Unzüchtiges Leben der Frauen als Gewerbe (cor-

pore, auch palam, oder vulgo quaestum faciens).

 

Das in den Digeſten erhaltene Edict erwähnt dieſen

Fall gar nicht. Die Lex Julia verbietet die Ehe mit ſol-

chen Frauen den Senatoren und deren männlichen Nach-

kommen, ohne dabey den Ausdruck der Infamie zu ge-

brauchen; eben ſo verbietet ſie allen Freygebornen die Ehe

mit gewiſſen Frauen, aber ohne dabey dieſen ſpeciellen

Fall zu nennen. Dieſe Verſchiedenheiten ſind nur durch eine

genaue hiſtoriſche Unterſuchung zu erklären (Beylage VII.).

 

4) Der Mann, der ſich fremder Wolluſt überläßt (mu-

liebria passus), iſt infam ſchon nach dem Edict (hh), und

ſelbſt ohne Rückſicht auf Geldgewinn.

 

5) Eben ſo infamirt das Gewerbe einer unzüchtigen

Wirthſchaft ſchon nach dem Edict (qui lenocinium fecerit),

womit auch die Tafel von Heraclea (lin. 123) überein-

ſtimmt (ii). — Inwiefern dieſer Fall der Infamie auf

 

(gg) L. 13 § 3 de his qui not.

(3. 2.).

(hh) L. 1 § 6 de postulando

(3. 1.). L. 31 C. ad L. Jul. de

adult. (9. 9.). — Der muliebria

passus ſtand nicht in dem allge-

meinen Edict über die Infamen

(L. 1 de his qui not. 3. 2.), ſon-

dern wurde noch ungünſtiger als

dieſe behandelt. Von dieſem Un-

terſchied wird ſogleich weiter die

Rede ſeyn. — Die tab. Heracl.

lin. 122. 123 beachtet dieſen Fall

nur unter Vorausſetzung des Geld-

gewinns: „queive corpori (cor-

pore) quaestum fecit fecerit.”

(ii) Hier iſt lenocinium im ei-

gentlichen Sinn zu verſtehen, als

|0198 : 184|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

beide Geſchlechter bezogen wurde, iſt wieder Gegenſtand

einer beſonderen Unterſuchung (Beylage VII.).

V. Einige Gewerbe (noch außer den unter Num. IV.

erwähnten) bewirkten gleichfalls die Infamie, und zwar

ſollten nach dem Edict folgende Perſonen ehrlos ſeyn:

 

1) Wer als Schauſpieler öffentlich aufgetreten war (kk).

 

2) Wer ſich zu den Thierkämpfen vermiethet hatte,

auch wenn er nicht wirklich auftrat: eben ſo auch wer auf

einem Amphitheater im Thierkampf auftrat, wenngleich

ohne Geldlohn (ll).

 

Vergleicht man dieſe ſehr verſchiedenartige Entſtehungs-

gründe der Infamie mit einander, ſo zeigt ſich darin eine

 

gewerbliche Hurenwirthſchaft. L. 4

§ 2. 3 de his qui not. (3. 2.).

Figürlich nannte man ſo auch jede

Beförderung von adulterium oder

stuprum, z. B. wenn ein Ehe-

mann für Geld den Ehebruch ſei-

ner Frau zuließ. Dieſe Fälle ge-

hören aber nicht hierher, ſie wur-

den ganz als adulterium behan-

delt, und unterlagen alſo einem

publicum judicium. L. 2 § 2

L. 8 pr. L. 9 § 1. 2 ad L. Jul.

de adult. (48. 5.).

(kk) Qui artis ludicrae pro-

nunciandive causa in scenam

prodierit. Auch lanistatura war

mit eingeſchloſſen (Tab. Heracl.

lin. 123), aber nicht Athletae

und Designatores (L. 4 pr. § 1

de his qui not. 3. 2.). — Durch

einen Senatsſchluß muß außer-

dem den Vornehmen das Auftre-

ten auf der Bühne geradezu ver-

boten geweſen ſeyn, denn leicht-

ſinnige Jünglinge von Stand lie-

ßen ſich, um ihren Hang zum

Schauſpielerleben zu befriedigen,

zuerſt in einem infamirenden Pro-

zeß verurtheilen, wodurch ſie dann

wieder die Fähigkeit dazu erlang-

ten. Suetonii Tiber. 35.

(ll) L. 1 § 6 de postul. (3. 1.).

Dieſer Fall ſtand wieder nicht un-

ter den gewöhnlichen, ſondern un-

ter den ſchwereren Fällen der In-

famie. Vgl. auch Tab. Heracl.

lin. 112. 113.

|0199 : 185|

§. 77. Infamie. Einzelne Fälle.

zwiefache Ubereinſtimmung. Erſtlich iſt es immer eine

eigene Handlung, woran die Infamie als Folge geknüpft

iſt (mm). Zweytens iſt es die Handlung ſelbſt, die infa-

mirt, niemals eine Art der Strafe, z. B. die körperliche

Züchtigung (nn).

(mm) Davon weicht nur ab das

ſehr ſpäte Geſetz, worin die Söhne

der Hochverräther für ehrlos er-

klärt werden, welches aber auch

von jeher den verdienten Abſcheu

erregt hat. L. 5 § 1. C. ad L.

J. majest. (9. 8.).

(nn) L. 22 de his qui not.

(3. 2.). In Deutſchland hat man

es hierin häufig anders angeſehen.

|0200 : 186|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 78.

Juriſtiſche Bedeutung der Infamie.

Ich will zuerſt in einzelnen Sätzen zuſammen ſtellen,

was für die juriſtiſche Natur der Infamie aus der Be-

trachtung der aufgezählten einzelnen Fälle unmittelbar folgt.

 

1) Es muß ein ſcharf beſtimmter Begriff derſelben an-

gegeben werden können, da nicht nur das Edict die Fälle

einzeln aufzählt, ſondern auch die alten Juriſten über die

Gränzen dieſer einzelnen Fälle genaue Unterſuchungen an-

ſtellen. Eben darauf deutet der Ausdruck, mit welchem

die Ausdehnung der Infamie auf einen neuen Fall bezeich-

net wird: et videlicet omni honore, quasi infamis, ex

Senatusconsulto carebit (a). Offenbar wurde hier der

techniſche Ausdruck eines feſten, bekannten Rechtsbegriffs

vom Senat auf einen neuen Fall angewendet.

 

2) Hieraus folgt aber weiter, daß mit der Infamie

beſtimmte Wirkungen verknüpft ſeyn mußten, weil außer-

dem die genaue Beſtimmung des Begriffs für den prakti-

ſchen Sinn der alten Juriſten kein Intereſſe gehabt ha-

ben würde.

 

3) Die aufgezählten Fälle ſind von zweyerley Art. In

einigen wird die Infamie abhängig gemacht von einem

richterlichen Urtheil, ohne welches ſie nie eintreten kann:

in anderen dagegen von irgend einer außergerichtlichen

 

(a) L. 1 pr. ad L. Jul. de vi priv. (48. 7.).

|0201 : 187|

§. 78. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung.

Thatſache, die demnach als unmittelbar gewiß, oder no-

toriſch, vorausgeſetzt wird. Dieſe verſchiedene Natur der

Bedingungen der Infamie macht es allerdings nöthig, für

die Fälle der erſten Art die Eigenſchaften des Urtheils

feſtzuſtellen, welches zur Erzeugung der Infamie fähig ſeyn

ſoll (b). Neuere Schriftſteller haben hierauf eine Einthei-

lung der Infamie in mediata und immediata gegründet,

die nicht nur überflüſſig und unfruchtbar iſt, ſondern auch

durch die lateiniſchen Ausdrücke zu dem Irrthum verleiten

kann, als fänden ſich dieſe Ausdrücke ſchon in den Quellen.

4) Neben dieſer juriſtiſch beſtimmten Infamie giebt es

manche Fälle, worin das ſittliche Urtheil rechtlich geſinn-

ter und verſtändiger Menſchen, bald wegen einzelner Hand-

lungen, bald wegen der ganzen Lebensweiſe, eben ſo ent-

ſchieden die Ehre abſpricht, als wenn die Bedingungen

der Infamie wirklich vorhanden wären (c). Die Neueren

gründen hierauf die Eintheilung in eine juris und facti in-

famia. In der That iſt nur für die erſte der Name der

Infamie juriſtiſch zu gebrauchen, und die erwähnten Kunſt-

ausdrücke ſind nicht blos deswegen verwerflich, weil ſie

nicht quellenmäßig ſind, ſondern weil ſie leicht zu dem

irrigen Verfahren verleiten, für die infamia facti wiederum

beſtimmte Bedingungen und Wirkungen aufzuſuchen, die

doch nur für die wahre Infamie (die infamia juris) gelten

 

(b) Ausführlich handelt davon

Marezoll S. 123 fg.

(c) Sehr klar iſt dieſes Ver-

hältniß ausgeſprochen in L. 2 pr.

de obsequ. (37. 13.). — Vergl.

darüber auch Donellus Lib. 18

C. 6. § 7.

|0202 : 188|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

können. Alle Wirkungen, die man der infamia facti bey-

zulegen verſucht hat, löſen ſich auf in dem völlig freyen

Ermeſſen, bald der höchſten Gewalt und ihrer Behoͤrden

(bey der Anſtellung von Beamten), bald auch der Richter

(z. B. bey der Glaubwürdigkeit der Zeugen, und bey der

querela inofficiosi der Geſchwiſter); dadurch erſcheint aber

jener vermittlende Begriff der infamia facti nicht nur als

entbehrlich, ſondern auch als verwirrend und zum Irr-

thum verleitend. Die gänzliche Ungleichartigkeit der ſoge-

nannten infamia facti und der wahren Infamie zeigt ſich

darin, daß es für jene an allen ſicheren Kennzeichen fehlt:

theils weil die gegründete üble Meynung in den verſchie-

denſten Abſtufungen, ohne feſte Gränzen, vorkommt; theils

weil die öffentliche Meynung oft im Unrecht iſt, indem ſie

ſich durch Vorurtheile anſtatt ſittlicher Gründe, oder durch

grundlos angenommene Thatſachen, beſtimmen läßt.

Noch verſchieden davon iſt es, wenn gewiſſe Stände

oder Beſchäftigungen als verächtlich angeſehen werden,

ohne daß eine ſolche verbreitete Anſicht durch ſittliche

Gründe gerechtfertigt werden kann: für ſolche Zuſtände

iſt die Bezeichnung eben ſo unbeſtimmt und ſchwankend,

als die Einwirkung auf Rechtsverhältniſſe, die wohl hier

und da vorkommt (d).

 

Worin beſtand nun bey den Römern die Wirkung der

 

(d) Darauf gehen die Aus-

drücke turpes, viles, abjectae,

humiles personae. Vgl. Ma-

rezoll S. 270 fg.

|0203 : 189|

§. 78. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung.

Infamie, woraus allein der beſtimmte, praktiſche Begriff

derſelben gebildet werden kann, den wir nach den ſo eben

angeſtellten Betrachtungen zu erwarten berechtigt ſind?

Fragen wir nach dem Zuſammenhang, worin dieſer

Begriff in den Rechtsquellen unmittelbar vorkommt, ſo

ſcheint Alles einfach und leicht. Die Digeſten enthalten

wörtlich die Stelle des Edicts, worin die Fälle der In-

famie aufgezählt ſind, und woran ſich alle ſpätere Be-

ſtimmungen anſchließen. Der Prätor aber war veran-

laßt, die Infamie im Edict zu erwähnen, weil er nicht

leiden wollte, daß infame Perſonen für Andere poſtuliren,

d. h. vor ſeinem Tribunal Anträge machen ſollten. Darum

ſteht in den Digeſten der Titel de his qui notantur infa-

mia unmittelbar hinter dem de postulando. Mag alſo

auch von jeher ein unbeſtimmter Begriff von Infamie exi-

ſtirt haben, ähnlich dem was unſre Juriſten die infamia

facti nennen, ſo ſcheint doch der Prätor derjenige, wel-

cher zuerſt ihn juriſtiſch auffaßte, ihm feſte Gränzen gab,

und eine beſtimmte Wirkung beylegte. Demnach könnten

wir, wie es ſcheint, den Rechtsbegriff der Infamie ſo

definiren: es iſt der Zuſtand derjenigen Perſonen, welche

in der Regel unfähig ſind, für Andere zu poſtuliren (e).

 

Allein bey genauerer Betrachtung erſcheint dieſe Er-

klärung unhaltbar. Vor Allem muß dabey Jedem ein gro-

 

(e) Dieſes iſt eigentlich die An-

ſicht der Meiſten, nur mehr oder

weniger deutlich ausgeſprochen.

Vgl. unter Anderen Marezoll

S. 99. 208. 212.

|0204 : 190|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ßes Misverhältniß zwiſchen Mittel und Zweck auffallen.

Ehrloſigkeit iſt gewiß etwas Ernſtes und Wichtiges, auch

abgeſehen von beſtimmten rechtlichen Folgen. Dieſes wich-

tige ſittliche Verhältniß nun ſollte in das Rechtsgebiet ein-

geführt ſeyn, lediglich um — die Unfähigkeit zum Poſtu-

liren für Andere zu bezeichnen! Für den Prätor mochte

es eine gewiſſe Wichtigleit haben, ſein Tribunal von un-

würdigen Menſchen rein zu halten; auch war dieſes gewiß

für ihn der einzige Beweggrund, an dieſer Stelle des

Edicts, ja im Edict überhaupt, von der Sache zu reden.

Allein er konnte ja dieſen Zweck völlig erreichen, indem

er dieſelben Perſonen aufzählte, ohne den wichtigen Na-

men der Infamie auf ſie anzuwenden. Wollte man ſagen,

er dachte eben die ſittlich Ehrloſen nun auch juriſtiſch recht

hart zu treffen, indem er ſie vom Poſtuliren für Andere

ausſchloß, ſo iſt zu bedenken, wie unbedeutend eben dieſes

für die Meiſten iſt; denn die Meiſten werden ohnehin kein

beſonderes Bedürfniß dazu haben, und die es gerade ha-

ben möchten, können doch das Auftreten vor dem Prätor

unbemerkt unterlaſſen, alſo ohne daß dadurch ihre Infa-

mie irgend ſichtbar würde. Für die Einzelnen alſo iſt in

der That dieſer Nachtheil faſt unfuͤhlbar, und darin liegt

eben das oben gerügte ſtörende Misverhältniß zwiſchen

Mittel und Zweck.

Allein noch weit entſcheidender gegen die dargeſtellte

Anſicht iſt der wirkliche Inhalt des Edicts ſelbſt, der nun-

mehr angegeben werden ſoll. Der Prätor unterſcheidet

 

|0205 : 191|

§. 78. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung.

die Perſonen, denen er das Poſtuliren unterſagt, nach

drey Klaſſen, wodurch alſo drey Edicte über dieſen Ge-

genſtand entſtehen (f).

Die erſte Klaſſe (oder das erſte Edict) umfaßt Dieje-

nigen, welche ſchlechthin unfähig ſind, alſo nicht einmal

für ſich ſelbſt poſtuliren dürfen. Dahin gehoͤren alle Men-

ſchen unter 17 Jahren, und alle Taube (g); neben dieſen

letzten hätten auch die Stummen ausgeſchloſſen werden

können, allein deren mündliche Anträge waren ohnehin

nicht zu beſorgen.

 

Die zweyte Klaſſe beſteht aus Denjenigen, welche zwar

für ſich ſelbſt, aber durchaus nicht für Andere, poſtuliren

dürfen. Dahin gehören die Frauen (h), die Blinden, und

gewiſſe in höherem Grade ehrloſe Perſonen (in turpitu-

dine notabiles): namentlich Männer, die ſich fremder

Wolluſt überlaſſen, die wegen eines Kapitalverbrechens

Verurtheilten, und Die welche ſich zu den Thierkämpfen

vermietheten (i).

 

In der dritten Klaſſe endlich ſtehen Diejenigen, welche

 

(f) L. 1 § 1. 7. 9 de postulan-

do (3. 1.). „Eapropter tres fe-

cit ordines” — „tres ordines

Praetor fecit non postulantium”

— „si fuerit inter eos, qui ter-

tio Edicto continentur.”

(g) L. 1 § 3 de postul. (3. 1.).

(h) Die Frauen jedoch mit ei-

nigen Ausnahmen: für den Va-

ter durften ſie poſtuliren causa

cognita, wenn er keinen andern

Vertreter finden konnte (L. 41

de proc. 3. 3): ferner durften

ſie für jeden dritten cognitoriam

operam übernehmen, wenn es in

rem suam geſchah (Paulus I. 2

§ 2). Alſo war ihnen die Er-

werbung einer Forderung durch

Ceſſion nicht verſagt.

(i) L. 1 § 5. 6 de postul. (3. 1.).

Dieſe noch unter den Infamen

Ausgezeichneten ſind ſchon oben in

der Reihe aller Infamen mit auf-

geführt worden (§ 77).

|0206 : 192|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

für ſich ſelbſt poſtuliren können, für Andere in der Regel

nicht, wohl aber ausnahmsweiſe unter Vorausſetzung be-

ſonderer Verhältniſſe, wie Verwandtſchaft, Schwäger-

ſchaft, Patronat, Hülfloſigkeit des zu Vertretenden (k).

Dahin gehoͤren:

1) Alle, die durch Volksſchluß, Senatsſchluß, durch

Edict oder Decret des Kaiſers beſonders in dieſen Zu-

ſtand verſetzt werden;

 

2) Außerdem aber hoc edicto continentur etiam alii

omnes, qui Edicto Praetoris ut infames notantur (l).

 

Dieſe letzte Beſtimmung war es, welche den Prätor

veranlaßte, zur Erläuterung derſelben ein Verzeichniß der

Infamen aufzuſtellen, welches alſo ohne Zweifel ein Be-

ſtandtheil des dritten Edicts über die zum Poſtuliren (ganz

oder theilweiſe) unfähigen Perſonen ausmachte (m).

 

Aus dieſem, nicht in die Quellen hinein getragenen,

ſondern in denſelben klar vor uns liegenden, Zuſammen-

hang der Rechtsſätze folgt nun aber, daß die Genealogie

der Begriffe und Kunſtausdrücke eine ganz andere iſt, als

die oben aus unſren neueren Schriftſtellern dargeſtellte.

Der Prätor ſagt nicht: ich verbiete gewiſſen Perſonen zu

 

(k) L. 1 § 8. 11. L. 2 — 5 de

postul. (3. 1.).

(l) L. 1 § 8 de postul. (3. 1.).

(m) Donellus Lib. 18 C. 6

§ 1 nimmt an, der Prätor habe

in einem beſonderen Edict von

den Infamen gehandelt; es iſt

aber viel wahrſcheinlicher, daß die

Edictſtelle in L. 1 de his qui

not. ſich unmittelbar an die in

L. 1 § 8 de postul. anſchloß, und

nur zur Erklärung des tertium

Edictum de non postulantibus

dienen ſollte. Donellus ſcheint

irre geführt zu ſeyn durch die Ge-

ſtalt, welche der Sache in den Di-

geſten durch die Compilatoren ge-

geben worden iſt.

|0207 : 193|

§. 78. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung.

poſtuliren, und will dieſen den Namen Infames hiermit

beylegen; theils wäre nun dieſer Name ganz zwecklos ge-

weſen, theils wäre kein Grund denkbar, warum er dieſen

nen erfundenen Namen nicht eben ſo auf die im § 6 auf-

gezählten in turpitudine notabiles angewendet haben ſollte,

wodurch jener Name zur conſequent durchgeführten Be-

zeichnung aller aus ſittlichen Gründen Unfähigen gewor-

den wäre. Vielmehr ſagt er: zu dem dritten ordo der

Unfähigen gehoͤren unter andern auch alle Infames (inſo-

fern ſie nicht ſchon einzeln im zweyten ordo mit aufge-

führt ſind). Nach dieſer Art des Ausdrucks ſetzt alſo der

Prätor den Begriff der Infames als einen alten, bekann-

ten Rechtsbegriff voraus, deſſen Anwendungsgränzen ihm

auch gar nicht zweifelhaft waren: damit jedoch hierüber

kein Irrthum obwalten oder vorgewendet werden möchte,

ſtellte er vorſichtigerweiſe ein Verzeichniß dieſer dem dritten

ordo non postulantium angehörenden, Infames auf. Es

war aber, nach ſeinem praktiſchen Zweck, ganz conſequent,

hier diejenigen Perſonen nicht aufzunehmen, die er ſchon

im zweyten ordo einzeln genannt hatte, obgleich dieſe

darum nicht minder Infames ſeyn und heißen ſollten (n).

(n) Man könnte einwenden,

der calumniae in judicio publi-

co causa judicatus komme un-

ter den Infames der L. 1 de his

qui not. vor, und ſtehe doch auch

ſchon in dem secundum edictum

der L. 1 § 6 de postul. Allein

in dieſem § 6 wird gar nicht ge-

ſagt, der wegen calumnia Ver-

urtheilte gehöre in den secundus

ordo (d. h. er könne unbedingt

nicht für Andere poſtuliren), ſon-

dern nur, daß bey ihm der Se-

nat noch beſonders verordnet habe,

er dürfe auch nicht einmal vor

dem judex pedaneus poſtuliren.

Der calumniae damnatus wird

alſo nicht in zwey Edicten auf-

II. 13

|0208 : 194|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Demnach hat alſo der Prätor den Begriff der Infames

nicht neu gebildet, ſondern als einen längſt vorhandenen

Begriff vorgefunden, und nur gelegentlich für einen ein-

zelnen, ſeine Amtsverhältniſſe berührenden, Zweck benutzt.

Damit ſteht auch keinesweges im Widerſpruch, daß ein-

mal die alten Juriſten die Infamie ſo bezeichnen, daß

man glauben könnte, ſie wollten den Urſprung derſelben

dem Edict zuſchreiben (o). Denn allerdings war das

Edict die erſte geſchriebene Urkunde, worin die Infamen

vorkamen, und es war alſo natürlich, daß die Juriſten,

wenn ſie den Rechtsbegriff der Infamie recht beſtimmt be-

zeichnen wollten, auf dieſes urkundliche Zeugniß verwie-

ſen, alſo, der Sicherheit und Deutlichkeit wegen, lieber

das neuere geſchriebene Recht, als das ältere ungeſchrie-

bene zur Bezeichnung ihres Gedankens benutzten.

 

geführt, ſondern es wird nur eine

einzelne ihn betreffende Bemer-

kung von dem commentirenden

alten Juriſten nicht ganz am rech-

ten Ort eingeſchaltet.

(o) L. 5 § 2 de extr. cogn.

(50. 13.) „… vel cum plebejus

fustibus caeditur, vel in opus

publicum datur, vel cum in

eam causam quis incidit, quae

Edicto perpetuo infamiae cau-

sa enumeratur.” — L. 2 pr. de

obsequ. (37. 15.) „licet enim ver-

bis Edicti non habeantur infa-

mes ita condemnati” etc.

|0209 : 195|

§. 79. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)

§. 79.

Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.)

Nach der bisherigen Unterſuchung hat der Prätor die

Infamie als ein Rechtsinſtitut nicht eingeführt, ſondern

vorgefunden. Welche Bedeutung hatte ſie nun ſchon vor

dem Edict?

 

Wir denken uns dieſelbe in unſren Zeiten zunächſt als

ein Strafmittel, mag ſie allein eintreten, oder als Erhö-

hung einer andern Strafe; ſie iſt dann der ſehr wirkſame

Ausdruck der Verachtung, die der Staat durch ſeine Or-

gane gegen einen Einzelnen ausſpricht. Allein um ſo zu

wirken, muß ſie im einzelnen Fall beſonders ausgeſpro-

chen werden; ſo lange ſie blos auf einer allgemeinen Re-

gel beruht, bleibt ſie ohne lebendige Wirkung. Oder mit

anderen Worten: dieſe Anſicht möchte noch etwa paſſen

auf die ſogenannte mediata infamia (weil dabey der Rich-

ter ein Urtheil ausſpricht), auf die immediata paßt ſie

gar nicht. Und auch ſelbſt bey der mediata wird ſie da-

durch bedenklich, daß die Römer ſie doch auch nur als

die natürliche Folge des Urtheils anſahen, nie im Urtheil

ſelbſt ausſprachen, welches gerade den lebendigen Eindruck

der als Strafe gedachten Infamie ſo ſehr verſtärkt hätte.

 

Eine öffentliche Meynung über Ehre oder Unehre der

Einzelnen findet ſich überall: doppelt wichtig aber iſt ſie

in einer Republik wie Rom, wo alle Macht und Hoheit

 

13*

|0210 : 196|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

von Volkswahlen ausgeht. Ihrer Natur nach iſt dieſe

Meynung, wie der Sinn der Menge überhaupt, unſicher

und wechslend: gelingt es, ſie zu leiten und zu befeſtigen,

ſo iſt ein Großes gewonnen. Die Römer hatten zwey

Anſtalten, die unmittelbar und vorzugsweiſe hierauf ab-

zweckten (a): beide in ihrem Weſen verſchieden, aber ver-

wandt und einander ergänzend, beide auch unter dieſelbe

Magiſtratur geſtellt. Dieſe Anſtalten ſind die Infamie,

und die freye Gewalt der Cenſoren. Von beiden redet

mit großer Klarheit Cicero in der Rede pro Cluentio.

Die Infamie beruhte auf alten, feſten, durch Überliefe-

rung unzweifelhaften Regeln (moribus): ſie war unab-

hängig von perſönlicher Willkühr, obgleich in vielen Fäl-

len (nicht in allen) durch einen Richterſpruch bedingt.

Weil aber dieſe feſten Regeln für das wirkliche Leben

nicht ausreichten, ſo erhielten ſie eine lebendige Ergänzung

in der den Cenſoren verliehenen freyen Gewalt, nach ih-

rem Gewiſſen Unehre in verſchiedenen Abſtufungen zuzu-

theilen. Dieſe konnten alſo nach ihrem Gutfinden aus

dem Senat oder Ritterſtand ausſtoßen, in eine geringere

(a) Ich ſage unmittelbar, denn

mittelbare Einwirkung auf die

Ehre haben die meiſten Strafen

überhaupt. Darauf geht die Er-

klärung der existimatio als ei-

nes dignitatis inlaesae status in

L. 5 § 1. 2. 3 de extr. cogn.

(50. 13.). Die existimatio kann

bald vermindert werden, bald ver-

nichtet; das erſte geſchieht unter

andern durch Infamie, außerdem

aber auch durch gar manche Stra-

fen ohne Infamie; das zweyte ge-

ſchieht durch Verluſt der Freyheit

oder der Civität, wodurch der bis-

herige Bürger völlig aus dem

Kreiſe ausſcheidet, für welchen die

Bürgerehre exiſtirt. Vgl. über jene

Stelle Beylage VI. Num. IV. V.

|0211 : 197|

§. 79. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)

Tribus verſetzen, aus allen Tribus ausſtoßen, wodurch

der Ausgeſtoßene aerarius wurde und ſein Stimmrecht ver-

lor (b): ſie konnten ſich auch blos mit einem ausgeſproch-

nen Tadel begnügen, indem ſie dem Namen eines Rö-

mers in den Bürgerliſten eine nota censoria hinzufügten (c).

Solche Verfügungen beruhten nicht nothwendig auf einer

genauen Unterſuchung der Thatſachen, vielmehr konnten

auch bloße Gerüchte, ja vorübergehende politiſche Stim-

mungen, Einfluß darauf haben (d). Darum geſchah es

oft, daß eine ſolche censorum opinio durch den Wider-

ſpruch des Collegen, oder durch den Beſchluß der folgen-

den Cenſoren, oder durch Richterſprüche oder Volksſchlüſſe,

wieder entkräftet wurde (e). Sie war alſo durchaus nicht

von ſicherer Dauer (f), und darin völlig verſchieden von

der Infamie, die unabänderlich für das ganze Leben fort-

wirkte (g). — War daher die Ausübung der cenſoriſchen

(b) „de senatu moveri … in

aerarios referri, aut tribu mo-

veri” Cic. pro Cluentio C. 43.

— „aerarium reliquissent” ib.

C. 45.

(c) Die bloße subscriptio oder

notatio censoria kommt oft vor,

z. B. pro Cluentio C. 42. 43. 44.

46. 47. — Es wurden einzelne

Handlungen ausgedrückt, z. B.

„furti et captarum pecuniarum

nomine notaverunt” C. 42, oder

„contra leges pecunias acce-

pisse subscriptum est” C. 43.

(d) pro Cluentio C. 45 und

C. 47 „in istis subscriptionibus

ventum quendam popularem

esse quacsitum .... ex tota ipsa

subscriptione rumorem quen-

dam, et plausum popularem

esse quaesitum.”

(e) pro Cluentio C. 43.

(f) pro Cluentio C. 47 „quid

est, quamobrem quisquam no-

strûm censorias subscriptiones

omnes fixas, et in perpetuum

ratas putet esse oportere?”

(g) pro Cluentio C. 42 „turpi

judicio damnati, in perpetuum

omni honore ac dignitate pri-

vantur.” — Damit ſteht nicht im

Widerſpruch, daß der Kaiſer (frü-

her das Volk), oder auch der Se-

nat reſtituiren konnte; die Will-

|0212 : 198|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Macht über die Bürgerehre, gefährlich wegen der mögli-

chen Willkühr und Ungerechtigkeit (h), ſo wurde dieſe Ge-

fahr dadurch gemildert, daß jedes ſo zugefügte Unrecht

von vielen Seiten her wieder gut gemacht werden konnte.

Die Infamie war gefährlicher durch ihre unveränderliche

Dauer, dagegen beruhte ſie auf feſten, bekannten Regeln,

und ſo konnte ſie Jeder vermeiden.

Dieſe vergleichende Zuſammenſtellung der Infamie mit

der cenſoriſchen Gewalt über die Ehre führt uns nun un-

mittelbar zu dem geſuchten praktiſchen Begriff der Infa-

mie ſelbſt. Dieſelbe beſteht in nichts Anderem, als dem

Verluſt aller politiſchen Rechte bey fortdauernder Civität.

Der Infamis wurde alſo aerarius, er verlor ſein Stimm-

recht und ſeine Wählbarkeit (suffragium et honores), und

die Definition deſſelben wird nun vollſtändig ſo lau-

ten müſſen:

 

kühr einzelner Obrigkeiten konnte

es nicht, und ſelbſt jene feyerliche

Reſtitution mag in der Republik

ſelten oder nie vorgekommen ſeyn.

Der Prätor konnte es nicht, au-

ßer indirect, inſofern durch die ge-

wöhnliche Reſtitution der Grund

der Infamie weggeräumt wurde,

z. B. wenn ein Minderjähriger

wegen nachläſſiger Prozeßführung

in einem famosum judicium ver-

urtheilt wurde, der Prätor ihn

reſtituirte, und nun der neue ju-

dex die Klage abwies. L. 1 § 9.

10 de postul. (3. 1.).

(h) Cicero’s Darſtellung könnte

zu dem Irrthum verleiten, als wä-

ren ſolche Ungerechtigkeiten ganz

gewöhnlich geweſen; man muß

aber bedenken, daß er ein cenſo-

riſches Urtheil zn entkräften hatte,

weshalb es im Intereſſe ſeines

Clienten lag, ſolche Urtheile im

Allgemeinen verdächtig zu machen.

Ohne Zweifel übten die Cenſoren

ihr Amt meiſt mit ernſter und

weiſer Strenge, ſonſt hätte ſich

daſſelbe nicht in ſo großem An-

ſehen erhalten können. Perſönlich-

keiten alſo kamen zwar vor, aber

gewiß nur als ſeltene Ausnah-

men, jedoch lag ihre Möglichkeit

in der Natur des Amtes ſelbſt.

|0213 : 199|

§. 79. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)

Infamis heißt derjenige Römer, welcher in Folge ei-

ner allgemeinen Regel (nicht der cenſoriſchen Will-

kühr), bey fortdauernder Civität, die politiſchen

Rechte derſelben verloren hat.

Ehe ich den Beweis dieſer Behauptung zu führen ver-

ſuche, will ich einige Sätze aufſtellen, die unter Voraus-

ſetzung ihrer Wahrheit daraus nothwendig folgen, und ſo

zur näheren Beſtimmung derſelben dienen:

 

1) Die Infamie erſcheint nun als eine Art von capi-

tis deminutio, und zwar als eine halbe oder unvollſtän-

dige media capitis deminutio, indem ſie die Civität in

ihrem politiſchen Theil zerſtört, in dem privatrechtlichen

unberührt läßt. Die publiciſtiſche Rechtsfähigkeit alſo

wird aufgehoben, die Privatrechtsfähigkeit dauert fort.

 

2) Die Infamie gehoͤrt daher ihrem eigentlichen We-

ſen nach dem öffentlichen Recht an, obgleich ſie nebenher

auch im Privatrecht Wirkungen hervorbringen kann (i).

 

3) Die Wirkung der Infamie iſt dieſelbe, wie die der

cenſoriſchen Macht in ihrer äußerſten Anwendung, und

der Unterſchied liegt nur darin, daß ſie nach allgemeinen

Regeln erfolgt, und daher unabänderlich iſt.

 

4) Die Regeln der Infamie beruhten nicht auf Ge-

ſetzen, ſondern auf alter Volksanſicht (moribus), und ihre

gleichförmige Anerkennung und Beobachtung ſetzte daher

 

(i) Dieſe weſentlich publiciſti-

ſche Natur der Infamie iſt zuerſt

von Burchardi durchgeführt

worden: angedeutet hat ſie ſchon

Hagemeiſter, indem er am

Schluß ſeiner Abhandlung (p. 181)

dieſer Lehre ihren Platz bey dem

jus civitatis anweiſt.

|0214 : 200|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

eine verfaſſungsmäßige Aufſicht voraus. Dieſe nun war

wiederum den Cenſoren anvertraut, welche jedesmal die

Mitglieder des Senats, der Tribus u. ſ. w. neu verzeich-

neten, und dadurch Gelegenheit hatten, den Infamen un-

ter die Ärarier einzutragen, alſo von allen Tribus aus-

zuſchließen. Sie thaten dann in Vollziehung einer feſten

Regel, was ſie in anderen Fällen aus eigenem Gutfinden

thun mochten, ſo daß ſie eine zwiefache Einwirkung hat-

ten, indem ſie die Regel der Infamie theils zur Anwen-

dung brachten, theils durch eigenes Ermeſſen ergänzten (k).

Wären ſie aber nachläſſig geweſen in der Übung ihres

Amtes, ſo konnte gewiß auch jeder Conſul oder Prätor,

der die Comitien hielt, den Ehrloſen zurückweiſen, wenn

dieſer als Candidat auftreten, ja ſelbſt wenn er nur ſeine

Stimme abgeben wollte.

5) Dieſe Bedeutung der Infamie mußte unter den

Kaiſern bald ihre Wichtigkeit verlieren, als die politiſchen

Rechte der Civität in den Hintergrund traten, und die

alten Formen der Tribus, der Bürgerliſten ꝛc. in ihrer

Reinheit nicht mehr erhalten wurden. Von dieſer Zeit

an blieb die Infamie nur noch in Nebenwirkungen ſicht-

bar, und daraus erklärt ſich die räthſelhafte Geſtalt,

worin ſie in unſren Rechtsquellen erſcheint.

 

(k) Vergl. hierüber beſonders Niebuhr B. 2 S. 448 — 451

(ed. 2 und 3).

|0215 : 201|

§. 80. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)

§. 80.

Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.)

Ich will nunmehr den Beweis führen, daß in der

That das Weſen der Infamie in dem Verluſt aller poli-

tiſchen Rechte des Römiſchen Bürgers beſtand: und zwar

zuerſt für jeden der beiden Beſtandtheile dieſer Rechte (ho-

nores und suffragium) einzeln, dann für beide zuſammen-

genommen.

 

1) Verluſt der honores. Dieſer Ausdruck iſt hier in

der ausgedehnten Bedeutung einer jeden hoͤheren politi-

ſchen Stellung (dignitas) zu nehmen, nicht blos für Ma-

giſtraturen. Ferner hat er den zwiefachen Sinn, daß

darin ſowohl der Verluſt einer gegenwärtigen Auszeich-

nung, als die Unfähigkeit zu jeder künftigen, enthalten iſt.

 

Dieſer Theil meiner Behauptung kann am wenigſten

bezweifelt werden. Cicero ſagt ausdrücklich, die Infamie

ſchließe für immer von honor und dignitas aus (§ 79. g).

Eben ſo wird in einem Senatsſchluß anerkannt, daß es

zum Weſen eines Infamis gehöre, von jedem honor aus-

geſchloſſen zu ſeyn (§ 78. a). — Derſelbe Rechtsſatz hat

ſich nachher durch alle Zeiten der Kaiſerregierung erhal-

ten (a). Nur hatte er hier, durch die veränderte Verfaſ-

ſung, eine ſehr veränderte Stellung angenommen. Er

 

(a) L. un. C. de infam. (10. 57.), L. 3 C. de re mil. (12.

36.), L. 8 C. de decur. (10. 31.).

|0216 : 202|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

war nicht mehr, wie früher, eine ſcharf beſtimmte Rechts-

regel, unabänderlich bindend für alle ausführende Behör-

den, ſondern mehr eine Ankündigung desjenigen, was der

Kaiſer in einzelnen Fällen thun werde, wobey er ſich na-

türlich vorbehielt, nach Umſtänden den Begriff der Infa-

mie, wenn von der Ertheilung eines Amtes die Rede war,

einzuſchränken oder auszudehnen. So erklären ſich die

ſehr ſchwankenden Ausdrücke einer Verordnung von Con-

ſtantin, welche freylich für die frühere Verfaſſung unpaſ-

ſend geweſen wären, der Zeit dieſes Geſetzes aber ganz

angemeſſen waren (b). — Auch die Tafel von Heraklea

beſtätigt jenen Rechtsſatz, wie dieſes weiter unten genauer

angegeben werden wird.

2) Verluſt des suffragium, oder was daſſelbe ſagt, Aus-

ſtoßung aus allen Tribus, Verſetzung unter die Ärarier (c).

 

(b) L. 2 C. de dign. (12. 1.).

„Neque famosis, et notatis, et

quos scelus aut vitae turpitudo

inquinat, et quos infamia ab

honestorum coetu segregat, dig-

nitatis portae patebunt.” —

Mit Recht bemerkt Burchardi

p. 58, daß hier der beſtimmte Be-

griff der juriſtiſchen Infamie ver-

laſſen, und der unbeſtimmte ei-

ner infamia facti ſubſtituirt ſey.

Nur iſt es unrichtig, darin eine

Veränderung der juriſtiſchen Lehre

der Infamie zu ſuchen, und noch

weniger iſt Grund vorhanden, eine

Juſtinianiſche Interpolation anzu-

nehmen. Die Schlußworte ſagen

ja ſehr deutlich nicht mehr als Fol-

gendes: „Solche ſchlechte Men-

ſchen ſollen ſich keine Hoffnung

machen, jemals Auszeichnungen

vom Kaiſer zu erhalten.“ Darin

liegt nun kein Rechtsſatz, der ge-

nau beſtimmter Bedingungen be-

dürftig oder empfänglich wäre.

(c) Zur Rechtfertigung dieſer

Ausdrücke mag hier Folgendes die-

nen. So lange in Rom drey

völlig getrennte Comitien exiſtir-

ten, war die Theilnahme an ir-

gend einer Tribus Bedingung der

Stimmfähigkeit nur für die tri-

buta comitia, nicht für die an-

deren Comitien. Allein ſchon früh

änderte ſich dieſes. Die Curien

verſchwanden, und erhielten ihr

|0217 : 203|

§. 80. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)

Dieſer Satz iſt es, der wohl am erſten bezweifelt wer-

den könnte. Denn wenngleich bey der vollſtändigen oder

unvollſtändigen Ertheilung der Civität an fremde Städte

suffragium und honores ſtets verbunden genannt werden,

ſo ließe es ſich doch bey einer poſitiven Anſtalt, wie die

Infamie, ſehr wohl denken, daß man dem Ehrloſen das

höhere Recht der Wählbarkeit entzogen, das niedere Recht

der Stimmfähigkeit aber gelaſſen hätte. Daß dieſes je-

doch nicht ſo war, ſondern vielmehr der Infame auch

das suffragium verlor, ergiebt ſich aus folgenden Zeug-

niſſen. Zuerſt ſtellt Cicero in den oben angeführten Stel-

len (§ 79. b. g) das Verhältniß der cenſoriſchen Ehren-

kränkung zur Infamie ſo dar, daß jene leichter und will-

kührlicher eintreten kann, dieſe aber in ihrer Wirkung ge-

waltiger und verderblicher erſcheint. Da er nun eben da-

ſelbſt als das äußerſte Ziel der cenſoriſchen Willkühr die

Herabſetzung eines Bürgers zum Ärarier angiebt, ſo kann

die Wirkung der Infamie unmöglich geringer als die äu-

ßerſte Wirkung jener Willkühr angenommen werden.

 

Noch unmittelbarer aber beſtätigen die aufgeſtellte Be-

 

Andenken nur noch in einer lee-

ren Formalität: die Centurien

aber kamen mit den Tribus in

eine ſolche Verbindung, daß ſie

als Theile derſelben angeſehen

wurden. (Cicero pro Plancio

C. 20 und viele andere Stellen.)

Von dieſer Zeit an war die

Stimmfähigkeit überhaupt gleich-

bedeutend geworden mit der Stel-

lung in irgend einer Tribus, und

der unter die Ärarier Verſtoßene

verlor mit der Tribus zugleich

das Stimmrecht, und die Fähig-

keit ſo wie die Verpflichtung zum

regelmäßigen Kriegsdienſt. Nie-

buhr B. 1 S. 492 — 495 ed. 4

(521 — 524 ed. 3); vergl. B. 3

S. 346 — 352, S. 383 — 384.

|0218 : 204|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

hauptung mehrere Stellen, welche übereinſtimmend von

den Schauſpielern ſagen: tribu moventur. So Livius

und Valerius Maximus, welche von der Aufführung des

von den Oskern herſtammenden Schauſpiels der Atellanen

als etwas Beſonderes bemerken, daß dieſelbe nicht, ſo wie

das gewöhnliche Schauſpiel, den Darſteller aus der Tri-

bus ſtoße, und zum Dienſt in den Legionen untauglich

mache (d). Eben ſo ſagt ganz allgemein Auguſtin von

den Schauſpielern, daß ſie (nach dem Eintritt in dieſes

Gewerbe) durch die Cenſoren aus ihrer Tribus geſtoßen

würden (e). Da nun die Schauſpieler gewiß ehrlos

waren (§ 77), ſo iſt Nichts natürlicher als anzunehmen,

(d) Livius VII. 2. „Quod ge-

nus ludorum ab Oscis accep-

tum tenuit juventus, nec ab hi-

strionibus pollui passa est.

Eo institutum manet, ut acto-

res Atellanarum nec tribu mo-

veantur, et stipendia, tamquam

expertes artis ludicrae, fa-

ciant.” — Valer. Max. II. 4

§ 4. „Nam neque tribu move-

tur, neque a militum stipendiis

repellitur.”

(e) Augustinus de civitate

Dei II. 13. „Sed, sicut apud

Ciceronem idem Scipio loqui-

tur, cum artem ludicram sce-

namque totam probro ducerent,

genus id hominum non modo

honore civium reliquorum ca-

rere, sed etiam tribu moveri

notatione censoria voluerunt.”

Burchardi p. 46 ſieht dieſe Stelle

als einen Gegengrund an, indem

nach ihr erſt der Wille des Cen-

ſors, alſo nicht ſchon die Infa-

mie an ſich ſelbſt, den Schauſpie-

ler aus der Tribus entferne; er

weiß dieſem Einwurf nur dadurch

zu begegnen, daß er einen Irr-

thum des Auguſtin annimmt, und

denſelben aus der damals ſchon

längſt untergegangenen Cenſur er-

klärt. Bedenkt man aber, daß

den Cenſoren die Ausführung der

Regeln über die Infamie oblag

(§ 79), und daß ſie es waren,

die jedesmal neue Tribusliſten an-

fertigten, und aus denſelben die-

jenigen Bürger wegließen, welche

ſeit dem letzten Cenſus infam ge-

worden waren, ſo liegt in jener

Stelle kein Widerſpruch gegen un-

ſre gemeinſchaftliche Anſicht, und

man kann höchſtens dem Auguſtin

vorwerfen, daß er nicht vorſich-

tig genug einen Ausdruck ge-

|0219 : 205|

§. 80. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)

daß ihre Entfernung aus der Reihe der ſtimmfähigen Bür-

ger lediglich eine Folge ihrer Infamie war, wodurch eben

unſre Behauptung beſtätigt wird. Ja Auguſtin drückt in

der angeführten Stelle dieſen Zuſammenhang faſt wörtlich

aus, indem er die Infamie der Schauſpieler mit ihrer

Ausſtoßung aus der Tribus unmittelbar zuſammenſtellt,

und ſo beides gewiſſermaßen identificirt (f).

brauchte, der gewöhnlicher von der

cenſoriſchen Willkühr gebraucht

wurde, an ſich aber auch für die

eigentliche Infamie (wovon er

redete) nicht unpaſſend war.

(f) Allerdings könnte noch aus

der unverkennbaren Zweydeutig-

keit des Ausdrucks tribu movere

ein Zweifel hergenommen wer-

den. Tribu movere heißt wört-

lich: einen Bürger aus der Tri-

bus, worin er bisher ſtand, ent-

fernen. Daneben iſt nun zweyer-

ley denkbar: er kann in eine an-

dere, nur geringere, Tribus (aus

einer rustica in eine urbana)

verſetzt, oder aber in gar keine

Tribus gebracht, alſo zum Ära-

rier gemacht werden. (Nie-

buhr II. 448). Wird der Aus-

druck von einer willkührlichen

Handlung der Cenſoren gebraucht,

ſo giebt man ihm wohl den er-

ſten Sinn, und unterſcheidet ihn

von dem in aerarios referre.

So thut es Cicero (§ 79. b),

und eben ſo kommt der Ausdruck

vor in der merkwürdigſten Stelle

über dieſen Sprachgebrauch (Liv.

XLV. 15), welche unten (§ 81. c)

erklärt werden wird. — Wird da-

gegen das tribu moveri als Folge

einer allgemeinen Regel (wie hier

bey den Schauſpielern) bezeichnet,

ſo iſt es ohne Zweifel gleichbe-

deutend mit in aerarios referri:

theils weil ja ſonſt die Angabe,

wegen der fehlenden Bezeichnung

der neuen geringeren Tribus, ganz

unvollſtändig bliebe, theils weil

überhaupt die bloße Herabſetzung

in eine geringere Tribus zu der

willkührlichen Verfügung eines

Cenſors ſehr gut paßt, aber als

Folge einer allgemeinen Regel ge-

dacht, zu ſubtil und kleinlich iſt,

und daher nicht mit Wahrſchein-

lichkeit angenommen werden kann.

Daß aber Livius und Valerius

Maximus (Note d) unter tribu

movere die Ausſtoßung aus allen

Tribus verſtehen, wird völlig un-

zweifelhaft durch die damit in Ver-

bindung geſetzte Unfähigkeit zum

Kriegsdienſt: denn dieſe Unfähig-

keit war nur die Folge der Aus-

ſtoßung aus allen Tribus (Note c),

nicht der bloßen Herunterſetzung

in eine weniger vornehme.

|0220 : 206|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Jetzt erſt iſt es möglich, das etwas dunkle Verhältniß

der Tafel von Heraklea zu dem Edict über die Infamia

feſtzuſtellen. Der in jener Inſchrift enthaltene Volksſchluß

ſagt kein Wort von Infamie, aber er ſtellt, mit wenigen

Abweichungen, dieſelben Fälle zuſammen, welche der Prä-

tor als Fälle der Infamie aufzählt. Dieſe Zuſammen-

ſtellung aber hat in dem angeführten Volksſchluß den

Sinn, daß den hier bezeichneten Perſonen verboten wird,

Senatores, Decuriones, Conscripti ihrer Stadt zu ſeyn,

ihre Stimme im Stadtſenat abzugeben, die mit dieſen

Stellen verknüpften Ehren zu genießen, imgleichen Magi-

ſtraturen zu erlangen, welche den Eintritt in den Senat

geben: Alles bey Strafe von 50000 Seſterzen (2500 Tha-

ler) für die Unfähigen, welche ſich dennoch einzudrängen

ſuchen (lin. 109 — 110. 124 — 141). Hierin könnte man

nun theils eine Beſtätigung, theils eine Widerlegung un-

ſrer aufgeſtellten Anſicht finden wollen: eine Beſtätigung,

inſofern hier ungefähr dieſelben Perſonen, die das Edict

als Infames aufzählt, von allen Ehren und Würden aus-

geſchloſſen werden; eine Widerlegung, inſofern hier nicht

zugleich die Entziehung des Stimmrechts an jene Eigen-

ſchaften geknüpft wird. Dieſen Einwurf kann man nicht

etwa durch die Annahme entfernen, daß die Municipien

und Colonien damals überhaupt keine Volksverſammlun-

gen mehr gehabt hätten, denn ſolche werden ſogar in

derſelben Lex ausdrücklich erwähnt (g). Vielmehr iſt das

 

(g) Tab. Heracl. lin. 132 „neve quis ejus rationem comitiis

conciliave habeto.”

|0221 : 207|

§. 80. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)

wahre Verhältniß dieſes. Die Theilnahme an der Römi-

ſchen Volksverſammlung, welche über die höchſten Inte-

reſſen des ganzen Reichs entſchied, war ungleich wichti-

ger, als die an den Comitien einer einzelnen Landſtadt.

Es war alſo gar nicht inconſequent, die Perſonen, welche

von alter Zeit her in Rom als Infames galten, in Rom

von den Comitien auszuſchließen, in den Municipien aber

zuzulaſſen: während ihnen alle höhere Ehren auch in den

Municipien verſagt ſeyn ſollten. Dann lag darin ein er-

ſter großer Schritt zu der unter den Kaiſern immer voll-

ſtändiger durchgeführten Umbildung der Landſtädte in ari-

ſtokratiſche Corporationen (h): eine Maaßregel, die ohne-

hin unvermeidlich war, wenn die monſtröſe Verbreitung

der Civität über ganz Italien nicht völlig ſinnlos bleiben

ſollte. — Sieht man die Sache von dieſer Seite an, wo-

durch allein jener räthſelhafte Volksſchluß Licht erhalten

kann, ſo liegt auch darin wieder eine Beſtätigung unſrer

allgemeinen Anſicht von der weſentlich publiciſtiſchen Na-

tur aller Infamie.

Vergleichen wir nun die einzelnen Fälle der Infamie,

ſo wie ſie von einer Seite in dem Edict, von der ande-

ren in der Tafel von Heraklea aufgezählt werden, ſo fin-

den wir bey den meiſten Fällen völlige Übereinſtimmung,

und dieſe iſt ſchon oben (§ 77) bey jedem derſelben be-

merkt worden. Daß die Tafel zuweilen eine größere

 

(h) Vergl. Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 1

§ 6. 7.

|0222 : 208|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Strenge zeigt (§ 77. c), würde ſich ungezwungen daraus

erklären, daß ſie auch nur von höheren Ehren ausſchlie-

ßen wollte, wobey man allerdings ſtrenger verfahren

konnte. Auffallender iſt es, daß umgekehrt einige Fälle

fehlen, die das Prätoriſche Edict mit aufzählt, nament-

lich der Fall der übereilten zweyten Ehe, und der Dop-

pelehe; eben ſo, daß der Mann, der ſich fremder Wolluſt

hingiebt, nur dann ausgeſchloſſen ſeyn ſoll, wenn er es

für Geld thut (§ 77. hh). Hier muß man annehmen, daß

nach der Zeit dieſer Lex die Anſichten ſtrenger geworden,

und mit dieſer groͤßeren Strenge in das Edict übergegan-

gen waren: vielleicht war zur Zeit der L. Julia und Papia

Poppaea dieſer Zuſatz in das Edict gekommen; vielleicht

auch (wenn etwa doch jene Stellen des Edicts älter wa-

ren) nahm die Tafel von Heraklea auf Verſchiedenheiten

des Familienrechts Rückſicht, wie ſie in manchen Theilen

von Italien vorkommen mochten, und in welche man durch

jenes blos politiſche Geſetz gerade nicht eingreifen wollte.

Weniger Schwierigkeit macht es, daß die actio vi bono-

rum raptorum in dem Volksſchluß fehlt: denn von dieſer

wiſſen wir, daß ſie nur aus Veranlaſſung der Bürger-

kriege eingeführt wurde (i), und dieſe in den vorüberge-

henden Zeitumſtänden gegründete Veranlaſſung mag die Ur-

ſache geweſen ſeyn, daß das bleibende Geſetz für die Mu-

nicipien jene Klage nicht erwähnte.

(i) Savigny in der Zeitſchrift für geſchichtliche Rechtswiſſen-

ſchaft B. 5 S. 126 — 130.

|0223 : 209|

§. 81. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)

§. 81.

Juriſtiſche Bedeutung der Infamie. (Fortſetzung.)

Folgende Zeugniſſe endlich beſtätigen meine Behaup-

tung in ihrem ganzen Zuſammenhang, für honores und

suffragium zugleich, indem ſie die Infamie als eine Ka-

pitalſache, als eine capitis deminutio, anerkennen, wel-

ches ſich nur aus der hier aufgeſtellten Anſicht von dem

Verluſt der politiſchen Hälfte der Civität erklären läßt (§ 79).

 

Von den drey infamirenden Klagen, fiduciae, tutelae,

societatis, ſagt Cicero in der Rede pro Roscio (Cap. 6),

ſie ſeyen summae existimationis, et paene dicam capitis.

— Eine andere Rede des Cicero, pro Quinctio, beſchäf-

tigt ſich mit der Frage, ob ſein Client in der That einen

rechtsgültigen Concurs (possessio bonorum) erlitten habe,

und er nennt dieſe Sache wiederholt und ganz beſtimmt

eine capitis causa (Cap. 8. 9. 13. 22), welches durchaus

nicht anders zu erklären iſt, als aus der mit dem Con-

curſe verbundenen Ehrloſigkeit (§ 77). Ja in einer Stelle

dieſer Rede bezeichnet er geradezu das ſchwere Schickſal,

welches er von ſeinem Clienten abzuwenden ſucht, als In-

famie (Cap. 15), ſo daß aus dem Zuſammenhang dieſer

Rede die Identität der Infamie mit der capitis causa un-

zweifelhaft hervorgeht.

 

Noch unmittelbarer aber gehört hierher eine Stelle des

Tertullian, welche den Schauſpielern die Infamie zu-

ſchreibt, zugleich aber ihren Zuſtand eine capitis minu-

 

II. 14

|0224 : 210|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

tio nennt, und dann im Einzelnen als die Entfernung von

allen Ehren und Auszeichnungen darſtellt (a). — Damit

ſtimmt überein das von Modeſtin angeführte Reſcript des

K. Severus, nach welchem die Entſetzung aus dem Senat

nicht als capitis minutio angeſehen werden ſoll (b). Die-

ſer Ausdruck kann nur gebraucht ſeyn in der Abſicht, den

bloßen Verluſt der Senatorenwürde von der in der In-

famie liegenden Unfähigkeit zu allen Würden überhaupt,

ſcharf zu unterſcheiden, und der Kaiſer will alſo eigentlich

ſagen: die Abſetzung eines Senators infamirt nicht; da er

nun dieſen Sinn durch die Verneinung der capitis mi-

nutio ausdrückt, ſo wird dadurch deren Identität mit der

Infamie gleichfalls anerkannt.

(a) Tertullianus de Specta-

culis C. 22. „Quadrigarios, sce-

nicos … manifeste damnant

ignominia et capitis minutio-

ne, arcentes curia, rostris, se-

natu, equite, ceterisque hono-

ribus.” Dürfte man bey dieſem

Schriftſteller jeden einzelnen Aus-

druck ganz genau nehmen, ſo

könnte das rostris neben den an-

deren verlornen Rechten nur noch

bedeuten die Erſcheinung vor den

rostris, alſo die Theilnahme an

der Volksverſammlung; dann läge

in dieſer Stelle wieder ein un-

mittelbares Zeugniß dafür, daß

der Infame Ärarier wurde.

(b) L. 3 de senator. (1. 9.).

„Senatorem remotum senatu ca-

pite non minui, sed morari Ro-

mae, D Severus et Antoninus

permiserunt.” Daß hier eigent-

lich die Infamie verneint werden

ſollte, zeigt beſonders der Zuſatz

sed morari Romae, welcher auf-

fallend iſt, da ja ſonſt ſelbſt die

wirklich eintretende capitis demi-

nutio den Aufenthalt in Rom

nicht verhindert. Dieſer Zuſatz

bezieht ſich darauf, daß die ſchimpf-

lich entlaſſenen Soldaten (die

wirklich infam waren) Rom und

jeden anderen Aufenthalt des Kai-

ſers meiden mußten (L. 2 § 4

de his qui not. L. 3 C. de re

mil.). Das Reſcript will alſo ſa-

gen, man ſolle ſich nicht durch

dieſe ſcheinbare Analogie verleiten

laſſen zu glauben, der abgeſetzte

Senator werde (gleich jenen Sol-

daten) infam, oder müſſe gar

Rom verlaſſen.

|0225 : 211|

§. 81. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)

Endlich ſteht damit auch noch im Zuſammenhang eine

ſchon oben erwähnte merkwürdige Stelle des Livius

(XLV. 15). Schon früher waren wiederholt alle Frey-

gelaſſene in die weniger geachteten vier ſtädtiſchen Tribus

geſetzt worden. Bald aber wurde dieſe Einſchränkung

durch regelmäßige Ausnahmen gemildert, bald auch durch

bloßen Misbrauch aus den Augen geſetzt, ſo daß ſich

Freygelaſſene durch alle Tribus zerſtreut fanden. Dieſes

Ubel von Grund aus zu heben, beſchloß endlich der Cen-

ſor Gracchus, die Freygelaſſenen aus allen Tribus zu

ſtreichen, das heißt zu Arariern zu machen, oder des

Stimmrechts zu berauben. Allein ſein College Claudius

widerſetzte ſich dieſer Maasregel, die er als gewaltſam

und ungerecht bezeichnete. Endlich einigten ſich beide Cen-

ſoren dahin, daß die Freygelaſſenen nicht das Stimmrecht

verlieren, aber in die ſtädtiſchen Tribus zurückgebracht

werden ſollten, und zwar nicht in alle Vier vertheilt, ſon-

dern ausſchließend in eine derſelben, welche durch das Loos

beſtimmt wurde. In der Rede nun, worin Claudius die

gänzliche Ausſchließung bekämpft, drückt er ſich ſo aus:

negabat … suffragii lationem injussu populi censorem

cuiquam homini, nedum ordini universo, adimere posse.

Neque enim, si tribu movere posset, quod sit nihil aliud,

quam mutare jubere tribum, ideo omnibus XXXV tribu-

bus emovere posse, id est civitatem libertatemque eri-

pere (c). Hier iſt deutlich geſagt, die Entziehung des

 

(c) Hier wird ſchärfer als irgendwo die bloße Verſetzung in

14*

|0226 : 212|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Stimmrechts, oder die Entfernung aus allen Tribus, ſey

ein Verluſt der Civität (nämlich der politiſchen Hälfte der

Civität, nicht der privatrechtlichen). Sieht man es nun

durch die im § 80 beygebrachten Zeugniſſe als erwieſen

an, daß der Infame aus allen Tribus ausſchied, ſo muß

ihm nach dem Ausdruck dieſer Rede des Claudius zugleich

der Verluſt der (politiſchen) Civität, folglich eine capitis

deminutio, zugeſchrieben werden.

Unter den Kaiſern aber verloren bald die politiſchen

Rechte der Civität ihre frühere Wichtigkeit, und dieſe in

der Sache ſelbſt eingetretene Veränderung blieb nicht ohne

Einfluß auf die Anſicht und den Sprachgebrauch der Ju-

riſten. Von jetzt an wurden die Ausdrücke capitis demi-

nutio und capitalis causa nicht mehr auf die Fälle der

 

eine geringere Tribus von der

Ausſtoßung aus den Tribus über-

haupt unterſchieden, und jenes

erſte allein wird durch tribu mo-

vere bezeichnet: allein dieſes ge-

ſchieht auch lediglich in einem Fall

cenſoriſcher Willkühr, und beſtä-

tigt alſo den oben (§ 80. f) näher

beſtimmten Sprachgebrauch. Ganz

eben ſo verhält es ſich mit einer

gleich folgenden Stelle deſſelben

Kapitels, die von denſelben Cen-

ſoren Folgendes erzählt: „Plures,

quam a superioribus, et senatu

emoti sunt, et equos vendere

jussi. Omnes iidem ab utro-

que et tribu remoti, et aerarii

facti.” Hier wird, eben ſo wie

bey Cicero (§ 79. b), Beides als

verſchieden dargeſtellt. — Wenn

übrigens Claudius in ſeiner Rede

den Cenſoren das Recht abſpricht,

einen Bürger aus allen Tribus

auszuſtoßen, (oder zum Ärarier

zu machen), ſo läßt ihn damit

Livius ſeine Behauptung polemiſch

auf die äußerſte Spitze treiben;

denn daß ſie in der That jenes

Recht hatten, zeigt nicht nur das

Zeugniß des Cicero (§ 79. b),

ſondern ſogar die eigene Hand-

lung deſſelben Claudius nach der

ſo eben mitgetheilten Erzählung

von den ausgeſtoßenen Senatoren

und Rittern, die er, gemeinſchaft-

lich mit ſeinem Collegen, zu Ära-

riern machte.

|0227 : 213|

§. 81. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. (Fortſetzung.)

bloßen Infamie, ſondern nur noch auf den Verluſt der

ganzen, vollſtändigen Civität angewendet. Erſt dadurch

erhielt der Begriff der capitis deminutio diejenige aus-

ſchließende Beziehung auf die privatrechtliche Rechtsfähig-

keit, welche wir in unſren Rechtsquellen wahrnehmen

(Beylage VI. Num. XIII.). — Dieſe Veränderung des

Sprachgebrauchs wird ausdrücklich erwähnt in folgender

merkwürdigen Stelle des Modeſtin:

L. 103 de V. S. (50. 16.).

Licet capitalis latine loquentibus omnis causa exi-

stimationis videatur, tamen appellatio capitalis, mor-

tis vel amissionis civitatis intelligenda est.

Das heißt: nach dem jetzt geltenden Sprachgebrauch (der

Juriſten und der Kaiſergeſetze) gilt nur der Tod und der

Verluſt der Civität als Kapitalſtrafe, obgleich in den klaſ-

ſiſchen Schriftſtellern (latine loquentibus) auch ſchon die

Infamie als Kapitalſtrafe bezeichnet wird (d). — Was

nun in dieſer Stelle als juriſtiſcher Sprachgebrauch all-

gemein bezeugt wird, das findet ſich durch die in vielen

 

(d) Modeſtin bezeichnet alſo den

Gegenſatz eines älteren und neue-

ren Sprachgebrauchs, welcher zu-

gleich mit dem des nichtjuriſti-

ſchen und juriſtiſchen zuſammen

fällt, weil ſich der neuere in Folge

einer Reflexion der Juriſten ge-

bildet hatte. Marezoll S. 112.

113 erklärt irrig das latine lo-

quentibus von dem Sprachge-

brauch des gemeinen Lebens, und

nimmt die oben angeführten Stel-

len des Cicero für redneriſche

Übertreibung; in der Stelle pro

Roscio möchte das noch etwa gel-

ten, in der pro Quinctio, wo der

Ausdruck ſo oft, und ganz wie

etwas allgemein Bekanntes ge-

braucht wird, iſt es ganz un-

möglich.

|0228 : 214|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

anderen Stellen vorkommende Anwendung vollkommen be-

ſtätigt (e).

(e) § 2 J. de publ. jud. (4. 18.).

„Capitalia dicimus, quae ulti-

mo supplicio afficiunt, vel aquae

et ignis interdictione, vel de-

portatione, vel metallo. Ce-

tera si quam infamiam irro-

gant cum damno pecuniario,

haec publica quidem sunt, non

tamen capitalia.” § 5 J. de cap.

dem. (1. 16.), L. 28 pr. § 1

L. 2 pr. de publ. jud. (48. 19.),

L. 14 § 3 de bon. libert. (38. 2.),

L. 6 C. ex quib. caus. inf. (über

dieſe letzte Stelle vgl. Beylage VI.

Num. V.). — Nicht ganz ſtimmt

damit überein das Reſcript von

Severus (Note b). Indeſſen kann

bey einer ſolchen, gewiß allmäli-

gen, Veränderung des Sprachge-

brauchs einiges Schwanken nicht

befremden, auch deutet doch das

erwähnte Reſcript nur negativ,

alſo indirect, auf den älteren

Sprachgebrauch hin, nicht indem

es eine eigene Behauptung auf

denſelben gründet.

|0229 : 215|

§. 82. Infamie. Nebenwirkungen.

§. 82.

Nebenwirkungen der Infamie.

Es iſt bisher gezeigt worden, daß das Weſen der In-

famie publiciſtiſch war: darum aber iſt es nicht minder

wahr, daß ſie nebenher manche Einwirkungen auf das

Privatrecht hatte, welche nunmehr dargeſtellt werden ſollen.

 

1) Die erſte privatrechtliche Wirkung der Infamie,

die ſchon oben erwähnt worden iſt (§ 78), beſteht in der

beſchränkten Fähigkeit zu poſtuliren. Es ſollte nämlich

der Infame nur für ſich ſelbſt vor dem Prätor Anträge

machen dürfen, oder für ſolche Perſonen, welche mit ihm

in einem beſonders nahen Verhältniß ſtänden (§ 78. i):

in der Regel alſo für fremde Perſonen nicht.

 

Daraus folgte zunächſt, daß der Infame in der Regel

(d. h. mit Ausnahme der erwähnten perſönlichen Verhält-

niſſe), nicht Cognitor werden konnte (a): eben ſo wenig

 

(a) Fragm. Vatic. § 324. „Ob

turpitudinem et famositatem

prohibentur quidem (ms. qui-

dam) cognituram suscipere, ad-

sertionem non, nisi suspecti

praetori.” Paulus I. 2 § 1.

„Omnes infames, qui postulare

prohibentur, cognitores fieri

non possunt, etiam volentibus

adversariis.” — Man könnte in

der erſten Stelle das quidam der

Handſchrift dadurch zu retten ver-

ſuchen, daß man es als eine Hin-

deutung auf die Ausnahme der

nahe ſtehenden Perſonen anſähe;

allein theils paßt quidam wohl

als Bezeichnung einer Ausnahme,

aber nicht (wie es hier ſeyn müßte)

einer vorherrſchenden Regel, theils

iſt das quidem durch den Gegen-

ſatz der Adſertion gegen die Cogni-

tur hinlänglich motivirt. Der Ju-

riſt übergieng die Ausnahme mit

Stillſchweigen, da es ihm gerade

nur um den erwähnten Gegen-

ſatz zu thun war. — Merkwürdi-

|0230 : 216|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

aber auch Procurator, da die perſönlichen Hinderniſſe

der Cognitur auch auf die Procuratur allgemein ange-

wendet wurden (b).

Es folgte daraus aber auch ferner der wichtige Satz,

daß dem Infamen keine Klagen cedirt werden konnten (c),

indem dieſes ſtets unter der Form einer Beſtellung zum

Cognitor oder Procurator geſchah (d). Allein dieſe wich-

tigſte privatrechtliche Wirkung der Infamie wurde entkräf-

tet, ſobald man anfieng, die Ceſſion auch ohne die wirkliche

Beſtellung eines Cognitors oder Procurators, durch utiles

actiones, zuzulaſſen; denn der Sache nach verfolgte ja

ohnehin jeder Ceſſionar ein eigenes Intereſſe, wovon kein

Infamer ausgeſchloſſen ſeyn ſollte, und man konnte ihm

nun auch nicht entgegen ſetzen, daß er der Form nach ein

 

gerweiſe hat ſich dieſer Satz des

alten Rechts in Gratians Decret

verirrt c. 1 C. 3. q. 7. „Infamis

persona nec procurator esse

potest nec cognitor.” Er wird

hier einer Romana synodus zu-

geſchrieben, und dieſe hatte ihn

ohne Zweifel aus dem Breviarium

aufgenommen. Nur ſteht er frey-

lich in dieſer wörtlichen Faſſung

weder in dem Text des Paulus,

noch in unſrer Interpretation:

wahrſcheinlich aber findet er ſich

ſo in irgend einer der ſpäteren

Bearbeitungen. (Savigny Geſch.

des R. R. im M. A., B. 2 § 20).

(b) Fragm. Vatic. § 322. 323.

(c) Paulus I. 2 § 3. „In rem

suam cognitor procuratorve ille

fieri potest, qui pro omnibus

postulat.” Alſo nicht Derjenige,

welcher in dem zweyten oder drit-

ten Edict de postulando ſtand.

Auch die Interpretatio bezieht den

Satz ganz richtig auf die Aus-

ſchließung der Infamen. — Wört-

lich konnte man ihn auch auf die

Ausſchließung der Frauen bezie-

hen, aber von dieſen ſagt das

Gegentheil der unmittelbar vor-

hergehende § 2. „Feminae in rem

suam cognitoriam operam sus-

cipere non prohibentur.” (Alſo

nicht auch procuratoriam.)

(d) Gajus II. § 39. L. 24 pr.

de minor. (4. 4.). L. 3 § 5 de

in rem verso (15. 3.).

|0231 : 217|

§. 82. Infamie. Nebenwirkungen.

Procurator, alſo durch den Buchſtaben des Edicts aus-

geſchloſſen ſey (e).

Endlich folgte daraus auch die Unfähigkeit der Ehr-

loſen, reine Popularklagen anzuſtellen, das heißt ſolche

Klagen, wodurch zwar eine Geldſtrafe eingefordert wird,

aber lediglich um einem öffentlichen Intereſſe durch dieſe

Strafe Gewicht und Schutz zu verſchaffen. Denn in ſol-

chen Klagen ſtellte der Kläger lediglich einen Procurator

des Staats vor (f). Hatte dagegen der Kläger zugleich

ein eigenes Intereſſe zu verfolgen, ſo erhielt dadurch die

Klage eine gemiſchte Natur, und der Infame war dann

von der Anſtellung derſelben nicht ausgeſchloſſen (g).

 

Dieſe ganze Einſchränkung war zunächſt auf die Würde

des Prätors gegründet, welchem nicht ohne Noth und aus

bloßer Willkühr ehrloſe Menſchen vor Augen geſtellt wer-

den ſollten, und darum konnte, wie Paulus ausdrücklich

ſagt, ſelbſt die Einwilligung des Gegners hierin Nichts

ändern (Note a). Aber auch der Gegner im Prozeß ſollte

in der Regel nicht gezwungen ſeyn, mit einem ehrloſen

 

(e) L. 9 C. de her. vel act.

vend. (4. 39.) „utiliter eam mo-

vere suo nomine conceditur.”

Nämlich inſofern suo nomine, als

er nun nicht die beſonderen Rechte

und Einſchränkungen eines Pro-

curators hatte; dem Beklagten

gegenüber war es freylich noch

immer die alte Klage des Ceden-

ten, alſo auch allen früheren Ex-

ceptionen unterworfen.

(f) L. 4 de pop. act. (47. 23.).

„Popularis actio integrae per-

sonae permittitur: hoc est, cui

per Edictum postulare licet.”

Eben ſo waren auch Frauen aus-

geſchloſſen. L. 6 eod. — Vergl.

über dieſe Klagen § 73 lit. H.

(g) Ausdrücklich geſagt wird

dieſes nur von den Frauen. L. 6

de pop. act. (47. 23.). Es iſt

aber unbedenklich auch auf die

Ehrloſen anzuwenden.

|0232 : 218|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Cognitor oder Procurator zu verhandeln, und zur Ver-

theidigung dieſes ſeines ſelbſtändigen Rechts gab man ihm

eine procuratoria exceptio, die ihm der Prätor aus blo-

ßer Nachſicht gegen den Infamen gewiß nicht entziehen

konnte. Juſtinian hob dieſe Exception geſetzlich auf, da

ſie ohnehin nicht mehr üblich ſey (h): das heißt aber nicht

ſo viel, daß die Infamen hinfort ſollten unbeſchränkt po-

ſtuliren dürfen, was ja den deutlichſten Beſtimmungen der

Digeſten widerſprechen würde, ſondern es ſollte nur noch

die Obrigkeit dieſelben zurückweiſen dürfen, ohne daß die

Gegenpartey eine ſolche Exception vorbringen, oder auch

blos als Vorwand zur Verſchleppung des Prozeſſes fer-

ner misbrauchen durfte.

Blos aus dieſer zuletzt erwähnten Verordnung Juſti-

nians (Note h) erfahren wir gelegentlich, daß eine gleiche

Exception den Infamen auch verhinderte, für ſich einen

 

(h) § 11 J. de except. (4. 13.).

„Eas vero exceptiones, quae

olim procuratoribus propter in-

famiam, vel dantis vel ipsius

procuratoris, opponebantur:

cum in judiciis frequentari

nullo modo perspeximus, con-

quiescere sancimus: ne dum de

his altercatur, ipsius negotii

disceptatio proteletur.” — Ma-

rezoll S. 215—217 faßt die

Abſicht und Wirkung dieſer neuen

Verordnung richtig auf, erklärt

aber die Worte nullo modo ſehr

gezwungen. Der natürliche Sinn

iſt wohl dieſer: „die erwähnten

exceptiones kamen ſchon jetzt

ſehr wenig vor, woraus erhellt,

daß kein praktiſches Bedürfniß für

dieſelben vorhanden war; wir he-

ben ſie daher nunmehr geſetzlich

auf, damit ſie nicht in einzelnen

Fällen hervorgeſucht und zur Ver-

ſchleppung misbraucht werden mö-

gen.“ Das frequentari nullo

modo bezeichnet ſeltnen Gebrauch

eines Rechtsinſtituts, und iſt noch

verſchieden von einer durch Ge-

wohnheitsrecht bewirkten Aufhe-

bung des Inſtituts ſelbſt. Theo-

philus freylich kann leicht zur An-

nahme dieſer letzten verleiten.

|0233 : 219|

§. 82. Infamie. Nebenwirkungen.

Procurator zu ernennen, welche Beſchränkung gleichfalls

Juſtinian aufhebt. Das mag ſeinen Grund etwa darin

gehabt haben, daß der Beklagte die Unzuverläſſigkeit des

ehrloſen Klägers mit mehr Erfolg für ſich geltend machen

konnte, wenn dieſer perſönlich vor Gericht erſchien. Die

Amtswürde der Obrigkeit hatte dabey kein Intereſſe, und

es war ihr daher nicht, wie bey der vorhergehenden Ein-

ſchränkung, überlaſſen, den von einem Infamen ernann-

ten Procurator von Amtswegen zurück zu weiſen. Daher

mußte denn mit der Aufhebung dieſer zweyten procurato-

ria exceptio zugleich auch der ganze ihr zum Grund lie-

gende Rechtsſatz völlig verſchwinden: hierin liegt der na-

türliche Grund, warum ſich in den übrigen Theilen der

Juſtinianiſchen Rechtsbücher keine Spur dieſer zweyten

Einſchränkung erhalten hat. Sehr wichtig war dieſelbe

im älteren Recht, indem dadurch der Infame verhindert

wurde, irgend eine ihm zuſtehende Schuldforderung zu

veräußern, welches damals nur durch eine foͤrmliche Ceſ-

ſion, alſo nur durch die Beſtellung eines Procurators oder

Cognitors, geſchehen konnte.

2) Die zweyte privatrechtliche Wirkung der Infamie

beſtand in einer Beſchränkung der Fähigkeit zur Ehe. Dem

älteren Recht war dieſelbe fremd, die Lex Julia legte dazu

den Grund, aber erſt die Interpretation der Juriſten

brachte ſie zur Ausbildung (i). Der Entwicklungsgang

dieſes Rechtsſatzes war aber folgender.

 

(i) Die vollſtändige Darſtellung dieſer Sätze, durch Quellenzeug-

|0234 : 220|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Die Lex Julia verbot den Senatoren, ſo wie den männ-

lichen und weiblichen Nachkommen der Senatoren, die Ehe

mit Freygelaſſenen, und außerdem mit gewiſſen, einzeln

aufgezählten, verächtlichen Perſonen. Allen freygebornen

Männern verbot ſie die Ehe mit gewiſſen, gleichfalls ein-

zeln aufgezählten, verächtlichen Frauen. Beide Aufzäh-

lungen der Fälle der Verächtlichkeit ſtimmten nur theil-

weiſe überein.

 

Die Juriſten bildeten dieſes Verbot auf zweyerley Weiſe

aus: erſtens indem ſie die Faͤlle der Verächtlichkeit aus

einer Klaſſe auf die andere übertrugen: zweytens indem

ſie dieſe Fälle auf den allgemeinen Begriff der Infamie

zurück führten, und nun die Regel aufſtellten, daß ſich

das Verbot für die Senatoren, wie für die Freygebornen,

auf alle im Edict als Infame bezeichnete Perſonen beziehe.

 

Dieſes gab die erſte Gelegenheit, die Infamie auch

auf Frauen zu beziehen, und ſo den alten Begriff der In-

famie zu erweitern. Die neu aufgenommenen Fälle der-

ſelben wurden nachträglich in das Edict eingeſchrieben.

 

Das Verbot der Lex Julia aber hatte nicht etwa den

Sinn, daß eine ſo verbotene Ehe nichtig ſeyn ſollte, ſon-

dern ſie ſollte nur nicht die durch dieſes Geſetz mit dem

Zuſtand der Verehelichten verbundenen Vortheile gewäh-

ren, oder mit anderen Worten: ſie ſollte nicht fähig ſeyn,

die Strafen des Cölibats abzuwenden.

 

niſſe begründet, findet ſich in der

Beylage VII. Ich ſtelle hier nur

deren Reſultate zu einer kurzen

Überſicht zuſammen.

|0235 : 221|

§. 82. Infamie. Nebenwirkungen.

Zwar wurde die Wirkung des Verbots durch einen

Senatsſchluß unter Marc Aurel bis zur Nichtigkeit der

Ehe ausgedehnt, jedoch nicht für die Freygebornen, ſon-

dern nur für die Senatoren, und auch für dieſe nur im

Verhältniß zu den Freygelaſſenen, und zu den durch gewiſſe

Gewerbe verächtlichen Perſonen (wie den Schauſpielern),

niemals im Verhältniß zu den Infamen im Allgemeinen.

 

Das Eheverbot der Lex Julia hörte von ſelbſt auf,

als durch Geſetze chriſtlicher Kaiſer die Cölibatsſtrafen all-

gemein aufgehoben wurden. Die Ausdehnung jenes Ver-

bots für die Senatoren wurde von Juſtinian gänzlich auf-

gehoben.

 

Nunmehr hatte wieder die Infamie ihre Anwendbar-

keit auf das weibliche Geſchlecht gänzlich verloren. Es

war eine conſequente Folge davon, daß die Compilatoren,

als ſie das prätoriſche Edict über die Infamen in die

Digeſten aufnahmen, daraus wiederum die nachträglich

eingeſchriebenen Stellen über ehrloſe Frauen wegließen.

 

Die hier aufgezählten Nebenwirkungen ſind die einzi-

gen, die ſich mit Grund auf die Infamie, nach dem wah-

ren juriſtiſchen Begriff dieſes Worts, zurückführen laſſen.

Manche andere ſind jedoch von unſren Juriſten irriger-

weiſe dahin gezählt worden.

 

So ſollen die Infamen unfähig ſeyn als Zeugen auf-

zutreten, ſey es vor Gericht, oder bey feyerlichen Rechts-

 

|0236 : 222|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

geſchäften (k). Das Römiſche Recht hat aber niemals

eine ſolche allgemeine Regel aufgeſtellt. In älteren Ge-

ſetzen war den wegen gewiſſer einzelner Verbrechen Ver-

urtheilten die Zeugenfähigkeit beſonders abgeſprochen. Zu-

letzt hat Juſtinian verordnet, zu Zeugen ſollten überhaupt

nur vortreffliche Leute genommen werden, gleich zuver-

läſſig durch guten Ruf und durch ihre äußere Stellung (l).

Daß dieſe, ohnehin unausführbare, Vorſchrift mit dem be-

ſtimmten Rechtsbegriff der Infamie Nichts gemein hat,

verſteht ſich von ſelbſt; ſie geht ſogar über den ſchon ſehr

ſchwankenden Begriff der Infamia facti (§ 78) noch hin-

aus (m). Demnach müſſen wir, was das Reſultat des

neueſten Rechts betrifft, eine abſolute Unfähigkeit der In-

famen zum Zeugniß (ſowohl dem gerichtlichen, als dem

bey feyerlichen Geſchäften) durchaus verneinen. Was aber

die Glaubwürdigkeit derſelben im gerichtlichen Zeugniß be-

trifft, ſo kann dieſe ohnehin nur durch freyes Ermeſſen

des Richters in jedem einzelnen Fall beurtheilt werden,

und auch dabey ſind die genauen juriſtiſchen Beſtimmun-

gen der Infamie gleichgültig.

Eben ſo verhält es ſich endlich auch mit der angebli-

chen Beziehung der Infamie auf die querela inofficiosi.

Geſchwiſter, ſagt man, die in dem Teſtament ausgeſchloſ-

ſen ſind, koͤnnen nur dann auf die Querel Anſpruch ma-

 

(k) Dieſe Meynung iſt ſehr ver-

breitet. Vergl. u. a. Linde Lehr-

buch des Civilprozeſſes § 258 (4te

Auflage).

(l) Nov. 90.

(m) Ausführlich behandeln dieſe

Frage Burchardi § 6 und Ma-

rezoll S. 220—227.

|0237 : 223|

§. 82. Infamie. Nebenwirkungen.

chen, wenn der ihnen vorgezogene Erbe eine infame Per-

ſon iſt. Allein die Beſtimmung des Geſetzes iſt eine ganz

andere. Die Querel wird abhängig gemacht von dem

Umſtand, daß der Vorzug des eingeſetzten Erben, wegen

deſſen perſönlicher Eigenſchaften, etwas beſonders Ver-

letzendes habe. Als Beyſpiele ſolcher, den Vorzug zur

Kränkung für den Ausgeſchloſſenen machender Eigenſchaf-

ten, werden genannt: die Infamie, ſchlechter Ruf (wenn-

gleich in geringerem Grade), und Libertinität, mit Aus-

nahme ſolcher Freygelaſſenen, die ſich beſondere Verdienſte

um den Verſtorbenen erworben hatten (n). Offenbar iſt

alſo auch hier Alles der freyen Beurtheilung des Richters

überlaſſen, und der Rechtsbegriff der Infamie mit ſeinen

ſcharf beſtimmten Gränzen iſt dabey nicht das entſchei-

dende Moment.

(n) L. 27 C. de inoff. test.

(3. 28.) „si scripti heredes in-

famiae, vel turpitudinis, vel le-

vis notae macula adspergantur:

vel liberti qui perperam et non

bene merentes … instituti sunt.”

Die Grundlage dieſer Conſtitu-

tion ſind zwey Stellen des Theo-

doſiſchen Codex. L. 1. 3 C. Th.

de inoff. (2. 19.). Vergl. über

dieſe Frage Marezoll S. 246,

deſſen Anſichten von den hier auf-

geſtellten zum Theil verſchieden

ſind.

|0238 : 224|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 83.

Heutige Anwendbarkeit der Lehre von der Infamie.

Es iſt nunmehr anzugeben, was aus den über die

Infamie aufgeſtellten Sätzen für die heutige Anwendung

dieſes Rechtsinſtituts folgt.

 

Zuerſt alſo: welche Geſtalt hat die Infamie im Ju-

ſtinianiſchen Recht angenommen? Es iſt davon Nichts

übrig geblieben, als die beſchränkte Fähigkeit der Infa-

men, für Andere poſtulirend vor Gericht aufzutreten, und

auch dieſe Beſchränkung nur inſoferne der Richter ſelbſt

ſie geltend machen will, nicht mehr als ein perſönliches

Recht der Gegenpartey (§ 82). Denn die publiciſtiſche

Bedeutung der Infamie hatte ohnehin längſt aufgehört,

indem auch ſelbſt die Unfähigkeit der Infamen zu Ehren-

ſtellen, obgleich ſie ſich noch ausgeſprochen findet, dem

Sinne nach von dem alten Rechtsſatz ganz verſchieden iſt,

und blos eine buchſtäbliche und ſcheinbare Fortdauer deſ-

ſelben in ſich ſchließt (§ 80). Eben ſo war auch die mit

der Infamie lange Zeit verbundene beſchränkte Fähigkeit

zur Ehe gänzlich verſchwunden (§ 82).

 

Allein auch jener Überreſt des alten Rechtsinſtituts

hat ſich bey dem Übergang des Römiſchen Rechts auf

das neuere Europa nicht erhalten können, da er mit der

eigenthümlichen Gerichtsverfaſſung der Roͤmer zuſammen-

 

|0239 : 225|

§. 83. Infamie. Heutige Anwendbarkeit.

hieng, in der That alſo auch wieder durch ſtaatsrechtliche

Verhältniſſe bedingt war.

Nach der neueren Gerichtsverfaſſung beruht alle ge-

richtliche Vertretung Anderer theils auf der Procuratur,

theils auf der Advocatur, welche bald in denſelben Per-

ſonen vereinigt, bald getrennt erſcheinen. Beide Geſchäfte

ſind ferner (je nach dem verſchiedenen Recht einzelner Län-

der) theils an eine öffentliche Anſtellung gebunden, theils

davon unabhängig, alſo bloße Privatſache. Im erſten

Fall gehören ſie, ſo wie alle Anſtellungen, dem oͤffentli-

chen Rechte an, und ſind daher von den Beſtimmungen

des Römiſchen Rechts, nach richtigen Anſichten, ganz un-

abhängig. Insbeſondere was die Unfähigkeit der Infamen

zur Anſtellung als Gerichtsprocuratoren betrifft, ſo gilt

davon alles Dasjenige, was ſo eben über ihre Unfähig-

keit zu oͤffentlichen Amtern überhaupt bemerkt worden iſt.

— Im zweyten Fall könnte an ſich wohl von einer An-

wendung der Römiſchen Regel die Rede ſeyn. Dieſe hätte

dann den Sinn (den auch wirklich Manche darein legen),

daß Infame nicht befugt wären, Prozeßſchriften für An-

dere abzufaſſen: denn das iſt es, was man unter der Pri-

vatadvocatur, oder dem heutigen Poſtuliren, zu denken

pflegt. Allein auch ſelbſt eine ſo beſchränkte Anwendung

würde doch höchſtens dem Buchſtaben, nicht dem wahren

Sinn der Römiſchen Regel entſprechen. Denn was nach

der Römiſchen Anſicht die Amtswürde verletzte, war das

willkührliche, nicht durch Verfolgung eigener Intereſſen

 

II. 15

|0240 : 226|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

gerechtfertigte, Auftreten des Infamen vor der Perſon des

Prätors. Die Abfaſſung von Prozeßſchriften kann un-

möglich als eine Verletzung des richterlichen Anſehens be-

trachtet werden, welche Eigenſchaften auch der (vielleicht

ſogar ungenannt bleibende) Verfaſſer an ſich tragen moͤge.

Wollte man etwa ſagen, ein ehrloſer Verfaſſer ſey auch

der Verdrehung des Rechts verdächtig, ſo würde dadurch

die Sache in ein ganz anderes, der Römiſchen Regel frem-

des Gebiet hinüber geſpielt, das Gebiet der Aufſicht auf

die Prozeßverhandlungen. Hier aber ſind, wenn ſich ein-

mal der Richter einmiſchen ſoll, ganz andere Rückſichten

zu beachten: theils ſittliche, theils intellectuelle, wohin be-

ſonders ein gewiſſer Grad von Rechtskenntniß gehören

wird. Die Infamie mit ihren ganz poſitiv beſtimmten

Bedingungen wird dabey gleichgültig ſeyn, und anſtatt

derſelben wird der unbeſtimmte Begriff perſoͤnlicher Zu-

verläſſigkeit zur Anwendung kommen.

Die hier aufgeſtellten Gründe, wenngleich ſie in dieſer

Geſtalt und Beſtimmtheit nicht anerkannt zu werden pfleg-

ten, und alſo nicht zu deutlichem Bewußtſeyn kamen, ſind

dennoch nicht ohne Einfluß auf neuere Schriftſteller ge-

blieben. Daraus allein erklären ſich die unglaublich ſchwan-

kenden Meynungen derſelben über den Grad der Anwend-

barkeit, welcher den Römiſchen Grundſätzen über die In-

famie einzuräumen ſeyn möchte (a).

 

Aber auch in dieſer großen Mannichfaltigkeit der Mey-

 

(a) Vgl. Marezoll S. 346—349.

|0241 : 227|

§. 83. Infamie. Heutige Anwendbarkeit.

nungen laſſen ſich doch einige gemeinſame Anſichten wahr-

nehmen, worin die Meiſten und Beſonnenſten übereinſtim-

men (b). Dahin gehoͤrt zunächſt eine ungemeine Beſchrän-

kung der Vorſchriften des R. R., wodurch ſich alſo jene

Anſichten in ihrem letzten Reſultat der hier vertheidigten

ſehr annähern. Es ſollen nämlich gar keine Anwendung

mehr finden die Fälle der Infamie, welche ohne richterli-

ches Urtheil eintraten (immediata). Ferner aus der ſo-

genannten mediata die Urtheile über Privatdelicte oder

Contracte. Hiernach bliebe die Infamie als Rechtsinſti-

tut (denn die infamia facti geht uns überhaupt Nichts an),

nur noch übrig als Folge ausgeſprochener Criminalſtra-

fen, wobey es noch dahin geſtellt bleiben muß, ob man auch

die extraordinaria crimina ausſchließen möchte (§ 77. c),

welche Einſchränkung freylich zu unſrem heutigen Crimi-

nalrecht gar nicht mehr paſſen würde. — Die Carolina

erwähnt die Infamie namentlich als Strafe des Meinei-

digen, ſo wie Desjenigen, welcher durch die Perſon ſei-

ner Frau oder ſeines Kindes ein Lenocinium begeht (c).

Andere Reichsgeſetze erkennen ſie an als Folge der Inju-

rie (d), oder drohen ſie als eigene, neu erfundene Strafe

für beſtimmte Vergehen an (e).

(b) Eichhorn deutſches Pri-

vatrecht § 87. 88, 1te Ausg.

(c) C. C. C. art. 107. 122.

(d) Reichsſchlüſſe von 1668.

1670. Sammlung der Reichsab-

ſchiede Th. 4. S. 56. 72.

(e) Strafe der Notare, die

eine Ceſſion von Juden an Chri-

ſten aufnehmen R. A. 1551 § 80.

Strafe der widerſpenſtigen Hand-

werksgeſellen 1731. Sammlung

der Reichsabſchiede Th. 4. S. 379.

15*

|0242 : 228|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Die ſo eng begränzte Infamie ſoll nun im heutigen

Recht noch folgende Wirkungen hervorbringen:

 

1) Unfähigkeit zu Ehrenämtern, mit Einſchluß der

Gemeindeämter;

2) desgleichen zur Advocatur, Procuratur, und zum

Notariat;

3) desgleichen zur Theilnahme an Zünften und bür-

gerlichen Collegien.

4) Endlich auch noch alle im Privatrecht durch das

R. R. geordnete Wirkungen, namentlich in Beziehung auf

die querela inofficiosi.

Über die wichtigſten der hier erwähnten Gegenſtände

habe ich mich bereits im Einzelnen erklärt, namentlich

darüber, daß die unter Num. 4 genannten Wirkungen in

der That gar nicht vorhanden ſind. In den Reichsge-

ſetzen wird eine jener Folgen, die Unfähigkeit zum Nota-

riat, namentlich ausgeſprochen (f).

 

Man ſieht, daß der Umfang der noch übrig bleiben-

den rein praktiſchen Controverſe ſehr eng iſt, und daß die

bedenklichſten Fälle der Römiſchen Infamie ſchon in jener

Lehre bewährter neuerer Schriftſteller beſeitigt ſind (g).

 

(f) Notariatsordnung 1512 § 2

„ſo darzu von den Rechten ver-

boten, als … ehrloß, Infames

genandt … und in Summa alle

die in Rechten zu zeugen ver-

worffen werden, dieweil ſie an

ſtatt der Zeugen gebraucht wer-

den.“ Hierbey liegt offenbar die

falſche Meynung mehrerer Rechts-

lehrer zum Grunde, als ob nach

R. R. die Infames ſchlechthin un-

fähig zu jedem Zeugniß wären.

(g) Am bedenklichſten ſind man-

che Fälle der ſogenannten infa-

mia immediata, z. B. der Fall der

bina sponsalia, das heißt eines

neuen Verlöbniſſes ohne aus-

drückliche Aufkündigung des frü-

|0243 : 229|

§. 83. Infamie. Heutige Anwendbarkeit.

Aber auch in dieſer großen Einſchränkung kann ich irgend

eine Anwendung der Römiſchen Infamie aus den oben

entwickelten Gründen nicht zugeben. Was ſich davon ein-

räumen läßt, iſt Folgendes.

Unter dem Einfluß Germaniſcher Anſichten haben ſich

vom Mittelalter her in verſchiedenen Ländern ziemlich

gleichförmige Regeln uͤber Ehre und Ehrloſigkeit ausge-

bildet, die theilweiſe auch die Natur von Rechtsinſtituten

angenommen haben, vorzüglich in Beziehung auf die mög-

liche Theilnahme an Corporationen verſchiedener Art.

Solche Rechtsregeln ſind theils durch eigentliche Geſetze,

theils durch Gewohnheitsrecht, beſonders aber durch die

Statuten und Obſervanzen ſolcher Corporationen ſelbſt,

feſtgeſtellt worden. Auf dieſe Feſtſtellung nun, woran

meiſt Rechtsgelehrte Antheil nahmen, haben nicht ſelten

die (mehr oder weniger misverſtandenen) Beſtimmungen

des R. R. Einfluß gehabt.

 

Ein ſolcher indirecter Einfluß des R. R. auf das heu-

tige Recht der Infamie läßt ſich nicht verkennen; er grün-

det ſich jedoch nur auf Misverſtändniſſe über die oben

dargeſtellte wahre Natur dieſes Rechtsinſtituts, und er iſt

überdem nie von großer Erheblichkeit geweſen. In das

 

heren; ferner die Ehe des Vor-

mundes oder des Sohnes deſſel-

ben mit der Mündel vor der ge-

ſetzlichen Zeit (§ 77. o). Beide

Fälle laſſen ſich denken als ganz

argloſe Übertretungen blos for-

meller Vorſchriften bey augen-

ſcheinlicher Unſchuld in der Sache

ſelbſt. Kein Rechtsinſtitut aber

kann ſo wenig, als das der In-

famie, einen ſchneidenden Wider-

ſpruch mit der öffentlichen Mey-

nung vertragen.

|0244 : 230|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Gebiet dieſer Misverſtändniſſe fallen denn auch diejenigen

Reichsgeſetze, welche für einzelne Fälle die Infamie theils

als gültig vorausſetzen, theils neu vorſchreiben (§ 83. c.

d. e. f), und auch dieſe können daher nicht geltend ge-

macht werden, um die hier aufgeſtellten Gründe gegen die

gemeinrechtliche Anwendbarkeit der Infamie zu widerlegen.

In den Fällen übrigens, worin die Infamie noch in

unſrem Criminalrecht, ſey es als ausgeſprochene Strafe,

oder als Folge gewiſſer Strafarten, vorkommt, kann ich

zwar, aus den hier entwickelten Gründen, beſtimmte recht-

liche Wirkungen derſelben, ſo wie ſie im Einzelnen be-

hauptet zu werden pflegen, nicht zugeben. Ich bin aber

weit entfernt, deshalb die Realität und Wirkſamkeit der-

ſelben als eines bedeutenden Strafmittels zu beſtreiten.

Denn wenn der Richter die Infamie ausſpricht, oder wenn

ſie als nothwendige Folge einer vollzogenen Strafe ange-

ſehen wird, ſo iſt die unausbleibliche Wirkung auf die

öffentliche Meynung an ſich ſelbſt ein ſehr reelles Übel,

auch wenn daneben einzelne juriſtiſche Folgen nicht noch

nachgewieſen werden können.

 

|0245 : 231|

§. 84. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Religion.

§. 84.

Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Religion.

Seit der Herrſchaft der chriſtlichen Religion bildete

ſich im Römiſchen Recht allmaͤlig der Grundſatz aus, daß

gewiſſe Verſchiedenheiten des religiöſen Bekenntniſſes eine

Beſchränkung der Rechtsfähigkeit mit ſich führen ſollten.

Es gehören dahin folgende Fälle.

 

I. Pagani. Die Anhänger der alten Religion, deren

Herrſchaft und Druck ſo lange Zeit den Chriſten verderb-

lich geweſen war, wurden nun abwechslend mit mehr oder

weniger Duldung behandelt, ja es wurden auf ſie die

härteſten Strafgeſetze nicht ſelten angewendet. Es erklärt

ſich wohl gerade aus der Strenge dieſer Strafen, daß

dabey von einer Beſchränkung der Rechtsfähigkeit, die

doch immer einen Zuſtand ruhiger Duldung vorausſetzt,

und durch vertilgende Maasregeln unnütz wird, nicht un-

mittelbar die Rede iſt. Gegen die willkührliche Verfol-

gung durch Privatperſonen wurden ſie zu Zeiten durch be-

ſondere Geſetze in Schutz genommen (a).

 

II. Judaei. Der Regel nach ſollten ſie gleiches Recht

mit den Chriſten haben (b). Nur die Ehe zwiſchen Chri-

ſten und Juden war gänzlich verboten, und ſollte mit der

geſetzlichen Strafe des Ehebruchs belegt werden (c). Dieſe

 

(a) L. 6 C. de paganis (1. 11.).

(b) L. 8. 15 C. de Judaeis

(1. 9.).

(c) L. 6 C. de Judaeis (1. 9.).

|0246 : 232|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Beſtimmung war ganz poſitiv, und darf auf keine Weiſe

als eine Anwendung des den Peregrinen verſagten Con-

nubium betrachtet werden. Denn das fehlende Connubium

war kein Verbot und zog keine Strafe nach ſich: ferner

hatten gewiß von jeher einzelne Juden die Civität erwor-

ben, und die allgemeine Civität, die Caracalla allen Un-

terthanen des Reichs verlieh, kam gewiß auch den da-

mals vorhandenen Juden und ihren Nachkommen zu gut.

III. Haeretici. Diejenigen Chriſten, deren Lehre durch

eine Kirchenverſammlung für Ketzerey erklärt worden war,

wurden mit verſchiedenen, oft harten, Strafen verfolgt,

welche bald auf einzelne augenblicklich wichtige Irrlehren,

wie der Manichäer und Donatiſten, bald auf alle Ketze-

reyen überhaupt bezogen wurden. Unter dieſe Strafen

gehörten nun beſonders auch Beſchränkungen der Rechts-

fähigkeit. Am häufigſten wurde ihnen die Befugniß ver-

ſagt, Erbſchaften zu erwerben, und Teſtamente zu errich-

ten: daneben kommt auch wohl das Verbot der Schen-

kung und des Verkaufs, ja aller Contracte, aller Klagen,

und aller juriſtiſchen Handlungen vor (d).

 

IV. Apostatae. Beſondere Geſetze wurden erlaſſen ge-

gen den Abfall von der richtigen Kirchenlehre zu den drey

genannten Klaſſen von Irrthümern. Dieſe Geſetze betra-

fen bald nur eine der genannten Klaſſen, bald mehrere,

 

(d) L. 4 L. 19 pr. L. 21. L. 22

C. de haeret. (1. 5.). Auth. Item

und Auth. Friderici Credentes

C. eod. — L. 7. 17. 18. 25. 40.

49. 58 C. Th. de haeret. (16. 5.).

|0247 : 233|

§. 84. Einſchränkung der Rechtsfähigkeit durch Religion.

bald alle, ſo daß alſo der Name Apostata, wie es Ver-

anlaſſung und Bedürfniß gerade mit ſich brachte, in ver-

ſchiedenen Bedeutungen gebraucht wurde. Hier, wie bey

der Ketzerey, kam häufig die Beſchränkung der Rechts-

fähigkeit vor, und beſonders das Verbot Erbe zu werden

und zu teſtiren (e).

Von allen dieſen Beſtimmungen iſt in dem heutigen

Römiſchen Recht, und namentlich in dem gemeinen Recht

von Deutſchland, nur eine einzige übrig geblieben: das

Eheverbot zwiſchen Juden und Chriſten. Heiden, ſo wie

Ketzer im Sinn der Römiſchen Kaiſergeſetze, alſo auch

Apoſtaten in dieſer Beziehung, ſind in unſren Staaten

nicht mehr vorhanden, ſo daß inſofern ſelbſt die Möglich-

keit der Anwendung fehlen würde. Eine ſolche Unmoͤg-

lichkeit läßt ſich für die Apoſtaſie zum Judenthum aller-

dings nicht behaupten: dennoch wird ſchwerlich Jemand

die Anwendung der Römiſchen Geſetze auf dieſen Fall,

vom Standpunkt des heutigen Römiſchen Rechts aus, in

Schutz nehmen.

 

Andere Gegenſätze haben ſeit der Reformation Europa

entzweyt, und hier ſind ähnliche Härten und Ausſchlie-

ßungen, wie jene Römiſchen, erfolgt, je nachdem die eine

oder andere Partey ſiegreich wurde. In Deutſchland allein

kam es ſchon ſehr früh zu einem gewiſſen Gleichgewicht,

welches in feſten, geſetzlichen Regeln ausgebildet wurde.

 

(e) L. 2. 3. 4 C. de apost. (1. 7.). L. 1. 2. 4. 7 C. Th. de apost.

(16. 7.).

|0248 : 234|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Seitdem war gemeinrechtlich zwiſchen den drey großen

Religionsparteyen kein Unterſchied mehr: deſto größer war

dieſer Unterſchied nach dem Particularrecht einzelner Län-

der, und auch dieſe Verſchiedenheit hatte ihre hypotheti-

ſche Begründung in den Beſtimmungen des Weſtphäliſchen

Friedens.

Anders nach der Bundesakte von 1815. Dieſe be-

ſtimmt für die chriſtlichen Religionspartheien in allen zum

deutſchen Bunde gehoͤrenden Ländern völlige Gleichheit der

bürgerlichen und politiſchen Rechte, und zwar unbedingt,

ohne für irgend eine Abweichung in dem Recht einzelner

Länder Raum zu laſſen (f). In Anſehung der Juden wer-

den ebendaſelbſt künftige Beſtimmungen über den Genuß

der bürgerlichen Rechte noch vorbehalten.

 

(f) Bundesakte Art. 16 „Die

Verſchiedenheit der chriſtlichen Re-

ligions-Partheien kann in den Län-

dern und Gebieten des Deutſchen

Bundes keinen Unterſchied in dem

Genuſſe der bürgerlichen und po-

litiſchen Rechte begründen.“

|0249 : 235|

§. 85. Juriſtiſche Perſonen. Begriff.

§. 85.

Juriſtiſche Perſonen. Begriff.

Digest. III. 4. Quod cujuscunque universitatis nomine

vel contra eam agatur.

Digest. XLVII. 22 de collegiis et corporibus.

Schriftſteller:

 

Über die hiſtoriſche Seite der Lehre:

 

Wassenaer ad tit. D. de coll. et corp. L. B. 1710.

(Fellenberg jurispr. ant. I. p. 397—443).

Dirkſen Zuſtand der juriſtiſchen Perſonen nach R. R.

(Abhandlungen B. 2 Berlin 1820 S. 1—143).

Uber die praktiſche Seite:

 

Zachariae liber quaestionum Viteb. 1805. 8. Qu. 10

de jure universitatis.

Thibaut civiliſtiſche Abhandlungen Heidelberg 1814

N. 18. Über die rechtlichen Grundſätze bey Ver-

theilung der Gemeindeſachen. — Vgl. deſſelben Ver-

faſſers Pandektenrecht § 129—134 der 8ten Ausg.

J. L. Gaudliz s. Haubold de finibus inter jus sin-

gulorum et universitatis regundis Lips. 1804, in

Hauboldi opusc. Vol. 2 Lips. 1829 p. 546—620

p. LXIII—LXXIX(a).

(a) Ich citire dieſe Schrift, die

gewöhnlich unter dem Namen des

Reſpondenten angeführt wird, un-

ter Haubolds Namen, weil in

|0250 : 236|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Lotz civiliſtiſche Abhandlungen, Coburg und Leipzig

1820 N. 4 S. 109—134.

Kori von Gemeinheits-Beſchlüſſen, und von Pſeudo-

Gemeinheits-Sachen; in: Langenn und Kori Er-

örterungen praktiſcher Rechtsfragen B. 2 Dresden

und Leipzig 1830 N. 1. 2, S. 1—39.

Die Rechtsfähigkeit wurde oben dargeſtellt als zuſam-

menfallend mit dem Begriff des einzelnen Menſchen (§ 60).

Wir betrachten ſie jetzt als ausgedehnt auf künſtliche,

durch bloße Fiction angenommene Subjecte. Ein ſolches

Subject nennen wir eine juriſtiſche Perſon, d. h. eine

Perſon welche blos zu juriſtiſchen Zwecken angenommen

wird. In ihr finden wir einen Träger von Rechtsver-

hältniſſen noch neben dem einzelnen Menſchen.

 

Um aber dieſem Begriff die angemeſſene Beſtimmtheit

zu geben, iſt es noͤthig, das Gebiet der Rechtsverhält-

niſſe, worauf ſich dieſe Fähigkeit beziehen ſoll, enger zu

begränzen; der Mangel einer ſolchen Begränzung hat nicht

wenig Verwirrung in die Behandlung dieſes Gegenſtan-

des gebracht.

 

Zuvoͤrderſt, da wir hier überhaupt nur im Gebiet des

Privatrechts uns befinden, ſind es auch nur die Verhält-

niſſe des Privatrechts, worauf die künſtliche Fähigkeit

der juriſtiſchen Perſon bezogen werden darf. Auch im

 

der That Beide theilweiſe als Verfaſſer anzuſehen ſind. Vergl. Opuse.

Vol. 1 p. XV.

|0251 : 237|

§. 85. Juriſtiſche Perſonen. Begriff.

Staatsrecht iſt Nichts häufiger, als daß ein Zweig der

öffentlichen Gewalt nur von Mehreren gemeinſchaftlich,

alſo von einer collectiven Einheit, ausgeübt werden kann;

wollte man aber deswegen z. B. jedes Richtercollegium

als juriſtiſche Perſon bezeichnen, ſo würde man nur den

Begriff verdunkeln, indem gerade das Weſen der juriſti-

ſchen Perſon (die Vermögensfähigkeit) den meiſten jener

Collegien abgeht, obgleich einzelne unter ihnen, neben ih-

rem Richteramt, auch den davon voͤllig verſchiedenen Cha-

racter einer juriſtiſchen Perſon erlangt haben koͤnnen. Eben

ſo iſt es ganz uneigentlich, wenn Manche in einer erbli-

chen Monarchie die ganze Reihe der Regenten als eine

juriſtiſche Perſon bezeichnen (b). Daß den Römern, die

ſo lange unter republicaniſchen Formen lebten, ſolche Ver-

hältniſſe des öffentlichen Rechts bekannt und geläufig wa-

ren, verſteht ſich von ſelbſt. In dieſem Sinn ſprechen ſie

von einem Collegium der Conſuln, oder der Volkstribu-

nen (c). Eben ſo ſagen ſie, die gleichzeitigen Duumvirn

einer Stadt ſeyen als Einheit zu betrachten, ganz als ob

nur ein einzelner Menſch dieſes Amt bekleidete (d). Fer-

ner wenn mehrere judices in einem Rechtsſtreit ernannt

würden, und einige derſelben, oder gar alle, durch an-

dere Perſonen erſetzt werden müßten, ſo bleibe es den-

(b) Haſſe, Archiv B. 5.

S. 67.

(c) Livius X. 22. 24. Cicero

in Verrem II. 100, pro domo 47.

(d) L. 25 ad munic. (50. 1.).

„Magistratus municipales, cum

unum magistratum administrent,

etiam unius hominis vicem su-

stinent.”

|0252 : 238|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

noch daſſelbe Judicium (e). Alle dieſe Ausdrücke und

Rechtsſätze aber gelten ihnen nur für das Staatsrecht

oder den Prozeß, und ſie ſind weit entfernt, ſie mit der

privatrechtlichen Lehre von den juriſtiſchen Perſonen in ir-

gend eine Berührung zu bringen, von welcher Vermiſchung

des Ungleichartigen ſich die neueren Schriftſteller nicht ſo

frey erhalten haben. Auch die Claſſen, Centurien und

Tribus waren wichtige politiſche Einheiten, aber als ju-

riſtiſche Perſonen, d. h. als Inhaber eines gemeinſamen

Vermoͤgens, ſcheinen ſie niemals gegolten zu haben (f).

Eine zweyte, nicht minder weſentliche Begränzung des

Begriffs der juriſtiſchen Perſon iſt die auf die Vermö-

gensverhältniſſe, wodurch alſo die Familie ausge-

ſchloſſen wird. Alles Familienverhältniß nämlich, in ſei-

nem urſprünglichen Begriff, bezieht ſich auf den natürli-

chen Menſchen, und die juriſtiſche Behandlung deſſelben

iſt etwas Abgeleitetes und Untergeordnetes (§ 53. 54); da-

her iſt eine Anwendung deſſelben auf Subjecte, die nicht

Menſchen ſind, unmöglich. Das Vermögen aber iſt ſei-

 

(e) L. 76 de judic. (5. 1.). —

Eben ſo, wenn Nov. 134 C. 6

ſagt, das Reſcript an einen Pro-

vinzialbeamten ſey auch von deſ-

ſen Nachfolger auszuführen.

(f) Doch will ich hierüber nichts

Beſtimmtes behaupten. Sueton.

Aug. 101 ſagt, Auguſt habe in

ſeinem Teſtament dem Populus

zwey Millionen Thaler, jeder Tri-

bus Fünf Tauſend Thaler legirt:

„Legavit populo Rom. qua-

dringenties, tribubus tricies

quinquies HS.” (das heißt ſo

viele 100000 Seſterze). Indeſſen

kann das auch ſo viel heißen:

die zwey Millionen waren der

Staatskaſſe legirt, Fünf Tauſend

ſollten an die einzelnen Bürger

jeder Tribus vertheilt werden.

Vgl. auch Averanius II. 19.

|0253 : 239|

§. 85. Juriſtiſche Perſonen. Begriff.

nem Weſen nach eine Machterweiterung (§ 53), alſo Si-

cherung und Erhoͤhung der freyen Thätigkeit. Dieſes Ver-

hältniß nun läßt ſich eben ſo gut auf die juriſtiſche Per-

ſon, wie auf den einzelnen Menſchen anwenden: ihre

Zwecke (worauf das ganze Bedürfniß ihrer Annahme be-

ruht) können eben ſo durch Vermögen gefördert werden,

wie die Zwecke des einzelnen Menſchen. Was aber die

künſtlichen Erweiterungen der Familie betrifft, ſo ſind dieſe

von zweyerley Art (§ 55. 57): einige ſind an rein menſch-

liche Zuſtände angeknüpft, die dadurch ausgebildet oder

geſchützt werden ſollen, und dieſe werden auf die juriſti-

ſchen Perſonen keine Anwendung finden können: andere

ſind auf Vermögensverhältniſſe gegründet, und ſind daher,

ſo wie dieſe, allerdings bey juriſtiſchen Perſonen an-

wendbar.

Hieraus ergiebt ſich, daß bey den juriſtiſchen Perſo-

nen folgende Rechtsverhältniſſe vorkommen können: Eigen-

thum und jura in re, Obligationen, Erwerb durch Erb-

ſchaft: ferner Gewalt über Sklaven und Patronat: im

neueren Recht auch Colonat. Dagegen ſind auf ſie nicht

anwendbar: Ehe, väterliche Gewalt, Verwandtſchaft: fer-

ner manus, mancipii causa und Vormundſchaft. Und nun-

mehr koͤnnen wir den Begriff der juriſtiſchen Perſon noch

näher dahin beſtimmen: ſie iſt ein des Vermögens fä-

higes künſtlich angenommenes Subject. — Indem nun

hier das Weſen der juriſtiſchen Perſonen ausſchließend in

die privatrechtliche Eigenſchaft der Vermögensfähigkeit ge-

 

|0254 : 240|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſetzt wird, ſoll damit keinesweges behauptet werden, daß

an den wirklich vorhandenen juriſtiſchen Perſonen nur allein

dieſe Eigenſchaft zu finden oder doch von Wichtigkeit wäre.

Im Gegentheil ſetzt ſie ſtets irgend einen von ihr verſchie-

denen ſelbſtſtändigen Zweck voraus, der eben durch die

Vermoͤgensfähigkeit gefoͤrdert werden ſoll, und der an ſich

oft ungleich wichtiger iſt als dieſe (g). Nur für das Sy-

ſtem des Privatrechts ſind ſie durchaus Nichts als ver-

mögensfähige Subjecte, und jede andere Seite ihres We-

ſens liegt völlig außer deſſen Gränzen.

Ich gebrauche dafür lediglich den Namen der juri-

ſtiſchen Perſon (welcher dann die natürliche Per-

ſon, das heißt der einzelne Menſch, entgegengeſetzt iſt),

um auszudrücken, daß ſie nur durch dieſen juriſtiſchen

Zweck ein Daſeyn als Perſon hat. Früher war ſehr ge-

woͤhnlich der Name der moraliſchen Perſon, den ich aus

zwey Gründen verwerfe: erſtens weil er überhaupt nicht

das Weſen des Begriffs berührt, der mit ſittlichen Ver-

hältniſſen keinen Zuſammenhang hat: zweytens weil jener

Ausdruck eher dazu geeignet iſt, unter den einzelnen Men-

ſchen den Gegenſatz gegen die unmoraliſchen zu bezeichnen,

ſo daß durch jenen Namen der Gedanke auf ein ganz

 

(g) So z. B. iſt bey den Städten

die Grundlage ihres Weſens po-

litiſcher und adminiſtrativer Na-

tur, und dagegen ſteht ihr privat-

rechtlicher Character, d. h. ihr Da-

ſeyn als juriſtiſche Perſonen, ſehr

an Wichtigkeit zurück. Auf die

Städte als politiſche und admi-

niſtrative Körper beziehen ſich im

R. R. Digest. Lib. 50 Tit. 1 — 12,

die ich daher im Anfang des § 85

unter den Quellen der hier abzu-

handelnden Lehre des Privat-

rechts nicht mit aufgeführt habe.

|0255 : 241|

§. 85. Juriſtiſche Perſonen. Begriff.

fremdartiges Gebiet hinüber geleitet wird. — Die Römer

ſelbſt haben keinen gemeinſchaftlichen Namen für alle Fälle

dieſer Art. Wo ſie dieſen Character ſolcher Subjecte all-

gemein ausdrücken wollen, ſagen ſie nur, daß dieſelben

die Stelle von Perſonen vertreten (h), welches ſoviel ſa-

gen will, als daß ſie fingirte Perſonen ſeyen.

 

(h) L. 22 de fidejuss. (46. 1.).

„hereditas personae vice fun-

gitur, sicuti municipium et de-

curia et societas.” Gerade ſo

heißt es von dem bonorum pos-

sessor: vice heredis, oder loco

heredis est. L. 2 de B. P. (37.

1.), L. 117 de R. J. (50. 17.),

Ulpian. XXVIII. 12 „heredis

loco constituuntur … heredes

esse finguntur.” Wie der bo-

norum possessor ein fingirter

heres iſt, ſo iſt die juriſtiſche Per-

ſon eine fingirte persona.

II. 16

|0256 : 242|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 86.

Juriſtiſche Perſonen. — Arten.

Betrachten wir die juriſtiſchen Perſonen, wie ſie in

unſrem Rechtszuſtand wirklich vorkommen, ſo müſſen wir

unter denſelben folgende Gegenſätze anerkennen, deren Ver-

ſchiedenheit nicht ohne Einfluß auf die juriſtiſche Natur

derſelben iſt.

 

1) Einigen derſelben können wir ein natürliches oder

auch nothwendiges Daſeyn zuſchreiben, anderen ein künſt-

liches oder willkührliches. Ein natürliches Daſeyn haben

die Gemeinden, Städte und Dörfer, welche meiſt älter

ſind als der Staat ſelbſt (nämlich in ſeiner gegenwärti-

gen Einheit und Begränzung), und welche die Hauptbe-

ſtandtheile des Staates bilden. Das juriſtiſche Daſeyn

derſelben iſt faſt nie zweifelhaft; eine willkührliche Grün-

dung kommt zwar auch bey ihnen vor, aber nur als Aus-

nahme, und nur als Nachbildung der urſprünglichen Ge-

meinden. Solche willkührlich gegründete waren die Rö-

miſchen Colonieen (im Gegenſatz der Municipien), mit de-

ren Anzahl und Bedeutung in unſren neueren Staaten kein

ähnlicher Fall zu vergleichen iſt. Die Einheit der Ge-

meinden iſt eine geographiſche, da ſie ſich auf das örtliche

Verhältniß der Wohnung und des Landeigenthums gründet.

 

Künſtliche oder willkührliche juriſtiſche Perſonen ſind

alle Stiftungen und Geſellſchaften, welchen dieſe Eigen-

 

|0257 : 243|

§. 86. Juriſtiſche Perſonen. Arten.

ſchaft beſonders beygelegt iſt. Bey ihnen iſt es augen-

ſcheinlich, daß ſie lediglich dem willkührlichen Entſchluß

eines Einzelnen oder Mehrerer ihr Daſeyn verdanken.

Auf einer ſcharfen Begränzung übrigens beruht dieſer

Gegenſatz nicht; vielmehr giebt es auch juriſtiſche Perſo-

nen, welche zwiſchen beiden Arten gewiſſermaßen die Mitte

halten. Dahin gehören die Handwerkszünfte und andere

Innungen, welche ſich zuweilen an die Gemeinden an-

ſchließen, und als einzelne Beſtandtheile derſelben er-

ſcheinen.

 

2) Einige juriſtiſche Perſonen haben eine ſichtbare Er-

ſcheinung in einer Anzahl einzelner Mitglieder, die, als

ein Ganzes zuſammengefaßt, die juriſtiſche Perſon bilden;

andere dagegen haben ein ſolches ſichtbares Subſtrat nicht,

ſondern eine mehr ideale Exiſtenz, die auf einem allge-

meinen, durch ſie zu erreichenden Zweck beruht.

 

Die erſten nennen wir, mit einem aus dem lateini-

ſchen erborgten Ausdruck, Corporationen, welcher

Name daher für die Bezeichnung der juriſtiſchen Perſonen

überhaupt zu eng iſt. Es gehören dahin zunächſt alle

Gemeinden, außerdem aber auch die Innungen, und eben

ſo diejenigen Geſellſchaften, welchen die Rechte juriſtiſcher

Perſonen verliehen ſind. Das Weſen aller Corporationen

beſteht aber darin, daß das Subject der Rechte nicht in

den einzelnen Mitgliedern (ſelbſt nicht in allen Mitglie-

dern zuſammengenommen) beſteht, ſondern in dem idealen

Ganzen: eine einzelne, aber beſonders wichtige, Folge

 

16*

|0258 : 244|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

davon iſt, daß durch den Wechſel einzelner, ja ſelbſt aller,

individuellen Mitglieder das Weſen und die Einheit der

Corporation nicht afficirt wird (a).

Die zweyten pflegt man mit dem allgemeinen Namen

Stiftungen zu bezeichnen. Die hauptſächlichſten Zwecke

derſelben beſtehen in: Religionsübung (wohin die hoͤchſt

mannichfaltigen kirchlichen Inſtitute gehören), Geiſtesbil-

dung, Wohlthätigkeit (b).

 

Auch hier aber finden ſich nicht ſelten Übergänge, die

eine ſcharfe Begränzung beider Klaſſen ausſchließen; ja

ſogar Inſtitute derſelben Art haben in verſchiedenen Zei-

ten bald der einen, bald der anderen Klaſſe angehoͤrt.

So z. B. ſind die Domkapitel und Chorherrenſtifter zwar

 

(a) L. 7 § 2 quod cuj. un.

(3. 4.). „In decurionibus vel

aliis universitatibus nihil re-

fert, utrum omnes iidem ma-

neant, an pars maneat, vel om-

nes immutati sint.” Das iidem

iſt eine ganz unbedenkliche Emen-

dation von Jensius stricturae

p. 12 ed. L. B. 1764; Handſchrif-

ten und Ausgaben leſen idem.

Noch vollſtändiger entwickelt fin-

det ſich derſelbe Satz in L. 76

de jud. (5. 1.), obgleich nicht in

Anwendung auf juriſtiſche Per-

ſonen, ſondern auf mehrere für

dieſelbe Rechtsſache ernannte ju-

dices, deren individuelle Erneue-

rung kein Grund ſeyn ſoll, es für

ein anderes judicium zu halten.

(b) Wie unpaſſend es iſt, den

Namen der Corporationen für

alle juriſtiſche Perſonen zu ge-

brauchen, läßt ſich leicht an man-

chen Stiftungen recht auffallend

wahrnehmen. Wollte man z. B.

ein Hoſpital als eine Corporation

anſehen, wer wären denn die ein-

zelnen Mitglieder, deren collective

Einheit als Subject des Vermö-

gens betrachtet werden könnte?

Die in dem Hoſpital verpflegten

Kranken gewiß nicht, denn dieſe

ſind blos Gegenſtände der Wohl-

thätigkeit, nicht Theilhaber an

dem Vermögen der Anſtalt. Das

wahre Subject der Rechte iſt alſo

ein als Perſon anerkannter Be-

griff, nämlich der Zweck der Men-

ſchenliebe, der an dieſem Orte,

auf beſtimmte Weiſe, durch be-

ſtimmte Mittel, erreicht wer-

den ſoll.

|0259 : 245|

§. 86. Juriſtiſche Perſonen. Arten.

kirchliche Inſtitute, zugleich aber wahre Corporationen.

Die höheren Lehranſtalten waren bey ihrer Entſtehung

wahre Corporationen, und zwar, nach Verſchiedenheit der

Länder, bald der Lehrer, bald der Scholaren (c); in neue-

ren Zeiten aber ſind ſie immer mehr Unterrichtsanſtalten

des Staats geworden: ſie erſcheinen nun nicht mehr als

Corporationen, obgleich noch immer als juriſtiſche Perſo-

nen, das heißt des Vermögens fähige Subjecte.

3) Unter den Corporationen findet ſich wieder der Un-

terſchied, daß einige eine künſtlich ausgebildete Verfaſſung

haben, wie Stadtgemeinden und Univerſitäten (wo dieſel-

ben Corporationen waren oder noch ſind), andere nur mit

einer nothdürftigen Organiſation für beſchränkte Zwecke

verſehen ſind, wie Dorfgemeiden und (wenigſtens in den

meiſten Fällen) Handwerkszünfte. Neuere Schriftſteller

bezeichnen dieſen Gegenſatz durch die Kunſtausdrücke uni-

versitas ordinata und inordinata.

 

Ganz allein, und außer dieſen Gegenſätzen, ſteht die

größte und wichtigſte unter allen juriſtiſchen Perſonen:

der Fiscus, das heißt der Staat ſelbſt, als Subject

von privatrechtlichen Verhältniſſen gedacht. Wollte man

auch ihn als eine Corporation auffaſſen, als die Corpo-

ration aller Staatsgenoſſen, ſo würde dieſe gezwungene

Anſicht leicht zu einer verwirrenden Gleichſtellung der un-

gleichartigſten Rechtsverhältniſſe führen.

 

(c) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 3 § 59.

|0260 : 246|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 87.

Juriſtiſche Perſonen. — Geſchichte.

Bei den Römern finden ſich ſchon in der älteſten Zeit

bleibende Genoſſenſchaften von mancherley Art: beſonders

religiöſe und gewerbliche: dann auch die der untergeord-

neten Officianten, z. B. der Lictoren, welche Vereine ſpä-

terhin bey dem Kanzleyperſonal eine große Ausdehnung

erhielten. Dennoch lag in ihrem Daſeyn kein dringendes

Bedürfniß, den Begriff juriſtiſcher Perſonen auszubilden,

da bey ihnen die gemeinſame Thätigkeit und etwa die

politiſche Stellung allein von Wichtigkeit war, die Ver-

mögensfähigkeit aber mehr zurücktrat; ſo z. B. veranlaßte

zwar der Gottesdienſt nicht geringen Aufwand, aber die

Koſten deſſelben wurden vom Staat beſtritten, machten

alſo ein Corporationsvermögen der Prieſtercollegien oder

der Tempel ſelbſt weniger nöthig (Note p). Ferner konnte

die fromme Abſicht derer, die durch Stiftungen den Göt-

terdienſt fördern wollten, meiſt ganz einfach durch Conſe-

cration der dazu beſtimmten Sachen erreicht werden, wo-

durch dieſe dem Eigenthum überhaupt entzogen, alſo nicht

etwa dem Tempel oder den Prieſtern Eigenthum beyge-

legt wurden.

 

Bey der Vergrößerung des Staats waren es zuerſt

die abhängigen Gemeinden (Municipien und Colonieen),

 

|0261 : 247|

§. 87. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte.

in welchen der Begriff der juriſtiſchen Perſonen zu bedeu-

tender Anwendung, und ſo auch zu beſtimmter Ausbildung

kam; denn dieſe hatten, gleich den natürlichen Perſonen,

auf der einen Seite Bedürfniß des Vermögens und Gele-

genheit zu deſſen Erwerbung, auf der andern Seite aber

eine ſolche Abhängigkeit, wodurch ſie vor Gericht gezogen

werden konnten. In dieſer letzten Rückſicht waren ſie ver-

ſchieden vom Römiſchen Staat, der unter keinem Richter

ſtand, und deſſen Vermögensverhältniſſe mehr adminiſtrativ

behandelt wurden; daher denn auch die Betrachtung der

Römiſchen Republik und ihres Vermögens nicht die erſte

Veranlaſſung zur Anerkennung der juriſtiſchen Perſönlich-

keit und zur Ausbildung ihres Rechts gab, wenngleich zur

Sicherheit des Staats gleiche Rechtsformen, wie zur Si-

cherheit der Privatperſonen, angewendet wurden, wovon

unter andern das jus praediatorium ein Beyſpiel giebt.

Sobald aber um der abhängigen Städte willen der

Begriff einer juriſtiſchen Perſon feſtgeſtellt worden war,

kam derſelbe allmälig auch in ſolchen Fällen zur Anwen-

dung, für welche allein er urſprünglich nicht leicht erfun-

den worden wäre. Er wurde nun angewendet auf die

oben genannten uralten Genoſſenſchaften der Prieſter und

Handwerker; ferner auf den Staat, den man jetzt durch

künſtliche Reflexion aus ſich ſelbſt heraustreten ließ, unter

dem Namen des Fiscus als eine Perſon behandelte, und

ſo unter einen Richter ſtellte; endlich auf ganz ideale

Subjecte, wie Götter und Tempel.

 

|0262 : 248|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Dieſe letzte Anwendung erhielt die größte Ausdehnung

und Mannichfaltigkeit, als das Chriſtenthum zur Ober-

herrſchaft gelangte. Das ſo ausgebildete Rechtsinſtitut

erhielt in den Germaniſchen Staaten nicht nur Fortdauer,

ſondern ſelbſt weitere Entwicklung, da ihm hier, bey dem

loſeren Staatsverband, die entſchiedene Neigung der Na-

tionen zu willkührlichen Vereinen aller Art entgegen kam.

In neueren Zeiten hat das Uebergewicht centraler Staats-

gewalt die Corporationen wieder mehr in den Hintergrund

gedrängt, wie dieſes ſchon oben (§ 86) an dem Beyſpiel

der Univerſitäten bemerkt worden iſt; doch iſt das Weſen

der juriſtiſchen Perſonen dadurch nicht verändert worden.

 

Nach dieſer vorläufigen Ueberſicht ſollen nunmehr die

wichtigſten Fälle der im Römiſchen Recht vorkommenden

juriſtiſchen Perſonen zuſammen geſtellt werden.

 

I. Gemeinden.

Ganz Italien, ſeitdem es unter Römiſcher Herrſchaft

ſtand, zerfiel in eine große Anzahl von Stadtgebieten, ſo

daß Städte lange Zeit die einzigen ſelbſtſtändigen Gemein-

den waren. Alle dieſe Städte wurden zugleich als wirk-

liche Staaten gedacht, nur von Rom abhängig; ja viele

derſelben (die Municipien) waren früher unabhängig ge-

weſen, und erſt ſpäter in dieſe Abhängigkeit gekommen.

Dieſe Anſicht der Städte iſt unſrem heutigen Recht im

Ganzen fremd, und kommt nur in ſeltenen Ausnahmen

vor. — Aus den Rechtsquellen ſind dafür folgende Aus-

drücke zu bemerken.

 

|0263 : 249|

§. 87. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte.

Civitas(a).

 

Municipes(b). Dieſes iſt der gewöhnlichſte Ausdruck,

häufiger als municipium, unter andern auch deswegen,

weil jener Ausdruck die Bürger der Municipien und der

Colonieen gleichmäßig umfaßt. Dieſer Ausdruck iſt ein ſo

regelmäßiger geworden, daß er ſelbſt da die Stadt bezeich-

net, wo dieſelbe im Gegenſatz der einzelnen Bürger er-

wähnt werden ſoll (c).

 

Respublica(d). Zur Zeit der freien Verfaſſung be-

zeichnet dieſer ohne Zuſatz gebrauchte Ausdruck den Rö-

miſchen Staat: bey den alten Juriſten dagegen regelmäßig

eine abhängige Stadtgemeinde.

 

(a) L. 3. 8 quod. cuj. univ.

(3. 4.), L. 6 § 1 de div. rer.

(1. 8.), L. 4 C. de j. reipub.

(11. 29), L. 1. 3 C. de vend.

reb. civ. (11. 30.).

(b) L. 2 L. 7 pr. L. 9 quod

cuj. un. (3. 4.), L. 15 § 1 de

dolo (4. 3.) (ſ. Note i), Gajus

III. § 145. — In demſelben Sinn

aber kommt allerdings auch mu-

nicipium vor, z. B. in L. 22

de fidejuss. (46. 1.).

(c) L. 1 § 7 de quaest. (48. 18.)

„Servum municipum posse in

caput civium torqueri saepis-

sime rescriptum est: quia non

sit illorum servus, sed reipu-

blicae. Idemque in ceteris ser-

vis corporum dicendum est:

nec enim plurium servus vi-

detur, sed corporis.” Hier iſt

offenbar municipes gleichbedeu-

tend mit respublica, und den

Gegenſatz bilden die (einzelnen)

cives, auf welche nachher das

illorum geht. (Ueber die Sache

ſelbſt vgl. L. 6 § 1 de div. rer.

1. 8.). — Nur ſcheinbar ver-

ſchieden iſt der Sprachgebrauch

in Ulpian. XX. § 5. „Nec mu-

nicipia, nec municipes heredes

institui possunt, quoniam in-

certum corpus est” etc. Er will

ſagen: die Erbeinſetzung iſt gleich

ungültig, der Teſtator mag den

Ausdruck municipium oder mu-

nicipes gebraucht haben. Ulpian

ſelbſt alſo nimmt unter dieſen

Ausdrücken gar keine Verſchie-

denheit an, wie der gleich folgende

Grund deutlich zeigt.

(d) L. 1 § 1 L. 2 quod cuj.

un. (3. 4.), L. 1 C. de deb. civ.

(11. 32.). Cod. Just. Lib. 11

Tit. 29 — 32.

|0264 : 250|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Respublica civitatis oder municipii (e).

 

Commune, Communitas(f).

 

Außer den Städten ſelbſt, als den Hauptgemeinden,

kommen aber auch einzelne Beſtandtheile derſelben als

juriſtiſche Perſonen vor. Dahin gehören folgende Fälle:

 

Curiae, oder Decuriones. Gewöhnlich ſtehen die de-

curiones entweder blos als Einzelne, im Gegenſatz der

Stadt (g), oder auch für die Stadt ſelbſt, welche ja ganz

durch ſie regiert und vertreten wird (h). Zuweilen aber

kommen ſie auch als beſondere Corporation innerhalb der

Stadt vor, mit einem eigenen Vermögen verſehen (i).

 

Vici. Die Dörfer haben, politiſch betrachtet, durchaus

keine Selbſtſtändigkeit, indem ſie ſtets zu einem Stadtge-

biet gehören (k). Dennoch ſind ſie auch für ſich juriſtiſche

 

(e) L. 2 C. de deb. civ. (11.32.),

L. 31 § 1 de furtis (47. 2) „..

reipublicae municipii alicujus

… Idemque scribit et de ceteris

rebus publicis deque societati-

bus.” Die ceterae res publicae

ſind coloniae, fora, conciliabula

u. ſ. w.

(f) Wassenaer p. 409.

(g) L. 15 § 1 de dolo (4. 3.)

„Sed, an in municipes de dolo

detur actio, dubitatur. Et puto,

ex suo quidem dolo non posse

dari: quid enim municipes dolo

facere possunt? Sed si quid ad

eos pervenit ex dolo eorum,

qui res eorum administrant,

puto dandam. De dolo autem

decurionum in ipsos decuriones

dabitur de dolo actio.”

(h) L. 3 quod cuj. un. (3. 4.)

„Nulli permittetur nomine ci-

vitutis vel curiae experiri, nisi

ei cui lex permittit” etc.

(i) L. 7 § 2 quod. cuj. un.

(3. 4.) „In decurionibus vel aliis

universitatibus nihil refert” etc.

L. 2 C. de praed. decur. (10. 33.).

(k) L. 30 ad munic. (50. 1.)

Qui ex vico ortus est, eam

patriam intelligitur habere, cui

reipublicae vicus ille respondet.”

Alſo iſt der vicus ſelbſt keine res-

publica, ſondern Theil einer ſol-

chen. Dieſem widerſpricht nicht

Festus v. vici: „.. Sed ex vicis

partim habent rempub. et jus

dicitur; partim nihil eorum, et

tamen ibi nundinae aguntur ne-

gotii gerendi causa, et magistri

|0265 : 251|

§. 87. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte.

Perſonen, und können ſowohl eigenes Vermögen erwer-

ben (l), als Prozeſſe führen (m).

Fora, Conciliabula, Castella. Es waren Orte, die

an Umfang und Wichtigkeit zwiſchen den Städten und

Dörfern in der Mitte ſtanden; ſie gehörten gleichfalls zu

einem Stadtgebiet, und hatten gewiß auch Corporations-

rechte (n).

 

In ſpäterer Zeit wurden auch ganze Provinzen als

juriſtiſche Perſonen, mithin als größere Gemeinden be-

handelt (o).

 

vici, item magistri pagi quo-

tannis fiunt.” Sie hatten alſo

nur bald mehr, bald weniger

Stücke einer Gemeindeverfaſſung;

die vollſtändigeren ſind vielleicht

gerade die, welche ſonſt fora und

conciliabula heißen (Note n).

Die hier erwähnte jurisdictio

geht nicht auf örtliche Gerichts-

obrigkeiten, ſondern der ſtädtiſche

magistratus begab ſich an dieſe

Orte hin, um daſelbſt Gericht zu

halten. — Hierin war alſo der

Römiſche Zuſtand von dem un-

ſrigen völlig verſchieden; denn bey

uns ſind Dörfer (oder auch Kirch-

ſpiele und Bauerſchaften ohne

Dörfer) ſelbſtſtändige Gemeinden,

völlig unabhängig von den Städ-

ten (vgl. Eichhorn deutſches

Privatrecht § 379. 380); ja wenn

ausnahmsweiſe manche Dörfer

von Städten abhängen, ſo ſteht

dieſes in Verbindung mit dem

den Römern ganz fremden guts-

herrlichen Verhältniß. — Außer-

dem kommt heutzutage noch eine

andere gleichfalls geographiſche,

den Römern unbekannte, Art von

Corporationen vor, die wichtigen

Markgenoſſenſchaften. Vgl.

Eichhorn deutſches Privatrecht

§ 168. 372.

(l) L. 73 § 1 de leg. 1 (30. un.).

„Vicis legata perinde licere

capere atque civitatibus, re-

scripto Imperatoris nostri sig-

nificatur.”

(m) L. 2 C. de jurejur. pro-

pter cal. (2. 59.) „sive pro ali-

quo corpore, vel vico, vel alia

universitate.”

(n) Es iſt merkwürdig, daß

dieſe Gemeinden in den Juſtinia-

niſchen Rechtsquellen nicht er-

wähnt werden. Sie kommen vor

in der Tafel von Heraklea, der

Lex de Gallia cisalpina, und bey

Paulus IV. 6. § 2.

(o) Cod.Theod. Lib 2 Tit. 12

Dirkſen S. 15.

|0266 : 252|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Bey den Agrimenſoren heißen die Gemeinden, und zwar

namentlich die Colonieen, publicae personae, welcher Aus-

druck ihr politiſches Weſen, als Grundlage der privat-

rechtlichen Perſönlichkeit ſehr gut bezeichnet (p).

 

(p) Aggenus ap. Goes. p. 56.

„Quaedam loca feruntur ad pu-

blicas personas attinere. Nam

personae publicae etiam colo-

niae vocantur, quae habent as-

signata in alienis finibus quae-

dam loca quae solemus prae-

fecturas appellare. Harum prae-

fecturarum proprietates mani-

feste ad colonos pertinent” etc.

(alſo hier coloni für colonia,

eben ſo wie oben municipes,

Note b. c. g). — Daſſelbe faſt

wörtlich gleichlautend, p. 67. —

Aggenus p. 72 „haec inscriptio

videtur ad personam coloniae

ipsius pertinere quae nullo mo-

do abalienari possunt a repu-

blica: ut si quid in tutelam

aut templorum publicorum, aut

balnearum adjungitur: habent

et respub. loca suburbana in-

opum funeribus destinata.”

|0267 : 253|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

§. 88.

Juriſtiſche Perſonen. — Geſchichte. (Fortſetzung)

II. Willkührliche Vereinigungen.

A.

Religiöſe Vereine. — Dahin gehören die Col-

legien der Prieſter (auch Tempelcollegien genannt) und

der Veſtalinnen. Beide konnten Eigenthum erwerben, und

in letzten Willen bedacht werden (a).

 

B.

Beamtenvereine. — Die untergeordneten Offi-

cianten, die von den Obrigkeiten zur Beſorgung verſchie-

dener Geſchäfte gebraucht wurden, erſcheinen ſchon frühe

als Corporationen (§ 87). Beſonders war ſtets zuneh-

mend, an Zahl der Mitglieder und an Wichtigkeit, das

Schreiberperſonal, deſſen Mitglieder in allen Zweigen des

öffentlichen Dienſtes benutzt wurden, daneben aber auch,

ſo wie unſere Notare, für Privatperſonen ähnliche Ge-

ſchäfte beſorgten (b). Sie kommen unter verſchiedenen Na-

men vor, hergenommen von beſonderen Beſchäftigungen,

wie librarii, fiscales, censuales: der allgemeinſte Name

 

(a) Hyginus p. 206 ed. Goesii:

„Virginum quoque Vestalium

et sacerdotum quidam agri vec-

tigalibus redditi sunt et locati.”

— L. 38 § 6 de leg. 3 (32. un.).

Es war folgendes Fideicommiß

gegeben: „MM. sol. reddas col-

legio cujusdam templi. Quae-

situm est cum id collegium po-

stea dissolutum sit” etc. — Vgl.

Wassenaer p. 415. Dirkſen

S. 50. 117. 118.

(b) Niebuhr Römiſche Ge-

ſchichte B. 3 S. 349 — 353. Sa-

vigny Geſchichte des R. R. im

Mittelalter B. 1 § 16. 111. 140.

— Vgl. J. Gothofred. in Cod.

Theod. XIV. 1. Dirkſen

S. 46. 58.

|0268 : 254|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

aber war früher Scribae. Sie waren in beſondere Ab-

theilungen geordnet, welche decuriae hießen, und es war

ganz zufällig, daß dieſer an ſich generiſche Name (c) für

ſie als individuelle Bezeichnung üblich wurde. Decuriae

alſo, ohne weiteren Zuſatz, bezeichnet ſchon in der Re-

publik, und dann ſtets unter den Kaiſern, die Innungen

der Schreiber; die einzelnen Mitglieder heißen decuriati,

und in ſpäterer Zeit decuriales. Es war natürlich, daß

die Schreiberzünfte in Rom, und dann auch in Conſtan-

tinopel, beſonders ausgezeichnet und privilegirt wurden (d).

C.

Gewerbliche Vereine(e).

 

Dahin gehören zuerſt die uralten Handwerkszünfte, die

ſich durch alle Zeiten erhielten, zum Theil auch (wie die

Schmiede) mit beſonderen Privilegien verſehen waren (f).

Ferner auch neuere, wie in Rom die Bäckerzunft, in Rom

und in den Provinzen die Schiffer (g). Die Geſchäfte der-

 

(c) Decuria heißt eigentlich ein

Verein von zehen Perſonen, dann

aber auch ein Collegium über-

haupt, ohne Rückſicht auf die

Zahl der Mitglieder. Der Aus-

druck kommt auch bey dem Se-

nat vor (in Rom und in den

Landſtädten), ferner bey den ju-

dices; aber in keiner dieſer An-

wendungen iſt er zu ſo üblicher,

vorherrſchender Bezeichnung ge-

braucht worden, wie bey den

Schreibern.

(d) Hauptſtellen über dieſe De-

curien ſind folgende: Cicero in

Verrem III. 79, ad Quintum fra-

trem II. 3. Tacitus ann. XIII.

27. Sueton. August. 57, Clau-

dius 1. — L. 3 § 4 de B. P. (37. 1.),

L. 22 de fidejuss. (46. 1.), L. 25

§ 1 de adqu. vel om. her. (29. 2.),

Cod. Just. XI. 13, Cod. Theod.

XIV. 1. — Vgl. Averanius In-

terpret. II. 19 § 1.

(e) Niebuhr B. 3 S. 349.

Dirkſen S. 34 fg. — Über die

heutigen Zünfte als Inhaber von

Vermögensrechten vergl. Eich-

horn deutſches Privatrecht § 371

— 373.

(f) L. 17 § 2 de excus. (27. 1.),

L. 5 § 12 de j. immun. (50. 6.).

(g) L. 1 pr. quod cuj. univ.

(3. 4.), L. 5 § 13 de j. immun.

|0269 : 255|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

ſelben waren gleichartig (und darauf gründeten ſich ihre

Vereine), nicht gemeinſchaftlich: jeder Einzelne arbeitete,

ſo wie bey uns, auf eigene Rechnung.

Allein auch gemeinſchaftliche gewerbliche Unternehmun-

gen kommen in der Geſtalt juriſtiſcher Perſonen vor. Der

allgemeine Name ſolcher Verbindungen iſt Societas, und

die meiſten derſelben hatten eine blos contractliche Natur,

erzeugten Obligationen, und waren der Auflöſung durch

Kündigung ſo wie durch den Tod jedes einzelnen Mitglie-

des unterworfen. Einzelne darunter erhielten jedoch das

Recht von Corporationen, ohne darum den allgemeinen

Namen Societates aufzugeben (h). Dahin gehoͤrten die

Geſellſchaften zum Betrieb von Bergwerken, Salinen und

Zollpachtungen (i).

 

D.

Geſellige Vereine, Sodalitates, Sodalitia, Col-

legia sodalitia(k). Der ältere Cato (bey Cicero) erzählt

 

(50. 6.). — Als Elemente der

Stadtgemeinden ſelbſt, und als

Träger politiſcher Rechte, konn-

ten übrigens weder die alten noch

die neuen Zünfte betrachtet wer-

den. Darin waren die alten Stadt-

verfaſſungen weſentlich verſchieden

von den in den Germaniſchen

Staaten entſtandenen: denn in

dieſen waren die Zünfte an Stel-

lung und Wichtigkeit den Römi-

ſchen Tribus zu vergleichen.

(h) L. 1 pr. § 1 quod cuj. univ.

(3. 4), L. 3 § 4 de B. P. (37. 1.),

L. 31 § 1 de furtis (47. 2.) (ſ. o.

§ 87. e). In L. 1 pr. cit. muß

man mit Haloander leſen: „Ne-

que societatem (Flor. societas),

neque collegium, neque hujus-

modi corpus passim omnibus

habere conceditur” etc. — Zur

Unterſcheidung von dieſen corpo-

rativen Societäten werden dann

die blos contractlichen auch wohl

privatae societates genannt.

L. 59 pr. pro soc. (17. 2.).

(i) L. 1 pr. quod cuj. univ.

(3. 4.), L. 59 pr. pro soc. (17. 2.).

(k) Dieſer letzte Ausdruck ſteht

in L. 1 pr. de coll. (47. 22.).

Haloander lieſt sodalitia (ohne

collegia), und dieſes ſcheint auch

(nach der Gloſſe) die Vulgata zu

ſeyn, obgleich manche alte Aus-

|0270 : 256|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ihre erſte Entſtehung während ſeines Mannesalters, und

beſchreibt ſie mit großem Behagen als Zuſammenkünfte

zu gemeinſchaftlichen Gaſtmahlen, mäßig, aber in froher

Geſelligkeit: zugleich, nach der Sitte der alten Zeit, in

Verbindung mit gemeinſchaftlichem Gottesdienſt (l). Es

war alſo das was wir Clubbs nennen, und wenn wir

dieſe Vereine ſpäterhin als minder harmlos, ja als poli-

tiſch gefährlich, erwähnt finden, ſo folgt daraus gar nicht,

daß unter jenem Ausdruck Inſtitute verſchiedener Art ver-

ſtanden werden müßten, ſondern nur, daß die Beſchaffen-

heit derſelben durch den allgemeinen Character jedes Zeit-

alters beſtimmt wurde. Die früher blos geſelligen Clubbs

wurden in aufgeregten Zeiten (wie es auch in unſeren

Tagen geſchehen iſt) Mittelpunkte der politiſchen Factio-

nen, ja es wurden nun ohne Zweifel auch neue lediglich

zu dieſem Zweck geſtiftet. — Dadurch erklärt ſich denn

zugleich Dasjenige, was von öfteren Verboten derſelben

berichtet wird. In einzelnen Fällen großer Bewegung

gaben das Florentiniſche collegia

sodalitia haben, z. B. Venet. 1485,

Lugd. Fradin. 1511. In meiner

Handſchrift fehlen die Worte col-

legia sodalitia neve milites, ſo

daß es heißt ne patiantur esse

collegia in castris habeant. So

mag überhaupt die bald folgende

Wiederholung des Wortes col-

legia Veranlaſſung zur irrigen

Weglaſſung gegeben haben. —

Übrigens hat Sodalitia, allein ſte-

hend, ſehr alte Autoritäten für ſich,

ſo daß es wohl nur zufällig in

den Rechtsquellen nicht vorkommt.

(l) Cicero de senect. C. 13.

Cato zählt hier die Freuden des

Alters auf. „Sed quid ego ali-

os? ad meipsum jam revertar.

Primum habui semper sodales;

sodalitates autem me quaestore

constitutae sunt, sacris Idaeis

Magnae Matris acceptis; epu-

labar igitur cum sodalibus om-

nino modice, sed erat quidam

fervor aetatis, qua progrediente

|0271 : 257|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

waren die öffentlichen Plätze von den Clubbs und den

Schreibercollegieen beſetzt worden: der Senat befahl ihnen

aus einander zu gehen, und brachte einen Antrag an das

Volk, um dieſem Befehl durch die Drohung eines publi-

cum judicium Nachdruck zu geben (m). Dann wurden im

Allgemeinen die collegia aufgehoben (n). So erſcheint denn

auch in unſren Rechtsquellen die bleibende Regel, kein

Verein dürfe ohne obrigkeitliche Erlaubniß geſtiftet wer-

den, und dieſe Erlaubniß werde nicht leicht noch häufig

ertheilt; die unerlaubte Theilnahme daran werde criminell,

und zwar als extraordinarium crimen, beſtraft (o). Die-

omnia fient in dies mitiora; ne-

que enim ipsorum conviviorum

delectationem voluptatibus cor-

poris magis, quam coetu ami-

corum et sermonibus metie-

bar.” — Festus v. Sodales giebt

mehrere Etymologieen an, woraus

für die Sache erhellt, daß es Gaſt-

mahle mit zuſammengetragenen

Speiſen waren (Pickenicks).

(m) Cicero ad Quintum fra-

trem II. 3 „Sc. factum est, ut

sodalitates decuriatique disce-

derent: lexque de iis ferretur,

ut, qui non discessissent, ea

poena quae est de vi tene-

rentur.”

(n) Asconius in Cornelianam

(p. 75 ed. Orelli) „Frequenter

tum etiam coetus factiosorum

hominum sine publica auctori-

tate malo publico fiebant: pro-

pter quod postea collegia Scto

et pluribus legibus sunt subla-

ta, praeter pauca atque certa,

quae utilitas civitatis deside-

rasset quasi, ut fabrorum ficto-

rumque” (al. lictorumque, wel-

ches beſſer ſcheint; denn fictor be-

zeichnet mehr das Abſtractum des

Bildners, die Töpfer dagegen, de-

ren Zunft allerdings uralt war,

heißen figuli. Vgl. Plinius hist.

nat. XXXV. 12). — Asconius in

Pisonianam (p. 7 ed. Orelli)

„.. qui ludi sublatis collegiis

discussi sunt. Post novem dein-

de annos, quam sublata erant,

P. Clodius trib. pl. lege lata re-

stituit collegia.”

(o) L. 1. 2. 3 de coll. et corp.

(47. 22.), L. 1 pr. quod cuj. un.

(3. 4.). Wenn eine ſolche ver-

ſuchte Verbindung misbilligt und

aufgelöſt wird, folglich als juri-

ſtiſche Perſon niemals entſteht,

ſo können natürlich die Mitglieder

den zuſammen gebrachten Fonds

II. 17

|0272 : 258|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſes Alles hat man nicht ſelten von einer allgemeinen Auf-

hebung aller Corporationen verſtanden; allein Niemand

dachte daran, z. B. die uralten Handwerkerzünfte, oder

gar die Prieſtercollegien zu verbieten. Man meynte die

factiöſen, politiſch gefährlichen Clubbs, und fand vielleicht

eine genauere Bezeichnung des verbotenen Gegenſtandes

nicht nöthig, weil ohnehin jeder wußte, wovon die Rede

fey (p). Es hatten aber jene Regeln unſrer Rechtsquel-

len einen doppelten Sinn, der nur in den Worten nicht

deutlich unterſchieden wird: erſtlich, daß überhaupt ein

Verein nicht ohne oͤffentliche Genehmigung zur juriſtiſchen

Perſon werde, und dieſer, noch in dem heutigen Recht

beſtehende wichtige Rechtsſatz iſt ganz unabhängig von dem

unſchuldigen oder bedenklichen Character des Vereins: zwey-

wieder zurücknehmen, alſo unter

ſich vertheilen. L. 3 de coll. et

corp. „.. permittitur eis, cum

dissolvuntur, pecunias commu-

nes, si quas habent, dividere” …

Mit Unrecht haben hieraus Man-

che gefolgert, daß auch wenn eine

Corporation wirklich beſtanden

habe, und nachher ſich auflöſe,

ihr Vermögen ſtets unter die Mit-

glieder vertheilt werden müſſe; in

dem Fall jener Stelle war blos

die factiſche Vereinigung Einzel-

ner diſſolvirt worden, eine Cor-

poration hatte niemals angefan-

gen. Vgl. Marezoll in Grol-

mans und Löhrs Magazin B. 4

S. 207.

(p) Vgl. über das Geſchichtli-

che dieſer Verbote Dirkſen

S. 34 — 47. — Nach Asconius

(Note n) könnte man glauben,

daß nur einige wenige Collegieen

von dem Verbot namentlich aus-

genommen, die übrigen alle auf-

gehoben worden wären. Zu buch-

ſtäblich iſt das aber wohl nicht

zu nehmen, denn es iſt kaum denk-

bar, daß irgend eine der alten

Handwerkszünfte verboten ſeyn

ſollte, von den Societäten der

Zollpächter iſt es noch unwahr-

ſcheinlicher, und von den Prie-

ſtercollegien (die doch auch unter

den Buchſtaben jener Erzählung

fallen würden) iſt es völlig un-

denkbar.

|0273 : 259|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

tens, daß ungenehmigte Vereine verboten und ſtrafbar ſind,

und dieſes geht nur auf Vereine, die wirklich gefährlich

ſind, oder durch ihre Unbeſtimmtheit gefährlich werden

können (wobey dann die juriſtiſche Perſönlichkeit blos Ne-

benſache iſt), niemals auf blos gewerbliche Unternehmungen.

Eine ähnliche Natur mit jenen Clubbs aus der Zeit

der Republik hatten, wie es ſcheint, die weit neueren

Collegia tenuiorum, von welchen Folgendes gemeldet wird.

Solche Vereine geringer Leute ſollten zwar geſtattet ſeyn,

jedoch nur mit Einer Zuſammenkunft in jedem Monat,

wozu denn auch monatliche Beyträge gegeben wurden.

Niemand ſollte in mehreren derſelben zugleich Mitglied

ſeyn. Auch Sklaven konnten Theil nehmen, doch nur mit

Erlaubniß ihrer Herren (q).

 

Für alle dieſe willkührlich gebildete Corporationen gilt

die gemeinſame Bemerkung, daß ſie als Nachahmungen

der Stadtgemeinden betrachtet werden, und gleich dieſen

Vermögen und Vertreter haben, welches eben das Weſen

der juriſtiſchen Perſonen ausmacht (r). — Unter ihnen iſt

 

(q) L. 1 pr. § 2. L. 3 § 2 de

coll. et corp. (47. 22.). — Un-

richtig hat man mit dieſen col-

legiis tenuiorum in Verbindung

gebracht die Regel, nach welcher

die Immunitäten, welche man-

chen Handwerkszünften ertheilt

waren, nur den ärmeren Mitglie-

dern (tenuioribus) zu gut kom-

men ſollten, nicht den reichen,

die durch ihr Vermögen (noch au-

ßer ihrem Handwerk) hinreichende

Mittel beſaßen, die ſtädtiſchen La-

ſten zu tragen. L. 5 § 12 de j.

immun. (50. 6.).

(r) L. 1 § 1 quod cuj. un.

(3. 4.). „Quibus autem permis-

sum est corpus habere colle-

gii, societatis, sive cujusque al-

terius eorum nomine, propri-

17*

|0274 : 260|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

die ſchon oben (§ 86) bemerkte Verſchiedenheit wahrzu-

nehmen, daß einige auf bleibenden Bedürfniſſen, ähnlich

den Gemeinden, beruhten, wie die Prieſtercollegien, De-

curien, Handwerkszuͤnfte: andere auf vorübergehenden Be-

dürfniſſen und mehr willkührlichen Entſchließungen, wie

die Societates und Sodalitates.

Über die Benennungen iſt Folgendes zu bemerken. Ei-

nige ſpecielle Namen (decuriae, societates, sodalitates)

ſind bereits angegeben worden. Zwey Namen aber ſind

ihnen allen gemeinſchaftlich, und werden als ſolche ab-

wechslend gebraucht: collegium und corpus, wie denn auch

ſchon oben collegia templorum und collegia sodalitia nach-

gewieſen worden ſind (Note a und k). Wenn zuweilen

dieſe Ausdrücke unterſchieden zu werden ſcheinen, ſo rührt

das blos daher, daß die einzelnen Corporationen nicht

beide Namen abwechslend gebrauchten, ſondern einen aus-

ſchließend: welchen ſie aber führten, das war ganz zu-

fällig. Wenn alſo z. B. geſagt wird: neque collegium

neque corpus habere conceditur (Note h), ſo heißt das

ſo viel: die willkührliche Bildung von Vereinen iſt uner-

laubt, ſie mögen nun den Namen collegium oder corpus

führen wollen (s). Jeder dieſer Ausdrücke alſo bezeichnet

 

um est, ad exemplum Reipu-

blicae, habere res communes,

arcam communem, et actorem

sive Syndicum, per quem, tam-

quam in Republica, quod com-

muniter agi fierique oporteat,

agatur, fiat.”

(s) L. 1 pr. § 1 quod cuj. un.

(3. 4.) (ſ. o. Note h), rubr. tit.

Dig. de collegiis et corporibus

(47. 22.), L. 1 pr. § 1 L. 3 § 1.

2 eod., L. 17 § 3 L. 41 § 3 de

excus. (27. 1.), L. 20 de reb.

dub. (34. 5.). — Nach Stryk us.

|0275 : 261|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

eine willkührliche Corporation, mithin den Gegenſatz gegen

ſtädtiſche Gemeinden (t).

Die einzelnen Mitglieder heißen, in wechſelſeitiger Be-

ziehung zu einander, collegae (u), auch sodales, welcher

Name alſo eine allgemeinere Bedeutung und eine ältere

Entſtehung als sodalitas hatte (v); in abſoluter Bedeu-

tung heißen ſie collegiati und corporati (w). — Bey ein-

zelnen oben erwähnten Arten ſolcher Corporationen hei-

ßen die Mitglieder Decuriati, Decuriales (Note d), Socii

(Note h).

 

Der gemeinſchaftliche Name für alle Corporationen,

Städte und andere, iſt Universitas (x), und im Gegenſatz

 

mod. XLVII. 22 § 1 heißt cor-

pus eine aus mehreren collegiis

beſtehende Corporation; dieſer

ganz unrömiſche Sprachgebrauch

gründet ſich auf den ſehr zufäl-

ligen Umſtand, daß in unſren

Univerſitäten der ganze Senat das

corpus academicum heißt, die

einzelnen Facultäten collegia.

(t) L. 1 § 7 de quaest. (48. 18.).

(u) L. 41 § 3 de excus. (27. 1.),

Fragm. Vatic. § 158.

(v) So die uralten Sodales

Titii oder Tatii, dann die So-

dales Augustales u. ſ. w. Ta-

citus ann. I. 54. — Vgl. L. 4

de coll. et corp. (47. 22.), nach

welcher Stelle es ſcheint, daß auch

ſchon die zwölf Tafeln dieſen Aus-

druck enthielten.

(w) L. un. C. de priv. corpo-

rat. (11. 14.). L. 5 C. de com-

merc. (4. 63.).

(x) rubr. Dig. Lib. 3 tit. 4, L. 1

pr. § 1. 3 L. 2 L. 7 § 2 eod. (zu

L. 2 cit. vergl. Schulting notae

in Dig.). — Es iſt nur eine un-

ter den vielen Anwendungen die-

ſes Ausdrucks, der ja jede Ge-

ſammtheit von Perſonen, Sachen

oder Rechten bezeichnet (§ 56. n),

alſo auch ganz andere Begriffe als

den einer juriſtiſchen Perſon. So

z. B. bedeutet in L. 1 C. de ju-

daeis (1. 9.) die universitas Ju-

daeorum in Antiochiensium ci-

vitate nur die Geſammtheit der

einzelnen daſelbſt wohnenden Ju-

den (universi Judaei), nicht eine

juriſtiſche Perſon; denn eine ſol-

che ſollten ſie ja gerade nach die-

ſer Stelle nicht bilden, und na-

mentlich ſollte ihnen kein gülti-

ges Legat gegeben werden kön-

nen. Vgl. Zimmern Rechts-

geſchichte B. 1 § 130.

|0276 : 262|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

derſelben heißt die natürliche Perſon, oder der einzelne

Menſch, singularis persona (y).

III. Stiftungen, oder unſichtbare juriſtiſche Perſo-

nen (§ 86). Seitdem die chriſtliche Religion herrſchend

wurde, kamen jene in der größten Ausdehnung und Man-

nichfaltigkeit vor, und wurden mit vieler Begünſtigung

behandelt. Einen gemeinſamen Namen führen ſie in den

Rechtsquellen nicht, und erſt die Neueren haben dafür den

Ausdruck pia corpora erfunden (z). Um ihr eigentliches

Weſen durch den Gegenſatz klarer hervor treten zu laſſen,

wird es zuträglich ſeyn, zuvor den Zuſtand des vorchriſt-

lichen Roms zu betrachten.

 

In der früheren Zeit ſind ſolche juriſtiſche Perſonen

außerordentlich ſelten, und es kommt davon nur Folgen-

des vor, welches ſich lediglich auf religiöſe Auſtalten be-

zieht. Einige beſtimmte Götter hatten ausnahmsweiſe das

Vorrecht bekommen, daß ſie zu Erben eingeſetzt werden

durften (aa). Darauf iſt es denn auch ohne Zweifel zu

beziehen, wenn gültige, einem Tempel angewieſene, Fidei-

commiſſe (bb), und wenn Sklaven und Freygelaſſene, die

 

(y) L. 9 § 1 quod metus. (4. 2.).

(z) Viele derſelben finden ſich

zuſammen geſtellt in L. 23 C. de

SS. eccl. (1. 2.), L. 35. 46 C. de

ep. et cler. (1. 3). — Vgl. über-

haupt Mühlenbruch T. 1 § 201.

Schilling Inſtitutionen B. 2

§ 49. — Allerdings ſteht in L. 19

C. de SS. eccles. (1. 2.) „dona-

tiones super piis causis factae;”

allein dieſer Ausdruck bezeichnet

den frommen Zweck der Schen-

kung, nicht die juriſtiſche Perſon

als Donatar.

(aa) Ulpian. XXII. § 6. „Deos

heredes instituere non possu-

mus, praeter eos quos Scto,

constitutionibus Principum, in-

stituere concessum est: sicuti

Jovem Tarpejum” etc.

(bb) L. 20 § 1 de annuis leg.

(33. 1.). Es war den Prieſtern

|0277 : 263|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

einem Tempel angehören, erwähnt werden, welches letzte

jedoch vielleicht als ein allgemeines Recht aller Tempel,

unabhängig von jenen Privilegien wegen der Teſtamente,

angeſehen werden mochte (cc).

Wie iſt nun dieſe Verſchiedenheit der Zeiten in der

Annahme und Behandlung ſolcher juriſtiſchen Perſonen zu

erklären? Gleichgültig gegen ihren Cultus waren die Rö-

mer in der vorchriſtlichen Zeit gewiß nicht; aber er war

Staatscultus, und die Staatskaſſe deckte ſeine großen

Ausgaben; wie in Rom, eben ſo in jeder Stadt des

Reichs. Es konnte dafür noch beſonders geſorgt ſeyn

durch gewiſſe Güter des Staats oder der Städte, deren

Ertrag für ſolche fromme Zwecke bleibend angewieſen

war, während das Eigenthum ſelbſt dennoch dem Staat

oder der Stadt gehörte (§ 87. p). Daß mit dem Chri-

 

und Dienern eines beſtimmten

Tempels ein Fideicommiß gege-

ben; dieſes wird für gültig er-

klärt, und ſo ausgelegt: „Re-

spondit … ministerium nomi-

natorum designatum: ceterum

datum templo.”

(cc) Varro de lingua latina

Lib. 8 (ſonſt 7) C. 41. Er will

beweiſen, daß in der Sprache

überhaupt keine Analogie beob-

achtet werde, und führt als Bey-

ſpiel an, daß manche Eigennamen

von Orten abgeleitet ſeyen, an-

dere gar nicht, oder doch nicht

auf die rechte Weiſe: „alii no-

mina habent ab oppidis; alii

aut non habent, aut non ut

debent habent. Habent pleri-

que libertini a municipio ma-

numissi; in quo, ut societatum

et fanorum servi, non serva-

runt pro portione rationem.”

Die übrige nicht geringe Schwie-

rigkeit der Stelle gehört nicht hier-

her. Vgl. auch Cicero divinat.

in Caecil. C. 17. — Gar Nichts

beweiſen für die Vermögensfähig-

keit die allerdings ſehr häufig er-

wähnten Geſchenke an Götter;

denn das ſo Geſchenkte wurde ge-

wiß meiſt conſecrirt, ſtand alſo

nun außer allem Eigenthum, und

ſetzt daher gar nicht die Eigen-

thumsfähigkeit des ſo beſchenkten

Gottes voraus.

|0278 : 264|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſtenthum eine andere Anſicht geltend wurde, erklärt ſich

aus ſeiner Einheit und Selbſtſtändigkeit, und beſonders

aus der weit größeren Macht, die es über die Gemüther

ausübte. — Was aber die Anſtalten der Wohlthätigkeit

betrifft, ſo hatten dieſe zur Zeit der Republik weniger ei-

nen menſchlichen, als einen politiſchen Character; ſo der

ungeheuere Aufwand, wodurch für die Erhaltung und das

Vergnügen der geringen Klaſſen der Einwohner, theils

aus Staatskaſſen, theils von den einzelnen Obrigkeiten,

geſorgt wurde. Wenn ſpäter von manchen Kaiſern Wohl-

thätigkeit geübt wurde, wie von Trajan durch ſeine groß-

artige Stiftung für arme Kinder in Italien, ſo beruhte

dieſes auf vereinzelter, vorübergehender perſönlicher Will-

kühr. Es war dem Chriſtenthum vorbehalten, die Men-

ſchenliebe an ſich zu einem wichtigen Gegenſtand der Thä-

tigkeit zu erheben, und in dauernden, unabhängigen An-

ſtalten gleichſam zu verkörpern.

Seitdem nun, unter der Herrſchaft chriſtlicher Fürſten,

die kirchlichen Inſtitute als juriſtiſche Perſonen auftreten,

welches iſt hier der Punkt, wohin wir die Perſönlichkeit

zu verſetzen haben, oder wie haben wir uns genau das

Subject der ihnen zuſtehenden Vermoͤgensrechte zu denken?

Vor Allem iſt hierin folgender Gegenſatz gegen die frühere

Zeit unverkennbar. Die alten Götter wurden gedacht als

individuelle Perſonen, ähnlich den einzelnen, ſichtbar um-

her wandelnden Menſchen; Nichts war natürlicher, als

daß Jeder derſelben ſein eigenes Vermögen haben konnte,

 

|0279 : 265|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

und es war nur eine Fortſetzung deſſelben Gedankens,

wenn auch der in einem einzelnen Tempel verehrte Gott

wieder eine beſondere juriſtiſche Perſon vorſtellte, ja ſelbſt

eigene Privilegien erhielt (dd). Die chriſtliche Kirche da-

gegen beruht auf dem Glauben an Einen Gott, und ſie

iſt durch den gemeinſamen Glauben an dieſen Einen Gott

und deſſen beſtimmte Offenbarung zu Einer Kirche ver-

bunden. Es lag alſo ſehr nahe, dieſe Einheit auch auf

die Vermögensverhältniſſe zu übertragen, und dieſe Auf-

faſſung findet ſich in ganz verſchiedenen Zeitaltern, ſowohl

in der Lehre von Schriftſtellern, als in dem Gefühl und

der Ausdrucksweiſe einzelner Urheber von Stiftungen. So

geſchah es alſo ganz gewöhnlich, daß als Eigenthümer

des Kirchengutes bald Jeſus Chriſtus, bald die allgemeine

chriſtliche Kirche, oder auch deren ſichtbares Oberhaupt,

der Pabſt, bezeichnet wurde. Allein bey genauerer Be-

trachtung mußte man ſich überzeugen, daß auf dem, an

ſich nothwendig beſchränkten, Rechtsgebiet dieſe Auffaſſung

völlig unbrauchbar ſey, und daß an ihre Stelle die An-

nahme individueller juriſtiſcher Perſonen, auch in Bezie-

hung auf das Kirchengut, geſetzt werden müſſe.

In dieſem Sinn enthält ſchon ein Geſetz von Juſti-

nian folgende Beſtimmungen (ee). Wenn ein Teſtator Je-

ſus Chriſtus zum Erben einſetzt, ſo iſt darunter die Kirche

ſeines Wohnorts zu verſtehen. Setzt er einen Erzengel

 

(dd) Ulpian. XXII. § 6

(ee) L. 26 C. de SS. eccles. (1. 2.); die Stelle iſt nicht gloſſirt.

|0280 : 266|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

oder einen Märtyrer zum Erben ein, ſo iſt die demſelben

gewidmete Kirche des Wohnorts, oder (wenn ſich da eine

ſolche nicht findet) der Hauptſtadt der Provinz als ein-

geſetzter Erbe gemeynt. Bleibt nach dieſen Regeln eine

Ungewißheit unter mehreren Kirchen übrig, ſo hat dieje-

nige den Vorzug, zu welcher der Teſtator in ſeinem Leben

beſondere Zuneigung zeigte, und wenn auch dieſer Um-

ſtand nicht entſcheidet, die ärmſte unter jenen Kirchen. —

Subject des Erbrechts iſt alſo eine individuelle Kirchen-

gemeinde, das heißt die Corporation der zu dieſer Kirche

gehörenden Chriſten.

Derſelbe Grundſatz findet ſich in den Schriftſtellern

ganz verſchiedener Jahrhunderte: ſowohl vor der Reforma-

tion (ff), als nach derſelben; bey Katholiken (gg) eben ſo-

wohl, als bey Proteſtanten (hh). Dieſe erkennen gleichmäßig

die individuelle Kirchengemeinde als Inhaber des Kirchen-

vermögens an, namentlich alſo bey den Pfarrgütern die

 

(ff) Jo. Faber in Instit. § Nul-

lius, de divis. rerum; Franzöſi-

ſcher Juriſt des vierzehnten Jahr-

hunderts.

(gg) Gonzalez Tellez in

Decr. Lib. 3 Tit. 13 C. 2 „di-

cendum est dominium rerum

ecclesiasticarum residere pe-

nes ecclesiam illam particula-

rem cui talia bona applicata

sunt pro dote … Nec persona

aliqua singularis habet domi-

nium, sed sola communitas, per-

sona autem singularis non ut

talis, sed ut pars et membrum

communitatis, habet in ipsis

rebus jus utendi.” Fr. Sar-

mientus de ecclesiae reditibus

P. 1 C. 1 N. 21 „… et haec

est opinio in glossis posita.”

Sarpi de materiis beneficiariis

s. benef. ecclesiast. Jenae 1681.

16 p. 91 — 93. Sauter fundam.

j. eccles. catholicorum P. 5 Fri-

burgi 1816 § 854. 855.

(hh) J. H. Böhmer Jus eccles.

Protest. Lib. 3 Tit. 5 § 29. 30,

Jus parochiale Sect. 5 C. 3 § 3.

4. 5.

|0281 : 267|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

Geſammtheit der Parochianen (ii). Sie wollen damit ab-

weiſen die Meynung Derjenigen, welche entweder alles

Kirchengut überhaupt der Univerſalkirche, oder das in je-

dem biſchöfflichen Sprengel befindliche Kirchengut dieſer

Diöceſankirche, als Gemeingut zuſchreiben. Sie führen

gegen dieſe Meynung als entſcheidend den Grund an, daß

zwiſchen dem Pfarrvermögen zweyer Parochieen Rechts-

verhältniſſe aller Art vorkommen können, namentlich Er-

werb und Verluſt durch Verjährung, ſo wie die Errich-

tung von Prädialſervituten, welches nur unter Voraus-

ſetzung von zwey gänzlich getrennten Vermögensmaſſen

möglich ſey. — Es erhellt hieraus, daß der aufgeſtellte

Rechtsſatz über den wahren Inhaber des Kirchenguts kei-

nesweges unter die unterſcheidenden Lehren der Katholiken

und Proteſtanten gehört; beide ſtimmen in dieſer Indivi-

dualiſirung des Kirchenguts überein, und die Differenz

betrifft nur den Begriff und die Verfaſſung ſowohl der ein-

zelnen Kirchen, als der Kirche im Großen und Ganzen (kk).

Eine ähnliche Bewandniß, wie mit den kirchlichen In-

ſtituten, hat es mit den ſogenannten milden Stiftungen,

das heißt mit den Anſtalten bloßer Wohlthätigkeit, wo-

hin die Verſorgungshäuſer für Arme, Kranke, Pilger,

 

(ii) Über den eigentlichen Be-

griff der Parochianen findet ſich

eine ſehr gründliche Unterſuchung

bey J. H. Böhmer Jus paroch.

Sect. 3 C. 2 § 4 § 9 — 25.

(kk) Auf dieſe letzte Verſchie-

denheit geht die Äußerung von

G. L. Böhmer princ. j. canon.

§ 190, in welcher alſo kein Wi-

derſpruch gegen die von mir im

Text behauptete Übereinſtimmung

der beiden Kirchenparteyen ent-

halten iſt.

|0282 : 268|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Greiſe, Kinder überhaupt, Waiſenkinder insbeſondere, ge-

hören (Note z). Sobald hier Grund vorhanden iſt, die

Natur einer juriſtiſchen Perſon anzunehmen, iſt jede ein-

zelne Anſtalt dieſer Art als eine ſolche Perſon zu betrach-

ten, wie es auch in der That von den chriſtlichen Kai-

ſern geſchieht. Jedes Hoſpital alſo u. ſ. w. iſt Inhaber

eines ſelbſtändigen Vermögens, ſo gut als der einzelne

Menſch oder eine Corporation, und es iſt unrichtig, wenn

manche Neuere das Vermoͤgen jener Anſtalten dem Staat,

oder einer Stadtgemeinde, oder einer Kirche zuſchreiben.

Der allgemeinſte Grund jener Verwechslung liegt aber in

Folgendem. Wenn der Einzelne Almoſen giebt, oder der

Staat bey großer Theurung mit ſeinen Kaſſen und Ma-

gazinen zu Hülfe kommt, ſo iſt das auch eine Thätigkeit

zu jenen Zwecken, allein ſchon das Einzelne und Vorüber-

gehende der Handlung ſchließt den Gedanken an eine ju-

riſtiſche Perſon völlig aus. Wenn der Staat oder eine

Stadt bleibende Maaßregeln dieſer Art trifft, ſo haben

dieſe vielleicht einen blos adminiſtrativen, gar nicht juri-

ſtiſchen, Character; dann iſt immer nur von dem Ver-

mögen des Staats oder der Stadt die Rede, von wel-

chem ein Theil zu ſolchen Zwecken willkührlich verwendet

wird, welches eben ſo willkührlich wieder abgeändert wer-

den kann. Es kann ferner auch ein Rechtsgeſchäft zur

Grundlage ſolcher Zwecke gemacht werden, ohne daß des-

halb eine juriſtiſche Perſon entſteht; wenn z. B. ein Te-

ſtator ſeinem Erben die Verpflichtung auflegt, ſo lange

|0283 : 269|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

er lebt, eine gewiſſe Summe in Almoſen an beſtimmten

Tagen des Jahrs zu vertheilen, ſo wird dieſe Beſtimmung,

gleich jedem anderen Modus, geſchützt (§ 128. 129); eine

juriſtiſche Perſon erſcheint dabey gar nicht, vielmehr iſt

blos von dem Vermögen des Erben, und von einer dem

Erben auferlegten Verbindlichkeit die Rede. Endlich aber

kann allerdings auch die Errichtung einer juriſtiſchen Per-

ſon ſolchen Zwecken zum Grunde gelegt werden, und es

wird gewöhnlich dadurch eine höhere Sicherheit erreicht

ſeyn; wovon dieſe Errichtung abhängt, wird ſogleich näher

beſtimmt werden (§ 89). Nun pflegt man den Ausdruck

Stiftung auf ganz verſchiedene Fälle der hier beſchrie-

benen Art anzuwenden, und die Unbeſtimmtheit dieſes Aus-

drucks hat unverkennbar die Verwirrung der Begriffe ſelbſt

ſehr befördert. Ich ſelbſt habe hier den Ausdruck Stif-

tung gebraucht, jedoch nur um eine Klaſſe der juriſtiſchen

Perſonen zu bezeichnen, alſo in der ausdrücklichen Voraus-

ſetzung, daß die Stiftung zugleich auch eine juriſtiſche

Perſon geworden ſey.

Die Conſtitutionen der chriſtlichen Kaiſer zeigen die

größte Sorgfalt, jene milden Zwecke, in welcher Geſtalt

ſie auch auftreten mögen, in Schutz zu nehmen, und von

den Hinderniſſen zu befreyen, die ihnen in den Weg tre-

ten können. Dieſes geſchieht, indem ſie als juriſtiſche Per-

ſonen anerkannt werden, wo nur immer dazu Veranlaſ-

ſung erſcheint. Wie es auch außer ſolchen Fällen ge-

 

|0284 : 270|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſchieht, davon finden ſich folgende entſcheidende Beyſpiele.

Wenn ein Teſtator die Armen überhaupt zu Erben oder

Legataren ernannte, ſo war die Beſtimmung ungültig we-

gen der alten Regel des Römiſchen Rechts, daß keine in-

certa persona bedacht werden könne; eine Verordnung

Valentinians III. hob die Regel in dieſer beſonderen An-

wendung auf (ll). Juſtinian erklärte ein ſolches Teſta-

ment dahin, daß die Erbſchaft dem Armenhaus, welches

der Teſtator beſonders meynte, in Ungewißheit hierüber

dem Armenhaus ſeines Wohnorts, unter mehreren Armen-

häuſern dem ärmſten derſelben, wo gar kein Armenhaus

ſey, der Kirche des Wohnorts zufallen ſolle, mit der Ver-

pflichtung, Alles für die Armen zu verwenden; eben ſo,

wenn die Gefangenen zu Erben eingeſetzt waren, ſollte die

Kirche des Orts Erbe ſeyn, mit der Verpflichtung das

ganze Vermögen zum Loskauf von Gefangenen zu verwen-

den (mm). Hier werden alſo die wohlthätigen Abſichten

dadurch unterſtützt, daß das Recht der Succeſſion auf

ſchon beſtehende juriſtiſche Perſonen übertragen wird. Au-

ßerdem aber verordnete Juſtinian, daß alle wohlthätige

Verfügungen Verſtorbener unter der beſonderen Aufſicht

der Biſchöffe und Erzbiſchöffe ſtehen ſollten, welchen alſo

die Sorge für die Ausführung allgemein übertragen wur-

de (nn). Es war dieſes eine Folge davon, daß die Ar-

(ll) L. 24 C. de episc. (1, 3.).

(mm) L. 49 C. de episc. (1.3.).

(nn) L. 46 C. de episc. (1. 3.);

dieſe Stelle iſt ungloſſirt.

|0285 : 271|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

menverſorgung als ein weſentlicher und wichtiger Theil

kirchlicher Thätigkeit anerkannt war. — Dieſelben Grund-

ſätze finden ſich in den Beſtimmungen des canoniſchen

Rechts. Es bildete ſich hieraus die Anſicht, daß das

Vermögen der milden Stiftungen unter den allgemeinen

Begriff des Kirchenguts (bona ecclesiastica) falle. Dieſe

Bezeichnung hatte den zwiefachen Sinn, daß daſſelbe un-

ter dem Einfluß und der Aufſicht der Kirchenobern ſtehe,

und daß es an den Privilegien des Kirchenguts Theil

nehme; keinesweges aber ſollte dadurch die Selbſtändig-

keit der juriſtiſchen Perſonen dieſer Art verneint werden,

und es iſt ein Misverſtändniß neuerer Zeit, wenn man

dem Ausdruck dieſe Deutung gegeben hat (oo). Der ent-

ſcheidende Beweis für die Richtigkeit dieſer Behauptung

iſt derſelbe, welcher oben für die individuelle Perſönlich-

keit der einzelnen Kirchen, insbeſondere der Parochieen,

geführt worden iſt. Denn auch milde Stiftungen ſind

durchaus fähig, ſowohl unter einander, als mit dem

Staate, den Städten, den Kirchen, in ſo mannichfalti-

gen Rechtsverhältniſſen zu ſtehen, wie ſie nur unter Vor-

ausſetzung juriſtiſcher Selbſtſtändigkeit möglich ſind.

Sehen wir hierin endlich auf das heutige Recht, ſo

hat ſich die Grundanſicht, nach welcher die milden Stif-

 

(oo) Auf dieſem Wege iſt Roß-

hirt dazu gekommen, den mil-

den Stiftungen die Natur juri-

ſtiſcher Perſonen ganz abzuſpre-

chen, und ihr Vermögen als Ver-

mögen der Kirche anzuſehen. Ar-

chiv für civiliſtiſche Praxis B. 10.

Num. 13 S. 322 — 324, 327.

|0286 : 272|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

tungen zu betrachten ſind, gar nicht geändert; nur ſind

ſie mannichfaltiger geworden, und haben eben dadurch

eine andere Stellung zum Staate eingenommen. Anſtatt

daß ſie im Juſtinianiſchen Recht lediglich als Mittel er-

ſcheinen, die Armuth in ihren verſchiedenen Geſtalten zu

mildern, ſind ſie ſeit dem Mittelalter großentheils auf die

Befriedigung geiſtiger Bedürfniſſe der verſchiedenſten Art

gerichtet. Schon dadurch mußte das ausſchließende Ver-

hältniß der Stiftungen zur Kirche, wie wir es im Juſti-

nianiſchen Recht wahrnehmen, ſehr beſchränkt werden.

Allein auch das Armenweſen iſt zu einer wichtigen und

ausgebildeten Thätigkeit des Staats geworden, ſo daß

ſelbſt der darauf gerichtete Theil der Stiftungen eine an-

dere Stellung gegen Staat und Kirche eingenommen hat,

als die welche in der Juſtinianiſchen Geſetzgebung erſcheint.

Aus dieſem Allen geht hervor, daß auch im heutigen

Recht die milden Stiftungen eben ſo individuelle juriſti-

ſche Perſonen bilden, wie die Corporationen; daß es aber

irrig wäre, ſie ſelbſt als Corporationen auzuſehen, oder

auch die den Corporationen angemeſſenen Einrichtungen

ſchlechthin auf ſie anwenden zu wollen.

 

IV. Fiscus. — Zur Zeit der Republik wurde der

Staat, als Inhaber von Vermögensrechten, durch den

Namen aerarium bezeichnet, indem ſich alle jene Rechte,

inſoweit ſie in den lebendigen Verkehr fielen, zuletzt in

Einnahmen oder Ausgaben der Staatskaſſe aufloͤſten.

 

|0287 : 273|

§. 88. Juriſtiſche Perſonen. Geſchichte. (Fortſetzung.)

Gleich bey dem Anfang der Kaiſerregierung wurde zwi-

ſchen dem Senat (als Vertreter der alten Republik) und

dem Kaiſer eine Theilung der Provinzen, und zugleich

der wichtigſten Einnahmen und Ausgaben des Staats vor-

genommen. Das Senatsvermögen behielt den alten Na-

men aerarium, das Vermögen des Kaiſers (pp) wurde

fiscus genannt, welche Benennung folgenden Urſprung

hatte. Urſprünglich hieß fiscus ein Korb, ein Behältniß

von Flechtwerk, und da die Römer Körbe gebrauchten,

um größere Geldſummen aufzubewahren und zu transpor-

tiren, ſo wurde der Name auf jede Kaſſe übertragen, und

ſo hieß auch des Kaiſers Kaſſe: Caesaris fiscus. Weil

aber nun von dieſem fiscus häufiger als von jedem an-

dern die Rede war, ſo gebrauchte man bald auch den

bloßen Namen fiscus als Bezeichnung der Kaiſerlichen

Kaſſe. Und als ſich nach nicht langer Zeit alle Gewalt

in dem Kaiſer concentrirte, ſo hieß nun fiscus das in des

Kaiſers Händen wieder vereinigte Staatsvermoͤgen, das

heißt der Ausdruck nahm nun dieſelbe Bedeutung an, welche

urſprünglich das Wort aerarium gehabt hatte (qq).

(pp) Nämlich dasjenige Ver-

mögen, welches er als Kaiſer

hatte, wovon ſein Privatvermö-

gen (res privata Principis) noch

verſchieden war.

(qq) Die Verſchmelzung der

beiden öffentlichen Kaſſen zu ei-

ner einzigen geſchah wahrſchein-

lich allmälig, und iſt wenigſtens

chronologiſch nicht genau nachzu-

weiſen. Bis auf Hadrian wird

noch Sache und Name genau un-

terſchieden. Tacitus ann. VI. 2.

Plinius panegyr. C. 42. Spar-

tianus Hadrian. C. 7. Und doch

nennt ſchon ein Sc. unter Ha-

II. 18

|0288 : 274|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

drian den Fiscus, da wo man

beſtimmt das Ärarium erwarten

möchte, nämlich bey dem Recht

auf caduca. L. 20 § 6 de pet.

her. (5. 3.). Späterhin werden

beide Ausdrücke mit willkührli-

cher Abwechslung gebraucht, um

die einzige öffentliche Kaſſe, die

des Kaiſers, zu bezeichnen. § 13

J. de usuc. (2. 6.), L. 13 pr.

§ 1. 3. 4 L. 15 § 5 de j. fisci

(49. 14.), L. 1 § 9 ad L. Corn.

de falsis (48. 10.), L. 3 C. de

quadr. praescr. (7. 37.). — Merk-

würdig iſt in der Rubrik von Pau-

lus V. 12 die Erwähnung des al-

ten Gegenſatzes: de jure fisci et

populi; nur folgt daraus nicht,

daß zu ſeiner Zeit noch eine reelle

Trennung beider Kaſſen exiſtirt

hätte, vielmehr konnte er dieſen

Ausdruck auch mit bloßer Hin-

ſicht auf die frühere Zeit ge-

brauchen.

|0289 : 275|

§. 89. Juriſtiſche Perſonen. Entſtehung und Untergang.

§. 89.

Juriſtiſche Perſonen. — Entſtehung und Untergang.

Nicht bey allen juriſtiſchen Perſonen iſt eine poſitive

Regel über die Bedingungen ihrer rechtsgültigen Entſtehung

nöthig. Die meiſten Gemeinden ſind ſo alt, ja älter als

der Staat (§ 86), und die ſpäteren werden ſtets durch

einen politiſchen Akt gegründet (nach R. R. durch die co-

loniae deductio), nicht nach einer privatrechtlichen Regel.

Auch bey dem Fiscus wird Niemand nach der Art ſeiner

Entſtehung fragen.

 

Bey den übrigen aber iſt es Regel, daß ſie nicht durch

die bloße Willkühr mehrerer zuſammentretenden Mitglieder,

oder eines einzelnen Stifters, den Character juriſtiſcher

Perſonen erhalten können, ſondern daß dazu die Genehmi-

gung der höchſten Gewalt im Staate noͤthig iſt, welche

nicht nur ausdrücklich, ſondern auch ſtillſchweigend, durch

wiſſentliche Duldung und thatſächliche Anerkennung, ertheilt

werden kann. Dieſer Satz iſt allgemein: das Verbot und

die Strafbarkeit des Verſuchs, ungenehmigte juriſtiſche

Perſonen zu gründen, iſt nicht ſo allgemein, ſondern geht

nur auf gewiſſe Arten derſelben, namentlich nicht auf ge-

werbliche Genoſſenſchaften und auf Stiftungen (§ 88. o).

Für die collegia insbeſondere, das heißt für die willkühr-

lichen Corporationen (§ 88), gilt die Regel, daß drey Mit-

 

18*

|0290 : 276|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

glieder dazu erforderlich ſind (a). Das hat jedoch lediglich

den Sinn, daß ſie nur unter Vorausſetzung einer ſolchen

Zahl anfangen können: denn fortdauern kann jede einmal

gegründete universitas auch noch in einem einzigen Mit-

glied (b).

Die hier aufgeſtellte Behauptung, daß keine juriſtiſche

Perſon ohne den genehmigenden Willen des Staats ent-

ſtehen könne, iſt jedoch in neuerer Zeit von mehreren Sei-

ten angefochten worden. Zwar für die Corporationen hat

man ſie zugegeben, theils wegen mancher Stellen des Rö-

miſchen Rechts, theils wegen der möglichen Gefahr, die

dem Staat durch die willkührliche Bildung von Corpora-

tionen entſtehen könne. Dagegen iſt ſie beſtritten worden

für die milden Stiftungen, aus folgenden Gründen. Erſt-

lich weil ſchon das Römiſche Recht die willkührliche Er-

 

(a) L. 85 de V. S. (50. 16.)

„Neratius Priscus tres facere

existimat collegium: et hoc ma-

gis sequendum est.” Es giebt

wenige Ausſprüche des R. R., die

ſo ſehr auch unter Nichtjuriſten

in Umlauf gekommen ſind wie

dieſer. — Eben ſo wurde auch

unter familia in der Regel nur

eine Anzahl von wenigſtens drey

Sklaven verſtanden (L. 40 § 3

de V. S. 50. 16), ausnahmsweiſe

aber galt bey dem Int. de vi

(„aut familia tua dejecit”) auch

ſchon ein einziger Sklave als fa-

milia. L. 1 § 17 de vi (43. 16.).

(b) L. 7 § 2 quod cuj. un. (3.4.)

„.. si universitas ad unum redit,

magis admittitur, posse eum et

convenire et conveniri: cum jus

omnium in unum reciderit, et

stet nomen universitatis.” —

Alſo die juriſtiſche Perſon dauert

in einem ſolchen Fall fort, und

behält ſogar ihren Namen, es

wird daher keinesweges das Cor-

porationsvermögen nunmehr Pri-

vatvermögen des einzigen übrigen

Mitgliedes; das Beſondere (wor-

auf jene Stelle aufmerkſam ma-

chen will) liegt nur darin, daß

dieſer Einzelne jetzt ohne Weiteres

im Prozeß auftreten kann, ohne

der künſtlichen Vertretung durch

einen actor oder Syndicus zu

bedürfen.

|0291 : 277|

§. 89. Juriſtiſche Perſonen. Entſtehung und Untergang.

richtung ſolcher Inſtitute durch den Privatwillen zulaſſe,

zweytens weil Anſtalten dieſer Art durchaus löblich und

ungefährlich ſeyen; und zwar nimmt man dieſe freye Will-

kühr nicht blos für Armenanſtalten in Anſpruch, ſondern

auch für alle auf geiſtige Entwicklung abzweckende Stif-

tungen (c). Das Römiſche Geſetz kann hier nicht entſchei-

den, theils weil es ungloſſirt iſt (d), theils weil es blos

von Stiftungen für die Kirche oder die Armen redet, und

die Aufſicht und Genehmigung der Kirche vorausſetzt, deren

Verhältniß zu den Stiftungen aber im heutigen Recht ein

ganz anderes geworden iſt (§ 88). Der zweyte Grund für

jene freye Privatwillkühr wird in folgender Betrachtung

ſeine Erledigung finden. Die Nothwendigkeit der Staats-

genehmigung zur Entſtehung jeder juriſtiſchen Perſon hat,

unabhängig von politiſchen Rückſichten, einen durchgreifen-

den juriſtiſchen Grund. Der einzelne Menſch trägt ſeinen

Anſpruch auf Rechtsfähigkeit ſchon in ſeiner leiblichen Er-

ſcheinung mit ſich: weit allgemeiner als bei den Römern,

deren zahlreiche Sklaven eine ſo wichtige Ausnahme bil-

deten. Durch dieſe Erſcheinung weiß jeder Andere, daß

(c) Dieſe Meynung iſt beſon-

ders, bey Gelegenheit des Rechts-

ſtreits über das Städelſche Kunſt-

inſtitut in Frankfurt a. M., von

den Vertheidigern dieſes Inſtituts

aufgeſtellt worden. Gegen dieſelbe

hat damals Mühlenbruch (Be-

urth. des Städelſchen Beerbungs-

falles, Halle 1828) die richtige

Lehre von der Entſtehung juri-

ſtiſcher Perſonen in Schutz ge-

nommen. Übrigens war dieſes

nur Ein Moment in der Beur-

theilung jenes Rechtsfalles; die

übrigen Momente gehören eben

ſo wenig hierher, als das Reſultat

derſelben.

(d) Es iſt die ungloſſirte L. 46

C. de episc. (1. 3.).

|0292 : 278|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

er in ihm eigene Rechte zu ehren, jeder Richter, daß er in

ihm ſolche Rechte zu ſchützen hat. Wird nun die natürliche

Rechtsfähigkeit des einzelnen Menſchen durch Fiction auf ein

ideales Subject übertragen, ſo fehlt jene natürliche Be-

glaubigung gänzlich; nur der Wille der höchſten Gewalt

kann dieſelbe erſetzen, indem er künſtliche Rechtsſubjecte

ſchafft, und wollte man dieſelbe Macht der Privatwillkühr

überlaſſen, ſo würde unvermeidlich die höchſte Ungewißheit

des Rechtszuſtandes entſtehen, ſelbſt abgeſehen von dem

großen Misbrauch, der durch unredlichen Willen möglich

wäre. Zu dieſem durchgreifenden juriſtiſchen Grund treten

aber noch politiſche und ſtaatswirthſchaftliche Gründe hinzu.

Die mögliche Gefährlichkeit der Corporationen giebt man

zu; allein die Stiftungen, in der eben erwähnten Ausdeh-

nung, ſind keinesweges unbedingt heilſam und unbedenklich.

Wenn eine reiche Stiftung zur Verbreitung ſtaatsgefähr-

licher, irreligiöſer, ſittenloſer Lehren oder Buͤcher gemacht

würde, ſollte der Staat dieſe dulden? (e) Ja ſelbſt die

Errichtung von Armenanſtalten dürfte nicht unter allen

Umſtänden der bloßen Willkühr zu überlaſſen ſein. Wenn

z. B. in einer Stadt, deren Armenweſen wohl geordnet

und hinreichend dotirt iſt, ein reicher Teſtator, aus mis-

(e) In unſeren Tagen wird

Niemand ſagen, daß dergleichen

unmöglich ſey. Es gab reiche

Leute unter den Saint-Simoni-

ſten, und warum ſollte nicht Ei-

ner derſelben auf den Gedanken

kommen, eine große Stiftung zur

Beförderung ſeiner Lehre zu ma-

chen? Vielleicht war es niemals

nöthig, durch Geſetz oder Rich-

teramt gegen ſolches Treiben zu

kämpfen; aber gewiß ſollte doch

nicht der Staat ſeine Macht zur

Beförderung deſſelben herleihen.

|0293 : 279|

§. 89. Juriſtiſche Perſonen. Entſtehung und Untergang.

verſtandener Wohlthätigkeit, eine Stiftung von Almoſen-

ſpenden machte, wodurch die heilſamen Folgen der öffent-

lichen Armenanſtalt geſtört und geſchwächt würden, ſo

hätte wenigſtens der Staat keinen Grund, dieſer Stiftung,

durch Ertheilung der Rechte einer juriſtiſchen Perſon, grö-

ßere Conſiſtenz zu geben. Hierzu kommt nun, ſelbſt bey

unſchädlichen Stiftungen, die Rückſicht auf die vielleicht

übertriebene Vermehrung des Vermoͤgens in todter Hand.

Allerdings kann eine ſolche Vermehrung auch in Beziehung

auf ſchon beſtehende und genehmigte Stiftungen Statt

finden; allein eine Aufſicht darauf wird ganz unmöglich,

wenn es unbedingt der Privatwillkühr überlaſſen bleibt,

ſtets neue zu errichten.

Eben ſo kann die Auflöſung der einmal begründeten ju-

riſtiſchen Perſonen nicht durch die Willkühr der gegenwär-

tigen Mitglieder allein, von deren Daſeyn ja die juriſtiſche

Perſon ſelbſt unabhängig iſt (§ 86), beſtimmt werden, ſon-

dern es iſt auch dazu die Genehmigung der höchſten Ge-

walt nöthig. Dagegen können ſie durch den einſeitigen

Willen des Staates, wider den Willen der Mitglieder,

aufgehoben werden, wenn ſie der Sicherheit oder dem

Wohl des Staates nachtheilig werden. Dieſes kann ge-

ſchehen bey ganzen Klaſſen von Corporationen, deren Thä-

tigkeit eine gefährliche Richtung genommen hat, alſo ver-

mittelſt einer geſetzlich aufgeſtellten allgemeinen Regel (§ 88):

außerdem aber auch durch einen politiſchen Akt, alſo in

einem einzelnen vorübergehenden Fall, ohne bleibende Re-

 

|0294 : 280|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

gel (f). — Bey ſolchen Stiftungen, welche die Natur von

Staatsanſtalten haben (§ 88), kann die Aufhebung noch

weit mehr nach freyem Ermeſſen geſchehen; nämlich nicht

blos weil ſich etwa die beſtehende Anſtalt gefährlich oder

ſchädlich erwieſen hat, ſondern ſchon deshalb, weil der

allgemeine Zweck in der Form einer neuen Anſtalt voll-

ſtändiger erreicht werden kann.

Aus der oben aufgeſtellten Regel, daß jede Corporation

auch in einem einzigen Mitglied fortdauern könne (Note b),

folgern Manche ganz irrig, daß der Tod aller Mitglieder

die Corporation nothwendig auflöſen müſſe; wo ihr ein

dauernder Zweck, von öffentlichem Intereſſe, zum Grund

liegt (§ 88), muß dieſes durchaus verneint werden. Wenn

z. B. in einer Stadt durch Seuchen alle Mitglieder einer

Handwerkszunft kurz nach einander hinſterben, ſo wäre es

ſehr irrig, die Zunft für erloſchen, und ihr Vermögen für

herrenlos oder für Staatsgut zu halten.

 

Allerdings ſind die hier aufgeſtellten Regeln über den

Anfang und das Ende einzelner juriſtiſcher Perſonen nicht

ganz ausreichend, allein dieſe Unvollſtändigkeit iſt in der

Natur des Gegenſtandes ſelbſt gegründet. Alles was mehr

in das Einzelne eingeht, hängt mit der Verfaſſung und

den Verwaltungsformen der einzelnen Staaten zuſammen,

und liegt alſo außer den Gränzen des bloßen Privatrechts.

 

(f) L. 21 quib. modis ususfr.

(7. 4.) „Si ususfructus civitati

legetur, et aratrum in eam

inducatur, civitas esse desinit,

ut passa est Carthago: ideo-

que quasi morte desinit habere

usumfructum.”

|0295 : 281|

§. 90. Juriſtiſche Perſonen. Rechte.

§. 90.

Juriſtiſche Perſonen. — Rechte.

Die Rechte der juriſtiſchen Perſonen ſind von zweyer-

ley Art. Einige betreffen das Weſen derſelben, ſo daß

ſie überhaupt nur juriſtiſche Perſonen ſind, dadurch daß

ſie die Fähigkeit zu dieſen Rechten haben. Andere, von

mehr zufälliger und poſitiver Art, beſtehen in beſonderen

Begünſtigungen (jura singularia), welche manchen juriſti-

ſchen Perſonen verliehen ſind: und zwar theils den juri-

ſtiſchen Perſonen ſelbſt, für die ihnen zugehörenden Rech-

te (a), theils den einzelnen Mitgliedern derſelben (b). Dieſe

Begünſtigungen hier zuſammen zu ſtellen, würde wenig be-

lehrend ſeyn, da ſie nur in Verbindung mit den Rechts-

inſtituten, worauf ſie ſich als einzelne Ausnahmen bezie-

 

(a) Dahin gehören die zahlrei-

chen Vorrechte des Fiscus, z. B.

deſſen ſtillſchweigende und ſelbſt

privilegirte Generalhypothek, fer-

ner die Stellung der Stadtge-

meinden mit ihren Forderungen

in der vierten Klaſſe der Con-

curscreditoren, eben ſo der An-

ſpruch auf allgemeine Reſtitution,

den das R. R. den Stadtgemein-

den giebt, das neuere Recht aber

viel weiter ausdehnt.

(b) So haben nach R. R. die

einzelnen Mitglieder mehrerer

gemeinnützlicher Corporationen

manche Immunitäten, beſonders

die excusatio von Vormundſchaf-

ten. L. 17 § 2 L. 41 § 3 de ex-

cus. (27. 1.). Fragm. Vaticana

§ 124. § 233—237. — L. 5 § 12

de j. immun. (50. 8.). — Ulpian.

III. § 1. 6. — Wie ſich aber im

ſpäteren Reich ſo Vieles kaſten-

mäßig ausbildete, ſo auch dieſe

Corporationen. Die Theilnahme

an denſelben wurde zu einem erb-

lichen Recht, zugleich aber auch

zu einer erblichen Verpflichtung,

auf ähnliche Weiſe wie die Theil-

nahme an der ſtädtiſchen Curie.

L. 4 C. Th. de privil. corpor.

(14. 2.), tit. C. Th. de pistor.

(14. 3.).

|0296 : 282|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

hen, richtig verſtanden werden können. Dagegen iſt für

die Darſtellung der regelmäßigen Rechte hier die richtige,

ja die einzig mögliche Stelle.

Den rechten Standpunkt für dieſe regelmäßigen Rechte

giebt aber der Begriff der juriſtiſchen Perſonen ſelbſt (§ 85),

als vermögensfähiger Rechtsſubjecte. Vermögens-

rechte nämlich können, abgeſehen von beſonderen Familien-

verhältniſſen und einigen einzelnen minder wichtigen Fällen,

nicht von ſelbſt entſtehen, ſondern nur durch Handlungen

erworben werden (c). Allein Handlungen ſetzen ein den-

kendes und wollendes Weſen, einen einzelnen Menſchen,

voraus, was eben die juriſtiſchen Perſonen als bloße Fic-

tionen nicht ſind. Und ſo erſcheint hier der innere Wider-

ſpruch eines der Vermoͤgensrechte fähigen Subjects, wel-

ches doch die Bedingungen zum Erwerb derſelben nicht er-

füllen kann. Ein ähnlicher Widerſpruch (wiewohl in ge-

ringerem Grade) findet ſich auch bey vielen natürlichen

Perſonen, insbeſondere bey Unmündigen und Wahnſinni-

gen; denn auch dieſe haben die ausgedehnteſte Rechtsfä-

higkeit neben gänzlicher Handlungsunfähigkeit. Überall

nun, wo ſich dieſer Widerſpruch findet, muß er durch eine

 

(c) Die necessarii heredes er-

werben die Erbſchaft, alſo Ver-

mögen, ipso jure, ohne ihr Zu-

thun; alle andere Erbſchaften wer-

den nur durch den Willen des Er-

ben erworben. Eben ſo kann Ei-

genthum zwar erweitert werden

ohne Zuthun des Eigenthümers

(durch ſogenannte accessio), aber

nicht zuerſt begründet. Desglei-

chen iſt die regelmäßige, für den

Verkehr wichtige, Erwerbung von

Schuldforderungen nur durch den

Willen des Creditors möglich; wo

ſie ohne den Willen vor ſich geht,

wie durch erlittene Rechtsverletzun-

gen, da iſt die Erwerbung meiſt be-

denklich und unwillkommen.

|0297 : 283|

§. 90. Juriſtiſche Perſonen. Rechte.

Vertretung, als künſtliche Anſtalt, aufgelöſt werden.

Dieſes geſchieht bey den handlungsunfähigen natürlichen

Perſonen durch die Vormundſchaft; bey den juriſtiſchen

Perſonen geſchieht es durch ihre Verfaſſung.

Wenn aber hier die natürliche Handlungsunfähigkeit

der juriſtiſchen Perſonen, als Grund eines nothwendigen

künſtlichen Surrogats, behauptet worden iſt, ſo iſt dieſelbe

ganz buchſtäblich zu nehmen. Manche haben ſich die Sache

ſo gedacht, als wäre die gemeinſchaftliche Handlung aller

einzelnen Mitglieder einer Corporation in der That die

Handlung der Corporation ſelbſt, und ein Surrogat würde

blos nöthig durch die große Schwierigkeit, alle Mitglieder

zum gemeinſamen Wollen und Handeln zu vereinigen. So

iſt es aber in der That nicht; vielmehr iſt die Totalität

der Mitglieder von der Corporation ſelbſt ganz verſchie-

den (§ 86), und ſelbſt wenn alle Einzelne, ohne Aus-

nahme, gemeinſchaftlich handeln, ſo iſt dieſes nicht ſo an-

zuſehen, als ob das ideale Weſen, welches wir die juri-

ſtiſche Perſon nennen, gehandelt hätte (vgl. § 91. q, § 93.

b und h). Die Corporation iſt einem Unmündigen zu ver-

gleichen; die Vormundſchaft derſelben führen in der uni-

versitas ordinata (§ 86) die künſtlich conſtituirten Gewal-

ten, in der inordinata die gegenwärtigen Mitglieder. Dieſe

letzten ſind alſo mit der Corporation ſelbſt eben ſo wenig

identiſch, als der Vormund mit ſeinem Pupillen.

 

Demnach wird der Gang der folgenden Unterſuchung

dieſer ſeyn müſſen. Es iſt zuerſt von den Rechten ſelbſt

 

|0298 : 284|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

zu reden, dann von der Verfaſſung der juriſtiſchen Per-

ſonen. Für dieſe letzte aber muß gleich hier der wahre

Geſichtspunkt feſtgeſtellt werden. Die Verfaſſung, inſofern

ſie die juriſtiſchen Perſonen als ſolche, d. h. als Inhaber

von Privatrechten betrifft (denn ſie hat oft auch ganz an-

dere, und zum Theil wichtigere Zwecke), iſt lediglich dazu

vorhanden, um die zum Vermögensverkehr unentbehrlichen

Handlungen vertretungsweiſe moͤglich zu machen, das heißt

diejenigen Handlungen, welche dazu führen, Vermögen zu

erwerben, zu erhalten, zu benutzen, oder in ſeinen Be-

ſtandtheilen zu verändern.

Indem nunmehr die einzelnen Vermoͤgensrechte, als den

juriſtiſchen Perſonen zugänglich, dargeſtellt werden ſollen,

iſt nur noch ein wichtiger gemeinſamer Grundſatz anzu-

geben, der allerdings ſchon aus dem Begriff der juriſti-

ſchen Perſon folgt, darum aber nicht weniger verkannt

werden kann. Alle dieſe Vermögensrechte beziehen ſich nur

ganz und ungetheilt auf die juriſtiſche Perſon als Einheit,

mithin (wo von Corporationen die Rede iſt) keinesweges

theilweiſe auf die einzelnen Mitglieder derſelben. Dieſer

Grundſatz wird erſt in der Anwendung auf einzelne Arten

der Rechtsverhältniſſe ſeine volle Anſchaulichkeit erhalten

können.

 

|0299 : 285|

§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

§. 91.

Juriſtiſche Perſonen. — Rechte. (Fortſetzung.)

I. Eigenthum.

Juriſtiſche Perſonen können Eigenthum an Sachen aller

Art haben (a). Sie konnten es ſogar, ſelbſt nach dem

ſtrengen alten Recht, durch feyerliche Handlungen, z. B.

durch Mancipation, erwerben, vorausgeſetzt daß ſie dabey

durch einen bereits in ihrem Eigenthum befindlichen Skla-

ven vertreten wurden (b). — Dieſes Eigenthum bezieht

ſich, ſo wie jedes ihrer Rechte, ungetheilt auf die juriſtiſche

Perſon als Einheit, und die einzelnen Mitglieder haben

daran keinen Theil (c). Dieſes zeigte ſich bei den Römern

unter andern in folgender merkwürdigen Anwendung. Bey

einer Eriminalunterſuchung durften, nach einer allgemeinen

Regel, die Sklaven des Inquiſiten nicht gegen ihn als

 

(a) L. 1 § 1 quod cuj. un. (3. 4.)

„Quibus autem permissum est

corpus habere .... proprium est,

ad exemplum Reipublicae, ha-

bere res communes, arcam com-

munem” (§ 88. r).

(b) Taciti ann. II. 30 „Ne-

gante reo, agnoscentes servos

per tormenta interrogari pla-

cuit. Et, quia vetere Scto quae

stio in caput domini prohibe-

batur, callidus et novi juris

repertor Tiberius, mancipari

singulos actori publico jubet:

scilicet ut in Libonem, salvo

Scto, quaereretur.” Plinius

epist. VII. 18 „Deliberas me-

cum, quemadmodum pecunia,

quam municipibus nostris in

epulum obtulisti, post te quo-

que salva sit .... Equidem nihil

commodius invenio, quam quod

ipse feci. Nam pro quingentis

millibus numûm .. agrum ex

meis longe pluris actori publi-

co mancipavi” etc. — In beiden

Fällen iſt der actor publicus ein

zu Geſchäften gebrauchter Sklave,

deſſen Eigenthümer im erſten Fall

der Römiſche Staat, im zweyten

eine Stadtgemeinde iſt.

(c) L. 6 § 1 de div. rerum

(1. 8.).

|0300 : 286|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Zeugen abgehört werden (welches bey Sklaven ſtets auf

der Folter geſchah). War nun der Bürger einer Stadt-

gemeinde in Criminalunterſuchung, ſo durften die der Stadt

zugehörenden Sklaven gegen ihn als Zeugen gebraucht wer-

den, weil er an dieſen nicht den geringſten Antheil hatte (d).

Bezog ſich das Eigenthum auf Sklaven, ſo konnten

dieſe, wie alle andere Sklaven, freygelaſſen werden, und

die juriſtiſche Perſon erwarb dadurch volles Patronats-

recht, namentlich auch das patronatiſche Erbrecht. Dieſe

Sätze ſind für die Zeit der ausgebildeten Rechtswiſſenſchaft

unzweifelhaft, und zwar in Anwendung ſowohl auf Stadt-

gemeinden, als auf alle andere Arten juriſtiſcher Perſonen (e).

Die Geſchichte derſelben iſt weniger klar. Aus der Zeit

von Trajan wird eine Lex vectibulici angeführt, welche

den Italiſchen Städten die Freylaſſung ihrer Sklaven ge-

ſtattet haben ſoll: ein Senatusconſult unter Hadrian dehnte

dieſelbe auf die Provinzialſtädte aus (f). Marc Aurel ge-

ſtattete endlich auch den Collegien die Freylaſſung ihrer

Sklaven und die Erwerbung des Patronats (g). Nach

dieſen Angaben könnte man glauben, vor Trajan hätten

juriſtiſche Perſonen gar nicht manumittiren können. Allein

ſchon Varro erwähnt Freygelaſſene des Römiſchen Staats,

der Municipien, der Societates, und der fana, als etwas

 

(d) L. 1 § 7 de quaest. (48. 18.)

(ſ. o. § 87. c).

(e) L. 1. 2. 3 de manumission.

quae servis (40. 3.), L. un. de

libertis univ. (38. 3.), L. 10 § 4

de in j. voc. (2. 4.), L. 25 § 2

de adquir. vel om. her. (29. 2.).

(f) L. 3 C. de servis reipub.

(7. 9.). — Bach Trajanus p. 152,

Bach hist. juris p. 380 ed. 6.

(g) L. 1. 2 de manumission.

quae servis (40. 3.).

|0301 : 287|

§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

ganz Gewoͤhnliches und allgemein Bekanntes (h), ſo daß

nach ſeinem Ausdruck die Ungültigkeit ſolcher Freylaſſungen

unmöglich angenommen werden kann. Dieſe ſcheinbar wi-

derſprechende Zeugniſſe ſind nur auf folgende Weiſe zu

vereinigen. Die Freilaſſung durch vindicta war eine legis

actio, die Jeder nur in eigener Perſon, nicht durch Stell-

vertreter, vornehmen konnte (i). Dazu war eine juriſtiſche

Perſon unfähig, und daher konnten ihre Freygelaſſenen in

früherer Zeit nur den faktiſchen Beſitz der Freyheit, ſeit

der Lex Junia nur die Latinität erwerben. Von dieſem

unvollkommenen Zuſtand der Manumiſſion iſt die Stelle

des Varro zu verſtehen. Die Geſetze des Trajan und ſei-

ner Nachfolger geſtatteten den juriſtiſchen Perſonen, ab-

weichend von dem alten jus civile, ihren Sklaven die volle

Freyheit mit Civität zu geben (k). — Auch bey dieſem

Patronatsrecht bewährt ſich die Regel, daß die einzelnen

Mitglieder einer Corporation keinen Theil daran haben.

So z. B. hatte der Freygelaſſene einer Stadtgemeinde gegen

die einzelnen Bürger keinesweges Rückſichten unterwürfiger

Ehrfurcht, wie gegen einen Patron, zu beobachten (l).

(h) Varro de lingua lat. Lib. 8

C. 41 (ſ. o. § 88. cc.)

(i) L. 123 pr. de R. J. (50. 17.).

L. 3 C. de vindicta (7. 1.)

(k) L. 3 C. de servis reip.

(7. 9.) „.. Si itaque secundum

legem vectibulici .... manumis-

sus, civitatem Romanam con-

secutus es” etc. L. 2 eod. —

Dieſe Vereinigung der angeführten

Stellen findet ſich ſchon bey Bach

Trajanus p. 156. — Als poſitire

Form, anſtatt der ſtets unmögli-

chen vindicta, wurde nun in den

Provinzialſtädten vorgeſchrieben

der Beſchluß des Stadtſenats und

die Genehmigung des Präſes der

Povinz. L. 1. 2 C. de servis reip.

(7. 9.).

(l) L. 10 § 4 de in j. voc. (2. 4.).

|0302 : 288|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Der wichtigſte Gegenſtand dieſes Eigenthums beſteht

hier, wie überall, in Grundſtücken. Dabey aber findet

ſich folgender wichtige Unterſchied. Das Grundeigenthum

der Corporationen kann benutzt werden entweder zu den

Zwecken der Corporation, durch Verpachtung oder eigene

Verwaltung; oder aber zu den Zwecken der einzelnen Mit-

glieder (m); endlich kann auch eine gemiſchte Benutzung

eintreten, wenn die Einzelnen für ihre Benutzung eine (ge-

woͤhnlich ſehr mäßige) Abgabe an die Corporationskaſſe

entrichten. In dem zweyten dieſer Fälle (bey der aus-

ſchließenden Benutzung durch die Einzelnen) iſt freylich das

Eigenthum einer Fiction ähnlich, und mehr ein Schutzrecht

für die wahrhaft berechtigten Einzelnen; dennoch muß es

juriſtiſch als Eigenthum angeſehen und behandelt werden (n).

 

(m) Eich horn deutſch. Privatr.

§ 372. — In deutſchen Städten heißt

das erſte häufig Kämmereyver-

mögen, das zweyte Bürger-

vermögen. Dahin gehört z. B.

der Bürgerwald, d. h. ein Wald

im Eigenthum der Stadt, deſſen

Holz jährlich unter die einzelnen

Bürger vertheilt wird. Eben da-

hin gehören in Städten und Dör-

fern die Gemeindeweiden. End-

lich auch noch andere Rechte als

Eigenthum, z. B. die Bürgerjagd,

die von allen einzelnen Bürgern

benutzt wird, anſtatt daß die

Stadtjagd zum Vortheil der Stadt-

kaſſe verpachtet wird. Unſrem neu-

eren Bürgervermögen ähnlich war

der altrömiſche ager publicus, der

auch von Einzelnen benutzt wurde.

— Die Benutzung kann auch blos

einzelnen Klaſſen der Corpora-

tionsmitglieder zuſtehen, wie z. B.

die des Römiſchen ager publicus

urſprünglich den Patriciern, ſpä-

terhin den Optimaten ausſchlie-

ßend geſtattet wurde. — Welches

dieſer Rechtsverhältniſſe wahrhaft

begründet iſt, kann oft ſehr zwei-

felhaft ſeyn, und beſonders bey

Veränderungen in der Verfaſſung

zweifelhaft werden. Solche Zwei-

fel waren es, woraus hauptſächlich

vor einigen Jahren der bittere

Streit im Canton Schwyz zwiſchen

den Hornmännern und Klauen-

männern hervorgegangen iſt.

(n) Kori a. a. O., S. 17. 18.

|0303 : 289|

§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

— Von allen dieſen Fällen aber ſind wohl zu unterſcheiden

diejenigen, worin das Recht einzelnen Individuen oder auch

ganzen Klaſſen unter den Corporationsmitgliedern zukommt;

denn nun iſt lediglich Miteigenthum vorhanden, und gar

nicht mehr Eigenthum der Corporation (o).

II. Servituten.

In der Natur mancher Servituten liegen Gründe, wo-

durch ſie auf juriſtiſche Perſonen unanwendbar werden.

 

Der ususfructus iſt auf ſie völlig anwendbar, weil in

ihm der Eigenthumserwerb an den Früchten das Vorherr-

ſchende iſt. Er dauert bey ihnen in der Regel Hundert

Jahre, welcher Zeitraum hier die Stelle der möglichſt lange

angenommenen Lebensdauer der natürlichen Perſonen ver-

treten ſoll (p). Ausnahmsweiſe hört er auf, wenn die

juriſtiſche Perſon ſelbſt zerſtört wird (q). Er konnte ihnen

nach dem älteren Recht durch Legat (jedoch nur durch ein

vindicationis legatum) vollſtändig, das heißt ipso jure,

erworben werden: nicht durch Mancipation, weil dieſe bey

dem ususfructus überhaupt nicht gilt; eben ſo wenig durch

in jure cessio, weil gerade dieſe jedem Sklaven (durch

welchen allein ſie bey einer juriſtiſchen Perſon bewirkt

werden könnte) verſagt iſt (r). Im neueſten Recht werden

 

(o) Kori a. a. O. S. 33—39,

und S. 18. in der Note.

(p) L. 56 de usufr. (7. 1.),

L. 8 de usu et usufr. leg. (33. 2.),

ſ. u. Note r.

(q) L 21 quib. modis ususfr.

(7. 4.), ſ. o. §. 89. f.

(r) Gajus II. § 96. — Es

konnte alſo den juriſtiſchen Per-

ſonen inter vivos kein ususfru-

ctus jure constitutus gegeben

werden, ſondern nur eine pos-

sessio ususfructus (vgl. über

dieſen Gegenſatz L. 3 si ususfr.

II. 19

|0304 : 290|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

die Servituten überhaupt auf mehr natürliche Weiſe (durch

bloßen Vertrag) errichtet, weshalb nunmehr die Form der

Errichtung gar keine Schwierigkeit mehr macht.

Der usus iſt auf ſie unanwendbar, da er nur in dem

eigenen, perſönlichen Gebrauch des Berechtigten beſteht,

welcher bey der juriſtiſchen Perſon undenkbar iſt.

 

Prädialſervituten jeder Art können ſie haben, weil dieſe

blos Erweiterungen ihres Grundeigenthums ſind. Erwer-

ben konnten ſie dieſelben zu allen Zeiten durch Legat: nie-

mals durch in jure cessio (Note r): dagegen allerdings

durch Mancipation an ihren Sklaven, vorausgeſetzt daß

die Servitut eine ländliche, nicht ſtädtiſche, war (s). Im

neueren Recht iſt auch hier dieſe auf die Form des Er-

werbs bezügliche Schwierigkeit verſchwunden.

 

III. Beſitz.

Bey dem Beſitz wurde die Anwendbarkeit auf juriſtiſche

 

7. 6.). Darauf deutet denn auch

unverkennbar L. 56 de usufr.

(7. 1.) „An ususfructus nomine

actio municipibus dari debeat,

quaesitum est .... Unde sequens

dubitatio oritur, quousque tu-

endi essent in eo usufructu mu-

nicipes? Et placuit, centum an-

nis tuendos esse municipes, quia

is finis vitae longaevi hominis

est.” Allerdings finden ſich ähn-

liche Ausdrücke in L. 8 de usu

et usufr. leg. (33. 2.), die von

einem Legat redet; wahrſchein-

lich aber war daſelbſt ein dam-

nationis legatum gemeynt, wel-

ches immer wieder zu demſelben

unvollſtändigen Erfolg führen

mußte.

(s) Gajus II. § 29, Ulpian.

XIX. § 1. — Eine unverkennbare

Hindeutung auf dieſen Unterſchied

enthält L. 12 de serv. (8. 1.)

„Non dubito quin fundo muni-

cipum per servum recte servi-

tus adquiratur.” Nämlich dem

fundus konnte der Sklave einen

Weg oder eine Waſſerleitung durch

die Mancipation erwerben, die bey

einem Gebaude zum Erwerb einer

Servitut unzuläſſig war.

|0305 : 291|

§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

Perſonen bezweifelt wegen der ganz factiſchen Natur deſ-

ſelben, die nicht ſo wie eigentliche Rechtsverhältniſſe mit

einer bloßen Fiction (welches die juriſtiſche Perſon aller-

dings iſt) vereinbar ſchien. Deswegen nahmen Manche

an, es ſey hier ein Beſitz nur ausnahmsweiſe durch Skla-

ven, und zwar nur an den zum Peculium gehörenden Sa-

chen möglich: Andere läugneten ſelbſt dieſes, weil die ju-

riſtiſche Perſon an dem Sklaven ſelbſt keinen Beſitz habe,

alſo auch nicht durch ihn beſitzen könne (t). Zur Zeit der

ausgebildeten Rechtswiſſenſchaft war es entſchieden, daß

Städte und alle andere juriſtiſche Perſonen, ſowohl durch

Sklaven als durch freye Stellvertreter, Beſitz erwerben

koͤnnen (u).

Indeſſen iſt es nicht unwahrſcheinlich, daß jener Zwei-

fel von jeher nur in theoretiſchen Unterſuchungen erhoben,

in der Anwendung aber niemals beachtet wurde. Der

Grund liegt darin, daß außerdem die Erwerbung irgend

eines Vermögensrechts für die juriſtiſchen Perſonen nach

dem ſtrengen alten Recht völlig unerklärlich bleiben würde.

 

(t) L. 1 § 22 de adqu. vel am.

poss. (41. 2.) „Municipes per se

nihil possidere possunt, quia

universi (al. uni) consentire non

possunt.” Die letzten Worte wol-

len nicht ſagen, es ſey gar zu

ſchwierig, ſie Alle zu dieſem Zweck

zuſammen zu bringen, was doch

gewiß nicht mit der Unmöglichkeit

einerley iſt; ſondern ſelbſt wenn

alle Einzelne conſentirten, ſo wäre

es doch nicht die Corporation ſelbſt,

als ideale Einheit (universi), wel-

che wollte, alſo fände ſich nicht der

ganz unentbehrliche animus pos-

sidendi in der Perſon des wah-

ren Beſitzers (§ 90. § 93. b. h.).

— Vgl. auch Gajus II. § 89. 90.

(u) L. 2 de adqu. vel am. poss.

(41. 2.), L. 7 § 3 ad exhib. (10. 4.).

Vgl. Savigny Recht des Be-

ſitzes § 21 (am Anfang) § 26

S. 354. 358. 367 der 6. Ausg.

19*

|0306 : 292|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Allerdings konnten ſie durch ihre Sklaven erwerben, aber

wie ſollten ſie jemals zu dem Eigenthum des erſten Skla-

ven gelangen? Dafür bleibt doch kein anderer Weg übrig,

als die Uſucapion; war aber ohne dieſe der Anfang ei-

nes Vermögens unmöglich, ſo muß ihnen die Praxis von

jeher auch die Fähigkeit zum Beſitz zuerkannt haben, in-

dem ohne Beſitz keine Uſucapion moͤglich iſt.

Der Beſitzerwerb juriſtiſcher Perſonen geſtaltet ſich nun

auf folgende Weiſe. Rechte überhaupt konnten ſie von

jeher erwerben, indem ihnen die juriſtiſchen Handlungen

ihrer Vertreter als ihre eigene Handlungen angerechnet

wurden; darin beſteht eben ihr Weſen. Bey dem Beſitz

fand das Schwierigkeit, weil er wegen ſeiner rein facti-

ſchen Natur mit einer ſolchen Fiction nicht vereinbar

ſchien. Als man ſich über dieſe Schwierigkeit hinweg-

ſetzte, geſchah dieſes dadurch, daß man die allgemeinen

Vertreter oder Vorſteher der juriſtiſchen Perſon, auch in

Anſehung des Beſitzerwerbes, an die Stelle der juriſtiſchen

Perſon treten ließ. Jetzt muß alſo in der phyſiſchen Per-

ſon des Vorſtehers alles Das vorgehen, was bey einem

gewöhnlichen Beſitzerwerb in der Perſon des Beſitzers vor-

gehen muß; er ſelbſt muß das Bewußtſeyn des Beſitzes

haben, und die Apprehenſion muß entweder durch ihn,

oder durch einen von ihm Beauftragten (bey den Roͤmern

auch durch einen Sklaven) geſchehen. Dabey bleibt alſo

immer die Abweichung von der ſonſt geltenden Regel des

Beſitzerwerbs, daß der Beſitzer ſelbſt (hier die juriſtiſche

 

|0307 : 293|

§. 91. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

Perſon als ſolche) beſitzen kann, ohne eigenes Bewußt-

ſeyn des Beſitzes. Die Schwierigkeit, ſo wie die Art ih-

rer Beſeitigung, iſt alſo völlig dieſelbe, wie wenn das

Kind durch ſeinen Tutor, der Wahnſinnige durch ſeinen

Curator, Beſitz erwerben ſoll (v).

(v) Gegen dieſe, im Weſentli-

chen ſchon in meinem Buch über

den Beſitz aufgeſtellte, Lehre hat

Widerſpruch erhoben Warnkö-

nig, Archiv XX. S. 412 — 420,

indem er behauptet, juriſtiſche

Perſonen könnten, eben ſo wie

phyſiſche, nur mit ihrem Bewußt-

ſeyn Beſitz erwerben. Er hat ſich

offenbar das Weſen der juriſti-

ſchen Perſonen nicht klar gemacht,

und daß er gerade hierin das

Misverſtändniß ſo vieler anderen

Schriftſteller theilt, erhellt aus der

Stelle S. 420: „der Grundſatz,

daß die Beſchlüſſe der Majorität

der Mitglieder den Willen der

Corporation ſelbſt bilden, iſt

ein ausgemachter Satz.“ Von

dieſem Standpunkt aus bleibt es

ja unerklärlich, wie die Römer

bey dem Beſitzerwerb der juriſti-

ſchen Perſonen mehr Schwierig-

keit finden konnten, als bey dem

der phyſiſchen, oder als bey dem

Erwerb anderer Rechte.

|0308 : 294|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 92.

Juriſtiſche Perſonen. — Rechte. (Fortſetzung.)

IV. Obligationen.

Durch Verträge ihrer verfaſſungsmäßigen Vertreter kön-

nen ſie Forderungen erwerben und mit Schulden belaſtet

werden. Der Form nach trat im älteren R. R. der Un-

terſchied ein, daß einer juriſtiſchen Perſon durch die Sti-

pulationen ihres Sklaven Forderungen ipso jure, alſo durch

directe Klagen, erworben werden konnten (a): durch die

Verträge freyer Stellvertreter nur vermittelſt einer utilis

actio (b). Dieſer beſchränkende Unterſchied iſt im neueſten

Recht verſchwunden. — Dagegen hat ſich die nicht in der

bloßen Form gegründete Beſchränkung erhalten, daß ver-

tragsmäßige Schulden, die auf einem Geben beruhen, wie

bey dem Darlehen, nur inſofern die juriſtiſche Perſon ver-

pflichten, als das Gegebene auch wirklich in ihren Vor-

theil verwendet wurde (c). — Die minder häufigen und

wichtigen Obligationen, welche auch ohne Wollen und

Handeln entſtehen, kommen bey juriſtiſchen Perſonen, wie

bey natürlichen, ganz auf gleiche Weiſe vor (d).

 

(a) L. 11 § 1 de usuris. (22. 1.).

(b) L. 5 § 7. 9 de pecunia con-

stit. (13. 5.).

(c) L. 27 de reb. cred. (12. 1.).

(d) So z. B. familiae hercis-

cundae, finium regundorum,

aquae pluviae actio. L. 9 quod

cuj. un. (3. 4.). — Eben ſo aber

auch, nach Römiſchem Recht, die

Noxalklagen, wenn der Sklave

einer juriſtiſchen Perſon ein Ver-

brechen begieng.

|0309 : 295|

§. 92. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

Die größte Meynungsverſchiedenheit aber herrſcht über

die Obligationen aus Delicten, inſofern darin eine juri-

ſtiſche Perſon Schuldner werden ſoll; denn ihre Forderun-

gen aus Delicten ſind weder zweifelhaft, noch von denen

der natürlichen Perſonen verſchieden. Da aber dieſe Frage

mit der ganz ähnlichen Frage wegen eigentlicher Verbre-

chen der juriſtiſchen Perſonen unzertrennlich verbunden iſt,

ſo ſoll ſie auch in Verbindung mit dieſer behandelt wer-

den (§ 94).

 

Auch bey den Obligationen bewährt ſich wieder der

im § 90 aufgeſtellte allgemeine Grundſatz. Ihre Forde-

rungen und Schulden betreffen lediglich ſie ſelbſt als künſt-

liche Einheit: die einzelnen Mitglieder werden davon gar

nicht berührt (e). Damit iſt es aber wohl vereinbar, daß

die Corporation ihre eigenen Mitglieder noͤthigen kann,

Beyträge zur Bezahlung der Corporationsſchulden zu ge-

ben; ein ſolcher Anſpruch gründet ſich auf das innere Ver-

hältniß der Corporation zu ihren Mitgliedern, und iſt von

dem nach außen gerichteten Schuldverhältniß ganz unab-

hängig.

 

V. Klagenrecht.

Die Rechtsfähigkeit der juriſtiſchen Perſonen würde

einen ſehr unvollkommenen Erfolg haben, wenn ihnen nicht

die Fähigkeit mitgetheilt worden wäre, als Kläger und

 

(e) L. 7 § 1 quod cuj. un. (3. 4.).

„Si quid universitati debetur,

singulis non debetur: nec, quod

debet universitas, singuli de-

bent.”

|0310 : 296|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Beklagte im Prozeß aufzutreten. Dieſe Fähigkeit iſt da-

her auch als allgemeiner Grundſatz ausgeſprochen (f). Die

Ausführung kann dadurch vermittelt werden, daß die ju-

riſtiſche Perſon für den einzelnen Fall einen actor beſtellt,

der dann die gewöhnlichen Rechte eines Procurators hat.

Es iſt jedoch auch dadurch möglich, daß ein ſolcher blei-

bender Vertreter für alle ihre Rechtsſtreitigkeiten beſtellt

wird, der dann den Namen Syndicus führt; dieſe Form

war im neueren Roͤmiſchen Recht bey Stadtgemeinden die

gewöhnliche (g). — Nicht blos zu eigentlichen Klagen iſt

eine ſolche Vertretung zuläſſig, ſondern auch zu anderen

auf die Rechtsverfolgung abzweckenden Handlungen, wie

Cautionen, operis novi nuntiatio u. ſ. w. (h). Ein ſol-

cher Vertreter iſt dann nicht als ein von den Einzelnen,

folglich von mehreren Perſonen, beſtellter Procurator zu

betrachten, ſondern wie der Procurator eines Einzelnen,

der juriſtiſchen Perſon als Einheit (i). — Sind angen-

blicklich die Mitglieder einer Corporation bis auf Einen

weggeſtorben, ſo kann dieſer die Prozeßführung unmittel-

bar übernehmen, wobey er jedoch immer nicht in eigenem

Namen, ſondern nur als Vertreter der Corporation auf-

tritt (k). Außerdem kann auch Jeder, der es gut findet,

die Vertretung einer juriſtiſchen Perſon (eben ſo wie die

einer natürlichen) als defensor übernehmen (l).

(f) L. 7 pr. quod cuj. un. (3. 4.).

(g) L. 1 § 1 L. 6 § 1. 3 L. 3

quod cuj. un. (3. 4.).

(h) L. 10 quod cuj. un. (3. 4.).

(i) L. 2 quod cuj. un. (3. 4.).

(k) L. 7 § 2 quod cuj. un.

(3. 4.), ſ. o. § 89. b.

(l) L. 1 § 3 quod cuj. un. (3. 4.).

|0311 : 297|

§. 92. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

Wird eine juriſtiſche Perſon verurtheilt, ſo geſchieht

die Execution durch dieſelben Mittel, wie gegen eine na-

türliche Perſon: durch missio in possessionem, Concurs,

Verkauf ihres Vermögens, Einziehung ihrer Forderungen

von den Schuldnern (m).

 

Eine beſondere Schwierigkeit entſteht, wenn eine juri-

ſtiſche Perſon in ihrem eigenen Rechtsſtreit einen Eid zu

ſchwören hat, da der Eid eigentlich nicht auf die juriſti-

ſche, ſondern auf die rein menſchliche Perſönlichkeit der

Partey (die Gewiſſenhaftigkeit des einzelnen Menſchen) be-

rechnet iſt. Das Römiſche Recht erwähnt dieſen Fall des

Prozeßeides nicht; allein in dem ganz ähnlichen Fall eines

durch Teſtament auferlegten Eides beſtimmt es, daß der-

ſelbe, wenn er einer Stadtgemeinde (alſo einer Corpora-

tion mit ausgebildeter Verfaſſung) auferlegt wird, von

ihren Vorſtehern geſchworen werden ſoll (n). Die neueren

Praktiker nehmen an, der Eid müſſe ſtets von einigen

Mitgliedern der Corporation geſchworen werden; über die

Anzahl derſelben, ſo wie über die Art ihrer Auswahl,

 

(m) L. 7 § 2 L. 8 quod cuj.

un. (3. 4.).

(n) L. 97 de condit. (35. 1.).

„Municipibus, si jurassent, le-

gatum est: haec conditio non

est impossibilis. Paulus: quem-

admodum ergo pareri potest?

Per eos itaque jurabunt, per

quos municipii res geruntur.“

— Ganz in demſelben Sinn ſagt

L. 14 ad munic. (50. 1). „Mu-

nicipes intelliguntur scire, quod

sciant hi, quibus summa Rei-

publicae commissa est.“ — Der

Landfriede von 1521. VII. 9 ver-

ordnet, der Reinigungseid einer

geiſtlichen oder weltlichen Com-

mune müſſe von zwey Dritthei-

len der Commun-Räth ge-

leiſtet werden; es iſt im Weſent-

lichen die Römiſche Beſtimmung,

nur etwas näher ausgebildet.

|0312 : 298|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſind die Meynungen der Schriftſteller und die Beſtimmun-

gen neuerer Geſetze verſchieden (o).

(o) Linde, Archiv für civil.

Praxis, B. 10 S. 18—36. Er

ſelbſt nimmt an, eigentlich müß-

ten (abgeſehen von der entſchie-

den entgegenſtehenden Praxis)

alle Mitglieder der Corporation

ſchwören, oder wenigſtens Dieje-

nigen, die für den Eid geſtimmt

haben; dieſe Meynung hängt mit

ſehr verbreiteten Anſichten über

die Verfaſſung der juriſtiſchen

Perſonen zuſammen, wovon wei-

ter unten die Rede ſeyn wird.

|0313 : 299|

§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

§. 93.

Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

V. Erbrecht.

Die Inſtitute des Erbrechts ſind bey den juriſtiſchen

Perſonen weit ſpäter anerkannt worden, als die des übri-

gen Vermögensrechts, und dieſer Unterſchied hat ſeinen

Grund in der allgemeinen Natur des Erbrechts ſelbſt, ver-

glichen mit dem Weſen der juriſtiſchen Perſonen. Für

jeden Inhaber eines Vermoͤgens ſind die Regeln, nach

welchen er beerbt wird, höchſt wichtig und weſentlich, weil

nur die Rückſicht auf künftige Erben der Sammlung eines

Vermoͤgens bleibenden Reiz zu geben vermag; juriſtiſche

Perſonen aber werden nicht beerbt, weil ſie nicht ſterben.

Umgekehrt iſt der Erwerb durch die Beerbung eines An-

dern, mit Ausnahme der nächſten Verwandten (die aber

für juriſtiſche Perſonen nicht vorhanden ſind), etwas ſo

Zufälliges und Unberechenbares, daß für den freyen und

mannichfaltigen Verkehr im Vermoͤgen ein dringendes Be-

dürfniß dazu nicht behauptet werden kann, und daß eine

Lücke in demſelben nicht vorhanden iſt, wenn auch für jene

Erwerbungen keine Anſtalten getroffen ſeyn ſollten. Da

nun juriſtiſche Perſonen überhaupt nur die Beſtimmung

haben, in den lebendigen Vermögensverkehr, den natürli-

chen Perſonen gleich, einzugreifen (§ 85), ſo iſt es ganz

erklärlich, wenn das Recht derſelben im Allgemeinen längſt

 

|0314 : 300|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

anerkannt und ausgebildet war, ehe man daran dachte,

ihnen auch die Erbfähigkeit mitzutheilen. Allerdings wird

für den wichtigſten Fall (die Erbeinſetzung durch Teſta-

ment) zunächſt ein formelles Hinderniß angeführt; allein

dieſes war für andere Fälle (die Legate) nicht vorhanden,

und wäre auch in jenem Fall durch eine poſitive Anord-

nung zu beſeitigen geweſen, wenn ſich ein bedeutendes

praktiſches Bedürfniß dazu von jeher gezeigt hätte.

Es ſollen nunmehr die einzelnen hierher gehörenden

Rechtsinſtitute beſonders dargeſtellt werden.

 

A. Inteſtaterbrecht. Der wichtigſte Rechtsgrund

deſſelben, die Verwandtſchaft, iſt für juriſtiſche Perſonen

nicht denkbar. Das Patronatsrecht konnte, nach den Re-

geln des Civilrechts, den juriſtiſchen Perſonen aus for-

mellen Gründen nicht mitgetheilt werden; als man es ih-

nen aber durch eine ganz poſitive Ausnahme von jenen

Regeln zugänglich gemacht hatte, ſo wurde nun auch das

patronatiſche Inteſtaterbrecht, als eine nothwendige Folge

des Patronats ſelbſt, unbedenklich anerkannt: zuerſt bey

den Städten, dann auch bey den übrigen juriſtiſchen Per-

ſonen (§ 91. e). — Außerdem bekamen manche Arten der

Corporationen das beſondere Privilegium, ihre eigenen

Mitglieder beerben zu duͤrfen, jedoch nur in Ermanglung

aller anderen Erben, alſo nur in dem Fall, in welchem

außerdem der Fiscus eingetreten ſeyn würde (a).

 

B. Teſtamentariſche hereditas. Dieſe war ſelbſt

 

(a) Dirkſen S. 99.

|0315 : 301|

§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

für Stadtgemeinden, um ſo mehr alſo für andere juriſti-

ſche Perſonen unmöglich. Der Grund dieſer Unmöglichkeit

wird von Ulpian darin geſetzt, daß die Erwerbung der

Erbſchaft nur durch perſönliches Wollen und Handeln des

Erben moͤglich ſey, welches bey der juriſtiſchen Perſon,

die nicht als menſchliches Individuum, ſondern nur als

eine juriſtiſche Fiction exiſtire, nicht vorkommen könne (b).

(b) Plinius epist. V. 7. „Nec

heredem institui nec praecipere

posse rempublicam constat.“ —

Beſonders aber Ulpian. XXII. § 5.

„Nec municipia, nec municipes

heredes institui possunt: quo-

niam incertum corpus est, ut

neque cernere universi, neque

pro herede gerere possint, ut

heredes fiant.“ Über die Worte

Nec municipia nec municipes

ſ. oben § 87. c. Die folgenden

Worte ſind ſo zu verſtehen: Sollte

eine Stadtgemeinde eine heredi-

tas erwerben, ſo müßte das ent-

weder durch Vertretung geſche-

hen, oder durch eigene Hand-

lung; Vertretung aber iſt bey

dem Erwerb einer hereditas über-

haupt nicht zulaſſig, ſelbſt nicht

durch einen Tutor (L. 65 § 3 ad

Sc. Treb. 36. 1., L 5 C. de j. de-

lib. 6. 30); eigenes Handeln aber

iſt für eine Stadt unmöglich, weil

ſie überhaurt nur eine fingirte

oder ideale Exiſtenz hat, alſo nicht

die natürliche Handlungsfähigkeit

eines Menſchen (quoniam incer-

tum corpus est), ſo daß die zum

Erwerb der hereditas nöthigen

Handlungen (cernere oder ge-

rere) von ihr als einer ſolchen

idealen Einheit (universi) nicht

vollbracht werden können. (Über

dieſe Erklärung des universi vgl.

§ 90. § 91. t und unten Note h).

— Gewöhnlich verſteht man das

incertum corpus von einer in-

certa persona, und das neque

.. universi .. possint von der Un-

möglichkeit, alle Bürger zu einem

ſolchen Zweck zuſammen zu brin-

gen. Dieſe Erklärung aber iſt

aus folgenden Gründen zu ver-

werfen. Erſtlich würde Ulpian

dann zwey Gründe als identiſch

behandeln, die doch in der That

ganz verſchieden wären. Zwey-

tens iſt es nicht richtig, Corpo-

rationen als incertae personae

anzuſehen (ſ u. Note q). Drit-

tens iſt auch die Unmöglichkeit,

alle einzelne Bürger zu einer ſol-

chen Handlung zuſammen zu brin-

gen, bey einer Stadt von mäßi-

gem Umfang gar nicht vorhan-

den, und bey einer bedeutenden

Erbſchaft würden ſie leicht Alle

erſcheinen, ohne daß auch nur

Einer fehlte.

|0316 : 302|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

— Ausnahmsweiſe erlaubte den Städten ein Senatuscon-

ſult, von ihren Freygelaſſenen zu Erben eingeſetzt zu wer-

den und dieſe hereditas (ohne Rückſicht auf die erwähnte

Bedenklichkeit) auch zu erwerben (c); es war dieſes nur

eine natürliche Entwicklung des für dieſen Fall zugelaſſe-

nen Inteſtaterbrechts, welches ohne die Zulaſſung der Erb-

einſetzung ganz inconſequent geblieben wäre. — Erſt K. Leo

erlaubte im J. 469 ganz allgemein, die Stadtgemeinden

zu Erben einzuſetzen (d).

Andere Corporationen (collegia, corpora) waren gleich-

falls der Erbeinſetzung in der Regel unfähig, und nur

einzelne unter ihnen waren durch individuelle Privilegien

für fähig erklärt worden (e). Eine allgemeine geſetzliche

Befähigung derſelben hat niemals ſtattgefunden. Dage-

gen muß auch bey ihnen, aus gleichem Grunde wie bey

den Städten, angenommen werden, daß ſie von ihren ei-

genen Freygelaſſenen zu Erben eingeſetzt werden durften,

ſobald ſie das Inteſtaterbrecht an deren Vermögen erlangt

hatten. — Wenn nun in den Digeſten bald von Städten,

bald von anderen Corporationen Fälle erwähnt werden, in

welchen ſie zu Erben rechtsgültig eingeſetzt, daneben aber

mit Legaten oder mit der fideicommiſſariſchen Reſtitution der

Erbſchaft belaſtet waren, ſo ſind dabey ſtets Teſtamente

der Freygelaſſenen ſolcher Corporationen voraus zu ſetzen (f).

 

(c) Ulpian. XXII. § 5, L. un.

§ 1 de libertis univers. (38. 3.).

(d) L. 12 C. de her. inst.

(6. 24.).

(e) L. 8 C. de her. inst. (6. 24.).

(f) Dahin gehören L. 66 § 7

de leg. 2 (31. un.), L. 6 § 4

L. 1 § 15 ad Sc. Treb. (36. 1.).

|0317 : 303|

§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

Ganz eben ſo bey den Göttern, die auch im Allgemei-

nen unfähig, durch ſpecielle Privilegien hie und da fähig

zur Erbſchaft waren (g). Bey ihnen wäre eine geſetzliche

Zulaſſung in ſpäterer Zeit ganz unmöglich geweſen, da

in Folge der Herrſchaft des Chriſtenthums die alten Göt-

ter ſelbſt aufgehoben wurden.

 

C. Bonorum Possessio. Bey ihr wurde dieſelbe

Schwierigkeit der Erwerbung angeregt wie bey der here-

ditas: ſie war aber hier leichter zu beſeitigen, indem die

bonorum possessio überhaupt auch durch Mittelsperſonen

erworben werden konnte, z. B. durch den Vormund, ohne

perſönliche Mitwirkung des Pupillen (h). Auch ſagen meh-

rere Stellen ausdrücklich, daß Städte und alle andere

Corporationen durchaus fähig ſeyen, eine bonorum pos-

sessio zu erwerben (i). Dadurch könnte man verleitet wer-

den anzunehmen, die ganze Unfähigkeit der juriſtiſchen Per-

ſonen zur Erbeinſetzung ſey durch die Einführung der bo-

 

Die letzte unter dieſen Stellen

enthält wieder eine merkwürdige

Beſtätigung der Regel, daß die

Rechte der Corporationen ihre ein-

zelnen Mitglieder gar Nichts an-

gehen; es wird darin geſagt, daß

die zur Erbin eingeſetzte Corpo-

ration gültig verpflichtet werden

könne, die Erbſchaft als Fidei-

commiß an eines ihrer Mitglie-

der zu reſtituiren.

(g) Ulpian. XXII. § 6.

(h) Dieſer Unterſchied zwiſchen

hereditas und bonorum posses-

sio iſt ſcharf bezeichnet in L. 65

§ 3 ad Sc. Treb. (36. 1.). Daß

man aber auch hier zuerſt daſſelbe

Bedenken fand, wie bey der he-

reditas, ſagt deutlich L. un. § 1

de libertis univers. (38. 3.) „mo-

vet enim, quod consentire non

possunt.“ Über die Bedeutung

dieſer Worte vergl. die ganz ähn-

lichen Stellen in § 91. t und § 93.

b, in welchen nur noch dabey ſteht:

universi .. non possunt aber

ganz in demſelben Sinn wie hier

ohne universi. Vgl. oben § 90.

(i) L. 3 § 4 de bon. poss. (37.1.).

|0318 : 304|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

norum possessio praktiſch beſeitigt worden, indem nun

die eingeſetzte Corporation nur nöthig gehabt habe, die

bonorum possessio zu agnoſciren; Ulpians Grund gegen

die Erbeinſetzung der Städte (Note b) ſcheint dieſer Mey-

nung günſtig zu ſeyn. Dennoch muß dieſelbe gänzlich ver-

worfen werden. Denn er ſagt ganz beſtimmt: Nec mu-

nicipia, nec municipes heredes institui possunt. Dieſer

unbedingte Ausſpruch iſt mit der Aufrechthaltung der Erb-

einſetzung durch bonorum possessio unvereinbar; um ſo

mehr, als er ſelbſt die Ausnahme der Teſtamente ihrer

Freygelaſſenen, und die mögliche Umgehung des Verbots

durch Fideicommiß, ſogleich hinzufügt, ohne die bonorum

possessio zu erwähnen, die hier unmöglich verſchwiegen

werden konnte, wenn ſie überhaupt gegen das Verbot hätte

helfen können. Auch wäre ſonſt die Aufhebung des Ver-

bots durch K. Leo praktiſch ganz überflüſſig geweſen. In

der That alſo wollte Ulpian nur den Grund ausdrücken,

welcher urſprünglich allein ſchon jene Erbeinſetzung ver-

hindern mußte, ohne darum dieſen Grund ſchlechthin für

den einzigen ausgeben zu wollen. Daher ſind jene Stel-

len, welche den Corporationen die bonorum possessio ge-

ſtatten (Note i), im Sinn ihrer Verfaſſer nur unter Vor-

ausſetzung eines überhaupt begründeten Erbrechts zu ver-

ſtehen, alſo unter Vorausſetzung der geſetzlichen oder teſta-

mentariſchen Erbfolge in das Vermögen eines Freyge-

laſſenen dieſer Corporation. Durch dieſe Erklärung wer-

den alle jene ſcheinbar widerſprechende Stellen voͤllig ver-

|0319 : 305|

§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

einigt, und ſie findet ihre Beſtätigung noch darin, daß

eine der angeführten Stellen die zuläſſige bonorum pos-

sessio der Corporationen ausdrücklich in Verbindung ſetzt

mit der Verlaſſenſchaft eines Freygelaſſenen (k). Seit der

Verordnung des K. Leo (Note d) kann übrigens bei Städ-

ten von dieſer Beſchränkung nicht mehr die Rede ſeyn.

D. Legate (mit Einſchluß der Singularfideicommiſſe).

Auch dieſe konnten lange Zeit nicht an juriſtiſche Perſo-

nen gegeben werden, obgleich hier durchaus kein Hinder-

niß in der Form der Erwerbung im Wege ſtand. — Spä-

terhin wurden Städte für fähig erklärt, Legate zu erwer-

ben (l). Dann auch Collegia und Tempel (m). Ein be-

 

(k) L. un. § 1 de libertis univ.

(38. 3.).

(l) Zuerſt von Nerva, dann

vollſtändiger von Hadrian. Ul-

pian. XXIV. § 28, L. 117. 122

pr. de leg. 1 (30. un.). Eine An-

wendung dieſer Fähigkeit bey Ga-

jus II. § 195. Vergl. auch noch

L. 32 § 2 de leg. 1, L. 77 § 3

de leg. 2, L. 5 pr. de leg. 3,

L. 6 L. 21 § 3 L. 24 de ann.

leg. (33. 1), L. 20 § 1 de alim.

(34. 1.), L. 6 § 2 de auro (34.

2.), L. 8 de usu leg. (33. 2),

L. 2 de reb. dub. (34. 5.). —

Plinius ſagt allerdings: nec prae-

cipere posse rempublicam con-

stat (Note b), und dieſer lebte

nach Nerva. Am einfachſten iſt

es, ſeine Stelle buchſtäblich zu

nehmen, von einem praeceptio-

nis legatum, welches freylich da-

mals einer Stadt nicht gegeben

werden konnte, da es mit der ihr

verſagten heredis institutio un-

zertrennlich verbunden war. Dirk-

ſen S. 134 verwirft dieſe Erklä-

rung (ohne Gründe), und erklärt

die Stelle des Plinius aus der

Unzulänglichkeit der Verordnung

von Nerva.

(m) L. 20 de reb. dub. (34. 5.).

Senatusconſult unter Marcus, in

Beziehung auf alle erlaubte Col-

legien. — Anwendung auf die De-

curionen einer beſtimmten Stadt.

L. 23 de ann. leg. (33. 1.). Auf

das Collegium eines Tempels.

L. 38 § 6 de leg. 3. — Eben ſo

auch Legate an Tempel ſelbſt ge-

ſtattet. L. 20 § 1 de ann. leg.

(33. 1.), L. 38 § 2 de auro

(34. 2.).

II. 20

|0320 : 306|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſonderes Reſcript geſtattete dieſen Erwerb auch den Dör-

fern (n). Man kann daher wohl dieſe Fähigkeit nun all-

gemein allen juriſtiſchen Perſonen zuſchreiben. — Die Aus-

drücke der angeführten Stellen, und namentlich die des

Ulpian (Note l), ſind ſo allgemein, daß die frühere Un-

fähigkeit auf alle Arten von Legaten bezogen werden muß,

und nicht etwa auf das vindicationis legatum beſchränkt

werden darf. Allerdings kommen ſchon frühe gültige Le-

gate an das Römiſche Volk vor, allein deren Gültigkeit

iſt nicht aus der dabey gewählten Form per damnationem

zu erklären (die dann auch bey anderen Legataren gültig

geweſen wäre), ſondern daraus, daß überhaupt das Ära-

rium in ſeinen Erwerbungen mehr adminiſtrativ verfuhr,

ohne durch beſchränkende Regeln des ſtrengen Civilrechts

gebunden zu ſeyn. Eben ſo, und aus demſelben Grunde,

wurde es auch für gültig gehalten, wenn mehrmals das

Römiſche Volk von Königen zum Erben eingeſetzt wurde (o).

E. Fideicommiſſe. Den Städten wurde durch ein

beſonderes Senatusconſult geſtattet, Erbſchaften durch fidei-

commiſſariſche Reſtitution zu erwerben (p). Gültige Fidei-

 

(n) L. 73 § 1 de leg. 1 (30. un.).

Reſcript von Marcus.

(o) Dirkſen S. 135 nimmt

an, per damnationem ſeyen alle

Legate an Städte von jeher gül-

tig geweſen, und erklärt daraus

die Gültigkeit vieler Legate an

den Römiſchen Staat. Jedoch bey

den Erbeinſetzungen des Römi-

ſchen Staats durch verſchiedene

Könige nimmt auch er an, dieſe

ſeyen unabhängig von den Re-

geln des jus civile geweſen, und

nach jus gentium beurtheilt wor-

den. Ich erkläre die Gültigkeit

dieſer Erbeinſetzungen wie jener

Legate, ohne Rückſicht auf die Ci-

vität oder Peregrinität der Te-

ſtatoren, lediglich aus der ganz

eigenthümlichen Stellung des po-

pulus (§ 101).

(p) Ulpian. XXII. § 5, L. un.

|0321 : 307|

§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

commiſſe zum Vortheil von Prieſtercollegien ſind ſchon

oben (§ 88. a und 88. bb) erwähnt worden.

Alle dieſe Beſchraͤnkungen der Erbfähigkeit juriſtiſcher

Perſonen werden von mehreren neueren Schriftſtellern auf

den Grundſatz zurückgeführt, nach welchem vor Juſtinian

jede incerta persona unfähig war, Erbſchaften oder Le-

gate zu bekommen; dieſe Ableitung aber kann nicht als

richtig angenommen werden. Incerta heißt diejenige Per-

ſon, welche der Erblaſſer gar nicht als eine individuell

beſtimmte denkt, ſondern nur durch eine allgemeine Eigen-

ſchaft bezeichnet, welche zufällig den verſchiedenſten Indi-

viduen zukommen kann (q). Dieſer Begriff paßt durchaus

nicht auf die juriſtiſche Perſon, die ja der Teſtator in be-

ſtimmter Individualität kennt und denkt, ohne dabey dem

Zufall irgend Etwas zu überlaſſen. Anders würde es

ſeyn, wenn z. B. ein Legat ſämmtlichen einzelnen Bürgern

hinterlaſſen wäre, die zur Zeit des Todes zu dieſer Stadt

gehören würden: dieſes wären in der That incertae per-

sonae, weil der Erblaſſer nicht wiſſen kann, wer bey ſei-

nem Tod Bürger jener Stadt ſeyn wird. Aber gerade

dieſer Fall kam nicht leicht vor; denn waren im Teſta-

ment als Legatare die municipes genannt, ſo hieß das

von ſelbſt ſo viel als municipium (§ 87. b); eben ſo

wurde ein den cives einer Stadt angewieſenes Legat ſo

 

§ 1 de libertis univ. (38. 3.),

L. 26. 27 pr. ad Sc. Treb. (36. 1.).

(q) So z. B. wenn die zwey

Perſonen zu Erben oder zu Le-

gataren ernannt werden, auf wel-

che die erſte Conſulnwahl nach

Abfaſſung des Teſtaments fallen

wird. § 25 J. de legatis (2. 20.).

20*

|0322 : 308|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

interpretirt, als wäre es der civitas hinterlaſſen (r). Ver-

anlaſſung zu der hier widerlegten Meynung hat ein Aus-

druck Ulpians gegeben, der aber in der That einen ande-

ren Sinn hat, und nicht von der incerta persona ver-

ſtanden werden darf (Note b).

Die bisher aufgeſtellten Regeln über die Erbfähigkeit

bezogen ſich auf diejenigen juriſtiſchen Perſonen, welche

ſchon den alten Juriſten bekannt waren. Sobald aber

das Chriſtenthum herrſchend wurde, traten für die kirch-

lichen Stiftungen im weiteſten Sinn (pia corpora) ganz

neue Grundſätze ein. Ihnen allen ſollten jetzt Erbſchaften

und Legate auf die freyeſte Weiſe zugewendet werden dür-

fen. Ja nicht blos auf wahre juriſtiſche Perſonen be-

ſchränkte ſich dieſe neu geſtattete Freyheit in der Verfü-

gung durch letzten Willen, ſondern es ſollte auch Alles

gültig ſeyn, was zu frommen und milden Zwecken ange-

wieſen wäre, ohne durch die damals noch geltende Be-

ſchränkung der incertae personae gehindert zu ſeyn. Wenn

z. B. Jemand den Armen ſeiner Stadt ein Legat ausſetzt,

ſo geht das auf die zur Zeit des Todes vorhandenen Ar-

men; dieſe bilden gewiß keine Corporation, ſie ſind wahre

incertae personae, dennoch wurde das Legat als gültig

anerkannt, und zwar lange vor Juſtinians neuer Beſtim-

mung über die incertae personae (s). — Das canoniſche

 

(r) L. 2 de rebus dub. (34. 5.).

(s) L. 1. 26 C. de SS. eccl.

(1. 2.), L. 24. 49 C. de episc.

(1. 3.).

|0323 : 309|

§. 93. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

Recht hat dieſe günſtigen Beſtimmungen der chriſtlichen

Kaiſer nicht blos beſtätigt, ſondern noch auf mancherley

Weiſe erweitert, indem es die Teſtamente dieſes Inhalts

von manchen außerdem geltenden geſetzlichen Beſchränkun-

gen befreyt, und dadurch ſehr erleichtert hat (t). Neuere

Geſetzgebungen haben nicht ſelten die Erwerbungen der

todten Hand wieder beſchränkt; allein dieſe aus politiſchen

und ſtaatswirthſchaftlichen Gründen entſprungenen Be-

ſchränkungen ſind niemals Beſtandtheile des gemeinen

Rechts geworden.

(t) G. L. Böhmer princ. j. canon. § 615. Eichhorn Kirchenrecht

B. 2 S. 765.

|0324 : 310|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 94.

Juriſtiſche Perſonen. — Rechte (Fortſetzung.)

VI. Criminalrecht und Obligationen aus

Delicten.

Die Frage, ob juriſtiſche Perſonen Verbrechen begehen

und Strafen erleiden können, iſt von jeher ſehr beſtritten

geweſen.

 

Mehrere haben die Frage aus dem Grunde verneint (a),

weil die juriſtiſche Perſon nur ein künſtliches Daſeyn durch

Privilegium des Landesherrn habe, welches aber nur für

erlaubte Zwecke gegeben ſey; wenn ſie daher ein Verbre-

chen begehe, ſo ſey ſie in dieſem Augenblick gar nicht ju-

riſtiſche Perſon, könne alſo auch nicht als ſolche einer

Strafe unterworfen werden.

 

Andere bejahen die Frage, indem ſie von einer abſo-

luten Rechts- und Willensfähigkeit der juriſtiſchen Perſon

ausgehen, welche für dieſen einzelnen Fall durch keine po-

ſitive Ausnahme beſchränkt ſey (b). Freylich giebt man

 

(a) Dahin gehören von neueren

Schriftſtellern beſonders Zacha-

riae l. c. p. 88. Haubold l. c.

C. 4 § 15. Feuerbach Crimi-

nalrecht § 28 ed. 12.

(b) Stieber zu Haubold opus-

cula Vol. 2 p. LXXIII. Müh-

lenbruch I. §. 197. Sintenis de

delictis et poenis universitatum

Servestae 1825. Dieſer letzte

nimmt jedoch Verbrechen der Cor-

porationen nur in den mit ihren

wahren Zwecken zuſammenhän-

genden Geſchäften an, z. B. wenn

eine Stadt das Münzrecht hat,

und dieſes durch Beſchluß von ⅔

ihrer Mitglieder zum Falſchmün-

zen misbraucht wird (p. 28. 32).

Dieſe Einſchränkung ſcheint ganz

inconſequent, denn wenn über-

|0325 : 311|

§. 94. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

zu, daß manche Verbrechen und manche Strafen ausge-

ſchloſſen bleiben müßten; denn es wird doch Niemand eine

Stadt des Ehebruchs, oder ein Hoſpital der Bigamie be-

ſchuldigen wollen; eben ſo würde bey einer Dorfgemeinde

die Strafe der Landesverweiſung, bey einer Kirche oder

einem Armenhaus die Gefängnißſtrafe, unüberſteigliche

Schwierigkeiten haben; weniger Schwierigkeit macht die

Todesſtrafe, welche hier in der Geſtalt der Vernichtung

der juriſtiſchen Perſon angewendet werden koͤnnte. — Allein

es iſt mit Recht bemerkt worden, daß ſolche Ausnahmen

möglicher Anwendung die Anwendung nicht im Allgemei-

nen ausſchließen können.

Gegen den für die erſte Meynung angeführten Grund

iſt mit Recht eingewendet worden, daß er zu viel beweiſe.

Denn auch wenn ein einzelner Fremder in den Staat auf-

genommen wird und in dem Unterthaneneid Gehorſam ge-

gen die Geſetze verſpricht, verletzt er durch jedes Verbre-

chen die Bedingung ſeiner Aufnahme; dennoch verliert er

dadurch nicht ſeine Perſoͤnlichkeit und am wenigſten ſeine

Straffähigkeit. Ja man könnte aus jenem ſtreng durch-

geführten Grunde ſogar folgern, daß eine juriſtiſche Per-

ſon überhaupt nicht verklagt werden könne, weil jede Klage

in dem Beklagten eine Rechtsverletzung vorausſetzt, auf

welche aber (nach Jenen) das Exiſtenzprivilegium der ju-

 

haupt der Wille der ⅔ dieſe ver-

pflichtende Kraft hat, ſo iſt nicht

einzuſehen, warum nicht die Stadt

als Dieb oder Räuber beſtraft

werden ſollte, wenn die ⅔ be-

ſchließen, zum Vortheil der Stadt-

kaſſe zu ſtehlen und zu rauben.

|0326 : 312|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

riſtiſchen Perſon nicht gerichtet iſt. Dennoch iſt dieſe Mey-

nung die wahre, und ſelbſt der eben beſtrittene Grund hat

nur ein falſches Element in die richtige Anſicht einge-

miſcht. Die Richtigkeit dieſer Meynung ergiebt ſich aus

dem Weſen des Criminalrechts, zuſammen gehalten mit

dem Weſen der juriſtiſchen Perſonen.

Das Criminalrecht hat zu thun mit dem natürlichen

Menſchen, als einem denkenden, wollenden, fühlenden We-

ſen. Die juriſtiſche Perſon aber iſt kein ſolches, ſondern

nur ein Vermoͤgen habendes Weſen, liegt alſo ganz au-

ßer dem Bereich des Criminalrechts. Ihr reales Daſeyn

beruht auf dem vertretenden Willen beſtimmter einzelner

Menſchen, der ihr, in Folge einer Fiction, als ihr eige-

ner Wille angerechnet wird. Eine ſolche Vertretung aber,

ohne eigenes Wollen, kann überall nur im Civilrecht, nie

im Criminalrecht, beachtet werden.

 

Damit ſteht nicht im Widerſpruch die Fähigkeit der

juriſtiſchen Perſonen, verklagt zu werden, da doch jede

Klage eine Rechtsverletzung vorausſetzt. Denn dieſe, die

Klage bedingende Verletzung, hat eine blos materielle Na-

tur, und iſt in den meiſten und wichtigſten Anwendungen

ganz unabhängig von der Geſinnung. Die dem Civilrecht

angehörenden Klagen ſind nur dazu da, die wahren Grän-

zen der individuellen Rechtsverhältniſſe zu erhalten oder

durch Ausgleichung herzuſtellen; eine ſolche Einwirkung

aber iſt bey dem Vermoͤgen der juriſtiſchen, wie der na-

türlichen Perſonen gleich möglich, ja überall unentbehrlich,

 

|0327 : 313|

§. 94. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

wo nur ein Vermögen angenommen werden ſoll. — Eben

ſo iſt es nicht inconſequent (wie man wohl behauptet hat)

anzunehmen, daß eine juriſtiſche Perſon zwar kein Ver-

brechen begehen, wohl aber durch das Verbrechen eines

Andern verletzt werden könne; denn zu dieſer Verletzbar-

keit iſt ſchon das Daſeyn eines Vermögens hinreichend,

welches bey der juriſtiſchen Perſon keinen Zweifel hat:

Denken und Wollen des Inhabers iſt dabey gleichgültig.

Ja ſelbſt die gegen eine juriſtiſche Perſon mögliche In-

jurie iſt kein Einwurf, da dieſe nur an die verletzte Per-

ſönlichkeit, nicht gerade an die verletzte Empfindung, ge-

knüpft iſt.

Alles, was man als Verbrechen der juriſtiſchen Per-

ſonen anſieht, iſt ſtets nur das Verbrechen ihrer Mitglie-

der oder Vorſteher, alſo einzelner Menſchen oder natürli-

cher Perſonen; auch iſt es dabey ganz gleichgültig, ob

etwa das Corporationsverhältniß Beweggrund und Zweck

des Verbrechens geweſen ſeyn mag. Wenn daher der Be-

amte einer Stadt aus verkehrtem Eifer Geld ſtiehlt, um

die Roth der Stadtkaſſe zu erleichtern, ſo iſt darum nicht

weniger er perſönlich ein Dieb. Wollte man nun irgend

ein Verbrechen an der juriſtiſchen Perſon beſtrafen, ſo

würde dadurch ein Grundprincip des Criminalrechts, die

Identität des Verbrechers und des Beſtraften, verletzt

werden.

 

Der Irrthum Derjenigen, welche ein Verbrechen juri-

ſtiſcher Perſonen für möglich halten, hat eine zwiefache

 

|0328 : 314|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Wurzel. Die erſte Wurzel beſteht in der leeren Abſtraction

einer abſoluten Willensfähigkeit, die bey ihnen ganz ohne

Grund angenommen wird. Ihre fingirte Willensfähigkeit

gilt nur in den durch ihren Begriff beſtimmten engen Grän-

zen, das heißt nur ſo weit ſie nöthig iſt, um ſie an dem

Verkehr im Vermögen Theil nehmen zu laſſen (§ 85);

dazu iſt die Fähigkeit zu Verträgen, Traditionen u. ſ. w.

ganz unentbehrlich, das Begehen von Verbrechen iſt dazu

ſo wenig nöthig, daß vielmehr der ganze Verkehr im Ver-

moͤgen weit fruchtbarer wäre, wenn gar keine Verbrechen

begangen würden. Die irrige Annahme einer abſoluten

Rechts- und Willens-Fähigkeit läßt ſich auch noch von

einer andern Seite anſchaulich machen. Wäre ſie wahr,

ſo müßte ſie auch in der Erzeugung von Familienver-

hältniſſen wirkſam ſeyn; eine Zunft z. B. müßte durch

Adoption väterliche Gewalt über ein Krankenhaus erlan-

gen können. Daß dieſes nicht möglich iſt, folgt lediglich

daraus, daß das Familienverhältniß ganz außer den Grän-

zen des Gebiets liegt, für welches allein die Fiction der

juriſtiſchen Perſonen gemacht worden iſt. — Und hierin

liegt denn auch das wahre Element, welches dem oben

verworfenen, von manchen Schriftſtellern für die richtige

Meynung angegebenen Grund zugeſchrieben werden muß.

Die juriſtiſche Perſon (ſagen Jene) kann deswegen kein

Verbrechen begehen, weil ſie in der dazu nöthigen Thä-

tigkeit gar nicht mehr juriſtiſche Perſon iſt. Das iſt wahr,

aber nicht deswegen weil dieſe Thätigkeit unerlaubt, ſon-

|0329 : 315|

§. 94. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

dern weil ſie dem Begriff und der ausſchließenden Be-

ſtimmung der juriſtiſchen Perſon fremd iſt.

Die zweyte Wurzel jenes Irrthums liegt in der völli-

gen Verwechslung der juriſtiſchen Perſon mit ihren ein-

zelnen Mitgliedern, eine Verwechslung, welcher ſich das

Römiſche Recht in ſo vielen Anwendungen auf das Be-

ſtimmteſte widerſetzt (§ 86). Der Einfluß dieſer Verwechs-

lung auf jene falſche Meynung wird beſonders durch die

Wahrnehmung einleuchtend, daß man die Fähigkeit zu

Verbrechen doch nicht bey allen juriſtiſchen Perſonen durch-

führt; man behauptet ſie in der That nur bey Corpora-

tionen, nicht bey Stiftungen, wenngleich dieſer Unterſchied

nicht ausgeſprochen zu werden pflegt. Inconſequent iſt er

gewiß, denn wenn überhaupt juriſtiſche Perſonen Verbre-

chen begehen können, weil ſie allgemeine Willensfähigkeit

haben, ſo müſſen dazu auch Kirchen und Waiſenhäuſer,

vertreten durch ihre Vorſteher, fähig ſeyn. Dieſe Incon-

ſequenz aber erklärt ſich daraus, daß die Handlungen der

meiſten Bürger einer Stadt, oder aller Meiſter einer Zunft,

leicht dafür angeſehen werden können, als wäre es die

Stadt oder die Zunft welche handelte; oder mit anderen

Worten, ſie erklärt ſich aus der eben gerügten Verwechs-

lung der einzelnen Mitglieder mit der Corporation.

 

Folgende Vergleichung kann dazu dienen, die Wahr-

heit der aufgeſtellten Behauptungen noch anſchaulicher zu

machen. Wahnſinnige und Unmündige haben mit den ju-

riſtiſchen Perſonen die Ähnlichkeit, daß ſie rechtsfähig ſind,

 

|0330 : 316|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

daneben aber die natürliche Handlungsfähigkeit entbehren,

weshalb ihnen in der Perſon von Vertretern ein künſtli-

cher Wille verſchafft wird. Bey dieſen wie bey jenen iſt

völlig gleicher Grund vorhanden, einem ſolchen fingirten

Willen unbegränzte Ausdehnung zu geben, und alſo das

Verbrechen des Vormundes an dem Pupillen zu beſtrafen,

wenn er es in ſeiner Eigenſchaft als Vormund begeht, in-

dem er etwa zum Vortheil des Pupillen ſtiehlt oder be-

trügt. In dieſem Fall hat meines Wiſſens noch Niemand

die Möglichkeit eines Verbrechens durch Vertretung be-

hauptet; allein die Inconſequenz dieſer verſchiedenen Be-

handlung der juriſtiſchen Perſonen und der Unmündigen

iſt einleuchtend.

|0331 : 317|

§. 95. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

§. 95.

Juriſtiſche Perſonen. — Rechte. (Fortſetzung.)

Bisher war von Verbrechen und deren criminalrecht-

lichen Folgen die Rede. Ganz daſſelbe gilt aber auch von

den Obligationen aus Delicten, die wegen dieſer inneren

Verwandtſchaft oben, bey der allgemeinen Betrachtung der

Obligationen (§ 92), einſtweilen übergangen worden ſind.

Denn jedes wahre Delict ſetzt dolus oder culpa voraus,

mithin Geſinnung und Zurechnung, kann alſo bey juriſti-

ſchen Perſonen eben ſo wenig angenommen werden, als

bey Unmündigen und Wahnſinnigen. — Anders verhält

es ſich, wenn in Contractsverhältniſſen der juriſtiſchen

Perſon, ihres Stellvertreters Dolus oder Culpa in Be-

tracht kommt. Denn dieſes iſt eine von der Hauptobliga-

tion unzertrennliche Modification, wobey die Geſinnung

der juriſtiſchen Perſon eben ſo gleichgültig iſt, wie die ei-

ner phyſiſchen Perſon, deren Bevollmächtigter des Dolus

oder der Culpa in einem Contract ſich ſchuldig macht.

 

Nachdem nun für Verbrechen und Delicte mit ihren

Folgen die Unanwendbarkeit auf juriſtiſche Perſonen dar-

gethan worden iſt, muß noch bemerkt werden, daß aller-

dings bey Verbrechen und Delicten ihrer Vorſteher oder

Mitglieder eine zwiefache Rückwirkung auf ſie ſelbſt ein-

treten kann, welche leicht den Schein annimmt, als wür-

den ihnen die Verbrechen oder Delicte ſelbſt zugerechnet.

 

|0332 : 318|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Die Anerkennung ſolcher indirecten Einwirkungen wird

vielleicht dazu beytragen, die Wiederkehr falſcher Behaup-

tungen über dieſe Frage noch ſicherer zu verhüten.

Erſtlich kann bey ſolchen Corporationen, welche poli-

tiſcher Natur ſind (z. B. den Gemeinden) Etwas eintre-

ten, das einer Strafe ähnlich ſieht, und dennoch einen

weſentlich verſchiedenen Character hat. So ließe es ſich

denken, daß eine Stadt, in Folge einer Verrätherey ge-

gen den Feind, zerſtört würde und als Corporation ver-

ſchwände; oder auch, daß ſie nur gewiſſe Vorrechte oder

Ehrentitel verlöre. Eben ſo geſchieht es wohl, daß einem

Regiment im Kriege die Fahnen entzogen werden, bis es

ſie durch neue Auszeichnung wieder gewinnt. Allein die-

ſes ſind politiſche Akte, Handlungen der Regierungsge-

walt, nicht des Richters; ſie ſind dazu beſtimmt, auf

Schuldige und Fremde einen großen Eindruck zu machen,

und das Übel, welches ſie zufügen, wird faſt immer auch

unſchuldige Individuen treffen, wie es bey einer wahren,

vom Richter ausgeſprochenen, Strafe nie ſeyn könnte.

Sie haben alſo vielmehr eine ähnliche Natur wie die Auf-

hebung einer Corporation, wenn dieſelbe Anfangs geneh-

migt war, hinterher aber ſich als gemeinſchädlich zeigt

(§ 89); welches letzte ſogar geſchehen kann, ohne daß ir-

gend ein Verbrechen begangen worden iſt.

 

Zweytens ſteht neben der obligatio ex delicto oft eine

von ihr ganz verſchiedene obligatio ex re, ex eo quod ad

aliquem pervenit, und dieſe kann unſtreitig die juriſtiſche

 

|0333 : 319|

§. 95. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

Perſon eben ſowohl, als den Unmündigen, treffen. Wenn

alſo die Vorſteher in dem Geſchäft der Corporation einen

Betrug verüben, ſo ſind nur ſie ſelbſt aus dem dolus ver-

pflichtet; iſt aber die Kaſſe der Corporation durch den

Betrug bereichert, ſo muß ſie dieſen Gewinn herauszah-

len. — Eine ähnliche Bewandniß hat es mit den Prozeß-

ſtrafen, die eigentlich keine wahre Strafen, ſondern, gleich

den Prozeßkoſten und den Cautionen, weſentliche Beſtand-

theile des Prozeßmechanismus ſind. Dieſen muß ſich die

juriſtiſche Perſon unterwerfen, wenn ſie überhaupt an den

Vortheilen des Prozeßganges Theil nehmen will (a).

Uber die Frage, welche bis jetzt nur mit Rückſicht auf

die allgemeine Natur der juriſtiſchen Perſonen behandelt

worden iſt, ſollen nun auch ſpecielle Beſtimmungen des

poſitiven Rechts zuſammengeſtellt werden.

 

Das Römiſche Recht beſtätigt vollkommen die hier ent-

wickelten Grundſätze. Ganz beſtimmt ſpricht ſich eine Stelle

dahin aus, eine Stadtgemeinde könne nicht mit der doli

actio belangt werden, weil ſie des dolus ihrer Natur nach

unfähig ſey; ſey ſie durch Betrug ihrer Verwaltungsbe-

amten bereichert, ſo müſſe ſie dieſen Gewinn herausgeben;

die doli actio ſelbſt aber geht gegen die Einzelnen, die

den Betrug verübten, z. B. gegen die einzelnen Decurio-

nen (b). — Wenn Jemand den Beſitzer eines Grundſtücks

mit Gewalt herauswirft, und zwar im Namen einer Stadt-

 

(a) Haubold l. c., p. 604.

(b) L. 15 § 1 de dolo (4. 3.), ſ. o. § 87. g.

|0334 : 320|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

gemeinde, ſo geht gegen dieſe das Interdict de vi, voraus-

geſetzt daß ſie in Folge jener Handlung Etwas in ihrem

Beſitz hat (c). — Zweydeutiger ſind die Ausdrücke einer

anderen Stelle. Wenn Jemand durch Drohungen zu ei-

nem nachtheiligen Rechtsgeſchäft beſtimmt wird, ſo hat

dieſer eine actio quod metus causa zur Wiederherſtellung

ſeines früheren Zuſtandes. Nun ſagt Ulpian (in demſel-

ben Buch des Commentars über das Edict, worin er die

Unfähigkeit einer Corporation zum dolus behauptet), es

ſey einerley wer die Drohung verübe, ein Einzelner, oder

ein populus, curia, collegium, corpus; zur Beſtätigung

führt er aus ſeiner Praxis folgendes Beyſpiel an: die

Bürger von Capua hatten von einem Einzelnen irgend ein

ſchriftliches Verſprechen (cautio pollicitationis) erpreßt;

deshalb ſollte gegen die Stadt Capua Klage oder Excep-

tion gegeben werden, wie es der Gezwungene begehren

würde (d). Hier iſt es klar, daß die Corporation als

ſolche ſollte verklagt werden können, allein dieſes gründet

ſich darauf, daß die erwähnte Klage nicht blos gegen den

Zwingenden geht, ſondern auch gegen jeden dritten Be-

ſitzer, welcher in der Lage iſt, die Wiederherſtellung be-

wirken zu können (e). Ein ſolcher Dritter war hier die

Stadt Capua, weil ſie als Corporation durch die (wiewohl

(c) L. 4 de vi (43. 16.). „Si

vi me dejecerit quis nomine

municipum, in municipes mihi

Interdictum reddendum Pom-

ponius ait, si quid ad eos per-

venit.” Es iſt oben gezeigt wor-

den, daß der Ausdruck munici-

pes ſtets die Corporation als ſol-

che bezeichnet. § 87. b. c.

(d) L. 9 § 1. 3 quod metus

(4. 2.).

(e) L. 9 § 8 quod metus (4. 2.).

|0335 : 321|

§. 95. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

erzwungene) pollicitatio in der That eine ipso jure rechts-

gültige Forderung erworben hatte; der Gezwungene be-

durfte einer Exception, um ſich gegen die Klage der Stadt

zu ſchützen, einer Klage um von ſeiner Schuld ipso jure

frey zu werden (f). — Der beſtimmteſte Ausſpruch aber

findet ſich in einem Geſetz von Majorian, nach welchem

niemals eine Curie als Ganzes verurtheilt werden ſoll,

ſondern immer nur die ſtrafbaren einzelnen Mitglieder (f¹).

In der Römiſchen Geſchichte finden ſich nicht wenige

Beyſpiele von hart behandelten Stadtgemeinden. Das

merkwürdigſte derſelben iſt das der Stadt Capua, welche

im zweyten Puniſchen Kriege von Rom abgefallen war.

Nach ihrer Wiedereroberung wurden nicht nur die ange-

ſehenſten Bürger hingerichtet, ſondern der Stadt ſelbſt

wurde jede Spur ſtädtiſcher Verfaſſung gänzlich entzo-

gen (g). Augenſcheinlich war dieſes, wie alles Ähnliche

in der Römiſchen Geſchichte, eine blos politiſche Hand-

lung, keine Anwendung der Criminalgeſetze durch richter-

liche Gewalt.

 

Abweichend von den Grundſätzen des R. R. verordnete

 

(f) Über die Klagbarkeit der

Pollicitationen vgl. L. 1. 3. 4. 7

de pollicitat. (50. 12.). Daß ein

erzwungnes Verſprechen ipso jure

klagbar iſt, und nur per excep-

tionem entkräftet wird, darüber

vgl. § 1 J. de except. (4. 13.).

(f¹) Nov. Majoriani Tit. 7

(in Hugo’s Jus civile antejust.

p. 1386 § 11): „Nunquam curiae

a provinciarum rectoribus ge-

nerali condemnatione mulcten-

tur, cum utique hoc et aequi-

tas suadeat et regula juris an-

tiqui, ut noxa tantum caput

sequatur, ne propter unius for-

tasse delictum alii dispendiis

affligantur.”

(g) Livius Lib. 26 C. 16.

II. 21

|0336 : 322|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

K. Friedrich II., jede Gemeinde die ſich gegen eine Kirche

Erpreſſungen erlaube, ſolle den dreyfachen Werth vergü-

ten und in den Kirchenbann verfallen; bleibe dieſer ein

Jahr lang beſtehen, ſo falle ſie in des Kaiſers Bann (h).

Hier wird offenbar Verbrechen und Strafe auf die Cor-

poration als ſolche irrigerweiſe bezogen.

Das canoniſche Recht iſt ſich bey dieſer Frage nicht

gleich geblieben. P. Innocenz IV. ſtellte, übereinſtimmend

mit dem R. R., die Regel auf, der Kirchenbann ſolle nie

gegen eine Corporation als Ganzes, ſondern nur gegen

die ſtrafbaren einzelnen Mitglieder, gerichtet werden (i).

Später aber gieng P. Bonifaz VIII. davon wieder ab, in-

dem er in dem Fall einer einzelnen Art von Bedrückung

gegen Geiſtliche doch wieder den Corporationen als ſol-

chen das Interdict androhte (k).

 

Auch mehrere deutſche Reichsgeſetze enthalten Straf-

drohungen, welche an Corporationen als ſolche gerichtet

ſind: Geldſtrafen, und Verluſt der Freyheiten oder Privi-

legien (l). Es ſind aber darin lediglich Verbrechen gegen

die Sicherheit und Ruhe des Reichs bezeichnet, als Land-

friedensbruch und Conföderation oder Conſpiration. Eben

ſo werden darin Fürſten und Städte neben einander ge-

ſtellt. Es werden alſo auch in dieſen Geſetzen eigentlich

 

(h) Auth. Item nulla und Item

quaecunque C. de episc. (1. 3.).

(i) C. 5 de sent. excommu-

nicat. in VI. (5. 11.).

(k) C. 4 de censibus in VI.

(3. 20.)

(l) Aurea bulla C. 15 § 4. —

Landfriede von 1548 Tit. 2 Tit. 14

Tit. 29 § 4. — Kammergerichts-

ordnung von 1555 II. 10. § 1.

|0337 : 323|

§. 95. Juriſtiſche Perſonen. Rechte. (Fortſetzung.)

nur politiſche Handlungen des Reichs gegen ſeine einzel-

nen Glieder angekündigt, wenngleich dieſe Handlungen, nach

der eigenthümlichen Verfaſſung des deutſchen Reichs, die

Form wirklicher Criminalſtrafen annahmen, und von den

Reichsgerichten als Strafen ausgeſprochen wurden. Auch

in dieſen Geſetzen alſo iſt über die Straffähigkeit der Cor-

porationen überhaupt, abgeſehen von jenem beſonderen

politiſchen Verhältniß, kein Ausſpruch enthalten.

Zu einer entſchiedenen Praxis endlich über die hier er-

örterte Frage iſt es in Deutſchland niemals gekommen.

Die meiſten und wichtigſten Fälle, welche in dieſer Art

vorgekommen ſind, tragen augenſcheinlich einen mehr po-

litiſchen als criminalrechtlichen Character an ſich, und be-

ſtätigen ganz das, was ſo eben über den Inhalt der hier

einſchlagenden Reichsgeſetze geſagt worden iſt (m).

 

 

(m) Fälle aus der Praxis finden ſich zuſammengeſtellt bey Sintenis

p. 60 sq.

21*

|0338 : 324|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 96.

Juriſtiſche Perſonen. — Verfaſſung.

Um den Begriff der juriſtiſchen Perſonen in das wirk-

liche Leben einzuführen, bedarf es für ſie einer regelmä-

ßigen Vertretung, wodurch die ihnen fehlende Handlungs-

fähigkeit künſtlich erſetzt werden muß, und zwar lediglich

zu dem Zweck, den Verkehr im Vermögen ihnen zugäng-

lich zu machen; dieſe Vertretung wird begründet durch

ihre Verfaſſung (§ 90). Da ſie aber ſtets auch noch an-

dere Beziehungen haben, und zwar ſolche, welche oft weit

wichtiger ſind als ihre privatrechtliche Perſönlichkeit, und

durch welche gleichfalls ſchon eine beſtimmte Verfaſſung

nöthig wird, ſo werden dann die Organe dieſer allgemei-

nen Verfaſſung zugleich zur Erfüllung jenes privatrechtli-

chen Zwecks hinreichen. — Bey den Römern konnte ein

Theil dieſer privatrechtlichen Vertretung auch noch auf ei-

nem anderen Wege bewirkt werden. Wenn nämlich eine

juriſtiſche Perſon auch nur einen einzigen Sklaven im Ei-

genthum hatte, ſo konnte ihr dieſer jedes Vermögensrecht

(Eigenthum und Schuldforderungen) ſchon nach den ſtren-

gen Regeln des alten Civilrechts erwerben (§ 65). Darauf

aber beſchränkte ſich dieſe Vertretung; ſie war nicht an-

wendbar auf Veräußerungen und Verpflichtungen, alſo

auch nicht auf die häufigſten und wichtigſten aller Rechts-

 

|0339 : 325|

§. 96. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung.

geſchäfte, welche (ſo wie der Kauf) aus gegenſeitigem

Geben und Nehmen beſtehen; ferner nicht auf gerichtliche

Geſchäfte aller Art; endlich nicht auf die obere Leitung

der Geſchäfte, ſondern nur auf ihre Vollziehung im Ein-

zelnen. Dennoch war dieſe Art der Vertretung von gro-

ßer Wichtigkeit, weil dadurch von jeher der unmittelbare

Erwerb des Eigenthums durch feyerliche Rechtsgeſchäfte

bewirkt werden konnte, welcher außerdem für dieſen Fall

ganz unmöglich geblieben wäre.

Bey der ungemeinen Verſchiedenheit der juriſtiſchen

Perſonen unter einander, würde es ein ganz fruchtloſes

Unternehmen ſeyn, poſitive Grundſätze der Verfaſſung auf-

ſtellen zu wollen, die für ſie gemeinſchaftlich anwendbar

wären. Nur dieſes läßt ſich allgemein behaupten, daß

dem Staate über ſie alle, aus gleichem Grunde wie bey

den Unmündigen, Schutz und Aufſicht zukommt. Für

manche derſelben beſchränkt ſich hierauf der Einfluß des

Staats, da außerdem ihr Daſeyn dem Staate nicht wich-

tiger iſt, als das Daſeyn jeder Vermögen habenden na-

türlichen Perſon; bey vielen aber tritt ein hoͤheres und

unmittelbares Staatsintereſſe hinzu, weil ſie für dauernde

allgemeine Zwecke zu wirken beſtimmt ſind, oder wohl gar

(wie die Gemeinden) die Grundbeſtandtheile des Staates

ſelbſt bilden. Dieſer zwiefache Einfluß des Staates auf

die juriſtiſchen Perſonen iſt aber entſchiedener und mannich-

faltiger in neuerer Zeit, als im Römiſchen Recht, ſeitdem

ſich überhaupt die centrale Gewalt mehr entwickelt und

 

|0340 : 326|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

befeſtigt hat (a). — Ganz verſchieden von dieſem poſitiven

Einfluß des Staats iſt der negative, der auf die Verhin-

derung ſchädlicher und gefährlicher Corporationen abzweckt.

Dieſes Beſtreben findet ſich im Römiſchen Recht ſogar

noch ſtärker und häufiger, als in der neueren Zeit, und

es iſt darüber ſchon oben (§ 88) geſchichtliche Nachricht

gegeben worden.

Nach dieſen allgemeinen Betrachtungen ſoll nunmehr

unterſucht werden, was das Römiſche Recht über die

Verfaſſung der juriſtiſchen Perſonen beſtimmt. Die Rö-

miſchen Juriſten hatten zu viel praktiſchen Sinn, um all-

gemeine Regeln hierüber aufzuſtellen, die bey der großen

Mannichfaltigkeit jener Perſonen doch nur ſehr beſchränkte

Anwendbarkeit gehabt haben würden. Was wir bey ihnen

finden, bezieht ſich gar nicht auf die juriſtiſchen Perſonen

überhaupt, ja nicht einmal auf alle Corporationen, ſon-

dern lediglich auf die Stadtgemeinden, d. h. urſprünglich

auf die Municipien und Colonieen in Italien, dann aber

auch auf die Provinzialſtädte. Die Italiſchen Städte nun

hatten, während der freyen Republik, Verfaſſungen die

der Römiſchen ſehr ähnlich waren: die öffentliche Gewalt

war, hier wie dort, getheilt unter die Volksverſammlung,

den Senat, und einzelne Obrigkeiten. Unter den Kaiſern

verſchwand bald die Volksgewalt gänzlich, alle Gewalt

concentrirte ſich in dem Senat (ordo oder curia), und

auch die Magiſtrate waren nur als Beſtandtheile deſſelben

 

(a) Eichhorn deutſches Privatrecht § 372.

|0341 : 327|

§. 96. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung.

anzuſehen (b): dadurch wurden zugleich die Städte in Ita-

lien den Provinzialſtädten immer ähnlicher. Dieſe neuere

Städteverfaſſung iſt es, welche ſchon zur Zeit der ausge-

bildeten Rechtswiſſenſchaft vorhanden war, und welche

uns in den Juſtinianiſchen Rechtsbüchern dargeſtellt wird.

— Die Grundzüge dieſer Verfaſſung ſind folgende. Alle

öffentliche Gewalt ruht in dem ordo, welcher aber nur

als verfaſſungsmäßig handelnd angeſehen wird, wenn we-

nigſtens zwey Drittheile ſeiner überhaupt vorhandenen Mit-

glieder verſammelt ſind. Sind alſo dieſe verſammelt, ſo

ſtellt eine ſolche Verſammlung den ganzen ordo vor, und

man ſoll nicht etwa die Anweſenheit einer noch größeren

Zahl, oder gar Aller, fordern, weil ſonſt die Verhinde-

rung mehrerer Decurionen alle Geſchäfte hemmen könnte;

fehlt es an jener Anzahl, ſo gilt die Verſammlung nicht

als ordo, und kann keine gültige Beſchlüſſe faſſen (c). In

jeder ſolchen geſetzmäßigen Verſammlung aber entſcheidet

die Stimmenmehrheit unter den Anweſenden (d). Dieſe

(b) Savigny Geſchichte des

Römiſchen Rechts im Mittelalter

B. 1 § 8. 87.

(c) L. 2. 3 de decretis ab or-

dine faciendis (50. 9.). „Illa

decreta, quae non legitimo nu-

mero decurionum coacto facta

sunt, non valent.” — „Lege

autem municipali cavetur, ut

ordo non aliter habeatur, quam

duabus partibus adhibitis.” —

L. 46 C. de decur. (10. 31.) (d. h.

L. 142 C. Th. de decur. 12. 1.)

„.. ne paucorum absentia ..

debilitet, quod a majore parte

ordinis salubriter fuerit consti-

tutum: cum duae partes or-

dinis in urbe positae, totius

curiae instar exhibeant.” In

dieſen letzten Worten iſt ganz un-

zweydeutig geſagt, daß jede Ver-

ſammlung von ⅔ aller Mitglie-

der, für die ganze Curie, den

ganzen ordo, angeſehen wer-

den ſolle.

(d) L. 46 C. de decur. (Note b)

|0342 : 328|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Regel, die in den angeführten Stellen von öffentlichen

Stadtgeſchäften überhaupt aufgeſtellt wird, gilt insbeſon-

dere auch von der Wahl eines actor, der vor Gericht für

die Stadt auftreten ſoll: auch dazu iſt noͤthig die Anwe-

ſenheit von wenigſtens zwey Drittheilen der Decurionen,

und die Wahl wird durch die Stimmenmehrheit unter die-

ſen Anweſenden entſchieden (e).

„a majore parte ordinis” L. 19

ad municip. (50. 1.). „Quod

major pars curiae effecit, pro

eo habetur, ac si omnes ege-

rint.” (Curia aber heißt, nach

Note b, eine Verſammlung von

wenigſtens ⅔ aller Mitglieder). —

L. 2. 3 C. de praed. decur. (10.

33.), „totius vel majoris partis

intercedente decreto,” „curia-

lium vel majoris partis curiae.”

L. 19 pr. de tutor. et curat.

(26. 5.). „Ubi absunt hi qui

tutores dare possunt, decurio-

nes jubentur dare tutores: dum-

modo major pars conveniat” etc.

Das conveniat iſt zweydeutig; es

könnte im materiellen Sinn ge-

nommen werden (für zuſammen-

kommen), dann würde es mit der

Regel der ⅔ (Note b) im Wider-

ſpruch ſtehen: daher muß es in

dem eben ſo gewöhnlichen tropi-

ſchen Sinn genommen werden

(für übereinkommen), und iſt

dann wieder nur die Regel der

Entſcheidung durch Stimmen-

mehrheit.

(e) L. 3. 4 quod cuj. un. (3. 4.)

. nisi .. ordo dedit, cum duae

partes adessent, aut amplius

quam duae.” Auch hier wieder

gilt der ganze ordo als handelnd,

wenn eine Verſammlung von ⅔

thätig iſt. Neuerlich iſt die Vor-

ſchrift der ⅔ für alle Verſamm-

lungen der Decurionen ſo gedeu-

tet worden, als hätte der Beſchluß

gefaßt werden müſſen von der

Mehrzahl — nicht der Anweſen-

den in dieſer Verſammlung, ſon-

dern — aller Decurionen über-

haupt, woneben alſo die noth-

wendige Anweſenheit der ⅔ nur

eine unnütze Erſchwerung gewe-

ſen wäre. (Lotz a. a. O., S. 115

— 120). Dieſer Annahme wider-

ſprechen ſchon die Worte der an-

geführten Stellen; außerdem aber

iſt zu bedenken, daß hier von ei-

nem Geſchäftscollegium die Rede

iſt, und zugleich von Gegenſtän-

den laufender Verwaltung, die

in irgend einer Art abgemacht

werden mußten: dabey iſt eine

andere Majorität als die der ge-

rade anweſenden Verſammlung

eben ſo fremdartig und unnatür-

lich, wie ſie es z. B. in unſren

Juſtizcollegien ſeyn würde.

|0343 : 329|

§. 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

§. 97.

Juriſtiſche Perſonen. — Verfaſſung. (Fortſetzung.)

Neuere Schriftſteller haben über die Verfaſſung der

Corporationen (nicht der juriſtiſchen Perſonen überhaupt)

folgende allgemeine Grundſätze aufgeſtellt.

 

Die Corporation beſteht aus der Totalität aller vor-

handenen Mitglieder. Als Wille der Corporation aber

gilt nicht blos der’ übereinſtimmende Wille aller Mitglie-

der, ſondern auch ſchon der Wille ihrer Mehrzahl: daher

muß der Wille der Majorität aller vorhandenen Mitglie-

der als das eigentliche Subject der Corporationsrechte an-

geſehen werden. Dieſe Regel iſt gegründet im Naturrecht,

weil, wenn man Einſtimmigkeit fordern wollte, ein Wol-

len und Handeln der Corporation ganz unmöglich ſeyn

würde. Sie wird aber auch beſtätigt durch das Römiſche

Recht; zum Beweis dieſes letzten Satzes werden dann die

Stellen über die Stimmenmehrheit unter den Decurionen

angeführt (a).

 

Dieſer allgemeine, im Naturrecht begründete, und im

Römiſchen Recht anerkannte Grundſatz (ſagt man) wird

nun noch modificirt und für die Anwendung erleichtert

durch eine ganz poſitive Beſtimmung des Römiſchen Rechts.

 

(a) Zachariae p. 63. 64. Thi-

baut a. a. O. S. 389. 390, und:

Pandektenrecht § 132. Haubold

C. 3 § 2. — Eine einzelne An-

wendung dieſer Sätze auf den

gerichtlichen Eid iſt ſchon oben

(§ 92. o) vorgekommen.

|0344 : 330|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Nach dieſer wird nämlich nicht die Übereinſtimmung der

Mehrheit aller Mitglieder erfordert, ſondern nur derjeni-

gen, die ſich in einer gehörig berufenen Verſammlung ein-

finden: vorausgeſetzt nur, daß dieſe Anweſenden nicht we-

niger als zwey Drittheile aller Mitglieder überhaupt aus-

machen (b).

Indem jetzt dieſe Lehre geprüft werden ſoll, iſt es nö-

thig mit demjenigen Theil derſelben anzufangen, dem eine

relative Wahrheit zugegeben werden kann, nämlich der be-

haupteten Kraft der Stimmenmehrheit. Überall, wo der

Wille einer Verſammlung zu entſcheiden hat, iſt Einſtim-

migkeit zu erreichen zwar nicht unmöglich (denn bey den

Engliſchen Geſchwornen z. B. wird ſie gefordert und er-

reicht), aber doch ſo ſchwierig und ſo von Zufällen ab-

hängig, daß die lebendige Wirkſamkeit der Verſammlung

dadurch ungemein gehemmt werden muß, und daß es als

räthlich und zweckmäßig anzuſehen iſt, die Macht des ge-

meinſamen Willens auch ſchon irgend einer Mehrheit bey-

zulegen. Soll aber dieſes geſchehen, ſo iſt es dann das

Einfachſte und Natürlichſte, die einfache Mehrheit, das

heißt jede, die reine Hälfte überſteigende, Mehrheit, als

Träger des gemeinſamen Willens anzuerkennen, indem jede

andere Quote, z. B. ¾ oder 6/7, einen ſo willkührlichen

Character hat, daß es ohne poſitive Beſtimmung niemals

zu einer allgemeinen Anerkennung kommen wird. So be-

trachtet die Sache auch das Römiſche Recht, indem es

 

(b) Thibaut Pandektenrecht § 131. Mühlenbruch § 197.

|0345 : 331|

§. 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

nicht blos in der Decurionenverſammlung die Stimmen-

mehrheit entſcheiden läßt (§ 96), ſondern auch in der Ver-

ſammlung der Provinzialen (c); ja es findet ſich ſogar

eine Stelle, welche die Kraft der Stimmenmehrheit als

ein abſtractes Princip für alle denkbaren Fälle auszuſpre-

chen ſcheint, wenngleich der urſpüngliche Zuſammenhang

der Stelle vielleicht keinen Zweifel darüber laſſen mochte,

daß dem Verfaſſer nur irgend eine einzelne Anwendung

vor Augen ſtand (d).

Allein mehr als dieſe partielle Wahrheit können wir

jener Lehre nicht einräumen, und es iſt damit für ihre

Wahrheit im Ganzen gar nichts gewonnen. Denn gerade

die Grundannahme iſt verwerflich, daß, in den Angele-

genheiten der Corporation, der Totalität der Mitglieder

eine wahre Allmacht zukomme, worauf dann die Majori-

tät nur als eine natürliche Modification fortgebaut wer-

den ſoll. So ſeltſam es nun lautet, daß wir der Ge-

ſammtheit beſtreiten, was wir der größeren Hälfte gewiſ-

ſermaßen einräumten, ſo hat dieſes dennoch guten Grund,

und darf keinesweges als inconſequent angeſehen werden.

Denn wir ließen die Majorität irgend einer Verſammlung

gelten, vorausgeſetzt daß der Verſammlung ſelbſt das

Recht irgend einer Verfügung zukomme. Daß aber die

 

(c) L. 5 C. de legation. (10.

63.). — Andere, ähnliche Anwen-

dungen der Stimmenmehrheit fin-

den ſich in L. 3 C. de vend. reb.

civ. (11. 31.) (ſ. u. § 100 h), und

Nov. 120 C. 6 § 1. 2.

(d) L. 160 § 1 de R. J. (50.

17.). „Refertur ad universos,

quod publice fit per majorem

partem.” Vgl. Haubold p. 563.

|0346 : 332|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Verſammlung aller Mitglieder an ſich ſelbſt befugt ſey,

mit unbegränzter Macht über die Corporation zu verfü-

gen, das iſt es was wir beſtreiten.

Die Vertheidiger jener Lehre ſtreiten für die Stimmen-

mehrheit gegen die Einſtimmigkeit, gerade als ob dieſes

der einzige Gegenſatz wäre, mit welchem wir zu ſchaffen

hätten, und der uns nöthigen könnte eine Wahl zu tref-

fen, da hier doch ganz andere und wichtigere Gegenſätze

in Betracht kommen. Der letzte Grund jener Lehre be-

ſteht alſo in der überall wiederkehrenden Verwechslung

ſämmtlicher einzelnen Mitglieder mit der Corporation ſelbſt,

eine Verwechslung gegen welche das Römiſche Recht ſo

oft warnt, und zwar zunächſt bey der Frage nach dem

wahren Subject der Corporationsrechte (§ 86), aber auch

bey der Frage nach dem wahren Subject der Corpora-

tionshandlungen (§ 90, § 91. t, § 93. b. h). Jene Lehre

beruht alſo zuletzt auf der ſtillſchweigenden, ganz willkühr-

lichen Vorausſetzung einer abſoluten Demokratie in der

Verfaſſung aller Corporationen. Es iſt mithin im We-

ſentlichen die publiciſtiſche Lehre von der Volksſouveräni-

tät, übertragen auf die juriſtiſchen Perſonen im Pri-

vatrecht.

 

Die ganz anderen Gegenſätze aber, die hier in der

That in Betracht kommen, und die ſchon durch jene Stel-

lung der Streitfrage (ob Majorität oder Einſtimmigkeit

gelten ſolle) völlig verdeckt werden, ſind folgende.

 

Der erſte Gegenſatz bezieht ſich auf einen ſchon oben

 

|0347 : 333|

§. 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

(§ 86) angedeuteten Unterſchied in dem Zuſtand der Cor-

porationen. Viele derſelben haben nämlich zu anderen

Zwecken, unabhängig von ihrer privatrechtlichen Perſön-

lichkeit (§ 96), eine künſtlich ausgebildete Verfaſſung, mit

verſchiedenen Organen der oͤffentlichen Gewalt in einer

ſolchen Corporation. Indem nun von den Vertheidigern

jener Lehre, der Totalität der Mitglieder (im Gegenſatz

jener conſtituirten Organe der öffentlichen Gewalt), eine

unbegränzte Macht zugeſchrieben wird, müſſen ſie dieſe

Organe entweder ignoriren, oder blos als untergeordnete

und abhängige Werkzeuge der laufenden Verwaltung an-

ſehen: beides mit völlig grundloſer Willkühr. Durch fol-

gendes Beyſpiel einer der häufigſten und wichtigſten Cor-

porationen wird dieſes anſchaulicher werden. In den deut-

ſchen Städten findet ſich von ſehr alter Zeit her eine Ver-

faſſung mit Bürgermeiſter und Rath, daneben auch ſehr

gewöhnlich eine (zuweilen noch mannichfaltig eingerichtete)

Bürgervertretung. Die Vertheidiger jener Lehre müſſen

nun annehmen, daß in den deutſchen Städten Bürgermei-

ſter, Rath und Bürgervertretung nur beſchränkte Verwal-

tungsrechte haben, untergeordnet der allmächtigen Totali-

tät der einzelnen Bürger; und in Vergleichung mit dieſer

Annahme iſt offenbar die Frage, ob, bey der Ausmittlung

des Willens dieſer Totalität, Einſtimmigkeit oder Stim-

menmehrheit gelten ſoll, von untergeordneter Natur. Wollte

man nun der erwähnten Lehre einige Haltung und Wahr-

ſcheinlichkeit geben, ſo hätte man dieſelbe von der Anwen-

|0348 : 334|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

dung auf ſolche, mit ausgebildeten Verfaſſungen verſe-

hene, Corporationen ganz ausſchließen, und nur für die

übrigen Corporationen aufſtellen müſſen. Für dieſe Un-

terſcheidung hatte man ſogar gangbare Kunſtausdrücke in

Bereitſchaft, universitas ordinata und inordinata (§ 86);

allein man machte davon keinen Gebrauch, begnügte ſich

ſie anzugeben, und ſtellte dennoch den Grundſatz der All-

macht der einzelnen Mitglieder, als einen für alle Corpo-

rationen allgemein gültigen, daneben. — Dieſe Anwen-

dung der unrichtigen Grundanſicht war übrigens am we-

nigſten dazu geeignet, in das wirkliche Leben überzuge-

hen, und ſo die Praxis zu verderben, weil die hier vor-

ausgeſetzten ausgebildeten Verfaſſungen durch ihre innere

Lebenskraft einen natürlichen und wirkſamen Widerſtand

leiſten mußten; anders war es bey den nachfolgenden An-

wendungen, welche in das Leben einzuführen ſchon die

bloße Meynung der Gerichte (unter dem Einfluß einer irri-

gen Theorie) völlig hinreichend war.

Der zweyte Gegenſatz, der durch jene Lehre vernach-

läſſigt, ja ganz ignorirt wird, iſt der Gegenſatz von Mit-

gliedern überhaupt, und von Mitgliedern verſchiedener,

ungleich berechtigter Klaſſen. In einem großen Theil von

Deutſchland finden ſich in den Dorfgemeinden Vollbauern

und Halbbauern, neben den Bauern auch Koſſäthen und

Häusler. Dieſe wichtigen Unterſchiede, deren Einfluß auf

die Ermittlung des Willens der Corporation ſo natürlich

iſt, müſſen völlig verſchwinden, ſobald durch einen allge-

 

|0349 : 335|

§ 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

meinen Grundſatz den einzelnen Mitgliedern aller Corpo-

rationen ein blos numeriſches Daſeyn zugeſchrieben wird,

von welchem die abſolute Gleichheit der Einzelnen unzer-

trennlich iſt.

Ein dritter Gegenſatz endlich, der bey jener Lehre un-

beachtet bleibt, iſt der zwiſchen der Totalität der (jetzt-

lebenden) Mitglieder, und der Corporation ſelbſt, die eine

unvergängliche Dauer hat, unabhängig von dem Wechſel

der Individuen (§ 86). Hier nun befinden wir uns in

einem Gebiet, auf welchem, im öffentlichen wie im Pri-

vatrecht, der heftigſte Streit geführt wird, mit einſeitiger

Übertreibung von Seiten beider Parteyen. Die lebendige

Gegenwart hat ihre eigenthuͤmlichen Anſprüche, und ſie

ſoll weder durch den Willen der Vergangenheit unbedingt

gebunden, noch dem Intereſſe der Zukunft geopfert wer-

den. Aber ſie ſoll ihre vorübergehende Herrſchaft über

dauernde Güter und Zwecke mit Weisheit und Mäßigung

ausüben, nicht aus Beſchränktheit und Selbſtſucht den

nachfolgenden Geſchlechtern die Mittel eines erfreulichen

Zuſtandes entziehen. Durch jene Lehre wird den jetztle-

benden Mitgliedern eine ſchrankenloſe Macht eingeräumt,

ohne alle Rückſicht auf den Zuſtand einer ſpäteren Zeit.

Sucht man ſich den möglichen und wahrſcheinlichen Er-

folg dieſer Lehre, in Beziehung auf den hier dargeſtellten

Gegenſatz, klar zu machen, ſo wird uns derſelbe je nach

zufälligen Umſtänden mehr oder minder gefährlich erſchei-

nen. Bey Gemeinden gefährlicher als anderswo, wegen

 

|0350 : 336|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ihrer groͤßeren Wichtigkeit für den Staat überhaupt; min-

der gefährlich, weil die Sorge für die eigenen Nachkom-

men, die faſt immer in das Gemeindeverhältniß eintreten,

viele der Corporation nachtheilige Beſchlüſſe abwehren

wird: eine Sicherung, die z. B. bey Zünften nicht auf

gleiche Weiſe eintritt.

Außer der behaupteten Allgewalt der gegenwärtig le-

benden Mitglieder einer Corporation (wovon bis jetzt die

Rede war) iſt aber in jener Lehre auch noch ein zweyter,

an ſich weit weniger verderblicher, Irrthum zu bemerken,

welcher darin beſteht, daß ſie die nothwendige, zugleich

aber hinreichende, Anweſenheit von zwey Drittheilen aller

Mitglieder annimmt, wenn durch Stimmenmehrheit ein

Corporationsbeſchluß gefaßt werden ſoll. Alle berufen ſich

dabey auf die oben (§ 96. c. e) angeführten Stellen des

Roͤmiſchen Rechts, ohne zu bedenken, daß ſie auf zweyer-

ley Weiſe dieſen Stellen einen ihnen ganz fremdartigen

Sinn unterſchieben. Denn erſtlich reden jene Stellen nicht

von Corporationen überhaupt, ſondern lediglich von Stadt-

gemeinden: zweytens aber (was weit wichtiger iſt) nicht

von zwey Drittheilen der Corporationsglieder, ſondern der

Decurionen, alſo einer blos repräſentativen Verſammlung

innerhalb einer universitas ordinata, anſtatt daß zu den

wahren Mitgliedern der Corporation auch alle Grundei-

genthümer des Stadtgebietes (possessores) gehörten (e). —

 

(e) Savigny Geſchichte des

R. R. im Mittelalter B. 1 § 21.

— Die erſte dieſer beiden Ver-

wechslungen wird von einigen

|0351 : 337|

§. 97. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

Auch hier wäre es vor Allem räthlich geweſen, die uni-

versitas ordinata von jener angeblichen Regel auszuneh-

men, und in der That hat ſich die Praxis gegen dieſe

falſche Theorie von ſelbſt geholfen. Denn obgleich die

Lehre von den ⅔ der Mitglieder, als unzweifelhaft gültig

für alle Corporationen, bey den Schriftſtellern überall vor-

getragen wurde, ſo hat man doch in den deutſchen Städ-

ten, weder auf die Bürgerſchaft, noch auf den Stadtrath

(bey welchem ſich am erſten eine Analogie des wahren

Römiſchen Grundſatzes behaupten ließe), Anwendung da-

von gemacht. Sieht man genau zu, was von dem Grund-

ſatz der ⅔ der Mitglieder in die Praxis übergegangen iſt,

ſo iſt es lediglich die Beſtellung eines Procurators zur

Prozeßführung von Seiten der Dorfgemeinden, die ſtets

eine höchſt unvollkommene Verfaſſung haben, alſo univer-

sitates inordinatae ſind. Hier müſſen ⅔ der Mitglieder

verſammelt ſeyn, um den Procurator zu beſtellen, welche

Handlung man (abweichend von dem wahren Römiſchen

Sprachgebrauch) die Errichtung eines Syndicats zu nen-

nen pflegt (f).

neueren Schriftſtellern erkannt

und beſtritten: die zweyte, wich-

tigere, haben dieſelben nicht be-

achtet. Lotz S. 119. Kori

S. 3 — 5.

(f) Über die Abfaſſung eines

Syndicats iſt die vorherrſchende

Meynung neuerer Schriftſteller

die, daß ⅔ der Mitglieder zuſam-

men kommen müßten bey einer

universitas inordinata (Dörfer,

Zünfte), nicht bey einer ordi-

nata (Städte, Univerſitäten), de-

ren regelmäßige Vorſteher für ſich

allein den gerichtlichen Procura-

tor beſtellen könnten. Glück B. 5

II. 22

|0352 : 338|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§ 413. Martin Proceß § 78

ed. 11. Als Ausdruck der Praxis

mag das gelten; inſofern man da-

bey Römiſche Stellen anführt, iſt

es ganz inconſequent, da gerade

die Decurionen (wofür allein das

R. R. die ⅔ vorſchreibt) einer

universitas ordinata angehörten.

— Struben Bedenken I. Num.80

behauptet, die ⅔ würden überhaupt

nur erfordert bey Syndicaten,

nicht bey anderen Beſchlüſſen: nach

R. R. gewiß unrichtig. — Der

Ausdruck Syndicus wird im R.

R. nur bey ſtädtiſchen Procura-

toren gebraucht, und zwar nur

bey ſolchen, die im Allgemeinen

für alle Prozeſſe der Stadt be-

ſtellt werden; der ſtädtiſche Pro-

curator für einen einzelnen Rechts-

ſtreit heißt actor.

|0353 : 339|

§. 98. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

§. 98.

Juriſtiſche Perſonen. — Verfaſſung. (Fortſetzung.)

Der Einfluß der hier dargeſtellten entgegengeſetzten Mey-

nungen über die Verfaſſung wird noch anſchaulicher wer-

den durch die Betrachtung der verſchiedenartigen Thätig-

keit, worin die juriſtiſchen Perſonen auftreten können.

Dieſe Thätigkeit kann ſich auf zweyerley Gegenſtände be-

ziehen: Erſtlich ſolche, die zur laufenden Verwaltung ge-

hören; Zweytens andere, welche in den Zuſtand der ju-

riſtiſchen Perſon ſelbſt und ihres Vermögens verändernd

eingreifen. Zwiſchen beiden läßt ſich jedoch keine ſo ſcharfe

Gränze ziehen, daß nicht mancherley Übergänge dabey

wahrzunehmen wären.

 

Bey den Geſchäften der laufenden Verwaltung iſt je-

ner Gegenſatz der Meynungen weniger merklich, theils

wegen ihrer geringeren Erheblichkeit, theils weil ſie gro-

ßentheils von der Art ſind, daß ſie auf irgend eine Weiſe

abgemacht werden müſſen, und auch öfter wiederkehren.

Daher wird faſt überall eine regelmäßige Form ſolcher

Geſchäfte, entweder geſetzlich oder durch Herkommen, feſt-

geſtellt ſeyn, und ſchon dadurch wird der Einfluß jener

Theorieen ausgeſchloſſen oder vermindert werden (a). Es

 

(a) Kori S. 23 — 25 macht

die richtige Bemerkung, daß bey

manchen Geſchäften ſolcher Art,

die durchaus zu einer Entſchei-

dung gebracht werden müſſen, ſo-

gar die abſolute Majorität in der

zur Entſcheidung berufenen Ver-

ſammlung nicht immer zu erlan-

gen möglich, und dann auch nicht

nöthig ſey.

22*

|0354 : 340|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

gehört dahin vor Allem die Beſorgung laufender Geldein-

nahmen und Ausgaben; die neue Verpachtung ſchon frü-

her verpachteter Grundſtücke; die Wahl von Vorſtehern

und Beamten. Gewiſſermaßen gehört dahin auch die Auf-

nahme neuer Mitglieder (b); ferner die Führung von Pro-

zeſſen. Doch kann dieſe letzte nach Umſtänden auch zu

den zweifelhafteren und bedenklicheren Geſchäften gehoͤren,

weshalb ſie bey Dorfgemeinden durch neuere Geſetze häufig

von der Erlaubniß vorgeſetzter Staatsbehoͤrden abhängig

gemacht worden iſt (§ 100).

Anders verhält es ſich mit den in den bleibenden Zu-

ſtand eingreifenden Geſchäften. Denn durch ſie kann zu-

weilen nicht nur dieſer Zuſtand weſentlich verdorben, ſon-

dern ſelbſt das Daſeyn der Corporation vernichtet oder

gefährdet werden. Ferner ſind ſie meiſt von der Art, daß

ſie auch wohl ganz unterbleiben können, und daß ſie nicht

regelmäßig wiederkehren, ſondern nur ſelten, vielleicht nur

ein einzigesmal vorkommen, ſo daß für ſie weder eine ge-

ſetzliche Beſtimmung, noch ein Herkommen, die Regel feſt-

geſtellt hat. Aus allen dieſen Gründen wird eine herr-

ſchende Theorie auf Geſchäfte dieſer Art großen Einfluß

erlangen können, und dieſer Einfluß wird gerade hier be-

ſonders wichtig und bedenklich ſeyn. Die wichtigſten Fälle

dieſer Art ſind etwa folgende.

 

(b) Die Entlaſſung bisheriger

Corporationsmitglieder kann nicht

dahin gerechnet werden, weil in

der Regel der Austritt jedem

Einzelnen frey ſteht, und nur

etwa durch Abfindung von man-

chen gemeinſchaftlich getragenen

Verpflichtungen bedingt iſt.

|0355 : 341|

§. 98. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

1) Abfaſſung neuer Statuten, die ja für das Wohl,

und ſelbſt für das Daſeyn der Corporation auf der einen

Seite, ſo wie auf der andern für das Recht und die Si-

cherheit der einzelnen Mitglieder, von dem gefährlichſten

Einfluß ſeyn können.

 

2) Eine ganz ähnliche Natur hat die Beſteuerung der

einzelnen Mitglieder zu den Zwecken der Corporation, die

ja auch nur ein einzelner Zweig der Geſetzgebung inner-

halb der Corporation iſt.

 

3) Die Auflöſung der Corporation. Daß dieſe nicht

ohne Genehmigung des Staats geſchehen kann, iſt ſchon

oben bemerkt worden (§ 89). Allein davon unabhängig

iſt die Frage, wer innerhalb der Corporation die Auflö-

ſung beſchließen, und auf jene Genehmigung antragen kann.

— Dieſer Fall übrigens, der unter allen der wichtigſte

ſcheint, iſt praktiſch gerade der unbedeutendſte. Bey Ge-

meinden kann er ohnehin nicht vorkommen, ſondern nur

bey willkührlichen Corporationen, am meiſten bey gewerb-

lichen Geſellſchaften, welche das Corporationsrecht erlangt

haben (§ 88), und bey dieſen wird man nicht leicht un-

terlaſſen, ſchon bey der Errichtung dieſen Fall voraus zu

beſtimmen.

 

4) Veränderungen in der Subſtanz des Corporations-

vermoͤgens. Auch dieſe können oft mehr die Natur der

laufenden Verwaltung annehmen, ſo z. B. wenn ausſte-

hende Kapitalien abgetragen und dann im Namen der

Corporation neu angelegt werden, oder wenn erſpartes

 

|0356 : 342|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Geld ausgeliehen oder zum Ankauf von Grundſtücken ver-

wendet wird. Allein andere dahin gehörende Fälle ſind

von mehr bedenklicher Art, und, da ſie ſo häufig vor-

kommen, geradezu das Wichtigſte, welches überhaupt hier

zu beachten iſt. Es gehören dahin beſonders folgende Fälle.

A. Totale Veräußerung von Vermögensſtücken durch

Schenkung. Gegen Fremde wird eine ſolche Freygebig-

keit nicht leicht vorkommen, wohl aber gegen die eigenen

Mitglieder, wenn z. B. ein Kämmereygut oder ein einge-

zogenes Geldkapital unter die Einzelnen vertheilt wird.

Die Natur einer ſolchen Handlung als einer wahren

Schenkung kann dadurch leicht überſehen werden, weil

man, nach einer häufigen Verwirrung der Begriffe, das

Eigenthum der Corporation ohnehin ſchon als Eigenthum

der Mitglieder zu betrachten gewohnt iſt.

 

B. Veräußerung ſolcher Stücke an die Einzelnen,

woran bisher das Eigenthum der Corporation, die Be-

nutzung den Einzelnen zuſtand (§ 91), wie ein Bürger-

wald und eine Gemeindeweide. Dieſer Fall iſt vom vo-

rigen nur dem Grade nach verſchieden, da auch hier in

der That Eigenthum aufgegeben wird, wenngleich ein ſehr

beſchränktes. Eben weil hier der Verluſt für die Corpo-

ration weniger augenſcheinlich iſt, hat man oft gar kein

Bedenken dabey finden wollen; zugleich iſt kein Fall ſo

häufig, und daher praktiſch ſo wichtig, als dieſer. —

Man hat dabey zuweilen theils fremdartige, theils unrich-

tige Anſichten eingemiſcht, wodurch das wahre Sachver-

 

|0357 : 343|

§. 98. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

hältniß verdunkelt wird. So z. B. hat man wohl beſon-

dere Wichtigkeit darauf gelegt, daß zuweilen auch noch

die Corporation einigen Vortheil von ſolchem Vermögen

zog, z. B. wenn Jeder, der die Gemeindeweide benutzen

wollte, eine kleine Abgabe an die Gemeindekaſſe entrich-

ten mußte (c). Allein dieſer Umſtand iſt minder wichtig,

weil der Ausfall einer ſolchen Geldeinnahme leicht auf

andere Weiſe vollſtändig gedeckt werden kann, z. B. durch

einen auf das vertheilte Land gelegten Grundzins. — Eben

ſo wenig kann die Betrachtung entſcheidend ſeyn, daß ei-

gentlich ein ſolches Eigenthum, welches ſchon bisher der

Corporation keinen Ertrag gab, ein leerer Name, ohne

Weſen, ſey (d). Dagegen iſt zu bedenken, daß dieſes

unfruchtbare Corporationseigenthum vielleicht den Wohl-

ſtand künftiger Mitglieder ſichert (wobey die unvergäng-

liche Corporation wohl ein Intereſſe hat), anſtatt daß das

vertheilte Gut durch den Leichtſinn der gegenwärtigen Mit-

glieder für immer aufgezehrt werden kann. Bleibt z. B.

der Bürgerwald Eigenthum der Corporation, ſo wird ihn

dieſe beſſer als die Einzelnen verwalten können, und die

Nachkommen werden noch Holz finden, anſtatt daß nach

(c) Kori S. 15.

(d) Kori S. 17. 18, der je-

doch das Eigenthum der Corpo-

ration, als durch poſitives Geſetz

begründet, auch in dieſem Fall

reſpectirt haben will. Er grün-

det aber auf den ganz zufälligen

und untergeordneten Umſtand, ob

die Gemeinde einen Geldvortheil

bezog oder nicht, die Regel, daß

im erſten Fall Einſtimmigkeit, im

zweyten nur Stimmenmehrheit

zur Vertheilung an die Einzelnen

nöthig ſey; ich halte dieſe Unter-

ſcheidung für grundlos.

|0358 : 344|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

der Vertheilung vielleicht alles Holz verſchwendet wird,

und blos ein verwüſteter Boden für mehrere Geſchlechter

übrig bleibt.

C. Verwandlung der bloßen Benutzung, die bisher

der Corporation zuſtand, und nun an die einzelnen Mit-

glieder übergehen ſoll (§ 91). — Obgleich hier das Ei-

genthum ſelbſt der Corporation verbleibt, ſo iſt doch auch

dieſe Veränderung höchſt wichtig und bedenklich, nicht blos

wegen des ausfallenden Geldertrags, ſondern auch weil

dieſelbe, nach den unter B. gemachten Bemerkungen, leicht

auch zu einer wirklichen Vertheilung des Eigenthums führt.

 

D. Umgekehrte Verwandlung (des Bürgervermögens

in Kämmereyvermögen). — Dieſe Veränderung iſt ganz

unbedenklich für die Corporation, die dabey nur gewinnt,

aber um ſo nachtheiliger für die Einzelnen, welche da-

durch ihr ganzes Nutzungsrecht verlieren.

 

E. Verſchuldung durch Anleihen. — Zwar iſt an ſich

das Darlehen ein tauſchartiges Geſchäft, indem für die

übernommene Verbindlichkeit ein gleich großer Werth an

Eigenthum von baarem Geld gewonnen wird. Da aber

dieſes Eigenthum durch unzweckmäßige Verwendung leicht

ſpurlos verſchwindet, während die Schuld ſicher fort-

dauert, ſo gehört auch das hier genannte Geſchäft zu den

eventuellen Verminderungen der Vermögensſubſtanz.

 

|0359 : 345|

§. 99. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

§. 99.

Juriſtiſche Perſonen. — Verfaſſung. (Fortſetzung.)

Nachdem nun die bedeutendſten Geſchäfte dargeſtellt

worden ſind (§ 98), worauf eine Anwendung der oben

im Allgemeinen geprüften Theorie (§ 97) möglich und

wichtig iſt, ſoll gegenwärtig dieſe Anwendung auf die ein-

zelnen Geſchäfte ſelbſt durchgeführt und geprüft werden.

 

Zuvor muß jedoch bemerkt werden, daß jene Theorie

bey neueren Schriftſtellern in verſchiedenen Graden der

Strenge vorkommt. Einige behaupten die Allmacht der

Majorität ohne Unterſchied der Gegenſtände, und laſſen

nur eine Einſchränkung mit Rückſicht auf das Staats-

wohl eintreten, wenn etwa durch einen Beſchluß der Ma-

jorität der Ruin einer Gemeinde herbeygeführt werden

würde (a). Andere dagegen legen in die Ausführung des

Grundſatzes eine zwiefache große Milderung; ſie fordern

für die wichtigſten der im § 98. angegebenen Geſchäfte

Einſtimmigkeit anſtatt Majorität, und ſie berückſichtigen

bey denſelben die Verſchiedenheit der Theilnehmungsrechte

Einzelner (§ 97), woraus verſchiedene Klaſſen der Mit-

glieder hervorgehen (b). Rechnet man dieſe zwiefache Mil-

 

(a) Thibaut a. a. O., S. 395.

397, Pandekten § 132. Die Be-

rückſichtigung der verſchiedenen

Theilnehmungsrechte verwirft er

S. 397 ausdrücklich, und verlangt

bey jeder an ſich feſtſtehenden Thei-

lung des Corporationseigenthums,

wenn man ſich über den Maas-

ſtab nicht einigen könne, die glei-

che Theilung nach der Kopfzahl

der Mitglieder.

(b) Haubold C. 4 § 4 sq. Kori

S. 11 — 20 S. 26.

|0360 : 346|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

derung ab, wodurch allerdings viele der bedenklichſten Fol-

gen des Grundſatzes abgewendet werden, ſo bleiben noch

folgende unrichtige Seiten jener Lehre übrig:

I. Die vernachläſſigte Beachtung der eigenthümlichen

Natur der universitas ordinata, worauf die Allgewalt der

Majorität der Mitglieder gar nicht paßt (§ 97). — Die-

ſer Punkt jedoch iſt praktiſch weniger erheblich, als in der

allgemeinen Betrachtung, da die Vertheidiger jener Lehre,

trotz ihres allgemeinen Ausdrucks, in der That doch nur

an universitates inordinatae, namentlich an Dorfgemein-

den, zu denken pflegen, und da mir keiner bekannt iſt, der

den Grundſatz auch auf die Städte, ohne Rückſicht auf

deren beſondere Verfaſſung, anzuwenden verſuchte.

 

II. Die Regel von den zwey Drittheilen der Mitglie-

der, deren Verſammlung das Recht der Totalität ſoll

ausüben können (§ 97). — Auch dieſe Regel iſt, obgleich

in der Ausdehnung, die ihr dort gegeben wird, völlig ver-

werflich (c), dennoch praktiſch minder wichtig. Denn in

den meiſten wirklich erheblichen Fällen wird ſich in der

 

(c) Im § 97. iſt nachgewieſen

worden, daß die Regel von den

⅔ nie auf die Mitglieder irgend

einer Corporation, ſondern bey

den Römern nur auf den die Cor-

poration verwaltenden Stadtſenat

(die Decurionen) angewendet wor-

den iſt. Selbſt eine Ausdehnung

durch Analogie würde ganz un-

ſtatthaft ſeyn; denn bey den De-

curionen wurden die ⅔ zugelaſſen,

weil dieſelben für die unaufhalt-

ſame Beſorgung laufender Ge-

ſchäfte eine ſolche Erleichterung

des Geſchäftsgangs wirklich be-

durften, anſtatt daß bey Verfü-

gungen über die Vermögensſub-

ſtanz und ähnlichen Geſchäften,

die auch wohl ganz unterbleiben

können (§ 98), eine ſolche Er-

leichterung weder nöthig noch

wünſchenswerth iſt.

|0361 : 347|

§. 99. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

That eine Meynungsverſchiedenheit unter den Mitgliedern

bereits ausgeſprochen haben, und dann wird es, in einer

Verſammlung, die über Gegenſtände von ſolcher Wichtig-

keit für die Corporation zu entſcheiden hat, nicht ſchwer

ſeyn ſämmtliche Mitglieder zuſammen zu bringen, wodurch

dann jenem Irrthum aller Einfluß ohnehin entzogen wird.

III. Als Hauptirrthum endlich bleibt noch die prak-

tiſch wichtigſte Behauptung übrig, welche die Totalität

der gegenwärtigen Mitglieder mit der Corporation ſelbſt

identificirt, und daher mit einer unbedingten Gewalt über

deren Rechte ausrüſtet; welcher Irrthum dann durch die

der bloßen Majorität eingeräumte Entſcheidung noch um

Vieles verſchlimmert, durch die für viele Fälle von man-

chen Schriftſtellern geforderte Einſtimmigkeit ſehr gemil-

dert wird.

 

Von dem durch dieſe Betrachtungen gewonnenen Stand-

punkte aus ſollen nunmehr die nicht zur laufenden Ver-

waltung gehörenden Geſchäfte, ſo wie ſie im § 98. zuſam-

mengeſtellt worden ſind, einzeln erwogen werden.

 

1) Neue Statuten.

2) Beſteurung.

In dieſen beiden Geſchäften iſt die der Majorität ein-

geräumte unbedingte Macht ganz beſonders bedenklich, in-

dem es einleuchtet, daß dadurch die willkührlichſte und un-

gerechteſte Behandlung von Individuen oder ganzen Klaſ-

ſen, die ſich in der Minorität befinden, ohne alle Abwehr

möglich wird. Dagegen iſt hierin ein einſtimmiger Be-

 

|0362 : 348|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſchluß aller Mitglieder wenig bedenklich, indem dadurch,

nach der Natur der Gegenſtände, ein unwiederbringlicher

Nachtheil für die Zukunft nicht leicht eintreten wird. Noch

eher kann der Staat in ſeinen eigenen Intereſſen dadurch

gefährdet werden, indem z. B. die Art und das Maas

der Communalſteuern den Staatsſteuern nachtheilig wer-

den kann. Dadurch wird ohnehin eine gewiſſe Aufſicht

nöthig, und dieſe wird denn zugleich völlig hinreichen,

auch die moͤglichen Nachtheile für die eigene Zukunft der

Corporation ſelbſt zu beachten und zu verhüten.

3) Zur Aufloͤſung der Corporation iſt ohnehin die Ge-

nehmigung des Staats erforderlich. Daneben aber kann

unmöglich ein Beſchluß der Majorität genügen, da nicht

einzuſehen iſt, warum nicht die Minorität die Corporation

ſollte fortſetzen können, während es den Mitgliedern der

Majorität frey ſtehen wird, einzeln auszutreten. Wenn

ſie dieſes nicht genügend finden, ſondern die allgemeine

Auflöſung vorziehen, ſo wird dieſes meiſt darin ſeinen Grund

haben, daß ſie zugleich eine Vertheilung des Corporations-

vermögens verlangen: dadurch fällt aber dieſer Beſchluß

mit dem gleich folgenden zuſammen, und muß daher auch

gleichen Rückſichten, wie dieſer, unterworfen werden. —

Ein einſtimmiger Beſchluß aller Mitglieder über Auflöſung

der Corporation bedarf noch immer der Genehmigung des

Staats, indem dadurch fremde Perſonen, z. B. die Cre-

ditoren, gefährdet werden koͤnnen. Iſt aber jene Geneh-

migung vorhanden, ſo kann in der Rückſicht auf die Zu-

 

|0363 : 349|

§. 99. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

kunft kein Hinderniß der Rechtmäßigkeit eines ſolchen auf-

löſenden Beſchluſſes liegen, da nun die Corporation keine

Zukunft hat, deren Zuſtand durch jenen Beſchluß etwa in

Nachtheil gerathen koͤnnte.

4) Veränderung in der Subſtanz des Corporations-

vermögens. Dieſer Fall iſt unter allen bey weitem der

wichtigſte, indem auf der einen Seite der Verluſt, wenn

ein ſolcher eintritt, unwiederbringlich iſt, auf der andern

aber die Gewinnſucht der einzelnen Mitglieder ſo leicht

dazu anreizt, die hülfloſe Corporation in Nachtheil zu

bringen.

 

Hier iſt nun vor Allem augenſcheinlich die Ungerech-

tigkeit, die aus der unbedingten Herrſchaft der Majori-

tät hervorgehen kann. Für viele Fälle freylich wird das

von Thibaut zugelaſſene Temperament abhelfen, daß nicht

das Staatsintereſſe durch den Ruin der Gemeinden ge-

fährdet werden dürfe. Allein es gieht noch manches Un-

recht ohne Ruin, und es giebt viele Corporationen, die

nicht Gemeinden ſind. Ein Beyſpiel wird dieſes anſchau-

lich machen. Geſetzt, es wandert ein Handwerker aus ei-

ner deutſchen Stadt nach Indien, erwirbt Reichthümer,

und hinterläßt ein großes Kapital der Zunft, deren Mit-

glied er vormals war. Beſteht dieſe Zunft aus Funfzehen

Meiſtern, ſo koͤnnen, nach Thibauts Regel, Acht derſel-

ben, als allmächtige Majorität, das Geld unter ſich thei-

len, und die übrigen Sieben leer ausgehen laſſen. Die von

Thibaut zugelaſſene Einſchränkung hilft hier nicht, denn

 

|0364 : 350|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

das Staatsintereſſe beſchränkt ſich bey der Handwerkszunft

auf den tüchtigen und redlichen Gewerbsbetrieb, und die-

ſer iſt von dem zufällig erworbenen Geldreichthum ganz

unabhängig. Aber der Staat in ſeiner richterlichen Func-

tion, als Beſchützer aller Rechte, kann hier ſo wenig als

anderwärts zugeben, daß Unrecht geſchehe. — In dieſer

Beziehung nun iſt ſelbſt durch die Meynung derjenigen,

welche Einſtimmigkeit fordern, nur die eine Seite des Un-

rechts abgewendet. Die Sieben Mitglieder werden dann

nicht mehr durch die Acht verletzt, wohl aber die Corpo-

ration durch alle Funfzehen (d). Auch hier wieder wird

die ſchon oben (§ 90) aufgeſtellte Vergleichung der Corpo-

ration mit einem Unmündigen Alles anſchaulicher machen.

Wenn ein Pupill Drey Vormünder hat, ſo ſollen nicht

Zwey derſelben das Vermögen unter ſich theilen, und den

Dritten ausſchließen; aber wenn ſie den Dritten zur Thei-

lung zulaſſen, ſo wird dadurch das Unrecht gegen den

Pupillen nicht geringer.

Eine beſondere Erwägung fordert noch der Fall, da

das Bürgervermögen in Kämmereyvermögen, oder die in-

dividuelle Benutzung in Gemeindebenutzung verwandelt wer-

den ſoll. Auch hier iſt wieder der Beſchluß der Majori-

tät voͤllig verwerflich, da überhaupt keine Gemeinde als

ſolche, durch wen ſie auch vertreten ſeyn möge, über die

 

(d) Recht auffallend zeigt ſich

dieſes in dem Fall, wenn durch

eine Seuche alle Meiſter einer

Handwerkszunft, bis auf Einen,

ſterben, und dieſer das Zunftver-

mögen zu ſeinem Privatvermö-

gen machen will (§ 89. b). Hier iſt

gewiß Einſtimmigkeit vorhanden.

|0365 : 351|

§. 99. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

Nutzungsrechte der Einzelnen etwas zu beſchließen hat (e);

dagegen iſt der einſtimmige Beſchluß völlig rechtmäßig,

indem nun jeder Einzelne auf ſein perſönliches Nutzungs-

recht verzichtet hat, was er unſtreitig zu thun befugt iſt.

(e) Eichhorn deutſches Privatrecht § 372. 373.

|0366 : 352|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 100.

Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

Aus der bisherigen Darſtellung ſcheint alſo hervorzu-

gehen, daß bey Corporationen jede ſubſtantielle Verände-

rung im Vermögen gänzlich unterbleiben müſſe. Dennoch

können ſehr viele Fälle kommen, worin eine ſolche nützlich

und räthlich, andere, wo ſie nothwendig iſt. Wie iſt die-

ſer Widerſpruch aufzulöſen?

 

Bey den Unmündigen wird die Verwaltung des Ver-

mögens zuverläſſigen Vormündern anvertraut; bey den be-

denklichſten Handlungen fügt ſchon das neuere Römiſche

Recht, noch weit mehr aber das heutige Recht der mei-

ſten Staaten, eine ganz ſpecielle Controle hinzu; endlich

wird der Unmündige regelmäßig nach wenigen Jahren

handlungsfähig, und fordert dann ſelbſt Rechenſchaft von

den Vormündern. — Die Corporationen unterſcheiden ſich

von den Unmündigen zunächſt dadurch, daß ſie nie mündig

werden, dann aber noch weit weſentlicher dadurch, daß

ſie gerade bey den hier in Frage ſtehenden Vermögens-

veränderungen ſtets in die unmittelbarſte Colliſion mit dem

perſönlichen Intereſſe ihrer eigenen Vertreter kommen (a);

 

(a) Namentlich geſchieht dieſes

bey jeder Vertheilung von Cor-

porationseigenthum unter die ein-

zelnen Mitglieder; am Auffallend-

ſten freylich in Dorfgemeinden

und Zünften, wo die Verthei-

lung gerade von denſelben Per-

ſonen beſchloſſen werden ſoll, die

dadurch Etwas zu empfangen ha-

ben; jedoch auch (wenngleich in

geringerem Grade) bey einer uni-

versitas ordinata, z. B. einer

|0367 : 353|

§. 100. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

eine Colliſion, die zwiſchen dem Pupillen und dem Vor-

mund gewöhnlich gar nicht vorhanden iſt, und da, wo

ſie zufällig eintrit, augenblicklich die Subſtitution eines an-

dern Vertreters veranlaßt (b).

Aus dieſer Vergleichung folgt alſo, daß bey Corpora-

tionen die rechtliche Möglichkeit, Handlungen der oben be-

ſchriebenen Art vorzunehmen, durch das obervormund-

ſchaftliche Schutzrecht gegeben iſt, welches der Staat über

alle ſchutzbedürftige Perſonen, alſo auch über die Corpo-

rationen, ausüben darf und ſoll. Der Staat alſo er-

ſcheint hier thätig, nicht ſowohl um ſein eigenes Intereſſe

wahrzunehmen, welches er bey vielen, ja bey den wich-

tigſten Corporationen allerdings auch hat, ſondern in Kraft

eines Rechts, welches ihm über alle gleichmäßig zuſteht

(§ 96).

 

Über dieſe Einwirkung des Staats auf die Corpora-

tionen iſt in neueren Zeiten ungemein viel geſchrieben und

geſtritten worden: weniger aus dem privatrechtlichen, als

aus dem politiſchen Geſichtspunkt: nicht blos in Deutſch-

land, ſondern auch in Frankreich (c). Die Gegner jeder

 

Stadtgemeinde. Denn die Mit-

glieder der Stadtbehörde, welche

die Vertheilung beſchließen, ſte-

hen doch nicht außer der Gemein-

de, und ſind dem Intereſſe der

Vertheilung nicht in ähnlicher Art

fremd, wie der Vormund dem

Intereſſe der Handlungen, die er

für den Pupillen vornimmt.

(b) § 3 J, de auctor. tut. (1. 21.).

(c) Unter die ausgezeichnetſten

Franzöſiſchen Arbeiten über die-

ſen Gegenſtand gehören: Fiévée

correspondance politique et ad-

ministrative, lettre première

(überſetzt von Schloſſer Frank-

furt 1816), und die Rede von

Martignac über das Commu-

nalgeſetz, gehalten in der Depu-

tirtenkammer.

II. 23

|0368 : 354|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ſolchen Einwirkung ſind darum noch keinesweges gleicher

Meynung über den letzten Erfolg; Einige ſcheinen denſel-

ben mehr poſitiv zu denken, ſo daß die gewöhnlichen Ver-

treter der Corporationen ſollen thun können was ihnen

beliebt; Andere mehr negativ, ſo daß in dem Vermoͤgen

der Corporationen überhaupt jede eingreifende Anderung

ſchlechthin unterbleiben müßte. Beide Geſtalten jener Mey-

nung gehen von entſchiedenem Wohlwollen für die Corpo-

rationen aus, aber beide, in ihrer ſtrengen Conſequenz,

können denſelben ſehr verderblich werden.

Bey unbefangener Betrachtung iſt nicht zu verkennen,

daß durch die Übertreibung vormundſchaftlicher Einwir-

kung des Staats auf die Corporationen (beſonders die

Gemeinden) vielfach gefehlt worden iſt. Bald war es

Fiscalität, bald verkehrte Herrſchſucht der Staatsbeam-

ten, die den Gemeinden großen Nachtheil brachte, indem

ſelbſt viele laufende Geſchäfte unter die fortwährende, oft

hemmende ſpecielle Einwirkung des Staats geſtellt wur-

den, die man weit beſſer der unabhängigen Communal-

verwaltung überlaſſen hätte, nur mit dem natürlichen Vor-

behalt einer allgemeinen, in den Geſchäften ſelbſt wenig

merklichen Aufſicht. Solche Misbräuche in der Ausfüh-

rung ſind nicht durch aufgeſtellte Regeln zu verhuͤten, ſon-

dern nur durch die Einſicht und den guten Willen der Be-

hörden; die Richtigkeit des Princips kann durch ſie nicht

zweifelhaft werden. Iſt in den Behörden der richtige

Sinn vorhanden, ſo wird die Einwirkung des Staats auf

 

|0369 : 355|

§. 100. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

die oben dargeſtellten wichtigeren Geſchäfte nur zum größ-

ten Vortheil der Corporationen gereichen können; ſie wird

nicht nur das Intereſſe der Nachkommen wahrnehmen,

ſondern auch das der Einzelnen, die durch den eigennützi-

gen Willen der Mehrheit verletzt werden könnten; ſie wird

zwar bey allen Gemeinden, alſo auch den ſtädtiſchen, ſtatt

finden (d), jedoch am häufigſten und ſichtbarſten bey den-

jenigen, die wie die Dorfgemeinden keine ausgebildete Ver-

faſſung haben, und bey welchen daher das Intereſſe der

Corporation mit dem Eigennutz der Einzelnen in die un-

mittelbarſte Colliſion kommt.

Unter allen oben angegebenen Geſchäften, worauf eine

Einwirkung des Staats räthlich ſeyn kann, iſt keines, das

durch häufiges und gleichförmiges Vorkommen eine ſolche

Wichtigkeit hätte, wie die Gemeinheitstheilung, das

heißt die Vertheilung ſolcher Corporationsgrundſtücke an

die Einzelnen, welche auch bisher ſchon von den Einzel-

nen benutzt wurden (§ 98 Num. 4. B); mehrere der oben

angeführten allgemeineren Schriften ſind zunächſt durch

das wichtige Intereſſe dieſes Gegenſtandes veranlaßt. Die

unbedingte Macht der Majorität kann hier, wie in ande-

ren Fällen, zu der ſchreyendſten Ungerechtigkeit führen;

 

(d) In der Preußiſchen revi-

dirten Städteordnung von 1831

§ 117 — 123 wird zu folgenden

Geſchäften der Städte die Ein-

willigung der vorgeſetzten Staats-

behörde erfordert: Veräußerung

von Grundſtücken, Gemeinheits-

theilungen, Veräußerung von

Sammlungen, Anleihen, Ankauf

von Grundſtücken, Auflagen, Ver-

wandlung von Bürgervermögen

in Kämmereyvermögen. Geſetz-

ſammlung 1831 S. 28—30.

23*

|0370 : 356|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

aber ſelbſt die Einſtimmigkeit verhütet nicht alle Gefahren,

wie an dem oben angeführten Beyſpiel eines Bürgerwal-

des gezeigt worden iſt. Manche neuere Schriftſteller ha-

ben daher alle Gemeinheitstheilungen für ungerecht, ja für

revolutionär erklärt; gewiß mit der einſeitigſten Übertrei-

bung. Wenn die bisherige Art der Bodennutzung Jahr-

hunderte lang dem Bedürfniß genügte, ſo iſt unſtreitig

eine Zeit eingetreten, worin die größere Energie aller ge-

werblichen Thätigkeit Keinem erlaubt, ſich davon völlig

auszuſchließen, ohne daß ihm die alte Gewohnheit ver-

derblich würde. Niemand aber wird bezweifeln, daß der

als Gemeindeweide ſehr ſpärlich genutzte Boden durch die

Vertheilung zu einem ungleich höheren Ertrag gebracht

werden kann. Im Allgemeinen alſo ſind die Regierungen

wegen der Förderung der Gemeinheitstheilungen nur zu

loben, wenngleich im Einzelnen auch hier manches Ver-

kehrte geſchehen ſeyn mag. Die Aufſicht aber, wodurch

in dieſem Geſchäft der Staat ſowohl von den Einzelnen,

als von den Nachkommen im Ganzen, jede Verletzung ab-

zuwenden ſuchen muß, kann großentheils ſchon auf allge-

meine Regeln zurückgeführt werden, und wird in dieſer

Geſtalt ſogar noch größere Gewähr völliger Unparteylich-

keit mit ſich führen: dieſes iſt der Urſprung der Gemein-

heitstheilungsordnungen (e).

(e) Aus denſelben ſtaatswirth-

ſchaftlichen Gründen, woraus die

Gemeinheitstheilungsordnungen

hervorgegangen ſind, hat die neue-

re Geſetzgebung ſehr häufig auch

in die Rechtsverhältniſſe der Ein-

zelnen eingegriffen, indem ſie die

einſeitige Befugniß zu Separa-

|0371 : 357|

§. 100. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

Eine beſondere Erwähnung verdient noch an dieſer

Stelle die Prozeßführung für die den juriſtiſchen Perſonen

zuſtehenden Rechte. An ſich ſelbſt gehört dieſe zu den un-

bedenklichen Geſchäften der laufenden Verwaltung (§ 98).

Dennoch können zwey Rückſichten entgegengeſetzter Art be-

ſondere Vorſichtsmaasregeln nöthig machen, vornämlich

bey den universitates inordinatae, und namentlich den

Dorfgemeinden. Erſtlich kann eine leichtſinnige Prozeß-

führung leicht zu nutzloſen Ausgaben führen, alſo den

Character der Verſchwendung annehmen. Daher hat die

Praxis die Errichtung eines förmlichen Syndicats erfor-

dert (§ 97), und neuere Geſetze binden häufig alle Klagen

der Dorfgemeinden an eine beſondere Genehmigung der

Regierung. — Zweytens wenn die einzelnen Mitglieder

einer Dorfgemeinde das Gemeindevermögen an ſich ziehen

und verſchleudern wollen, ſo brauchen ſie nur als Ein-

zelne daſſelbe eigenmächtig in Beſitz zu nehmen, und dann

durch Verweigerung eines Syndicats jede petitoriſche und

poſſeſſoriſche Klage der Gemeinde gegen ſie als einzelne

Verletzer zu verhindern. Da es nun widerſinnig wäre,

wenn man zulaſſen wollte, daß auf dieſe indirecte Weiſe

den Gemeinden aller Rechtsſchutz entzogen würde, ſo bleibt

für ſolche Fälle keine andere Aushülfe übrig, als daß die

Regierung irgend einem Beamten den Auftrag gebe, die

 

tionen und zur Ablöſung von Ser-

vituten und Reallaſten zugelaſ-

ſen hat, welches hier nur bey-

läufig erwähnt wird. Vgl. Eich-

horn deutſches Privatrecht § 373.

|0372 : 358|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Klage im Namen der Gemeinde anzuſtellen. Wollte man

der Regierung die Ausübung dieſes obervormundſchaftli-

chen Rechts verſagen, ſo würde man damit den Einzel-

nen die Macht einräumen, die willkührlichſte und regello-

ſeſte Gemeinheitstheilung zu erzwingen (f).

Über die hier verhandelten Gegenſtände enthält das

Römiſche Recht ungemein wenig. In den Stadtgemein-

den war in der Kaiſerzeit eine faſt unbeſchränkte Gewalt

den Decurionen eingeräumt (§ 96). Doch findet ſich auch

dabey ſchon eine merkwürdige Einſchränkung in einer Con-

ſtitution des K. Leo. Wenn eine Stadt Gebäude, Grund-

renten, oder Sklaven (g) verkaufen will, ſo wird dazu in

 

(f) Für den einfachen Fall, daß

in der That alle oder faſt alle

Einzelne in dieſem Conflict mit

der Gemeinde erſcheinen, iſt die

Sache ſo klar, daß die hier auf-

geſtellte Behauptung nicht leicht

Widerſpruch finden möchte. Allein

öfter erſcheint ſie in folgender et-

was verwickelteren Geſtalt. Wenn

nämlich nur ein Theil der Ge-

meindeglieder die ausſchließende

Nutzung eines Gemeindewaldes

hat, ſo geſchieht es wohl, daß

eben dieſe Waldbeerbte den Be-

ſitz als Einzelne an ſich reißen,

und dann vorgeben, es könne

nicht anders gegen ſie geklagt

werden, als vermittelſt eines von

den Übrigen errichteten Syn-

dicats. Auch das iſt illuſoriſch;

denn da dieſe Übrigen gar kein

Intereſſe bey der Sache haben,

ſo können ſie leicht durch ganz

geringe Geldvortheile abgefunden

werden, ſo daß auch ſie das Syn-

dicat verweigern. Der Fall iſt

alſo von jenem erſten, einfachſten

Fall doch nicht weſentlich ver-

ſchieden. — Fälle ſolcher verſchie-

denen Arten ſind in neuerer Zeit

öfter in den oſtrheiniſchen (vor-

mals Naſſauiſchen) Theilen des

Preußiſchen Staats vorgekommen,

und der Rheiniſche Reviſionshof

in Berlin hat dieſelben, ſeit einer

Reihe von Jahren, ſtets nach den

hier aufgeſtellten Grundſätzen be-

urtheilt.

(g) L. 3 C. de vend.reb. civ. (11.

31.) „domus, aut annonae civiles,

aut quaelibet aedificia vel man-

cipia.” Annonae civiles ſind

|0373 : 359|

§. 100. Juriſtiſche Perſonen. Verfaſſung. (Fortſetzung.)

Conſtantinopel die kaiſerliche Genehmigung erfordert, in

jeder andern Stadt die Genehmigung einer Verſammlung,

die aus der Mehrzahl der Decurionen, der Honorati und

der Poſſeſſoren dieſer Stadt beſtehen muß, und worin

jedes einzelne Mitglied ſeine Stimme beſonders abzugeben

hat (h). — Für die collegia enthielten ſchon die zwoͤlf Ta-

feln die (aus den Soloniſchen Geſetzen übertragene) Be-

ſtimmung, daß ſie ſelbſt Statuten für ſich zu machen be-

rechtigt ſeyn ſollten: es wird aber dabey nicht bemerkt,

ob dieſe nur einſtimmig, oder auch ſchon durch Stimmen-

mehrheit, beſchloſſen werden koͤnnten (i).

Reallaſten, die in Fruchtabgaben

beſtehen, die alſo von Colonen

oder von Emphyteuten entrichtet

werden. Vgl. L. 14 C. de SS.

eccl. (1. 2.), und Jac. Gotho-

fredus in L. 19 C. Th. de pa-

ganis (16. 10.). Der Name be-

zeichnet den Gegenſatz gegen die

militaris annona, oder die den

Grundeigenthümern obliegende

Naturallieferung zur Verpflegung

des Heeres.

(h) l. c. „praesentibus omni-

bus, seu plurima parte, tam

curialium quam honoratorum

et possessorum civitatis.” Ob

die Stimmenmehrheit der Anwe-

ſenden, oder die aller vorhande-

nen Mitglieder jener Klaſſen über

den Verkauf zu entſcheiden habe,

ſagt das Geſetz nicht. Über die

Bedeutung der genannten Klaſ-

ſen vergl. Savigny Geſchichte

des R. R. im Mittelalter B. 1

§ 21.

(i) L. 4 de coll. et corp. (47.

22.) aus Gajus lib. 4 ad Leg. XII.

tab. „Sodales sunt qui ejus-

dem collegii sunt. His autem

polestatem facit Lex, pactio-

nem quam velint sibi ferre, dum

ne quid ex publica lege cor-

rumpant.”

|0374 : 360|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 101.

Juriſtiſche Perſonen. — Fiscus.

Digest. XLIX. 14 de jure fisci.

Cod. Just. X. 1 de jure fisci.

Cod. Theod. X. 1 de jure fisci.

Paulus V. 12 de jure fisci et populi.

Die Art, wie der Staat in ſeinen privatrechtlichen

Verhältniſſen thätig erſcheint, das heißt die Verfaſſung

des Fiscus, gehört nicht hierher, ſondern in das öffent-

liche Recht; daher haben denn auch die von den Römern

hierin getroffenen Einrichtungen für uns nur ein geſchicht-

liches Intereſſe.

 

Die privatrechtliche Seite des Fiscus beſteht theils in

ſeinen äußerſt zahlreichen Privilegien, theils in ſeiner ju-

riſtiſchen Perſönlichkeit ſelbſt. Die Darſtellung der ein-

zelnen Privilegien iſt für dieſe Stelle unſres Rechtsſyſtems

ſchon oben als unzweckmäßig abgelehnt worden (§ 90).

Nur einige allgemeine Bemerkungen mögen hier zur Sprache

gebracht werden. Auf die zahlreichen eigenthümlichen Er-

werbungen, worauf der Fiscus in Folge beſonderer Pri-

vilegien Anſpruch hatte, bezogen ſich eigens organiſirte

Anzeigen (Nunciationes), die dem Anzeigenden mancherley

Vortheil bringen konnten (a). Die Klagen aus dieſen ei-

 

(a) L. 1 pr. L. 13 L. 15 § 3 L. 16. 42. 49 de j. fisci (49 14.).

|0375 : 361|

§. 101. Juriſtiſche Perſonen. Fiscus.

genthümlichen Erwerbungen waren in der Regel einer

zwanzigjährigen Verjährung unterworfen (b), bey herren-

loſen Erbſchaften aber ausnahmsweiſe einer vierjähri-

gen (c). — Von dem Fiscus iſt das Privatvermögen des

Fürſten an ſich in allen Staaten verſchieden (§ 88. pp):

im Römiſchen Recht jedoch ſind die Privilegien des Fis-

cus auch auf das Privatvermoͤgen des Kaiſers, ja ſelbſt

der Kaiſerin, ausgedehnt worden (d).

Bey der juriſtiſchen Perſönlichkeit des Fiscus ver-

ſchwinden die bey den Corporationen erwähnten Zweifel

und Irrthümer gänzlich, indem das Recht zur Vertretung

des Fiscus, vermittelſt einzelner Perſonen oder ganzer

Behörden, lediglich durch die, dem öffentlichen Rechte je-

des Staats angehörende, Verfaſſung des Fiscus be-

ſtimmt wird.

 

Eine allgemeine Bemerkung über dieſe Seite des Fis-

cus muß aber hier ihre Stelle finden. Der Fiscus un-

terſcheidet ſich von allen anderen juriſtiſchen Perſonen durch

eine ganz eigenthümliche Stellung (§ 86. 87. 88). Im äl-

teren Römiſchen Recht war bey natürlichen, wie bey ju-

riſtiſchen Perſonen, die Rechtsfähigkeit, nach Gegenſtän-

den und Graden, mannichfach beſtimmt. Namentlich wurde

den Corporationen lange Zeit die Erbfähigkeit verſagt, und

die alten Juriſten ſuchten dieſe mangelnde Fähigkeit aus

 

(b) L. 1 § 3. 4. 5 de j. fisci

(49. 14.).

(c) L. 1 § 1. 2 de j, fisci

(49. 14.).

(d) L. 6 § 1 de j. fisci (49. 14.).

|0376 : 362|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

der beſonderen Natur der Corporationen zu erklären. Dieſe

Gründe paßten völlig eben ſo auf das Ararium (populus)

und den Fiscus (e); dennoch werden dieſelben bey dieſer

Gelegenheit gar nicht erwähnt, weder als mit derſelben

Unfähigkeit wie die Corporationen behaftet, noch als da-

von urſprünglich frey, oder in irgend einer ſpäteren Zeit

befreyt. Daneben aber finden ſich nicht wenige Fälle, in

welchen das Ärarium Erbſchaften und Legate wirklich er-

warb, ohne Spur eines Zweifels an der rechtlichen Moͤg-

lichkeit dieſer Erwerbung (§ 93. D). Dieſe Erſcheinungen

erklären ſich aus der erwähnten eigenthümlichen Natur des

Staatsvermögens. Der populus, von welchem alles Recht

überhaupt ausgieng, konnte unmoͤglich irgend eine Art der

Rechtsfähigkeit entbehren. So mußte es ſeyn zu jeder

Zeit, und von einer beſonderen Verleihung einer ſolchen

Fähigkeit konnte nicht die Rede ſeyn. Die alten Juriſten

aber ſcheinen dieſes Alles ſo natürlich und nothwendig zu

finden, daß es ihnen gar nicht in den Sinn kam, Regeln

darüber aufzuſtellen, und insbeſondere den weſentlichen Un-

terſchied zwiſchen dem Fiscus und den Corporationen be-

merklich zu machen.

(e) Ohne Zweifel paſſen auf

den populus ebenſowohl wie auf

jedes Municipium, Ulpians Worte

(XXII. § 5): „quoniam incertum

corpus est, ut neque cernere

universi, neque pro herede ge-

rere possint, ut heredet fiant.”

|0377 : 363|

§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.

§. 102.

Juriſtiſche Perſonen. — Erbſchaften.

Nach der gewöhnlichen Lehre unſrer Rechtslehrer ſoll

auch eine noch unerworbene oder ruhende Erbſchaft (he-

reditas jacens) unter die juriſchen Perſonen gehören, folg-

lich mit den Corporationen auf gleiche Linie zu ſtellen ſeyn.

In der That ſcheint auch eine Stelle des Florentinus dieſe

Zuſammenſtellung unmittelbar zu beſtätigen (a). Wir ha-

ben aber zu unterſuchen, in welchem Sinn dieſelbe für

wahr zu halten ſey.

 

Zuvörderſt könnte man ſich die Sache ſo denken wol-

len, als ob nach dem Antritt des Erben deſſen Herrſchaft

über das Vermögen erſt von dem Zeitpunkt dieſes Antritts

anzurechnen wäre, ſo daß zwiſchen dem Tod und dem

Antritt ſtets ein Zeitraum übrig bliebe, in welchem ledig-

lich ein fingirter Herr des Vermögens, die Erbſchaft ſelbſt,

angenommen werden könnte. So iſt es aber in der That

nicht; vielmehr wird das Recht des Erben, welcher an-

getreten hat, gerade ſo betrachtet, als hätte es unmittel-

bar nach dem Tode angefangen, ſo daß überhaupt kein

Zeitpunkt anzunehmen iſt, worin das Vermögen nicht un-

ter der Herrſchaft entweder des Erblaſſers, oder des Er-

 

(a) L. 22 de fidejuss. (46. 1.).

„Mortuo reo promittendi, et

ante aditam hereditatem fide-

jussor accipi potest: quia he-

reditas personae vice-fungitur,

sicuti municipium, et decuria,

et societas.” (vgl. § 85. h).

|0378 : 364|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ben, wirklich geſtanden hätte (b). Wenn ſich daher manche

Stellen ſo ausdrücken, als wäre die unerworbene Erb-

ſchaft herrenlos (c), ſo iſt das nur ſo zu verſtehen, daß

wir den wirklichen Herrn nicht kennen; in jener ganzen

Zwiſchenzeit alſo hat zwar die Erbſchaft einen Herrn, aber

für unſer Bewußtſeyn iſt er nicht vorhanden.

Eine andere Deutung jener Zuſammenſtellung wäre

folgende. Jenes Vermoͤgen hat einen unbekannten Herrn,

iſt alſo ohne Schutz. Daher wird ihm einſtweilen ein

Curator geſetzt, der es eben ſo vertritt, wie eine juriſti-

ſche Perſon von ihren Vorſtehern vertreten wird. — Allein

auch dieſe Deutung muß verworfen werden. Die Ernen-

nung eines Curators für die unerworbene Erbſchaft iſt

zwar auch nach Römiſchem Recht nicht undenkbar, aber

weder nothwendig, noch gewöhnlich; die zahlreichen Stel-

len, worin das beſondere Recht der unerworbenen Erb-

ſchaften vorkommt, ſetzen ſo wenig einen ſolchen Curator

voraus, daß vielmehr keine derſelben ihn erwähnt. Auch

für das Vermögen eines Abweſenden kann nach Bedürf-

niß ein Curator angeordnet werden, ohne daß dabey an

eine juriſtiſche Perſon zu denken wäre. Zu einer bloßen

 

(b) L. 193 de R. J. (50. 17.).

„Omnia fere jura heredum pe-

rinde habentur, ac si continuo

sub tempus mortis heredes ex-

stitissent.” L. 138 pr.eod. „Om-

nis hereditas, quamvis postea

adeatur, tamen cum tempore

mortis continuatur.” L. 54 de

adquir. vel omit. her. (29. 2.).

L. 28 § 4 de stip. serv. (45. 3.).

(c) L. 13 § 5 quod vi (43. 24.).

„.. cum praedium interim nul-

lius esset … postea dominio

ad aliquem devoluto .. utputa

hereditas jacebat, postea adiit

hereditatem Titius … quod eo

tempore nemo dominus fuerit.”

|0379 : 365|

§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.

Fiction wird weder der Abweſende durch ſeine Abweſen-

heit, noch der künftige Erbe durch ſeine augenblickliche

Verborgenheit: beide bleiben einzelne Menſchen, natürliche

Perſonen. Wollte man die Behandlung der unerworbe-

nen Erbſchaft als einer juriſtiſchen Perſon ſtrenge durch-

führen, ſo müßte man ſie in Rechtsverhältniſſe aller Art

eintreten laſſen, ja man koͤnnte ſo weit gehen, zu geſtatten,

daß der ruhenden Erbſchaft unmittelbar wieder ein frem-

der Teſtator Erbſchaften oder Legate zuwendete; dieſes

Alles aber iſt den Römiſchen Juriſten nie in den Sinn

gekommen.

Die einfachſte und natürlichſte Behandlung dieſes Falles

wäre ohne Zweifel die, daß man von dem Tode an die

Erbſchaft als das Vermoͤgen eines noch unbekannten Herrn

anſähe, der aber doch einmal bekannt werden muß, und

auf welchen dann Alles zu beziehen iſt, was ſich in der

Zwiſchenzeit mit dieſem Vermoͤgen etwa zutragen mag.

Dieſe natürliche Behandlung der Sache iſt es, welche das

Römiſche Recht nicht gelten laſſen will, indem es an de-

ren Stelle eine Fiction unter zwey verſchiedenen Aus-

drücken ſetzt. Bald wird geſagt, die Erbſchaft ſelbſt ſtelle

eine Perſon vor, und habe die Herrſchaft über das Ver-

mögen, alſo über ſich ſelbſt (d); bald, die Erbſchaft ſtelle

 

(d) L. 22 de fidej. (46. 1.),

(Note a), L. 15 pr. de usurp.

(41. 3.) „nam hereditatem in

quibusdam vice personae fungi

receptum est.” — L. 13 § 5 quod

vi (43. 24.) „dominae locum ob-

tinet,” L. 15 pr. de interrog.

(11. 1.) „domini loco habetur,”

L. 61 pr. de adqu. rer. dom.

(41. 1.) „pro domino habetur,”

L. 31 § 1 de her. inst. (28. 5.)

ſ. u. Note f.

|0380 : 366|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

den Verſtorbenen vor, nicht den noch unbekannten Erben (e).

Beide Ausdrücke aber ſind ohne Zweifel voͤllig gleichbe-

deutend (f), und bilden blos den Gegenſatz gegen das oben

erwähnte natürliche Verhältniß, nach welchem die Erb-

ſchaft ſchon jetzt dem unbekannten Erben wirklich gehört,

folglich mit ihm identiſch iſt (g).

Zu dieſer Fiction aber wurden die Römer durch fol-

gende Betrachtung bewogen. Wenn zu der Erbſchaft auch

Sklaven gehörten (welches wohl ſelten ganz fehlen mochte),

ſo konnte durch dieſe das Vermögen, auch in ſeinem jetzt

ruhenden Zuſtand, dennoch vermehrt werden, indem über-

haupt der Sklave ſeinem Herrn Vermögen, ſelbſt ohne

deſſen Wiſſen, erwerben konnte. Allein es gab Erwer-

bungsarten, bey welchen es wegen ihrer ſtreng civilen

 

(e) pr. J. de stip. serv. (3. 17).

„personae defuncti vicem su-

stinet,” § 2 J. de her. inst. (2.

14.) „personae vicem sustinet

non heredis futuri, sed de-

functi,” L. 34 de adqu. rer.

dom. (41. 1.). „Hereditas enim

non heredis personam sed de-

functi sustinet,” L. 33 § 2 eod.

„ex persona defuncti vires as-

sumit.” — Einiger Zweifel könnte

entſtehen aus L. 24 de novat.

(46. 2.) „transit ad heredem,

cujus personam interim here-

ditas sustinet.” Allein der Wi-

derſpruch dieſer Stelle, nach der

hier abgedruckten Florentiniſchen

Leſeart, mit den vorhergehenden

Stellen, iſt ſo augenſcheinlich und

unauflöslich, daß deshalb die die-

ſen Widerſpruch beſeitigende Vul-

gata: „transit ad heredem il-

lius, cujus personam” unbedenk-

lich vorzuziehen iſt.

(f) Dieſe Identität beider Aus-

drücke wird beſonders klar aus

einer Stelle, worin beide zuſam-

menſtehen, ſo daß offenbar einer

den andern nur erklären und nä-

her beſtimmen ſoll. L. 31 § 1 de

her. inst. (28. 5.) „quia credi-

tum est hereditatem dominam

esse, (et) defuncti locum ob-

tinere.”

(g) Dieſer Gegenſatz iſt in zwey

Stellen (Note e) geradezu aus-

geſprochen.

|0381 : 367|

§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.

Natur mit der Rechtsfähigkeit des Erwerbers beſonders

ſtreng genommen wurde; ſollten dieſe von einem Sklaven

ausgehen, deſſen Erwerbsfähigkeit überhaupt von der ſei-

nes Herrn abhieng, ſo wurde ein bekannter und fähiger

Herr vorausgeſetzt, wenn nicht der Erwerb ungültig oder

wenigſtens in ſeiner Gültigkeit zweifelhaft bleiben ſollte.

Unter dieſe ſtreng civilen Erwerbungen gehörte nun die

Erbeinſetzung des Sklaven, indem deren Gültigkeit davon

abhieng, daß der Sklave einen zur Zeit des errichteten

Teſtaments einſetzungsfähigen Herrn hatte (h). Eben ſo

verhielt es ſich mit dem Erwerb einer Forderung durch

die Stipulation eines Sklaven; gewiß auch eben ſo mit

dem Erwerb des Eigenthums, wenn ſich der Sklave eine

Sache mancipiren ließ, nur daß dieſer Fall im Juſtinia-

niſchen Recht nicht mehr berührt wird. Um dieſer, durch

die ſtrenge Rechtsform beſchränkten, Erwerbungen willen

hatten die Römer jene Fiction eingeführt, die es möglich

machte die Gültigkeit der Handlung mit Sicherheit zu be-

urtheilen, indem dieſelbe nun von der Rechtsfähigkeit des

bekannten Erblaſſers abhieng, anſtatt daß die Fähigkeit des

noch unbekannten Erben ungewiß war. Einige Beyſpiele

werden dieſes praktiſche Intereſſe jener Fiction anſchaulich

machen. Wenn ein teſtamentsfähiger Römer ohne Teſta-

ment ſtarb, und nun ein Dritter einen Sklaven dieſer ru-

(h) Ulpianus XXII. § 9 L. 31

pr. de her. inst. (28. 5.). Hier

wird dieſer Satz in unmittelbarer

Verbindung mit unſrer Fiction

vorgetragen.

|0382 : 368|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

henden Erbſchaft zum Erben einſetzte, ſo war die Ein-

ſetzung kraft unſrer Fiction gültig, weil ſie auf den ein-

ſetzungsfähigen Verſtorbenen bezogen wurde; ohne die

Fiction wäre ihre Gültigkeit ungewiß geweſen, weil der

noch unbekannte Inteſtaterbe ein Inteſtabilis ſeyn konnte,

welcher keine Einſetzungsfähigkeit hatte (i). Wenn ein

Soldat mit Hinterlaſſung eines Teſtaments ſtirbt, dieſes

iſt noch uneröffnet, alſo die Erbſchaft noch unerworben,

ſo kann jeder Dritte einen zu dieſer Erbſchaft gehörenden

Sklaven mit Sicherheit zum Erben einſetzen, weil die Ein-

ſetzung, nach unſrer Fiction, auf den Verſtorbenen bezogen

wird; ohne die Fiction wäre die Einſetzung von ungewiſ-

ſer Gültigkeit, weil der noch unbekannte Teſtamentserbe

des Soldaten ein Peregrine ſeyn kann (k), welcher mit

jenem dritten Teſtator keine testamentifactio hat. Ganz

eben ſo verhält es ſich, wenn in demſelben Fall der Erb-

ſchaftsſklave eine Stipulation mit der Formel spondes?

spondeo ſchließt; denn dieſe iſt durch die Beziehung auf

den Verſtorbenen gültig, anſtatt daß ſie, bezogen auf den

peregrinen Teſtamentserben, ungültig ſeyn würde (l). —

Daneben hat nun die Fiction auch die ganz conſequente

Folge, daß, wenn der erwerbende Erbſchaftsſklave ſelbſt

legirt iſt, der Erwerb dennoch bey der Erbſchaft bleibt,

(i) L. 18 § 1 L. 26 qui test.

(28. 1.). Wenigſtens nach dem

älteren Recht konnte der Inte-

ſtabilis auch nicht zum Erben ein-

geſetzt werden. Vgl. Marezoll

bürgerliche Ehre S. 90.

(k) L. 13 § 2 de test. mil.

(29. 1.).

(l) Gajus III. § 93.

|0383 : 369|

§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.

und nicht etwa, zugleich mit dem Sklaven, an den Legatar

fällt: welcher Satz jedoch bey dem Erwerb durch das Le-

gat eines Uſusfructus eine Ausnahme leidet (Note r).

Solche Fälle ſind es, um deren willen allein jene

Fiction erfunden worden iſt. Von ihnen ſprechen die mei-

ſten und beſtimmteſten der über die Fiction bereits an-

geführten Stellen (m). Allerdings finden ſich auch einige

Stellen, worin davon Gebrauch gemacht wird bey man-

chem Sklavenerwerb, der nicht unter der ſtrengen Regel

des jus civile ſtand, wie z. B. durch bloße Tradition oder

durch einen bonae fidei contractus (n): andere Stellen,

worin ſie ſogar angewendet wird ohne Rückſicht auf den

Erwerb durch Sklaven (o). Allein dieſes ſind durchaus

 

(m) Von dem Erwerb des Skla-

ven überhaupt: L. 61 pr. de adqu.

rer. dom. (41. 1.). — Von der

Stipulation des Sklaven: pr. J.

de stip. serv. (3. 17.), L. 33 § 2

L. 34 de adqu. rer. dom. (41. 1).

Vgl. L. 18 pr. § 2 de stip. serv.

(45. 3.). — Von der Erbeinſetzung

des Sklaven: § 2 J. de her. inst.

(2. 14.), L. 31 § 1 L. 52 de her.

inst. (28. 5.), L. 61 pr.de adqu.

rer. dom. (41. 1.). — War ein

Erbe eingeſetzt, der zwar testa-

mentifactio hatte, aber die Ca-

pacität ganz oder theilweiſe ent-

behrte (coelebs oder orbus), ſo

konnte ein Erbſchaftsſklave die ihm

legirte Sache dennoch unbedingt

der Erbſchaft erwerben; wer dieſe

Sache, ſo wie die ganze Erbſchaft,

am Ende bekommen würde, das

mußte ſich dann zur Zeit des An-

tritts der Erbſchaft zeigen. L. 55

§ 1 de leg. 2 (31. un.).

(n) L. 16 de O. et A. (44. 7.)

(vgl. Arndts Beiträge I. 208),

L. 33 § 2 de adqu. rer. dom.

(41. 1.), L. 1 § 5 de adqu. poss.

(41. 2.), L. 29 de captiv. (49.

15.), L. 15 pr. de usurp. (41.

3.), L. 11 § 2 de acceptilat. (46.

4.). — Vgl. auch folgende Stel-

len, welche von der Regel An-

wendung machen, ohne ſie gera-

dezu auszuſprechen: L. 1 § 6 de

injur. (47. 10.), L. 21 § 1 L. 3

pr. § 6 de neg. gestis. (3. 5.),

L. 77 de V. O. (45. 1.), L. 1

§ 29 depos. (16. 3.).

(o) L. 22 de fidejuss. (ſ. oben

Note a), L. 24 de novat. (46. 2.),

L. 13 § 5 quod vi (43. 24.) (wo

II. 24

|0384 : 370|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

nur zufällige Anwendungen einer zu ganz anderen Zwecken

erfundenen Regel. Dieſes wird dadurch unzweifelhaft, daß

unter allen dieſen Fällen kein einziger iſt, für welchen die

Fiction irgend einen praktiſchen Werth hätte, das heißt

kein einziger, in welchem nicht ganz derſelbe Erfolg be-

hauptet werden koͤnnte, man möge während der ruhenden

Erbſchaft den Verſtorbenen, oder aber den künftigen Er-

ben (der es eigentlich jetzt ſchon iſt) als gegenwärtigen

Herrn des Vermögens betrachten.

An der Richtigkeit dieſer Behauptung könnte man viel-

leicht durch diejenigen Stellen irre werden, worin jene

Fiction in ſo allgemeinen Ausdrücken vorgetragen wird,

daß dazu die eben behauptete beſchränkte Anwendung we-

nig zu paſſen ſcheint (p). Allein die in dieſen unbeſtimm-

ten Ausdrücken angedeutete Allgemeinheit der Regel iſt

doch nur ſcheinbar; dieſes beweiſen einige andere, genauer

redende Stellen, welche der Fiction ausdrücklich nur eine

relative, alſo beſchränkte, Wirkſamkeit zuſchreiben (q). —

Ja ſelbſt in den Fällen des Erwerbs durch Sklaven, wo-

für ſie eigentlich eingeführt iſt, gilt ſie nicht ganz ohne

 

dieſer Grund nur neben anderen

geltend gemacht wird), L. 15 pr.

de interrog. (11. 1.). Vgl. auch

Beylage IV. Note b.

(p) Dieſer ſcheinbar allgemeine

Ausdruck der Fiction findet ſich

in: L. 22 de fidej. (Note a),

L. 24 de novat. (46. 2.), L. 13

§ 5 quod vi (43. 24.), L. 15 pr.

de interrog. (11. 1.), L. 31 § 1

de her. inst. (28. 5.), L. 34 de

adqu. rer. dom. (41. 1.), § 2 J.

de her. inst. (2. 14.).

(q) pr. J. de stip. serv. (3. 17.)

„in plerisque,” L. 61 pr. de

adqu. rer. dom. (41. 1.) „in mul-

tis partibus juris,” L. 15 pr. de

usurp. (41. 3.) „in quibusdam.”

|0385 : 371|

§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.

Ausnahmen (r); dadurch aber wird es um ſo einleuchten-

der, daß der allgemeine Ausdruck der oben angeführten

Stellen (Note p) nicht zu buchſtäblich genommen wer-

den darf.

Allerdings findet ſich noch ein merkwürdiger, praktiſch

wichtiger Rechtsſatz außer dem Sklavenrecht, auf welchen

jene Fiction im älteren Recht einigen Einfluß hätte ha-

ben können. Wenn ein Erblaſſer eine angefangene, un-

vollendete Uſucapion hinterläßt, ſo müßte der Strenge

nach die Uſucapion unterbrochen ſeyn, da die Erbſchaft

keines Beſitzes fähig iſt. Da dieſes aber zu empfindliche

Folgen gehabt hätte, ſo nahm man als jus singulare an,

die Uſucapion gehe nicht nur ununterbrochen fort, ſondern

ſie könne ſelbſt vor dem Antritt der Erbſchaft vollendet

werden (s). Dieſen praktiſch wichtigen Satz konnte man

verſuchen durch unſre Fiction zu begründen, und dieſes

konnte vor Juſtinian in dem oben angeführten Beyſpiel

eines Soldatenteſtaments wichtig werden; denn wurde die

 

(r) Wenn der Erbſchaftsſklave

ſtipulirt, ſo gilt die Stipulation

nur als eine bedingte, und wird

erſt dann erworben, wenn irgend

Jemand die Erbſchaft antritt.

L. 73 § 1 de V. O. (45. 1.). —

Wenn dem Erbſchaftsſklaven et-

was legirt wird, ſo wird zwar in

der Regel dieſes Legat ſogleich der

Erbſchaft erworben; iſt aber ein

Uſusfructus legirt, ſo tritt der Er-

werb erſt zu der Zeit ein, wo der

Sklave, in Folge des Antritts

der Erbſchaft, einen beſtimmten

Herrn erhält: es ſey nun dieſer

Herr der antretende Erbe ſelbſt,

oder aber Derjenige, dem der

Sklave legirt iſt, da denn der

Erwerb niemals an die Erbſchaft

kommt. L. 1 § 2 quando dies

ususfr. (7. 3.). L. 16 § 1 quan-

do dies leg. (36. 2.).

(s) L. 31 § 5 L. 40 L. 44 § 3

de usurp. (41. 3.), L. 30 pr. ex

quib. causis maj. (4. 5.).

24*

|0386 : 372|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Uſucapion auf den Verſtorbenen bezogen, ſo war ihre

Vollendung möglich, bezog man ſie auf den peregrinen

Teſtamentserben (der perſoͤnlich nicht uſucapiren konnte),

ſo war ſie unmöglich. Dennoch wird in keiner der eben

angeführten Stellen jene Fiction zu Hülfe genommen, ſon-

dern es wird vielmehr der die Uſucapion betreffende Rechts-

ſatz als ein ganz für ſich beſtehender dargeſtellt; ohne

Zweifel deswegen, weil die ganze Fiction überhaupt nur

reine Rechtsverhältniſſe zum Gegenſtand hatte, alſo nicht

ſolche Verhältniſſe, die ein menſchliches Bewußtſeyn und

Handeln unmittelbar vorausſetzen, wohin gerade der Be-

ſitz gehört (t).

Die Reſultate dieſer, die Erbſchaft als juriſtiſche Per-

ſon betreffenden, Unterſuchung laſſen ſich in folgende Sätze

zuſammenfaſſen.

 

Erſtlich: Die ruhende Erbſchaft war, auch im Sinn

der Römmer, keine juriſtiſche Perſon, und wenn ſie in

einer Stelle mit Corporationen verglichen wird (Note a),

ſo hat das blos den Sinn, daß ſowohl bey ihr, als bey

jenen, eine Fiction angewendet wird. Dieſe Fiction hat

jedoch in jedem der erwähnten zwey Fälle andere Gründe

und andere Folgen, mithin eine verſchiedene Natur.

 

(t) L. 1 § 15 si is qui test.

(47. 4.), L. 61 pr. § 1 de adqu.

rer. dom. (41. 1.), L. 26 de stip.

serv (45. 3). (Dieſe letzte Stelle

hat ſich nun auch noch an ei-

nem andern Orte wiedergefunden.

Fragm. Vat. § 55). — Eine Folge

der Beſitzesunfähigkeit der Erb-

ſchaft war es, daß ſie nicht be-

ſtohlen werden, alſo auch nicht

die furti actio erwerben konnte.

L. 68. 69. 70 de furtis (47. 2.),

L. 2 expil. hered. (47. 19.).

|0387 : 373|

§. 102. Juriſtiſche Perſonen. Erbſchaften.

Zweytens: Die eigenthümliche Behandlung der ruhen-

den Erbſchaft vermittelſt einer Fiction beſchränkte ſich bey

den Römern auf die Erleichterung gewiſſer Erwerbungen

durch die zu der Erbſchaft gehörenden Sklaven.

 

Drittens: Es iſt daher nicht zu rechtfertigen, wenn

jene Eigenthümlichkeit der ruhenden Erbſchaft als Beſtand-

theil des heutigen Rechts dargeſtellt wird, indem daſſelbe

den Erwerb durch Sklaven überhaupt nicht kennt.

 

|0388 : 374|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

§. 103.

Verſchiedenheiten in der Verknüpfung der Rechts-

verhältniſſe mit den Perſonen.

Bisher iſt in dieſem Abſchnitt unterſucht worden, wer

überhaupt Subject eines Rechtsverhältniſſes ſeyn könne:

und zwar zuerſt nach der allgemeinen Natur der Rechts-

verhältniſſe ſelbſt, dann nach poſitiven Rechtsregeln, wo-

durch jene natürliche Rechtsfähigkeit theils eingeſchränkt,

theils künſtlich erweitert wird. Dieſe Beſtimmungen vor-

ausgeſetzt, entſteht nun die fernere Frage, wie die Rechts-

verhältniſſe mit den an ſich dazu fähigen Subjecten ver-

knüpft werden. Dieſe Verknüpfung geſchieht regelmäßi-

gerweiſe durch irgend ein das beſtimmte Individuum be-

treffendes Ereigniß, alſo durch menſchliches Handeln oder

Leiden. So kann ein Jeder Eigenthum erwerben durch

Tradition oder Occupation, durch Verträge Glaubiger

oder Schuldner werden, Schuldner auch durch die Delicte

die er begeht, Glaubiger durch die welche gegen ihn ver-

übt werden. Dieſes Alles iſt auch wahr von den juriſti-

ſchen Perſonen, nur mit dem Unterſchied, daß als ihre

Handlungen die Handlungen ihrer Vertreter angeſehen wer-

den. Die allgemeine Natur der zu dieſer regelmäßigen

Verknüpfung der Rechtsverhältniſſe mit den Perſonen füh-

renden Thatſachen wird der Gegenſtand des folgenden

Abſchnitts ſeyn.

 

|0389 : 375|

§. 103. Verknüpfung der Rechtsverhältniſſe mit der Perſon.

Allein es giebt auch eine abweichende, mehr künſtliche,

Verknüpfungsweiſe, die ſich nicht auf das menſchliche Thun

und Leiden einer individuell beſtimmten Perſon gründet,

ſondern auf eine allgemeine, mit den verſchiedenſten In-

dividuen vereinbare Eigenſchaft. Dieſe ungewoͤhnlichere

Verknüpfungsweiſe wird bey manchen Arten der Rechts-

verhältniſſe durch ihre beſondere Natur herbeygeführt: bey

anderen kann es durch individuelle Willkühr in einzelnen

Fällen der Anwendung geſchehen. Eine ſolche individuelle

Willkühr aber wird ſeltner in Verträgen vorkommen, welche

meiſt ein deutlich gedachtes und genau beſtimmtes In-

tereſſe der Gegenwart befriedigen ſollen: häufiger in ei-

nem letzten Willen, in deſſen Natur es ohnehin liegt, auf

eine nicht genau beſtimmbare Zukunft einzuwirken, und

der ſich daher leichter auch in das ganz Unbeſtimmte und

Gränzenloſe verliert: eben ſo auch in Beſtimmungen der

höchſten Gewalt, die in der Form von Privilegien erlaſ-

ſen werden. Der letzte Wille aber, der an allgemeine

Eigenſchaften, anſtatt an eine beſtimmt gedachte Perſoͤn-

lichkeit (persona incerta), ein Succeſſionsrecht knüpfen

ſollte, war im älteren Römiſchen Recht unterſagt, und

erſt Juſtinian hat denſelben für gültig erklärt (§ 93. q).

 

Die allgemeine Eigenſchaft ſelbſt, woran in dieſen ab-

weichenden Fällen ein Rechtsverhältniß zunächſt angeknüpft

wird, um durch ſie der Perſon anzugehören, in welcher

ſich dieſe Eigenſchaft findet, kommt beſonders in folgen-

den Geſtalten vor:

 

|0390 : 376|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

I. Als ein ſtaatsrechtliches Verhältniß. Wenn z. B.

in Rom ein Legat dem Kaiſer hinterlaſſen war (Quod

principi relictum est), ſo wurde das ſo ausgelegt, als

wäre nicht gerade der Kaiſer zur Zeit der Abfaſſung des

Teſtaments gemeynt, ſondern Jeder, der zur Zeit der Er-

werbung des Legats Kaiſer ſeyn würde. Dieſes war nun

eigentlich eine incerta persona, mithin ungültig: daß man

es dennoch ſchon in der älteren Zeit gelten ließ, erklärt

ſich aus der auf die Perſon des Kaiſers übertragenen

Exemtion des Fiscus von allen gewoͤhnlichen Beſchrän-

kungen des Privatrechts (§ 101). Eben daher war es

auch anders bey einem der Kaiſerin hinterlaſſenen Legat.

Dieſes wurde nur bezogen auf die zur Zeit des Teſta-

ments vorhandene Kaiſerin, ſo daß es öfter als das dem

Kaiſer gegebene gar nicht zur Ausführung kam: ohne

Zweifel deswegen, weil es, in jener freyeren Weiſe aus-

gelegt, durch das allgemeine Verbot der incerta persona

ungültig geweſen ſeyn würde (a). — Ein ähnlicher Fall

kommt vor bey einem Fideicommiß, welches dem Prieſter

und den Dienern eines beſtimmten Tempels eine Rente

anwies. Dieſes wurde ausgelegt als eine jährliche Rente

auf ewige Zeiten, zahlbar an die jedesmal in jenen Func-

tionen ſtehenden Perſonen. Gegen das Verbot der incerta

persona wurde es dadurch geſchützt, daß man als eigent-

lichen Succeſſor den Tempel ſelbſt anſah, der zwar eine

juriſtiſche Perſon, aber als ſolche eine certa persona

 

(a) L. 56. 57 de leg. 2 (31. un.).

|0391 : 377|

§. 103. Verknüpfung der Rechtsverhältniſſe mit der Perſon.

war (§ 93. m), ſo daß durch die ausdrücklich genannten

Perſonen (Prieſter und Diener) nur die Art der Verwen-

dung des Geldes bezeichnet ſeyn ſollte (b). — Eben ſo

würde es anzuſehen ſeyn, wenn heutzutage ein öffentlicher

Beamter eine Jahresrente ſtiftete, welche jeder ſeiner Nach-

folger im Amte beziehen ſollte.

II. Als ein privatrechtliches Verhältniß. Dahin ge-

hören, nicht nach individueller Willkühr, ſondern nach der

allgemeinen Natur des Rechtsinſtituts ſelbſt, die Prädial-

ſervituten (c); eben ſo auch die nach der Analogie derſel-

ben behandelte aqua ex castello, die keine Servitut iſt,

da ſie nicht durch Privatwillkühr, ſondern durch die Ver-

fügung einer öffentlichen Gewalt begründet wird (d); end-

lich auch das Recht des Eigenthümers eines Colonats ge-

gen die durch ihre Geburt zu demſelben gehoͤrenden Colo-

nen (§ 54).

 

Weit häufiger und wichtiger iſt dieſe Art der Ver-

knüpfung im deutſchen Recht. Es gehören dahin die mei-

ſten Reallaſten, ſowohl von Seiten des Berechtigten, als

des Verpflichteten (e); eben ſo auf Seiten des Berechtig-

 

(b) L. 20 § 1 de ann. leg.

(33. 1.). „Respondit, secundum

ea quae proponerentur, mini-

sterium nominatorum designa-

tum (nicht die zur Zeit des Te-

ſtaments lebenden Individuen),

caeterum datum templo.”

(c) Nämlich die Prädialſervi-

tuten in Beziehung auf den Be-

rechtigten, indem die Berechtigung

dem jedesmaligen Eigenthümer ei-

nes Grundſtücks als ſolchem zu-

ſteht; nicht in Beziehung auf den

Verpflichteten, da die Servitut

gar nicht blos von dem Eigen-

thümer des praedium serviens,

ſondern ganz auf gleiche Weiſe

von jedem anderen Menſchen, an-

erkannt und geachtet werden muß.

(d) L. 1 § 43 de aqua (43. 22.).

(e) Das Recht auf die Real-

laſten iſt meiſt annexum eines

|0392 : 378|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

ten die Bannrechte, die ſtets mit einem Grundeigenthum

verbunden ſind; endlich auch das Recht der Leibeigen-

ſchaft. — Das Preußiſche Recht bezeichnet dieſelben als

dingliche Rechte in Beziehung auf das Subject, und un-

terſcheidet ſie durch dieſen Zuſatz von den wahren dingli-

chen Rechten, die es dingliche Rechte in Anſehung ihres

Gegenſtandes, oder Rechte auf die Sache, nennt (f).

Aber auch durch individuelle Willkühr kann eine An-

knüpfung dieſer Art vorgenommen werden. Dahin gehört

z. B. die Grundſteuerfreyheit, die durch Privilegium einem

einzelnen Grundſtück, oder auch einer Klaſſe von Grund-

ſtücken ertheilt wird, das heißt allen Denjenigen, welche

künftig das Eigenthum dieſer Grundſtücke haben werden.

 

III. Als ein blos faktiſches Verhältniß. — Dahin ge-

hören im Römiſchen Recht die Verpflichtungen eines Je-

den, der zufällig in der Lage iſt, etwas reſtituiren oder

exhibiren zu können, alſo das Beklagtenverhältniß in den

actiones in rem scriptae (wie quod metus causa und ad

 

Grundeigenthums, nicht immer,

denn es giebt z. B. viele perſön-

liche Zehentrechte, und in man-

chen Gegenden perſönliche Dienſt-

rechte. — Die Verpflichtung zu den

Reallaſten iſt gleichfalls meiſt eine

mit einem Grundeigenthum ver-

knüpfte Obligation, ſo z. B. die

Grundabgaben in Geld oder Früch-

ten, imgleichen die Dienſte; nicht

ſo die Zehentlaſt, die vielmehr

ſehr gewöhnlich ein reines jus in

re iſt, nämlich das Recht, von

beſtimmten Äckern die zehente Gar-

be abzuholen, ohne poſitive Ver-

pflichtung des Zehentpflichtigen,

von ſeiner Seite irgend etwas

zu thun.

(f) A. L. R., Th. I. Tit. 2 § 125

— 130, mit dem Zuſatz, daß in

Geſetzen, welche von dinglichen

Rechten ohne nähere Beſtimmung

reden, die oben angegebene zweyte

Bedeutung des Ausdrucks (als die

gewöhnlichere) anzunehmen ſey.

|0393 : 379|

§. 103. Verknüpfung der Rechtsverhältniſſe mit der Perſon.

exhibendum). — Im deutſchen Recht die Bannrechte auf

Seiten des Verpflichteten, die für jeden Bewohner eines

beſtimmten Bezirks (ohne Rückſicht auf irgend ein Rechts-

verhältniß deſſelben) die negative Verpflichtung begrün-

den, gewiſſe gewerbliche Leiſtungen von keinen anderen Ver-

käufern als dem Bannberechtigten zu beziehen. — Dieſe

Fälle bezogen ſich wiederum auf die allgemeine Natur der

hier erwähnten Rechtsinſtitute. Eben ſo aber kann auch

durch individuelle Willkühr, namentlich durch landesherr-

liches Privilegium, an ein ſolches blos faktiſches Verhaͤlt-

niß irgend ein Recht angeknüpft werden.

Die hier zuſammengeſtellten Arten der Verknüpfung von

Rechtsverhältniſſen mit beſtimmten Perſonen ſind neuerlich

als juriſtiſche Perſonen dargeſtellt worden (g): wie ich

glaube, mit Unrecht. Denn bey der an eine gewiſſe Be-

amtenſtelle angewieſenen jährlichen Rente, ſo wie bey der

 

(g) Heiſe Grundriß B. 1 § 98

Note 15: „Juriſtiſche Perſon iſt

Alles außer den einzelnen

Menſchen, was im Staat als

ein eignes Subject von Rechten

anerkannt iſt. Jede ſolche muß

aber irgend ein Subſtrat haben,

welches die juriſtiſche Perſon bil-

det oder vorſtellt. Dies Subſtrat

kann nun beſtehen: 1) aus Men-

ſchen, und zwar a) aus einem

Einzelnen zur Zeit (bey öffentli-

chen Beamten) .... 2) aus Sa-

chen, nemlich a) aus Grund-

ſtücken (bey Servituten und un-

ſern deutſchen ſubjectiv-dinglichen

Rechten)“ u. ſ. w. — Man kann

die aufgeſtellte Definition zuge-

ben, und dennoch dieſe Subſum-

tion von Fällen verwerfen, weil

das Subject einer Prädialſervitut

u. ſ. w. in der That ſtets ein ein-

zelner Menſch, alſo nicht Etwas

außer den einzelnen Men-

ſchen iſt. — Eben ſo ſagt Haſſe,

„daß z. B. der Princeps von den

Römiſchen Juriſten als eine ju-

riſtiſche Perſon angeſehen wurde,

nämlich dies ſucceſſiv gedacht, er-

hellet aus L. 56 D. de legat. II.”

(Archiv B. 5 S. 67).

|0394 : 380|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. II. Perſonen.

Prädialſervitut, iſt der Berechtigte jederzeit ein einzelner

Menſch, alſo eine natürliche Perſon; nur die Art, wie

dieſer Inhaber des Rechts für jeden Zeitpunkt ermittelt

wird, alſo der Weg auf welchem man zu dieſem Recht

gelangt, iſt hier auf eigenthümliche, von den gewöhnlichen

Regeln abweichende Weiſe beſtimmt. Von einer Vertre-

tung, die von jeder juriſtiſchen Perſon unzertrennlich iſt,

findet ſich hier keine Spur. Der Inhaber einer Prädial-

ſervitut z. B. verfügt über dieſes, wie über jedes andere

Vermögensrecht, mit der freyeſten Willkühr; er kann es

zum Vortheil des dadurch beſchränkten Nachbars durch

Schenkung oder Verkauf aufgeben. Eben ſo kann der

Beamte über die ihm angewieſene Rente für ſeine Dienſt-

zeit frey verfügen, da er ſie nicht für eine fingirte Per-

ſon verwaltet, ſondern ſelbſt in ſeinem Vermoͤgen hat, ſo

wie jedes andere Recht. Daß er die Rente ſeinen Nach-

folgern nicht vergeben kann, iſt eine ganz ähnliche Be-

ſchränkung, wie die des Legatars, der das legirte Haus

bey ſeinem Tode einem Fideicommiſſar reſtituiren ſoll; in

beiden Fällen liegt keine Veranlaſſung, das Subject des

Rechts als eine juriſtiſche Perſon anzuſehen.

Auf die Verſchiedenheiten in der Verknüpfung der

Rechtsverhältniſſe mit den Perſonen bezieht ſich auch die

Frage nach der möglichen Vervielfältigung der Subjecte

in einem und demſelben Rechtsverhältniß. Hierin nun

 

|0395 : 381|

§. 103. Verknüpfung der Rechtsverhältniſſe mit der Perſon.

findet ſich unter dieſen die größte Mannichfaltigkeit. Viele

können ſich durchaus nur auf Eine Perſon als ihr Sub-

ject beziehen: ſo die Ehe, der Uſus, die Prädialſervitu-

ten (h). Andere können nach Willkühr auch auf Mehrere

bezogen werden, jedoch nur theilweiſe: ſo das Eigenthum,

der Niesbrauch, die Emphyteuſe. Noch andere mit freye-

rer Willkühr, ſowohl theilweiſe, als ſolidariſch: ſo die

Obligationen, und das Pfandrecht. Eine ſo allgemeine

Angabe der vorkommenden verſchiedenen Fälle muß an

dieſer Stelle genügen, da jede genauere Erörterung die-

ſes Gegenſtandes nur bey den einzelnen Rechtsinſtituten

ſelbſt auf zweckmäßige Weiſe unternommen werden kann.

(h) Nämlich wenn mehrere

Nachbarn eine Wegeſervitut auf

demſelben Grundſtück haben, ſo

ſind ſie nicht (partielle oder ſoli-

dariſche) Inhaber eines und deſ-

ſelben Rechts, ſondern jeder Ein-

zelne hat ſeine Servitut als ein

vollſtändiges, für ſich beſtehendes

Recht, ohne Zuſammenhang mit

der Servitut der übrigen; daß

dieſe Rechte auf denſelben Gegen-

ſtand beſtehen können, ohne mit

einander in Colliſion zu kommen,

liegt in der Art, wie überhaupt

Wege benutzt werden, alſo in

der faktiſchen Beſchaffenheit gerade

dieſer Servitut.

|0396 : [382]|

|0397 : [383]|

Beylagen.

III. — VII.

|0398 : [384]|

|0399 : [385]|

Beylage III.

Die Vitalität eines Kindes, als Bedingung

ſeiner Rechtsfähigkeit.

(Zu § 61 Note t).

Es iſt eine ſehr gewöhnliche Behauptung unſrer Rechts-

lehrer, zur Rechtsfähigkeit eines Kindes reiche die leben-

dige Geburt nicht hin, ſondern es müſſe noch die Le-

bensfähigkeit oder Vitalität hinzu kommen. Damit

aber meynen ſie Folgendes. Es gebe einen gewiſſen Zeit-

raum der Schwangerſchaft, vor deſſen Ablauf zwar eine

lebendige Geburt zuweilen vorkomme, jedoch ſo, daß ein

ſolches Kind höchſtens einige Stunden oder Tage leben

könne. Wegen dieſer Unfähigkeit zur längeren Fortſetzung

des Lebens müſſe demſelben alle Rechtsfähigkeit, ſelbſt für

die kurze Zeit, worin es wirklich lebe, ganz abgeſprochen

werden. Um dieſe Behauptung prüfen zu können, iſt es

nöthig, zuvor einen ganz anderen, dem Familienrecht an-

gehörenden, Grundſatz darzuſtellen (a), welcher zu jener

Lehre die unſchuldige Veranlaſſung geweſen iſt.

 

(a) Es wird alſo hier, zum

Behuf der Unterſuchung über die

Vitalität, etwas vorweg abgehan-

delt, deſſen eigentliche Stelle erſt

in dem ſpeciellen Rechtsſyſtem,

und zwar bey der Entſtehung der

väterlichen Gewalt, geweſen wäre.

II. 25

|0400 : 386|

Beylage III.

Nach Römiſchem Recht tritt ein Kind mit der Geburt

in die väterliche Gewalt ein, wenn ſeine Erzeuger zur

Zeit der Erzeugung in einer nach Civilrecht gültigen Ehe

lebten (b). Dieſe faktiſche Bedingung der väterlichen Ge-

walt, von welcher ſo viele andere Rechte abhängen, läßt

ſich in folgende Elemente auflöſen: 1) natürliche Paterni-

tät, d. h. die Thatſache, daß ein beſtimmter Mann der

wahre Erzeuger des Kindes iſt, 2) natürliche Maternität,

3) gültige Ehe zwiſchen dem wahren Vater und der wah-

ren Mutter, 4) Daſeyn dieſer Ehe im Augenblick der Er-

zeugung. Von dieſen Vier Elementen macht das zweyte

und dritte keine Schwierigkeit: beide Thatſachen werden

in den ſeltenſten Fällen bezweifelt werden, und wo ſie

ſtreitig ſind, da iſt ein gewöhnlicher Beweis, ſo wie bey

jeder anderen ſtreitigen Thatſache, möglich und nöthig.

Anders verhält es ſich mit dem erſten und vierten Ele-

ment. Denn die Erzeugung iſt ein Naturgeheimniß, wel-

ches erſt nach geraumer Zeit in ſeinen Wirkungen zur Er-

ſcheinung kommt, und wofür ein eigentlicher Beweis nicht

etwa ſchwierig und ſelten, ſondern ganz undenkbar iſt (c).

Wie war nun dieſe Schwierigkeit im poſitiven Recht zu

behandeln? Man konnte etwas vorſchreiben, das einem

Beweiſe ähnlich ſah, wenn man den Richter anwies, nach

 

(b) pr. J. de patria pot. (1.

9.). Ulpian. V. § 1.

(c) Namentlich kann nicht das

Geſtändniß des Vaters, folglich

auch nicht die Eidesdelation (de

veritate), als Beweis gelten, weil

ja ſelbſt für den Vater ein ei-

gentliches Wiſſen dieſer Thatſache

nicht möglich iſt, ſondern nur

Glaube und Vertrauen, die im

Rechtsſtreit keine Beachtung fin-

den.

|0401 : 387|

Vitalität.

allen Umſtänden zu beſtimmen, von welchem Vater und

zu welcher Zeit das Kind wahrſcheinlich erzeugt ſeyn

möchte. Dieſe Behandlung aber erſcheint durch folgende

Betrachtungen als höchſt bedenklich. Erſtlich wegen der

großen Unſicherheit. Es moͤgen wohl Fälle vorkommen, in

welchen die äußerlichen Wahrſcheinlichkeitsgründe für oder

wider die Paternität ſo ſtark ſind, daß ſie auch einem Un-

befangenen faſt als Gewißheit erſcheinen müſſen. Allein dieſe

Fälle ſind da, wo überhaupt die Paternität Gegenſtand

eines Streites wird, gerade die ſeltneren, gewöhnlicher

wird eine ſo große Ungewißheit zurück bleiben, daß die

Entſcheidung nicht ohne ſehr freye richterliche Willkühr er-

folgen könnte (d). Zweytens aber wäre dieſe Willkühr

hier um ſo gefährlicher und unpaſſender, als es ſich gar

nicht um das perſönliche Intereſſe handelt, ſondern zu-

gleich um allgemeinere ſittliche Intereſſen: um die Ruhe

ganzer Familien, und um die Ehre der Frauen. Deswe-

gen hat das Römiſche Recht jenen Weg individueller Aus-

mittlung nach Wahrſcheinlichkeit gänzlich aufgegeben, und

(d) Man könnte einwenden,

dieſes beweiſe zu viel, denn bey

der in der Praxis angenomme-

nen Alimentenklage werde ja doch

ein ſolcher Beweis zugelaſſen, und

es gehe damit ganz gut. Dieſe

Behauptung aber wäre ganz irrig,

denn was bey dieſer Alimenten-

klage bewieſen werden ſoll, iſt gar

nicht die Erzeugung, ſondern die

davon völlig verſchiedene, ſehr

wohl erweisliche, Thatſache des

Beyſchlafs. Dieſe Thatſache für

ſich gilt nun als Grund der Obli-

gation, und nicht etwa, weil da-

durch eine Präſumtion der Er-

zeugung begründet wäre: denn

wollte man dieſe Präſumtion an-

nehmen, ſo würde man etwas

Unmögliches, folglich Widerſinni-

ges, präſumiren, nämlich daß daſ-

ſelbe Kind wahrhaft von mehre-

ren Vätern erzeugt ſeyn könne.

25*

|0402 : 388|

Beylage III.

dagegen folgenden Weg eingeſchlagen. Man geht aus

von der möglichen Dauer der Schwangerſchaft bis zur

Geburt eines lebenden Kindes. Dabey wird, nach Erfah-

rungsſätzen, angenommen, ein Kind könne lebendig gebo-

ren werden ſchon am 182ſten Tage nach der Erzeugung,

eben ſo aber auch weit ſpäter, und bis zum Ablauf des

zehenten Monats (e). Auf den Grund dieſer phyſiologi-

ſchen Regel wird nun von dem ſicheren Tag der Geburt

zurückgerechnet, zuerſt 182 Tage, dann Zehen Monate.

Dadurch entſteht ein Zwiſchenraum von Vier Monaten.

(e) L. 3 § 11. 12 de suis (38.

16.) „Post decem menses mor-

tis natus, non admittetur ad le-

gitimam hereditatem. — De eo

autem, qui centesimo octoge-

simo secundo die natus est,

Hippocrates scripsit, et D. Pius

pontificibus rescripsit, justo

tempore videri natum: nec vi-

deri in servitute conceptum,

cum mater ipsius ante cente-

simum octogesimum secundum

diem esset manumissa.” Die

zehen Monate gründen ſich auf die

XII Tafeln (Gellius III. 16),

und man hat ſie in die vierte

Tafel aufgenommen. Die 182

Tage werden in der Stelle ſelbſt

durch Hippokrates und ein Re-

ſcript von Antonin gerechtfertigt.

Man hat gefragt, was mit die-

ſer Sache die pontifices zu ſchaf-

fen hatten? Cujacius meynt, dieſe

hätten die Aufſicht buf ächte Ge-

burten gehabt (in L. 38 de V.

S. Opp. VIII. 519), was mir eine

zu moderne Anſicht ſcheint. Die

Stelle ſelbſt ſagt ja aber deut-

lich, daß von dem Sohn einer

Sklavin die Rede war: ohne

Zweifel wollte dieſer einen Opfer-

dienſt oder eine Prieſterwürde an-

nehmen, wozu nur Freygeborene

fähig waren. Über die Zahl 182

vgl. unten § 181 Note h. — L. 12

de statu hom. (1. 5.). „Septi-

mo mense nasci perfectum

partum, jam receptum est pro-

pter auctoritatem doctissimi

viri Hippocratis: et ideo cre-

dendum est, eum qui ex justis

nuptiis septimo mense natus

est, justum filium esse.” Per-

fectus partus kann in dieſem Zu-

ſammenhang nur heißen, ein

wirkliches, lebendes Kind, im Ge-

genſatz des abortus; was es au-

ßerdem noch heißen könnte, wird

unten (Note y) angegeben wer-

den. — Endlich beweiſt dafür die

alte Rechtsregel, daß die Wittwe

erſt zehen Monate nach des Man-

|0403 : 389|

Vitalität.

Wenn innerhalb dieſer Vier Monate, oder innerhalb eines

Theiles derſelben, die erweisliche Mutter eines Kindes in

einer Ehe gelebt hat, ſo iſt der Ehegatte der präſumtive

Vater des Kindes, außerdem hat dieſes Kind, juriſtiſch

zu reden, keinen Vater (f). Das iſt der wahre Sinn der

wichtigen Rechtsregel: Pater is est quem nuptiae demon-

strant (g). Dieſe Präſumtion gilt für und wider den Va-

ter, ſo daß jeder Theil ſich darauf berufen kann, der ein

nes Tod eine neue Ehe ſchließen

dürfe, weil ſonſt eine sanguinis

turbatio zu befürchten wäre. L. 11

§ 1 de his qui not. (3. 2.). L. 2

C. de sec. nupt. (5. 9.). — Eine

einzelne Anwendung findet ſich

noch in Nov. 39 C. 2, worin Ju-

ſtinian in den ſtärkſten Ausdrük-

ken die Wittwe zurückweißt, die

ein elf Monate nach des Mannes

Tod gebornes Kind vorbrachte.

(f) Nämlich nach der reinen

Regel des älteren Rechts. Das

neuere Recht hat hierin zwey, die

Legitimität erleichternde, Modi-

ficationen angenommen: 1) Wenn

das Kind auch früher, als 182

Tage nach geſchloſſener Ehe, ge-

boren iſt, ſo ſoll es dennoch als

legitim gelten; das heißt, in die-

ſem Fall ſoll des Ehegatten An-

erkennung den mangelnden Zeit-

raum erſetzen. L. 11 C. de nat.

liberis (5. 27.). 2) Concubinen-

kinder (naturales) werden durch

nachfolgende Ehe legitimirt; auch

hier alſo erſetzt die Anerkennung

die ſonſt nur durch jenen Zeit-

raum zu begründende Präſum-

tion. L. 10. 11 C. de natur. li-

beris (5. 27.).

(g) L. 5 de in jus vocando

(2. 4.). Es heißt alſo nicht, wie

es Manche ganz unrichtig aus-

drücken: Pater is est quem ju-

stae nuptiae demonstrant. Man

hat hierbey eine zwiefache, ganz

verſchiedene, Einwirkung der Ehe

auf den Zuſtand der Kinder ver-

wechſelt. 1) Die in einer gewiſ-

ſen Zeit vorhandene Ehe begrün-

det die Thatſache der Paternität,

und dabey iſt es gleichgültig, ob

es justae nuptiae ſind oder nicht,

ſo daß z. B. auch der Römiſche

Bürger, der eine peregrina zur

Ehe nahm, als wahrer Vater ſei-

ner ehelichen Kinder galt. Nur

verboten darf die Ehe nicht

ſeyn, z. B. wegen Inceſt, denn

ſonſt iſt ſie nichtig, d. h. ſie exi-

ſtirt nicht, und die Kinder ſind

nicht dieſes Mannes Kinder. § 12

J. de nupt. (1. 10.). 2) Iſt die

Ehe zugleich auch Civilehe, ſo tritt

die wichtigere Folge hinzu, daß

die Kinder in väterlicher Gewalt

gehoren werden.

|0404 : 390|

Beylage III.

Intereſſe dabey hat. Durch die aus den Umſtänden her-

vorgehende Wahrſcheinlichkeit braucht ſie nicht unterſtützt

zu werden, es iſt aber auch nicht zuläſſig, ſie deshalb

anzufechten. Vielmehr gilt ſie allein als vollſtändiger Be-

weis, und ſie kann nur entkräftet werden durch den Be-

weis der völligen Unmöglichkeit, welche namentlich aus

einer langen, ununterbrochenen Abweſenheit des Mannes

hervorgeht (h). — Ob nun die phyſiologiſchen Voraus-

ſetzungen jener Regel richtig ſind, kann hier natürlich nicht

unterſucht werden. Für höchſt wohlthätig aber muß man

die in ihr liegende Abwehr individueller Beurtheilung er-

kennen, wenn man ſieht, wie ſchwankend und widerſpre-

chend die ſowohl in theoretiſchen Schriften, als in Gut-

achten mediciniſcher Facultäten, ausgeſprochenen Meynun-

gen der Phyſiologen ſind (i). Zu loben iſt beſonders auch

(h) Wäre alſo z. B. ein am

182ſten Tage geborenes Kind völ-

lig ausgewachſen, ſo daß man

ſeine Erzeugung vor der Ehe an-

nehmen könnte, ſo müßte es den-

noch als Kind dieſes Ehegatten

gelten; wäre es umgekehrt vor je-

nem Zeitpunkt geboren, ſo brauchte

derſelbe es nicht als ſein Kind an-

zuerkennen, ſelbſt wenn die Ärzte,

wegen des ſehr unreifen Zuſtan-

des, eine Erzeugung in der Ehe

für möglich hielten. Eben ſo,

wenn ein Kind beynahe Zehen

Monate nach des Ehemannes Tod

geboren wird, ſo kann der un-

reife Zuſtand deſſelben nicht als

Grund gegen die eheliche Erzeu-

gung gelten. — Die gewöhnliche

Meynung iſt dieſen Behauptun-

gen ganz entgegen. Hofacker

T. 1 § 544. Struben rechtl.

Bedenken B. 5 Num. 86. Vol-

lends kann der Beweis eines be-

gangenen Ehebruchs jene Präſum-

tion gar nicht entkräften.

(i) Unter anderen darf man ſich

auch nicht dadurch täuſchen laſſen,

daß manche mediciniſche Schrift-

ſteller irgend einen Zeitraum, vor

welchem eine vitale Geburt un-

möglich ſey, als völlig gewiß an

die Spitze ſtellen; denn hinterher

nehmen ſie doch oft an, daß es

Abnormitäten gebe, Fälle in wel-

chen ein ſehr unreifes Kind durch

|0405 : 391|

Vitalität.

der bedeutende Umfang des angenommenen Zeitraums.

Zwar kann unter deſſen Schutz manches wirklich unehe-

liche Kind die Rechte eines ehelichen erlangen; allein

theils iſt die Gefahr eines entgegengeſetzten Unrechts an

ſich wichtiger, theils iſt jene Gefahr doch nur gering in

Vergleichung mit der Gefahr, daß mitten in einer Ehe

Kinder in der That von einem fremden Vater erzeugt

werden, die dennoch als ehelich gelten: und dieſer letzten,

größeren Gefahr kann und ſoll nicht entgegengearbeitet

werden, weil jeder Verſuch dazu weit größere Übel mit

ſich führen würde.

Dieſes Alles iſt nun in unſren Rechtsquellen klar und

ſicher beſtimmt, und auch unſre Schriftſteller haben es

nie völlig verkannt, obgleich nicht ſelten durch mangel-

 

ganz ungewöhnliche, künſtliche

Sorgfalt gerettet worden ſey. So

erzählt Oeltze de partu vivo vi-

tali § 37 aus namhaften Schrift-

ſtellern zwey ſehr merkwürdige

Fälle; in einem derſelben hatte

eine Frau ein Kind geboren, und

genau Sechs Monate ſpäter ein

zweytes, das am Leben erhalten

wurde; dieſes war doch gewiß we-

niger als 182 Tage im Mutter-

leibe geweſen. Über die ſehr aus

einander gehenden Meynungen der

Ärzte vgl. Glück B. 28 S. 129 fg.

— Beſonders erfreulich iſt mir

die Übereinſtimmung der hier dar-

gelegten Anſichten mit der Mey-

nung eines der geachtetſten medi-

ciniſchen Schriftſteller: A. Henke

von den Früh- und Spät-Gebur-

ten, Abhandlungen aus dem Ge-

biet der gerichtlichen Medicin B. 3

p. 241—307. Zwar ſtellt er nor-

male Gränzen möglicher Schwan-

gerſchaft auf (p. 265. 284), allein

er räumt ein, daß anomaliſche

Fälle vorkämen, wodurch alle Ge-

wißheit zerſtört werde (p. 271.

292 fg.). Sein Reſultat iſt das

entſchiedendſte Lob der Geſetzge-

bung, namentlich des Römiſchen

Rechts, worin durch poſitive Re-

geln die Unſicherheit individueller

Beurtheilung ausgeſchloſſen wird

(p. 271—274, 303—304). Ins-

beſondere billigt er auch die an-

ſehnliche Ausdehnung des im R.

R. angenommenen Zeitraums.

|0406 : 392|

Beylage III.

hafte Sonderung der in einander greifenden Begriffe und

Regeln ohne Noth verdunkelt, oder auch durch Ausnah-

men in einzelnen Fällen zu ſchwächen verſucht. Aber ſie

ſind dabey nicht ſtehen geblieben, ſondern ſie haben in fol-

genden Sätzen darauf weiter fortgebaut. Wenn es ein-

mal vorkäme, ſagen ſie, daß ein Kind vor dem 182ſten

Tage nach ſeiner Erzeugung dennoch lebend geboren würde,

ſo würde es, wenigſtens nach der geſetzlich anerkannten

phyſiologiſchen Regel, unfähig ſeyn, das Leben längere

Zeit fortzuſetzen, und daher können wir ihm auch keine

Rechte zuſchreiben. Zur Rechtsfähigkeit gehört alſo nicht

nur Leben des Geborenen, ſondern auch Lebensfähig-

keit oder Vitalität, ſo daß das wegen Unreife nicht

lebensfähige Kind keine Rechte hat, vielmehr einem todt

geborenen, einem abortus, gleich zu achten iſt (k). —

Bevor dieſe Lehre von Grund aus geprüft werden

kann, iſt es nöthig, noch eine beſondere Modification

derſelben zu erwähnen. Sie iſt nämlich zuweilen noch

dahin weiter ausgebildet worden, daß man ſagte, die

im ſiebenten Monat geborenen Kinder ſeyen lebensfähig,

die im achten wieder nicht (l). Doch iſt dieſe neue Ver-

(k) So wird es geradezu aus-

gedrückt von Haller Vorleſun-

gen über die gerichtl. Arzneiwiſ-

ſenſchaft B. 1. Bern 1782 Kap. 9

§ 3. 7, und von Oeltze de partu

vivo vitali § 15. 19.

(l) Cujacius in Paulum IV. 9

§ 5: „Qui ante septimum, vel

octavo mense prodeunt, imper-

fecti sunt nec vitales. Nono

autem, et decimo, et undecimo

a conceptionis die legitimi par-

tus fiunt.” Er ſieht es als prak-

tiſches Recht an, und bezieht es

offenbar auch auf die Rechtsfä-

higkeit. — Wie dieſes einmal in

|0407 : 393|

Vitalität.

wicklung in ſpäteren Zeiten meiſt aufgegeben wor-

den (m).

Ich will nun verſuchen zu zeigen, daß jene Lehre von

der Vitalität als Bedingung der Rechtsfähigkeit in un-

ſrem Recht durchaus keinen Grund hat.

 

Sie muß verworfen werden nach dem allgemeinen Be-

griff der Rechtsfähigkeit. Denn dieſe iſt gebunden an das

bloße Daſeyn jedes lebenden Menſchen, ohne Rückſicht auf

deſſen Ausſicht, dieſes Daſeyn länger oder kürzer fortzu-

ſetzen. Welches wäre der Grund einer Einſchränkung von

dieſer Seite, und wo wäre die Gränze?

 

Sie iſt verwerflich, wenn wir auf den Inhalt unſrer

Rechtsquellen ſehen. Die Veranlaſſung dazu war augen-

ſcheinlich die wirklich Römiſche Regel von den 182 Ta-

gen, aber eine Rechtfertigung jener Lehre liegt in dieſer

Regel gewiß nicht. Denn die Römer wenden die 182

Tage lediglich an, um die Vermuthung der Paternität zu

begründen, aber gar nicht, wie jene Rechtslehrer wollen,

um manche lebende Menſchen von dem Genuß menſchli-

cher Rechte auszuſchließen. Die Stellen, die offenbar un-

ſre Frage am nächſten berühren, ſind die L. 2. 3 C. de

posthumis (6. 29.). Dieſe ſagen, das Kind habe Rechts-

fähigkeit unmittelbar nach der vollendeten Geburt, auch

ſelbſt wenn es im nächſten Augenblick (illico) ſterbe, z. B.

noch in den Händen der Geburtshelferin. Hier lag es

 

Rom Gegenſtand eines Rechts-

ſtreits wurde, wird unten aus

Gellius bemerkt werden.

(m) Haller a. a. O. § 9.

|0408 : 394|

Beylage III.

doch gewiß ſehr nahe zu unterſcheiden, ob dieſer ſchnelle

Tod erfolge aus Mangel innerer Lebenskraft (Vitalität),

oder aus äußeren Urſachen: von dieſer Unterſcheidung aber

finden wir kein Wort, alſo war ſie gewiß auch nicht im

Sinn des Geſetzgebers. — Die Gründe, welche von den

Gegnern aus den Quellen angeführt werden, ſind unge-

mein ſchwach, und beruhen meiſt auf einem augenſchein-

lichen Zirkel: es wird davon noch unten, bey der Über-

ſicht der Schriftſteller, die Rede ſeyn.

Jene Lehre entbehrt ferner ſelbſt die Möglichkeit einer

wahren, eigentlichen Anwendung. Nicht lebensfähig, ſagt

man, iſt das Kind, das früher als 182 Tage nach ſeiner

Erzeugung geboren wird. Aber woher erfahren wir denn

den Tag der Erzeugung? Gerade weil wir ihn nicht

wiſſen können, haben die Römer das Zurückrechnen von

dem bekannten, gewiſſen Tag der Geburt vorgeſchrieben.

Um aus dieſem offenbaren Zirkel heraus zu kommen, ha-

ben Jene nur Ein Mittel, welches auch gewiß in ihrer

Meynung liegt. Sie müſſen die Ärzte herzu rufen, und

dieſe müſſen erklären: Das Kind ſieht ſo unreif aus, daß

es nicht 182 Tage im Mutterleibe geweſen ſeyn kann,

und daraus ſchließen wir, daß es nicht lebensfähig iſt.

Bey dieſer Behandlung der Sache iſt aber die Zahl der

Tage ganz unnütz in die Mitte geſchoben, ſie dient nur

dazu, die voͤllige Willkührlichkeit zu verhüllen, und es

wäre viel natürlicher, die Ärzte gleich unmittelbar erklä-

ren zu laſſen: das Kind ſieht ſo unreif aus, daß es we-

 

|0409 : 395|

Vitalität.

gen dieſer ſeiner ſichtbaren Beſchaffenheit unmoͤglich lange

leben kann; ja das ärztliche Zeugniß iſt mit jener ge-

nauen Zeitbeſtimmung unvereinbar, und kann daher un-

möglich in der Abſicht der Urheber unſrer Rechtsregel ge-

legen haben. Denn welcher Arzt möchte wohl die An-

maßung haben zu bezeugen, das ihm vorgezeigte Kind ſey

genau 181 Tage im Mutterleibe geweſen, nicht 182 oder 183?

Nach dieſer neuen Wendung wird es aber auch recht klar,

welche gefährliche und ſchwankende individuelle Beurthei-

lung ganz ohne Noth in die Sache hinein gezogen wird:

alſo gerade dasjenige Übel, welches im Römiſchen Recht

in einer anderen Beziehung durch die Vermuthung der Pa-

ternität recht abſichtlich abgewehrt werden ſollte. Man

wende nicht ein, das Leben des Kindes müſſe doch, auch

nach unſrer Behauptung, bewieſen werden, warum nicht

die Lebensfähigkeit? Gerade hierin iſt der Unterſchied

recht auffallend. Das Leben iſt meiſt Gegenſtand ſinnli-

cher Wahrnehmung, kann alſo wie jede andere Thatſache

durch gewöhnliches Zeugniß ohne Gefahr erwieſen wer-

den; das Urtheil über die Lebensfähigkeit müßte nach wiſ-

ſenſchaftlichen Regeln gefällt werden, über welche die

Ärzte ſelbſt im höchſten Grade uneinig ſind. — Dabey iſt

noch zu bemerken, daß Jene bey der Anwendung ihrer

Regel immer noch ſtillſchweigend die Bedingung hinzu den-

ken müſſen, daß das Kind nun auch wirklich gleich nach-

her geſtorben ſey. Denn wenn z. B. gleich nach der Ge-

burt ein genauer Thatbeſtand aufgenommen und an eine

|0410 : 396|

Beylage III.

mediciniſche Facultät zum Gutachen eingeſchickt würde,

nach mehreren Monaten gienge dieſes Gutachten ein, wel-

ches dem Kinde die Vitalität und Rechtsfähigkeit ab-

ſpräche, durch außerordentliche künſtliche Pflege aber wäre

in der That das Kind erhalten worden, das dann ſelbſt

ein höheres Alter erreichte, ſo würde doch wohl Niemand

die Vertheidigung jener Lehre ſo weit treiben wollen, ei-

nen Menſchen für rechtlos wegen mangelnder Lebensfähig-

keit zu erklären, der dieſe Fähigkeit durch die That be-

wieſen hätte (n).

Außerdem machen ſich viele Vertheidiger der Lehre von

der Vitalität noch folgender auffallenden Inconſequenz

ſchuldig. Geſetzt, es wird ein völlig reifes, ausgetrage-

nes Kind geboren, dieſes giebt auch die deutlichſten Le-

benszeichen, ſtirbt aber gleich nachher. Bey der Öffnung

der Leiche findet ſich ein ſolcher organiſcher Fehler, der

die längere Fortſetzung des Lebens völlig unmöglich machte.

Hier wird vielleicht der Mangel der Vitalität weit gewiſ-

ſer ſeyn, als bey bloßer Unreife, und doch wird für je-

nen Fall die Rechtsfähigkeit von den Meiſten nicht be-

ſtritten. Wollte man nun der Conſequenz wegen auch

hier jene Lehre durchführen, ſo würde dadurch freylich

die Gefahr der Willkühr, alſo die Rechtsunſicherheit, noch

um Vieles vermehrt werden.

 

Zu dieſer Inconſequenz geſellt ſich endlich noch eine

zweyte, nicht minder augenſcheinliche, welche ſich auf das

 

(n) Vgl. die oben in Note i erwähnten Fälle.

|0411 : 397|

Vitalität.

Verhältniß des Civilrechts zum Criminalrecht bezieht. Faßt

man die Sache ganz einfach auf, ſo müſſen Diejenigen,

welche im Civilrecht Lebensfähigkeit fordern, und außer

derſelben das Geborene als todt anſehen, auch im Crimi-

nalrecht die Möglichkeit eines Verbrechens gegen daſſelbe

gänzlich läugnen, da man an einem Leichnam kein Ver-

brechen begehen kann. Wer alſo im Civilrecht die Vita-

lität erfordert, und dennoch im Criminalrecht bey der

Tödtung eines nicht vitalen Kindes irgend eine Strafe

(wenngleich nicht die ordentliche Strafe der Toͤdtung) ein-

treten läßt, der iſt offenbar inconſequent. Im Criminal-

recht nun hat die Unterſuchung aus zwey Gründen eine

beſondere Wendung genommen. Erſtlich wegen des in

der Carolina vorkvmmenden Ausdrucks der Gliedmäßigkeit

(art. 131), welchen man ſehr häufig von der Vitalität

verſtanden hat. Zweytens weil man Gründe zu haben

glaubte, den eigentlichen Kindermord (d. h. die von der

Mutter unter gewiſſen Umſtänden verübte Tödtung) von

anderen Tödtungen zu unterſcheiden, und gelinder zu be-

handeln; daher wurde beſonders auch die mangelnde Vi-

talität benutzt, um von der Mutter die Strafe abzuwen-

den, zugleich aber verſäumt, die Frage auch für andere

Fälle der Tödtung neugeborener Kinder (z. B. durch die

Geburtshelferin) zu beantworten. Daß neuerlich manche

Criminaliſten die Vitalität von einem beſtimmten Zeitraum

unabhängig machen wollten, iſt nicht als etwas Beſonde-

res zu betrachten, da auch im Civilrecht, wie oben be-

|0412 : 398|

Beylage III.

merkt, der Zeitraum nur ſcheinbar, und das ärztliche Ur-

theil allein das wirkliche Moment iſt.

Im Einzelnen haben ſich die Meynungen der Crimi-

naliſten ſo geſtellt: Das eine Extrem geht dahin, die Le-

bensfähigkeit als einen weſentlichen Beſtandtheil des cor-

pus delicti anzunehmen, ſo daß bey dem Mangel derſel-

ben alle Strafe wegfallen müſſe. So lehrt Feuerbach,

jedoch nur bey dem eigentlichen Kindermord, und nur we-

gen des Ausdrucks der Carolina (o): wie er andere, ähn-

liche Fälle behandeln würde, läßt ſich nicht erſehen. Auf

die äußerſte Spitze getrieben iſt dieſe Meynung von Mit-

termaier (p). Ihm ſind lebensunfähig alle, die ihr Le-

ben nicht lange fortſetzen können, mag dieſes von frühzei-

tiger Geburt, oder von organiſchen Fehlern herrühren:

er rechnet dahin auch ſolche, die in einzelnen, von ihm

ſelbſt angeführten Fällen ihr Leben auf Vier, ja auf Zehen

Tage wirklich gebracht haben: jedes Kind dieſer Art kann

nicht „ein wahrhaft lebendiges genannt werden,“ es hat

nur „Erſcheinungen eines ſcheinbaren Lebens:“ „hier iſt

„es gewiß, daß ihm kein Leben geraubt wurde.“ Dieſer

Lehre, die ſich gar nicht auf den eigentlichen Kindermord

beſchränkt, iſt innerer Zuſammenhang nicht abzuſprechen;

aber ich muß zweifeln, ob ſich Mittermaier die ſehr weit

reichendr praktiſche Conſequenz derſelben deutlich gedacht

 

(o) Feuerbach § 237.

(p) Mittermaier, neues

Archiv des Criminalrechts B. 7

S. 316—323, beſonders S. 318

— 320.

|0413 : 399|

Vitalität.

hat. Um die ſchonende Rückſicht gegen die Kindermörde-

rinnen zu beſeitigen, wodurch die eigentliche Frage nur

verdunkelt werden kann, wollen wir annehmen, die Ge-

burtshelferin, von habſüchtigen Seitenverwandten gewon-

nen, habe das ganz ausgewachſene, unzweifelhaft lebende

Kind erdroſſelt. Dieſe muß, nach der eben dargeſtellten

Lehre, vor dem Criminalrichter völlig ſtraflos bleiben, ſo-

bald die Ärzte erklären, das Kind habe einen ſolchen or-

ganiſchen Fehler gehabt, daß es auch ohne den Zutritt je-

ner Handlung nicht lange hätte leben können; ſie kann

höchſtens disciplinariſch von der Medicinalbehörde beſtraft

werden. — Andere wollen im Fall der fehlenden Vitalität

nur die ordentliche Strafe ausſchließen, und auch dieſes

nur im Fall des eigentlichen Kindermords: an Straflo-

ſigkeit zu denken, alſo dem nicht vitalen Kind allen Schutz

der Geſetze zu entziehen, ſind ſie weit entfernt. Dahin

gehört beſonders Carzov, der eine mildere Behandlung

für dieſen Fall nur inſoweit eintreten läßt, daß die Kin-

desmoͤrderin mit einer härteren Strafe als der des Schwer-

tes verſchont werden könne (q). — Noch Andere endlich

nehmen auf die Lebensfähigkeit gar keine Rüchſicht, ſo daß

ſie bey der Tödtung des nicht vitalen Kindes ſelbſt die

ordentliche Strafe eintreten laſſen (r). — Nun iſt das Ver-

(q) Carpzov. pract.rer. crim.,

quaest. 11. Num. 37—43. Von

Neueren gehört dahin Püttmann

j. crim. § 339.

(r) Dahin gehören Folgende:

Martin Criminalrecht § 107.

122. Hencke Lehrbuch § 165.

Jarcke Handbuch B. 3 S. 277.

Spangenberg, neues Archiv

des Criminalrechts, B. 3 S. 28.

— Es ſcheint, daß man in dieſer

Unterſuchung nicht immer hinrei-

|0414 : 400|

Beylage III.

hältniß derjenigen Rechtslehrer, die im Civilrecht den nicht

vitalen Kindern die Rechtsfähigkeit abſprechen, zu dieſen

verſchiedenen Meynungen der Criminaliſten, folgendes. Neh-

men ſie Mittermaiers Meynung an, ſo ſind ſie conſequent:

laſſen ſie dagegen bey der Tödtung irgend eine Strafe zu,

ſey es die ordentliche oder eine außerordentliche, ſo ſind

ſie inconſequent, und das iſt die neue Inconſequenz, welche

hier hervorgehoben werden ſollte.

Wenn nun aus allen dieſen Gründen die Annahme der

Vitalität als Bedingung der Rechtsfähigkeit gänzlich ver-

worfen werden muß, ſo möchte man glauben, ſie wäre

überhaupt nur eine Erfindung neuerer Rechtslehrer, und

die Römer hätten daran gar nicht gedacht. Dieſes aber

läßt ſich nicht behaupten, vielmehr haben ſie dieſe Lehre

wohl gekannt. Dabey kann es am wenigſten auffallen,

wenn die nichtjuriſtiſchen Römiſchen Schriftſteller die hier

einſchlagenden Fragen nicht immer gehörig ſondern, na-

mentlich die zwey Fragen: wie viele Tage nach der Er-

 

chend unterſchieden hat: 1. den

Thatbeſtand, 2. den geſetzwidrigen

Willen. Wenn man das nicht vi-

tale Kind einem Leichnam gleich

achtet, ſo iſt Mittermaiers Mey-

nung richtig, und der Wille iſt

gleichgültig. Hält man es dage-

gen für einen lebenden Menſchen,

ſo kommt es nun noch auf den

Willen an. Wenn nämlich der

Handelnde die Lebensunfähigkeit

kannte, ſo hat allerdings ſein

Wollen einen milderen Character,

als im Fall der Lebensfähigkeit,

wo er mit Bewußtſeyn die ganze

fernere Entwicklung eines Men-

ſchenlebens zerſtört; von dieſem

Geſichtspunkt aus könnte Carp-

zov’s Meynung gegen den Vor-

wurf einer blos vermittelnden

Willkühr vertheidigt werden.

|0415 : 401|

Vitalität.

zeugung noͤthig ſeyen, damit das lebendig geborene Kind

fortleben könne? und wie lange ſich die Schwangerſchaft

überhaupt ausdehnen könne? Die Stellen der alten Schrift-

ſteller über dieſe Fragen, ſo weit ſie das Recht berühren,

ſind folgende.

Plinius hist. nat. Lib. 7 C. 4 (al. 5.): „Ante septimum

mensem haud unquam vitalis est. Septimo nonnisi

pridie posteriore plenilunii die aut interlunio con-

cepti nascuntur. Tralatitium in Aegypto est et oc-

tavo gigni. Jam quidem et in Italia tales partus

esse vitales, contra priscorum opiniones .... Masu-

rius auctor est, L: Papirium praetorem, secundo he-

rede lege agente, bonorum possessionem contra eum

dedisse, quum mater partum se XIII. mensibus di-

ceret tulisse, quoniam nullum certum tempus pa-

riendi statum videretur.”

Hier kommt zweymal der Ausdruck vitalis vor, ich

glaube aber nicht, daß er in unſrem Sinn gebraucht iſt,

nämlich für die Fähigkeit eines Lebenden, das Leben fort-

zuſetzen. Denn der Ausdruck ſteht ſo willkührlich abwechs-

lend mit nasci und gigni, daß er gewiß natürlicher von

der lebenden Geburt überhaupt (ohne jene feinere Unter-

ſcheidung) zu verſtehen iſt. Plinius will alſo ſagen: Kin-

der können lebendig geboren werden niemals vor dem ſie-

benten Monat nach der Erzeugung: im ſiebenten nur wenn

die Zeugung an gewiſſen, durch den Mondwechſel beſtimm-

ten, Tagen ſtatt fand: ob auch im achten, iſt zweifelhaft;

 

II. 26

|0416 : 402|

Beylage III.

in Ägypten hat man es ſtets angenommen, in Italien

erſt in neueren Zeiten. — Der Ausſpruch des Prätors

Papirius endlich gehört zu der ganz anderen Frage, wie

weit von der Geburt eines Kindes längſtens zurück ge-

rechnet werden dürfe, um noch die eheliche Erzeugung an-

zunehmen. — Nach dieſer Erklärung berührt die ganze

Stelle unſre gegenwärtige Streitfrage gar nicht.

Gellius Lib. 3 C. 16: „de partu humano .. hoc quo-

que venisse usu Romae comperi: Feminam bonis

atque honestis moribus, non ambigua pudicitia, in

undecimo mense, post mariti mortem, peperisse;

factumque esse negotium propter rationem tempo-

ris, quasi marito mortuo postea concepisset, quo-

niam decemviri in decem mensibus gigni hominem,

non in undecimo scripsissent: sed D. Hadrianum,

causa cognita, decrevisse in undecimo quoque mense

partum edi posse; idque ipsum ejus rei decretum

nos legimus .... Memini ego Romae accurate hoc

atque solicite quaesitum, negotio non rei tunc par-

vae postulante, an octavo mense infans ex utero vi-

vus editus et statim mortuus jus trium liberorum

supplevisset; quum abortio quibusdam, non partus,

videretur mensis octavi intempestivitas.” (Hierauf

folgt denn noch wörtlich angeführt die Stelle aus

Plinius über den Prätor L. Papirius).

Der Rechtsſtreit über den elften Monat berührt wie-

der nicht unſre Frage: dagegen iſt ſehr merkwürdig der

 

|0417 : 403|

Vitalität.

über den achten. Denn hier iſt genau unſer Fall bezeich-

net: ein lebendes, alsbald verſtorbenes Kind, wovon eine

Partey behauptete, es ſey als Achtmonatkind nicht lebens-

fähig geweſen, und deswegen gar nicht als lebendige Ge-

burt anzurechnen. Die Entſcheidung erzählt er leider nicht.

Vorzüglich bemerkenswerth iſt aber noch der Umſtand, daß

der Rechtsſtreit gar nicht die Rechtsfähigkeit des Kindes,

ſondern das jus liberorum der Mutter, zum Gegenſtand

hatte. Ja wir können dieſe Angabe mit ziemlicher Sicher-

heit noch ergänzen: der Rechtsſtreit wird ſich nicht bezo-

gen haben auf eine Strafabwendung fuͤr die Mutter (denn

dabey wurden ſelbſt monstra mitgerechnet, alſo gewiß auch

todtgeborene Kinder) (s), ſondern auf eine an das jus li-

berorum geknüpfte Belohnung.

Die wichtigſte Stelle endlich iſt die des Paulus, worin

er die Bedingungen aufzählt, unter welchen die Frauen

durch das jus liberorum zur Erbfolge nach dem Sc. Ter-

tullianum (einer der wichtigſten Belohnungen) fähig werden.

 

Paulus Lib. 4 Tit. 9 ad Sc. Tertullianum § 1. „Matres

tam ingenuae, quam libertinae, ut jus liberorum con-

secutae videantur, ter et quater peperisse sufficiet,

dummodo vivos, et pleni temporis pariant.”

§ 5. „Septimo mense natus matri prodest: ratio enim

Pythagorei numeri hoc videtur admittere, ut aut

septimo pleno, aut decimo mense partus maturior (t)

videatur.”

(s) S. v. § 61. Note s.

(t) Die ed. princeps. (Paris.

26*

|0418 : 404|

Beylage III.

Dieſe Stelle bezieht ſich ganz auf die Vitalität, da

ſie vivos et pleni temporis fordert, alſo die Möglichkeit

lebendiger und doch unreifer (nicht vitaler) Kinder voraus-

ſetzt. Man kann auch nicht etwa ſagen, das pleni tem-

poris deute an, daß ſogar superstites zur Zeit der Erb-

folge gefordert würden, denn das wird anderwärts ent-

ſchieden verneint (u): eben ſo wenig, daß eheliche Kinder

verlangt würden, und daß ſich das plenum tempus auf

die Vermuthung der Zeugung in der Ehe bezöge, denn

auf die Legitimität der Kinder wurde bey dem jus libero-

rum der Frauen überhaupt nicht geſehen, und namentlich

nicht bey dem gegenſeitigen Erbrecht zwiſchen der Mutter

und ihren Kindern (v). — Paulus will alſo ohne Zweifel

ſagen, jedes der drey Kinder müſſe nicht blos lebendig

geboren, ſondern auch, nach der Zeit der Schwanger-

ſchaft, vital (pleni temporis) geweſen ſeyn, damit ſich

die Mutter darauf berufen könne. Er ſetzt alſo offenbar

voraus, daß die vielleicht kürzere Zeit der Schwanger-

ſchaft entweder durch das Gutachten der Sachverſtändi-

gen ausgemittelt werde, oder durch das eigene Geſtänd-

niß der Mutter, dem man zu ihrem Nachtheil wohl glau-

ben müßte. Aber welches iſt nun jene Zeit, die er als

plenum tempus fordert? Das ſagt er deutlich im § 5:

das Kind muß wenigſtens im ſiebenten Monat geweſen

 

1525) lieſt maturus, was einfacher

und natürlicher iſt als maturior;

auf unſre Frage hat das keinen

Einfluß.

(u) Paulus IV. 9 § 9.

(v) Paulus IV. 10 § 1.

|0419 : 405|

Vitalität.

ſeyn, das heißt die Schwangerſchaft muß über Sechs

volle Monate gedauert haben, und dieſe Angabe über das

praktiſche Recht ſtimmt vollkommen überein mit dem Mi-

nimum, welches bey der Vermuthung der Paternität von

Ulpian und von Paulus ſelbſt in anderen Stellen ange-

geben wird (Note e), nämlich mit den 182 Tagen. So

weit iſt Alles klar und zuſammenhängend; es entſteht aber

eine große Schwierigkeit dadurch, daß Paulus im § 5.

die Angabe des ſiebenten Monats durch die Autorität des

Pythagoras unterſtützen will; denn nach Pythagoras, ſagt

Paulus, werde ein reifes Kind geboren ant septimo pleno,

aut decimo mense. Dieſes ſtimmt nicht mit den vorher-

gehenden Worten, noch mit der oben angegebenen Regel,

nach welchen ſchon der Anfang des ſiebenten Monats hin-

reicht. Deswegen hat Noodt folgende mäßige Emenda-

tion vorgeſchlagen, die ſeitdem noch durch eine verglichene

alte Handſchrift unterſtützt worden iſt: ut aut septimo,

aut pleno decimo mense (w); dadurch entſteht eine ſchein-

bare Übereinſtimmung mit der Regel Ulpians von dem

Zwiſchenraum zwiſchen 182 und 300 Tagen. Aber doch

nur eine ſcheinbare, da pleno decimo mense nicht heißt:

im ganzen Lauf des zehenten Monats (ſey es im Anfang,

in der Mitte, oder am Ende deſſelben), wie es der Re-

gel Ulpians gemäß ſeyn würde, ſondern genau am Ende

deſſelben (ſo viel als completo decimo mense), ſo daß

(w) Noodt ad Pandectas Lib. 1

Tit. 6. — Die Leſeart der Hand-

ſchrift iſt angegeben in der Bonner

Quartausgabe, appendix p. 187.

|0420 : 406|

Beylage III.

ein Kind aus der Mitte des zehenten Monats nicht gelten

würde. — In der That liegt die Loͤſung der Schwierig-

keit auf einem andern Punkte. Das aut septimo pleno,

aut decimo mense giebt Paulus gar nicht als praktiſches

Recht an, ſondern lediglich als die Meynung des Pytha-

goras. Dieſe Meynung nun kennen wir glücklicherweiſe

ſehr genau aus einem anderen Schriftſteller (x). Nach

ihr kann ein Kind lebendig geboren werden nur an zwey

einzelnen Tagen, durchaus nicht in der Zwiſchenzeit, näm-

lich nur am 210ten Tage ſeit der Zeugung (aut septimo

pleno), und am 274ſten Tage (aut decimo mense); das

eine iſt der minor partus oder septemmestris, das andere

der major oder decemmestris. Dieſes beweiſt er durch

eine ſehr wunderliche, verwickelte Rechnung, die aber in

ſich ſelbſt ſo genau zuſammenhängt, daß an ein Misver-

ſtändniß dabey gar nicht zu denken iſt. Daß auch Pau-

lus dieſe Lehre eben ſo aufgefaßt hat, ergiebt ſich aus der

Übereinſtimmung der Reſultate, und insbeſondere auch aus

dem aut-aut bey Paulus, welches ſehr gut zu zwey ein-

zelnen alternativ gültigen Tagen, aber gar nicht zu zwey

Endpuncten mit einem eben ſo gültigen langen Zwiſchen-

raum paßt. Vergleicht man nun aber die Regel des Py-

thagoras mit der auch von Paulus anerkannten Regel des

Römiſchen Rechts, ſo zeigt ſich eine völlige Verſchieden-

(x) Censorinus de die natali

Cap. 11. Ich verdanke dieſe Er-

klärung des Paulus aus Cenſo-

rinus (der bey Schulting zwar

citirt aber nicht benutzt war) der

Mittheilung meines Freundes

Lachmann.

|0421 : 407|

Vitalität.

heit, indem Pythagoras eine lebendige Geburt erſt mit

dem 210ten Tage als möglich annimmt, das Römiſche

Recht aber (und gerade Paulus ſelbſt, in dieſer unſrer

Stelle) ſchon einen vollen Monat früher, und zwar ohne

Beſchränkung auf einen beſtimmten einzelnen Tag. Hier-

aus folgt alſo, daß bey Paulus die Berufung auf die

Autorität des Pythagoras Nichts iſt, als eine unnütze,

ja ſelbſt verkehrt angebrachte Gelehrſamkeit: verkehrt, weil

die Regel des Römiſchen Rechts und die des Pythagoras

in der That ganz verſchieden ſind, und auch nach der

Angabe des Paulus Nichts mit einander gemein haben,

als die gleichlautenden (aber in verſchiedenem Sinn ge-

brauchten) Worte septimo mense.

Aus dieſer Unterſuchung ergiebt ſich Folgendes. Paulus

ſagt, ein zwar lebendes, aber nicht lebensfähiges (d. h.

nicht wenigſtens ſiebenmonatliches) Kind kann nicht mitge-

rechnet werden unter die drey Kinder, durch welche die

Mutter einen Anſpruch auf das Sc. Tertullianum erwirbt.

Man könnte zweifeln, ob dieſes etwa nur eine Meynung

dieſes einzelnen Juriſten geweſen ſey; ich glaube dieſes

nicht, weil Gellius von einem Rechtsſtreit erzählt, der

ſogar ein Kind des achten Monats betraf; es ſcheint alſo

vielmehr, daß die Anfangs ſchwankende Meynung ſich zu-

letzt zu der feſten Regel ausgebildet hat, wodurch nur die

vor dem Anfang des ſiebenten Monats der Schwangerſchaft

geborenen Kinder nicht mitzählen ſollten. Aber bey Paulus

und bey Gellius betrifft jene Regel lediglich die Begrün-

 

|0422 : 408|

Beylage III.

dung des jus liberorum, und zwar bey Paulus gewiß (was

bey Gellius unentſchieden bleibt) nur bey Veranlaſſung der

Belohnungen. Dagegen haben wir durchaus keinen Grund

anzunehmen, daß Paulus oder irgend ein anderer Juriſt

das Erforderniß der Vitalität auch auf die eigene Rechts-

fähigkeit des lebend geborenen Kindes ſelbſt angewendet

hätte (y).

Was folgt nun aus dieſem Allen für die gewöhnliche

Lehre von der Vitalität in Beziehung auf das Juſtinianiſche

Recht? Nicht das Geringſte, vielmehr noch ein neuer Grund

gegen dieſelbe. Von dem jus liberorum war jetzt ohnehin

nicht mehr die Rede. Bey der Rechtsfähigkeit des Kindes

war auch früher das Erforderniß der Vitalität, ſo viel

wir wiſſen, nicht aufgeſtellt worden. Hätten es aber auch

einige ältere Juriſten behauptet, ſo wäre es nur um ſo

gewiſſer, daß die Compilatoren dieſe Lehre mit Abſicht

verworfen hätten, indem dieſelbe in unſere Rechtsbücher

nicht aufgenommen iſt, und ihr vielmehr der ganz allge-

meine Ausdruck der entſcheidendſten Stellen des Codex ge-

radezu entgegen ſteht (z).

 

(y) Wenn derſelbe Paulus an-

derwärts ſagt: septimo mense

nasci perfectum partum (Note e),

ſo iſt das perfectum partum an

ſich zweydeutig, da es ſowohl für

vivum (fähig zur lebendigen Ge-

burt) als für vitalem (fähig zur

längern Fortſetzung des Lebens)

gebraucht ſeyn könnte; allein

aus den folgenden Worten iſt es

klar, daß er dort jene Regel le-

diglich wegen der Vermuthung der

Paternität aufſtellt, bey welcher

ohnehin von Vitalität gar nicht

die Rede iſt.

(z) L. 2. 3 C. de posthumis

(6. 29.).

|0423 : 409|

Vitalität.

Die Meynungen und Gründe der Rechtslehrer über

dieſe Streitfrage darzuſtellen, iſt deswegen ſchwierig, weil

die Meiſten ſelbſt keine klare Vorſtellung von der Sache

gehabt haben. Sie verwirren nämlich ſtets die Vitalität

als Bedingung der Rechtsfähigkeit mit der Vermuthung

für die Paternität, und unterſcheiden daher nicht den zwie-

fachen Einfluß, den man dem Urtheil der Arzte möglicher-

weiſe einräumen kann: erſtlich, wenn die Frage entſteht,

ob ein gleich nach der Geburt verſtorbenes Kind Rechte

gehabt hat; zweytens, wenn bey einem fortlebenden Men-

ſchen die eheliche Erzeugung beſtritten wird (aa). Nach

unſrer Meynung haben in beiden Fällen die Ärzte gar

nicht mitzuſprechen: nicht im erſten Fall, weil das Kind,

das nur einen Augenblick nach der Geburt wirklich lebte,

immer Rechte hat; nicht im zweyten Fall, weil das poſitive

 

(aa) Bey einem Rechtsſtreit

über die eheliche Erzeugung wird

die Vitalität gewöhnlich gar nicht

zur Sprache kommen, weil meiſt

von einem ſolchen Kind die Rede

ſeyn wird, das in der That län-

ger fortgelebt hat, ja vielleicht den

gegenwärtigen Rechtsſtreit in ei-

gener Perſon führt; einem ſolchen

die Vitalität zu beſtreiten würde

einigermaßen lächerlich ſeyn. Da-

gegen können allerdings ſeltnere

Fälle vorkommen, worin beide

Streitfragen zugleich zu entſchei-

den ſind. Wir wollen annehmen,

daß ein Mann heirathet, wenige

Monate nachher ſtirbt, und kurz

darauf die Wittwe ein Kind zur

Welt bringt, welches nur einen

Tag lebt. Wenn jetzt die Wittwe

behauptet, die Erbſchaft des Man-

nes ſey ipso jure dem Kinde

erworben, und ſie wolle nun das

Kind beerben, ſo können die bei-

den Fragen neben einander vor-

kommen: 1) war das Kind vital,

alſo rechtsfähig? 2) iſt nach der

Zeit ſeiner Geburt die eheliche

Erzeugung zu vermuthen, ſo daß

das Kind den Verſtorbenen beer-

ben konnte? Allein beide Fragen

ſind dennoch auch in einem ſolchen

Falle von einander unabhängig,

und ihre Beantwortung muß aus

ganz verſchiedenen Gründen er-

folgen.

|0424 : 410|

Beylage III.

Recht darüber feſte Regeln aufgeſtellt hat, ohne Zweifel

gerade um die Gefahr individueller Beurtheilung auszu-

ſchließen (bb). Aber welche Meynung man auch über beide

Fragen annehmen möge, ſo iſt doch unläugbar, daß ohne

genaue Sonderung dieſer Fragen ſelbſt eine gründliche Ein-

ſicht nicht gewonnen werden kann.

In der hier gerügten Verwirrung der Begriffe werden

alle Anderen weit übertroffen von Glück, der ſich aber

hier, wie gewöhnlich, ſehr brauchbar zeigt durch die reich-

haltige Angabe von Schriftſtellern, ſowohl mediciniſchen

als juriſtiſchen (cc).

 

Als ſichere Vertheidiger der Lehre von der Vitalität

können Folgende genannt werden:

 

1) Alph. a Caranza de partu naturali et legitimo

Cap. 9. Er ſetzt ſtillſchweigend, ohne Unterſuchung, voraus,

die Vitalität ſey Bedingung der Rechtsfähigkeit, und un-

terſucht blos die Frage, mit welchem Monat der Schwan-

gerſchaft die Rechtsfähigkeit anfange. Ganz willkührlich

nimmt er vielfachen Widerſtreit der alten Juriſten unter

ſich, und des neueren Rechts mit dem älteren an, und

nachdem er ſich höchſt ſchwerfällig dieſer ſelbſtgeſchaffenen

Schwierigkeiten zu erwehren geſucht hat, kommt er endlich

Num. 37. 38 auf das überraſchendſte Reſultat, Kinder im

fünften und ſechſten Monat der Schwangerſchaft geboren

 

(bb) S. o. Rote h. — Bey

neueren Schriftſtellern freylich ge-

hen auch hier die Meynungen ſehr

aus einander, wobey meiſt dieſe

Frage mit der Frage nach der

Vitalität verwirrt wird.

(cc) Glück B. 2 § 115. 116.

B. 28 § 1287 e.

|0425 : 411|

Vitalität.

ſeyen vital und rechtsfähig, die im dritten und vierten

aber nicht.

2) G. E. Oeltze de partu vivo vitali et non vitali

Jenae 1769. Er vertheidigt beſtimmt die Regel, daß das

nicht vitale, d. h. das vor dem ſiebenten Monat geborene

Kind keine Rechte habe; man findet bey ihm klare Begriffe,

und manches ſchätzbare literariſche Material. Aber die

Beweiſe für ſeine Behauptung ſind freylich unglaublich

ſchwach. Ich will ſie kurz zuſammenſtellen:

 

a) Ein nicht vitales Kind kann ſeinen Nebenmenſchen

Nichts nützen, iſt daher einem todtgeborenen gleich (§ 15).

 

b) L. 12 de statu hom. (1. 5.). Hier erklärt er das

septimo mense nasci perfectum partum durch vitalem,

was den Worten nach angehen würde, aber durch den

Schluß der Stelle völlig widerlegt wird (S. oben Note y).

Dieſer Widerlegung ſucht er dadurch zu entgehen, daß er

am Schluß das justum filium esse von der Rechtsfähig-

keit des Sohnes verſteht, da es doch offenbar nur die

Legitimität deſſelben, die Geburt ex justis nuptiis, bezeich-

nen kann (§ 16).

 

c) L. 2 C. de posthumis (6. 29.) ſagt, ein abortus

habe keine Rechte; da nun das nicht vitale Kind ein abor-

tus ſey, ſo habe es keine Rechte (§ 19).

 

d) L. 3 C. de posthumis (6. 29.) macht die Bedingung:

si vivus perfecte natus est; das heiße ein vitales Kind

(§ 21). Aber perfecte natus bezeichnet nicht den Gegen-

ſatz gegen das unreife Kind, ſondern gegen dasjenige, wel-

 

|0426 : 412|

Beylage III.

ches noch in der Geburt, vor der völligen Trennung von

der Mutter, ſtirbt. Läge das nicht ſchon in dem Wort

ſelbſt, ſo würde es außer Zweifel geſetzt durch die gleich

folgende Wiederholung in den Worten: si vivus ad orbem

totus processit.

3) Haller (ſ. Note k) nimmt als entſchieden das Er-

forderniß der Vitalität an, aber offenbar nur auf die Ver-

ſicherung mehrerer Juriſten, daß dieſes wahr ſey, und wie

es ſcheint mit einigem eigenen Widerſtreben. Zugleich führt

er (p. 321 Note q) eine ganze Anzahl von Vertheidigern

der entgegengeſetzten Meynung an.

 

4) Hofacker T. 1 § 237 ſpricht dem nicht vitalen

Kinde die Rechtsfähigkeit entſchieden ab, und ſetzt es einem

nicht geborenen völlig gleich.

 

Dagegen finden ſich auch in verſchiedenen Zeiten ſehr

beſtimmte Vertheidiger der richtigen Meynung. Sieht man

auf das rein praktiſche Reſultat, ſo müßte ſchon der oben

für die entgegengeſetzte Meynung angeführte Caranza

hierher gerechnet werden, welcher zwar den Worten nach

die nicht vitalen Kinder von der Rechtsfähigkeit ausſchließt,

in der That aber in allen wirklich ſtreitigen Fällen die

Rechtsfähigkeit dadurch einräumt, daß er die Kinder des

fünften und ſechſten Monats für vital erklärt. — Allein

es fehlt auch nicht an ſolchen Schriftſtellern, welche gera-

dezu, und auch den Worten nach, annehmen, daß zur

Rechtsfähigkeit lediglich die lebendige Geburt, durchaus nicht

die Vitalität, erforderlich ſey. Dahin gehören folgende:

 

|0427 : 413|

Vitalität.

Aus der älteren Zeit: Carpzov. jurisprudentia forensis

P. 3 Const. 17. defin. 18.

 

Aus der neueren Zeit: J. A. Seiffert Erörterungen

einzelner Lehren des Roͤmiſchen Privatrechtes Abtheil. 1.

Würzburg 1820. S. 50—52. Hier wird der Unterſchied

zwiſchen der Vermuthung der Paternität und den Bedin-

gungen der Rechtsfähigkeit richtig nachgewieſen, und die

Vitalität als eine ſolche Bedingung beſtimmt verworfen:

aber es geſchieht ohne Entwicklung dieſer Behauptung

in ihren Gründen und Gegenſätzen, wodurch es allein

möglich wird, der ſteten Wiederkehr des alten Irrthums

vorzubeugen.

 

Eben ſo erklärt ſich für die richtige Meynung Van-

gerov Pandekten S. 55.

 

In neueren Geſetzbüchern findet ſich hierüber Folgendes.

Das Preußiſche Landrecht kennt den Begriff der Vitalität

nicht, und knüpft vielmehr überall die Rechtsfähigkeit le-

diglich an die Geburt eines lebenden Kindes. So im Ci-

vilrecht (I. 1. §. 12. 13.); ebenſo aber auch im Criminal-

recht, bey den Strafen des Kindermords (II. 20. §. 965.

968. 969.). — Der Code civil hat die Vitalität als Be-

dingung der Rechtsfähigkeit aufgenommen. Wird ein Kind

zwar lebend geboren, aber nicht viable, ſo kann ihm weder

durch Inteſtaterbfolge, noch durch Schenkung oder Teſta-

ment, Vermoͤgen erworben werden (art. 725. 906.). Der

Ehegatte kann in der Regel die Anerkennung eines Kindes

 

|0428 : 414|

Beylage III.

verweigern, wenn daſſelbe weniger als 180 Tage nach

geſchloſſener Ehe geboren wird; dieſe Verweigerung gilt

nicht „si l’enfant n’est pas déclaré viable” (art. 314.). —

Der Code pénal nimmt auf die Vitalität keine Rückſicht.

Mit den hier behandelten Fragen ſtehen zwey andere

in naher Verwandtſchaft, die ich blos deswegen bis jetzt

nicht berührt habe, weil es mir darauf ankam, den Zuſam-

menhang der vorſtehenden Unterſuchung nicht zu unterbrechen.

 

Die erſte dieſer Fragen betrifft die Anwendung des im

Roͤmiſchen Recht aufgeſtellten präſumtiven Zeitraums der

Schwangerſchaft auf uneheliche Kinder. Zwar im Roͤmi-

ſchen Recht ſelbſt konnte davon gar nicht die Rede ſeyn,

weil daſſelbe in juriſtiſchem Sinn uneheliche Kinder eines

Mannes überhaupt nicht anerkennt, und namentlich durch-

aus nicht als Cognaten des Vaters behandelt. Nur in

ganz beſchränkten Beziehungen nimmt das neuere Recht

auf Concubinenkinder eines Mannes Rückſicht, und dann

ſtets unter der Vorausſetzung, daß er ſelbſt dieſes wünſche,

alſo ſie anerkenne; von einer Vermuthung der Paternität

war alſo auch dabey nicht die Rede. Allein in neueren

Staaten hat die Praxis, abweichend vom Römiſchen Recht,

auch den unehelichen Kindern Anſprüche gegen den Vater

zugeſtanden. Nun verſuchten die Rechtslehrer, die Prä-

ſumtion des Römiſchen Rechts auch hierauf anzuwenden,

indem ſie die Regel aufſtellten: wenn gegen einen Mann

durch Geſtändniß oder Beweis feſtgeſtellt iſt, daß er in

 

|0429 : 415|

Vitalität.

den vier Monaten zwiſchen dem 182. und 300. Tage vor

der Geburt irgend einmal vertrauten Umgang mit der

Mutter gehabt hat, ſo wird dem Kind der Anſpruch gegen

ihn, wie gegen einen Vater, geſtattet, und daran knüpfen

ſich zugleich Anſprüche der Mutter. Daß man dieſes an-

nahm, war unvermeidlich, als Nothbehelf, weil ſich kein

anderer Ausweg zeigte. Nur muß man ſich nicht täuſchen,

als ob hierin eine wirkliche Analogie des Römiſchen Rechts

angewendet würde. Denn die Vermuthung des Römiſchen

Rechts gründet ſich auf die Heiligkeit der Ehe, die ihre

Würde auf Alles verbreitet, was waͤhrend ihrer Dauer

vorgeht. Voͤllig verſchieden davon iſt die Vermuthung ei-

nes Cauſalzuſammenhangs zwiſchen einem erwieſenen ein-

zelnen Beyſchlaf und einer nach 182 bis 300 Tagen er-

folgten Niederkunft. Ja dieſe letzte Vermuthung zeigt ſich,

conſequent durchgeführt, ganz unhaltbar, indem ſie darauf

führt, daß ein Kind in der That von vielen Vätern er-

zeugt ſeyn koͤnne (Note d). Man muß alſo nur anerkennen,

daß jene Vermuthung bey unehelichen Kindern eine will-

kührliche, aber unvermeidliche Annahme iſt.

Die zweyte Frage betrifft die Behandlung deſſelben

Gegenſtandes in neueren Geſetzgebungen. Dieſe haben meiſt

die Vermuthung des Römiſchen Rechts angenommen, nur

mit einigen Modificationen.

 

Das Franzöſiſche Geſetzbuch ſchließt ſich am engſten

an das Roͤmiſche Recht an. Die Vermuthung ſetzt es

zwiſchen 180 und 300 Tage, und läßt nur, als Gegenbe-

 

|0430 : 416|

Beylage III.

weis, den Beweis der Unmöglichkeit zu. Wenn jedoch der

Ehemann die Unächtheit eines vor 180 Tagen geborenen

Kindes behauptet, ſo wird er von dieſer Behauptung durch

gewiſſe früher vorgekommene anerkennende Handlungen aus-

geſchloſſen (art. 312—315.). Uneheliche Kinder haben ge-

gen den Vater gar keine Anſprüche.

Das Öſterreichiſche Geſetzbuch ſetzt die Vermuthung,

wie das Römiſche Recht, zwiſchen Sechs und Zehen Mo-

nate, ohne zu ſagen (was jedoch wohl die Meynung iſt),

daß dagegen nur der Beweis der Unmöglichkeit gelte. Allein

es beſtimmt, daß auch bei einem früher oder ſpäter gebo-

renen Kinde die Ächtheit durch ärztliches Gutachten dar-

gethan werden könne (§ 138. 155. 157.). Eine ähnliche

Vermuthung ſoll auch bey unehelichen Kindern gelten, wenn

die Geburt zwiſchen Sechs uad Zehen Monaten nach dem

erwieſenen Beyſchlaf erfolgte (§ 163.).

 

Das Preußiſche Landrecht weicht am ſtärkſten von dem

Roͤmiſchen Recht ab, und in dem Hauptpunkt, wie es

ſcheint, weniger mit Abſicht, als aus Misverſtändniß der

Römiſchen Regel. Die Vermuthung für die Ächtheit des

Kindes gründet ſich darauf, daß das Kind „während einer

„Ehe erzeugt oder geboren worden“ (II. 2 § 1). Dieſe

Vermuthung gilt alſo eben ſowohl, die Geburt mag Einen

Monat oder Neun Monate nach geſchloſſener Ehe erfolgt

ſeyn (dd). Sie wird nur ausgeſchloſſen durch den Beweis,

daß der Mann in dem ganzen Zeitraum zwiſchen 302 und

 

(dd) Daß es wirklich ſo gemeynt iſt, und wirklich blos aus Mis-

|0431 : 417|

Vitalität.

210 Tagen vor der Geburt, der Frau „nicht ehelich bei-

„gewohnt habe,“ welcher Beweis, wie die nachfolgenden

Erläuterungen zeigen, auf die Unmöglichkeit des Beyſchlafs

zu richten iſt (ib. § 2—6). Wird nach des Mannes Tod

ein Kind geboren, ſo können die Erben die auf den 302.

Tag gegründete Vermuthung durch ärztliches Zeugniß ent-

kräften (§ 21). Bey zwey ſchnell nach einander folgenden

Ehen wird auf den 270. Tag geſehen (§ 22. 23). Bey

unehelichen Kindern wird die Paternität vermuthet, wenn

erweislich zwiſchen 210 und 285 Tagen vor der Geburt

der Beyſchlaf ſtattgefunden hat; doch auch bey weniger

als 210 Tagen, wenn noch das ärztliche Zeugniß hinzu

tritt (II. 1. § 1077. 1078).

 

verſtändniß des R. R., ergiebt

ſich aus folgender Bemerkung von

Suarez, Vol. 80 fol. 81 der

Materialien: „Der Satz: Pater

„est quem justae nuptiae de-

„monstrant paßt ſo gut auf Kin-

„der die 24 Stunden, als die 6

„Monat nach der Hochzeit gebo-

„ren werden.“ Freylich iſt dane-

ben wieder nicht ſorgfältig gewählt

der Ausdruck am Schluß des § 2,

indem der Mann den Gegenbeweis

gegen jene Vermuthung darauf zu

richten hat, „daß er der Frau in

„dem Zwiſchenraume vom 302.

„bis zum 210. Tage vor der Ge-

„burt des Kindes nicht ehelich

„beigewohnt habe.“ Wird

das Kind „24 Stunden nach der

Hochzeit“ geboren, ſo ergiebt ſich

die Unmöglichkeit der ehelichen

Beiwohnung vor 210 Tagen aus

dem Datum des Taufſcheins. Was

man eigentlich meynte und ſagen

wollte, war daß in jenem Zeit-

raum kein Beyſchlaf ſtattgefunden

habe. — Man könnte nun die

Regel des Landrechts dadurch zu

rechtfertigen verſuchen, daß bey

einer bald nach der Ehe erfolg-

ten Niederkunft der Mann die

Schwangerſchaft gewußt haben

müſſe, weshalb in der dennoch

geſchloſſenen Ehe eine Anerken-

nung des Kindes liege. Allein

dieſe Vorausſetzung kann nicht

zugegeben werden, vielmehr ſind

in dieſer Hinſicht ſchon ſehr grobe

Täuſchungen vorgekommen: be-

ſonders ſind ſolche leicht denkbar,

wenn die Geburt erſt im fünften

oder ſechſten Monat nach geſchloſ-

ſener Ehe erfolgt.

II. 27

|0432 : 418|

Beylage IV.

Beylage IV.

Über die Wirkſamkeit der von Römiſchen

Sklaven contrahirten Obligationen.

(Zu § 65 Note i).

Wenn ein Römiſcher Sklave ſolche Handlungen vor-

nahm, aus welchen für einen Freyen Obligationen ent-

ſtanden ſeyn würden, ſo konnte die Wirkſamkeit derſelben

unter ganz verſchiedenen Umſtänden zur Sprache kommen:

während des Sklavenſtandes, und nach der Freylaſſung.

Während des Sklavenſtandes war ſchon an ſich unmög-

lich eine civilis obligatio, da ein Sklave durchaus nicht

vor Gericht ſtehen konnte, weder als Kläger noch als Be-

klagter: eine naturalis obligatio war in dieſem Zuſtand

allerdings denkbar. Nach der Freylaſſung dagegen war

eben ſowohl eine civilis, als eine naturalis obligatio denk-

bar. Um nun zu beſtimmen, was die Römer hierüber

wirklich angenommen haben, iſt es nöthig, zwey Haupt-

fragen zu unterſcheiden: Konnte der Sklave Forderungen

erwerben? Konnte er Schulden auf ſich nehmen? Oder

was daſſelbe ſagt: Konnte er Glaubiger, konnte er

Schuldner werden?

 

I. Forderungen der Sklaven.

Dieſe waren in der Regel deswegen unmoͤglich, weil

der Sklave durch ſeine juriſtiſche Handlungen ſtets dem

 

|0433 : 419|

Obligationen der Sklaven.

Herrn Rechte erwarb und erwerben mußte, ſo daß kein

Erwerb auf ihn ſelbſt fallen konnte. Dieſer Grund machte

ihn eben ſo unfähig, in einer naturalis (a) als in einer

civilis obligatio Glaubiger zu werden. Wo aber dieſer

Grund nicht vorhanden war, da mußte auch der Sklave

ausnahmsweiſe Glaubiger ſeyn können. Eine ſolche Aus-

nahme trat ein erſtlich bey dem herrenloſen Sklaven, zwey-

tens bey einem Vertrag mit dem Herrn ſelbſt, indem die-

ſer nun der Schuldner war, und alſo nicht zugleich Glau-

biger ſeyn konnte. In beiden Fällen erwarb der Sklave

ſelbſt eine naturalis obligatio, die auch nach der Freylaſ-

ſung naturalis blieb und ſich nicht etwa in eine civilis

verwandelte. Von dieſen Ausnahmen können wir nur die

zweyte beweiſen, die erſte aber darf eben ſo unbedenklich

nach dem ganzen Zuſammenhang der hier einſchlagenden

Rechtsregeln angenommen werden. — Ich will nunmehr

die wichtigſten Stellen angeben, worin theils die Regel

ſelbſt, theils die erwähnte Ausnahme, anerkannt wird.

Die Regel findet ſich ausgeſprochen nur in einer

Stelle, welche davon Anwendung macht auf die Beurthei-

lung eines merkwürdigen Rechtsfalls, nämlich in L. 7 § 18

de pactis (2. 14.). Ein Sklave war in einem Teſtament

bedingungsweiſe freygelaſſen und zum Erben eingeſetzt wor-

 

(a) Einige Stellen, woraus

Zweifel gegen dieſen Theil un-

ſrer Regel, der auch die natu-

ralis obligatio als Recht des

Sklaven ausſchließt, hergenom-

men werden könnten, werden un-

ten erklärt werden, Note b.

27*

|0434 : 420|

Beylage IV.

den. Während die Bedingung noch unentſchieden, er alſo

noch Sklave war, ſchloß er mit den Glaubigern des Ver-

ſtorbenen einen Nachlaßvertrag; wenn nun die Bedingung

eintrat, und er dadurch Erbe wurde, konnte er den Glau-

bigern aus jenem Vertrag die exceptio pacti entgegen

ſetzen? Ulpian verneint dieſes aus dem Grunde „quoni-

„am non solet ei proficere, si quid in servitute egit, post

„libertatem: quod in pacti exceptione admittendum est.”

Hier iſt unſre Regel unmittelbar ausgeſprochen, und auf

den Erwerb einer bloßen Exception, durch naturalis obli-

gatio, angewendet; dann folgt aber die merkwürdige Er-

klärung, die für den praktiſchen Erfolg gerade das Ge-

gentheil feſtſtellt: unter der Form der doli exceptio könne

der Sklave nach erworbener Freyheit ſeinen Zweck den-

noch erreichen. Dieſes wird beſtätigt durch das Beyſpiel

des Sohnes, der noch bey des Vaters Leben mit deſſen

Creditoren den Erlaßvertrag geſchloſſen habe, und gleich-

falls zwar nicht die pacti, wohl aber die doli exceptio,

nachdem er ſpäterhin Erbe des Vaters geworden, gebrau-

chen könne. „Idem probat, et si filius vivo patre cum

„creditoribus paternis pactus sit: nam et huic doli excep-

„tionem profuturam. Immo et in servo doli exceptio

„non est respuenda.” Damit ſoll nun ohne Zweifel ge-

ſagt werden, der Sklave habe die doli exceptio, ſelbſt

wenn er während des Lebens ſeines Herrn den Vertrag

geſchloſſen habe: um ſo mehr alſo, wenn dieſes erſt nach

deſſen Tod, aber vor erfüllter Bedingung der Freyheit

|0435 : 421|

Obligationen der Sklaven.

und Erbeinſetzung, geſchehen ſey (b). Darin nun, daß

der Juriſt die doli exceptio zuläßt, könnte man einen

Widerſpruch gegen unſre Regel, oder wenigſtens eine Aus-

nahme derſelben, wahrnehmen wollen: wie ich glaube,

Beides mit Unrecht. Denn der einzige Grund der pacti

exceptio iſt das im Sklavenſtand geſchloſſene pactum, wel-

ches hier unwirkſam bleiben mußte, weil ſonſt (gegen un-

ſre Regel) der Sklave eine Forderung erworben haben

würde. Gründete ſich nun die doli exceptio auf eine zur

Zeit jenes Vertrags, alſo gleichfalls während des Skla-

venſtandes, begangene Unredlichkeit, ſo würde auch die

doli exceptio unzuläſſig ſeyn, weil damals der Sklave

keinerley Recht, alſo auch nicht das aus einer doli obli-

gatio herzuleitende, erwerben konnte. Allein die Unred-

(b) Darauf geht der Fall in

den Anfangsworten der Stelle,

wovon Ulpians ganze Unterſuchung

ausgegangen war: „Sed si ser-

vus sit, qui paciscitur prius-

quam libertatem et heredita-

tem adipiscatur, quia sub cou-

ditione heres scriptus fuerat,

non profuturum pactum Vin-

dius scribit.” (Die Bedingung

muß aber auch auf die Freyheit

gegangen ſeyn, weil es nachher

heißt: „Sed si quis, ut supra

retulimus, in servitute pactus

est.”) Da nun dieſer bedingungs-

weiſe eingeſetzte Sklave, wenn er

ex asse eingeſetzt iſt, einſtweilen

als herrenloſer Sklave betrachtet

werden könnte, ſo dürfte hieraus

ein Zweifel hergenommen werden

gegen die erſte, oben im Text

behauptete Ausnahme, nach wel-

cher der herrenloſe Sklave Glau-

biger ſeyn kann. Dieſem Zwei-

fel läßt ſich auf zweyerley Weiſe

begegnen: 1) Ulpian ſagt gar

nicht, daß der Sklave ex asse

eingeſetzt war: ſtand aber neben

ihm ein freyer Miterbe, ſo war

dieſer einſtweilen der wahre, ge-

genwärtige Herr des Sklaven.

2) Aber auch wenn er ex asse

Erbe ſeyn ſollte, ſo konnte wohl

einſtweilen die Erbſchaft ſelbſt als

Herr des Sklaven angeſehen wer-

den, von welcher Anſicht bey den

juriſtiſchen Perſonen gehandelt

wird (§ 102).

|0436 : 422|

Beylage IV.

lichkeit, worauf hier die Exception gegründet werden ſoll,

beſteht darin, daß der Glaubiger, der einen Nachlaß durch

Vertrag zugeſagt hatte, nun dennoch das Ganze einklagt.

Dieſe Thatſache aber fällt in eine Zeit, worin der frühere

Sklave ſchon frey, alſo zur Erwerbung jeder Obligation

fähig iſt; die Unredlichkeit aber als ſolche, als reine That-

ſache von unſittlichem Character, wird dadurch nicht aus-

geſchloſſen, daß der frühere Vertrag durch die ganz po-

ſitive Rechtsunfähigkeit der Sklaven juriſtiſch unwirkſam

geblieben war.

Die Ausnahme, nach welcher der Sklave eine natura-

lis obligatio erwerben ſoll, wenn darin der Herr ſelbſt

als Schuldner auftritt, zeigt ſich auf zweyerley Weiſe in

merkwürdigen Anwendungen. Erſtlich noch während des

Sklavenſtandes, wenn im Verhältniß zu fremden Glau-

bigern die Frage entſteht, wie groß das Peculium iſt.

Nach einer allgemeinen, für Kinder und Sklaven gelten-

den Regel, ſollten dem Peculium hinzugerechnet werden

die Schulden des Herrn an den Sklaven, umgekehrt aber

ſollten abgerechnet werden die Schulden des Sklaven an

den Herrn (c). Bey dieſer Regel alſo wurden die gegen-

ſeitigen Obligationen als völlig gültige (jedoch nur als

 

(c) L. 5 § 4 L. 9 § 2 de pe-

culio (15. 1.). — Eine Anwen-

dung dieſer deductio auf den

filiusfamilias liegt der berühm-

ten L. Frater a fratre (L. 38 de

cond. ind. 12. 6.) zum Grunde.

— Eine Anwendung derſelben

noch außer der actio de pecu-

lio, nämlich auf die Geldzahlung,

die ein statuliber aus ſeinem Pe-

culium machen darf, um dadurch

frey zu werden, findet ſich in L. 3

§ 2 de statulib. (40. 7.).

|0437 : 423|

Obligationen der Sklaven.

naturales obligationes) vorausgeſetzt, und es wurde das

Peculium gerade ſo berechnet, wie wenn dieſe Schulden

ſchon baar bezahlt geweſen wären. Dabey mußte natür-

lich alle Willkühr des Herrn ausgeſchloſſen bleiben, und

es wurde daher das Daſeyn und die Gültigkeit der Schul-

den nach denſelben Regeln, wie bey gewoͤhnlichen Civil-

obligationen, beurtheilt (d). — Zweytens nach der Frey-

laſſung zeigte ſich jene Ausnahme wirkſam, indem die

Zahlung einer ſolchen Schuld von Seiten des Patrons

an den Freygelaſſenen niemals als indebitum angefochten

werden konnte, ſelbſt wenn der Patron dabey im Irrthum

geweſen ſeyn ſollte (e). — Nur Ein Vertrag ſollte in ſolchen

(d) L. 49 § 2 de peculio (15.

1.). „Ut debitor vel servus do-

mino, vel dominus servo in-

telligatur, ex cuusa civili com-

putandum est: ideoque si do-

minus in rationes suas referat,

se debere servo suo, cum om-

nino neque mutuum acceperit,

neque ulla causa praecesserat

debendi, nuda ratio non facit

eum debitorem.”

(e) L. 64 de cond. indeb. (12

6.). „Si, quod dominus servo

debuit, manumisso solvit, quam-

vis existimans ei aliqua teneri

actione, tamen repetere non po-

terit, quia naturale agnovit de-

bitum.” — L. 14 de O. et A.

(44. 7.). „Servi ex delictis qui-

dem obligantur, et si manumit-

tuntur obligati remanent: ex

contractibus autem civiliter qui-

dem non obligantur, sed natu-

raliter ct obligantur et obli-

gant. Denique si servo, qui

mihi mutuam pecuniam dede-

rat, manumisso solvam, libe-

ror.” In dieſer Stelle muß das

et obligant, aus den im Text

ausgeführten Gründen, in einge-

ſchränkterer Anwendung verſtan-

den werden, als das et obligan-

tur, ſo daß es nur auf die For-

derungen an den eigenen Herrn,

nicht an andere Perſonen, bezo-

gen werden darf (Note a). Eben

ſo muß in dem Beyſpiel am

Schluß der Stelle zu si servo

hinzugedacht werden meo. — Gar

nicht hierher gehören L 18. 19.

32. 35 de solut. (46. 3.), nach

welchen der Schuldner frey wird,

wenn er dem Freygelaſſenen zahlt,

ohne von deſſen Manumiſſion zu

wiſſen. Das geſchieht nicht we-

gen einer naturalis obligatio zu

|0438 : 424|

Beylage IV.

Fällen ganz nichtig ſeyn: der Verkauf einer Sache von

Seiten des Herrn an ſeinen Sklaven (f). Denn da der

Verkauf einer Sache ſtets auf Übergabe gerichtet iſt, die

Übergabe an den Sklaven aber immer dem Herrn Rechte

verſchafft, ſo iſt es, als ob der Herr ſeine Sache an ſich

ſelbſt verkauft hätte, was den Grundregeln des Kaufs

widerſpricht (g).

II. Schulden der Sklaven.

Hier fällt das oben erwähnte Bedenken gegen die For-

derungen gänzlich weg, weil der Sklave durch ſeine Hand-

lungen den Herrn nur reicher, nicht ärmer machen konnte,

die Schulden alſo ſich ohnehin nicht auf den Herrn bezo-

gen, wenn nicht beſondere Gründe (z. B. ein anvertrau-

tes Peculium) dieſe Beziehung rechtfertigten. Der Sklave

konnte alſo durch ſeine Handlungen ſowohl gegen ſeinen

Herrn, als gegen einen Fremden, Schuldner werden, aber

in beiden Fällen war dieſe Schuld nur eine naturalis obli-

gatio, und blieb eine ſolche auch nach der Freylaſſung (h).

 

dieſem Freygelaſſenen, ſondern

weil der Schuldner nach den vor-

ausgeſetzten Umſtänden hinrei-

chende Urſache hatte zu glauben,

der Freygelaſſene empfange die

Zahlung noch als Sklave und

zwar nach dem Willen des wah-

ren und einzigen Glaubigers.

Hierin irrt Zimmern Rechts-

geſchichte I. § 183 S. 673 (vergl.

Note a).

(f) L. 14 § 3 de in diem ad-

dict. (18. 2.).

(g) L. 16 pr. de contr. emt.

(18. 1.). „Suae rei emtio non

valet … nulla obligatio fuit.”

L. 45 pr. de R. J. (50. 17.). —

Auch von anderer Seite betrach-

tet, iſt das Geſchäft ungültig,

weil überhaupt Niemand an ſich

ſelbſt verkaufen kann: und dieſe

Regel würde den Kauf ſelbſt dann

ungültig machen, wenn der ver-

kaufende Herr zufällig nicht Ei-

genthümer der Sache wäre. L. 10

C. de distr. pign. (8. 28.). Vgl.

Paulus II. 13 § 3. 4.

(h) L. 14 de O. et A. (44. 7.).

|0439 : 425|

Obligationen der Sklaven.

Hat alſo der Sklave gegen ſeinen Herrn eine Schuld

contrahirt, ſo tritt dabey die ſchon oben erwähnte deductio

von dem Peculium ein, und es ſind dabey dieſelben Regeln,

wie für den umgekehrten Fall, zu beobachten (Note c. d).

 

Eben ſo aber auch, wenn ſich der Sklave einem Frem-

den verpflichtete. Anwendungen und Beſtätigungen dieſer

Regel finden ſich in vielen Stellen. Schließt der Sklave

einen Contract, ſo kann er daraus auch nach der Frey-

laſſung nicht verklagt werden (i). Dagegen wirken alle

ſeine Schulden vor und nach der Freylaſſung inſoweit,

daß eine Zahlung nie mit der condictio indebiti angefoch-

ten werden kann, und daß dafür Bürgen und Pfänder

gültigerweiſe beſtellt werden dürfen (k). Wenn er ſelbſt

 

(Note e). — L. 1 § 18 depos.

(16. 3.). Nach dem Buchſtaben

einiger Stellen könnte man glau-

ben, es ſey hier für den Sklaven

gar keine obligatio, nicht einmal

eine naturalis, entſtanden. § 6

J. de inut. stip. (3. 19.). § 6 J.

de nox. act. (4. 8.). L. 43 de

O. et A. (44. 7.). L. 22 pr. de

R. J. (50. 17.). — Allein dieſe

Stellen erklären ſich völlig aus

dem auch ſonſt nicht ſeltenen

Sprachgebrauch, nach welchem die

naturales obligationes als un-

eigentliche Obligationen bezeich-

net werden, ſo daß im Fall der-

ſelben auch wohl das Daſeyn ei-

ner obligatio überhaupt verneint

wird. L. 7 § 2. 4 de pactis (2.

14.). L. 16 § 4 de fidej. (46. 3.).

Obligatio heißt dann ſo viel als

Klagbarkeit.

(i) Paulus II. 13 § 9, L. 1. 2

C. an servus (4. 14.).

(k) L. 13 pr. de cond. indeb.

(12. 6.). „Naturaliter etiam ser-

vus obligatur: et ideo si quis

nomine ejus solvat, vel ipse

manumissus, vel (ut Pomponius

scribit) ex peculio cujus libe-

ram administrationem habeat,

repeti non poterit: et ob id

et fidejussor pro servo accep-

tus tenetur: et pignus pro eo

datum tenebitur; et si servus,

qui peculii administrationem

habet, rem pignori in id quod

debeat dederit, utilis pignera-

|0440 : 426|

Beylage IV.

eine ſolche Schuld nach der Freylaſſung expromittirt, ſo

gilt das nicht etwa als Schenkung, ſondern gleich einer

wahren Zahlung (l).

Man könnte nun fragen, warum die Schulden der

Sklaven nach der Freylaſſung naturales blieben, und nicht

vielmehr klagbar wurden. Der Grund lag ohne Zweifel

darin. Da der Sklave durchaus kein Vermögen haben

konnte, ſo waren die Verträge, worin er ſich als Schuld-

ner verpflichtete, gewiß mit Rückſicht auf ſeinen Sklaven-

ſtand, alſo auf ſeine Beziehungen zu dem Vermögen des

Herrn, geſchloſſen; es wäre alſo ſehr hart geweſen, daraus

ſpäterhin gegen ihn ſelbſt Klagen entſtehen zu laſſen: die

Folgen der naturalis obligatio konnten für ihn ſelbſt nur

in den wenigſten Fällen drückend ſeyn. Aber eben dieſer

Grund erklärt und rechtfertigt zugleich einige merkwürdige

Ausnahmen, in welchen der Freygelaſſene allerdings aus

ſeinen früher contrahirten Schulden verklagt werden konnte.

Die erſte Ausnahme betraf die actio depositi, mit welcher

 

titia reddenda est.” Die hier

angenommene Leſeart „vel (ut

Pomponius scribit)” iſt aus Ha-

loander: mit gleich gutem Sinn

lieſt die Vulgata „ut Pomponi-

us scribit, vel ex peculio.”

Beide Leſearten bezeichnen die

zwey verſchiedenen Fälle, wenn

der Sklave nach der Freylaſſung

zahlt, und wenn er es vorher thut

aus ſeinem Peculium, worüber

er verfügen durfte (denn ſonſt

könnte der Herr das Geld we-

nigſtens vindiciren). Sinnlos iſt

die Florentina, welche das vel an

beiden Orten wegläßt, wodurch

beide Fälle auf ganz unzuläſſige

Weiſe zu Einem verſchmolzen wer-

den. — Vgl. auch L. 24 § 2 de

act. emti (19. 1.). L. 21 § 2 de

fidej. (46. 1.). L. 84 de solut.

(46. 3.).

(l) L. 19 § 4 de donat. (39. 5.).

|0441 : 427|

Obligationen der Sklaven.

der Freygelaſſene verklagt werden konnte, wenn er die

deponirte Sache beſaß (m); denn nun konnte ſeine frühere

Vermögensloſigkeit kein Grund ſeyn, die verſprochene Re-

ſtitution zu verweigern. Eine zweyte Ausnahme betraf

die actio mandati und negotiorum gestorum, wenn ein

ſolches Geſchäft im Sklavenſtand angefangen und nach

der Freylaſſung dergeſtalt fortgeſetzt worden war, daß bey

Anſtellung der Klage die fruͤheren Theile der Geſchäfts-

führung von den ſpäteren gar nicht getrennt werden konn-

ten (n). Wichtiger und häufiger war die dritte Aus-

nahme. Wenn der Sklave ein Delict begieng, ſo konnte

er daraus nach der Freylaſſung verklagt werden (o). Der

Grund lag darin, daß er das Delict begieng, nicht aus

Rückſicht auf die Verwaltung der Geſchäfte des Herrn

(wie es bey dem Contract zu vermuthen iſt), ſondern aus

Schlechtigkeit; aus dieſer aber muß ihn die Klage treffen,

ſobald er nur überhaupt fähig wird vor Gericht zu ſte-

hen. Zu dieſem Grund tritt noch ein anderer hinzu, das

Princip der Noxalklagen. Aus dem Delict jedes Sklaven

entſtand eine Noxalklage gegen den Herrn: durch Veräu-

(m) L. 21 § 1 depositi (16.

3.). — Über den Zuſammenhang

dieſer Ausnahme vgl. § 74. r.

(n) L. 17 de neg. gestis (3.

5.). Über den Zuſammenhang

dieſer Ausnahme vgl. § 74. i.

(o) L. 14 de O. et A. (Note e).

L. 1 § 18 depositi (16. 3.). L. 4

C. an servus (4. 14.). L. 7 § 8

de dolo (4. 3.). Die Ausnahme

war ſtreng beſchränkt auf die De-

licte, ſo daß die Contractsklagen

ſelbſt im Fall des dolus nicht ge-

gen den Freygelaſſenen angeſtellt

werden konnten.

|0442 : 428|

Beylage IV.

ßerung an einen Dritten gieng dieſe gegen den neuen Er-

werber über (noxa caput sequitur): durch Veräußerung

an den Verletzten, ſo wie durch Dereliction des Sklaven

gieng ſie ganz unter (p). Es war alſo ganz conſequent,

nach der Freylaſſung eine Klage gegen den Freygelaſſenen

zu geben, der ja nun ſein eigener Herr geworden war.

Eine Anwendung findet ſich bey dem Diebſtahl, den ein

Sklave begangen hatte; gegen dieſen gieng nach der Frey-

laſſung die actio furti, aber nicht auch die condictio fur-

tiva (q); denn nur jene entſtand aus dem Delict, dieſe

vielmehr aus dem Haben der Sache ohne Grund, ein ſol-

ches Haben aber konnte man einem Sklaven niemals zu-

ſchreiben. — Merkwürdigerweiſe galt eine gerade umge-

kehrte Ausnahme, wenn der Sklave das Delict gegen den

eigenen Herrn begieng; daraus entſtand überhaupt gar

keine Obligatio, alſo auch keine Klage nach der Freylaſ-

ſung (r): ohne Zweifel deswegen, weil der Herr ohnehin

ganz andere und weit durchgreifendere Mittel hatte, die

Delicte ſeines Sklaven zu beſtrafen, als welche ihm je-

mals das Obligationenrecht hätte darbieten koͤnnen.

Eine merkwürdige Ausnahme der hier aufgeſtellten

Grundſätze wurde, wie es ſcheint, erſt in einer etwas ſpä-

teren Zeit anerkannt. Wenn der Sklave dem Herrn Geld

 

(p) § 5 J. de nox. act. (4. 8.).

L. 20. 37. 38 § 1. L. 42 § 2. L. 43

de nox. act. (9. 4.).

(q) L. 15 de cond. furt. (13. 1.).

(r) § 6 J. de nox. act. (4. 8.),

L. 6 C. an servus (4. 14.).

|0443 : 429|

Obligationen der Sklaven.

verſprach für die Freylaſſung, und nachher nicht zahlen

wollte, ſo ſollte der Herr eine actio in factum gegen ihn

haben (s). Ohne Zweifel betrachtete man es als einen

Innominatcontract nach der Form facio ut des, und ſetzte

ſich darüber weg, daß die Verabredung während des Skla-

venſtandes geſchloſſen war.

(s) L. 3 C. an servus (4. 14.).

— Ulpian nimmt dieſe Klage noch

nicht als möglich an, ſondern nur

eine Klage gegen den Bürgen we-

gen der naturalis obligatio. L. 7

§ 8 de dolo (4. 3.).

|0444 : 430|

Beylage V.

Beylage V.

Über die Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.

(Zu § 67.)

Ulpian ſagt von den Frauen, ſie könnten nur mit

der anctoritas ihres Tutors Schulden contrahiren; eben

ſo ſagt auch Gajus (a). Hieraus ſchließt Cujacius,

die in väterlicher Gewalt ſtehenden Töchter ſeyen über-

haupt ganz unfähig geweſen, Schulden zu haben, da der

Vater für ſie nicht auctoriren konnte, ſo daß bey ihnen

die nothwendige Bedingung niemals eintrat, woran Ulpian

die Möglichkeit der Schulden für Frauen knüpft (b). Dieſe

Behauptung wird ſcheinbar unterſtützt durch die Analogie

des Pupillen, welcher gleichfalls durch auctoritas des Tu-

tors Schulden contrahiren kann, in der väterlichen Ge-

walt aber, worin jede Möglichkeit der auctoritas fehlt,

dazu ganz unfähig iſt (c).

 

(a) Ulpian. XI. § 27. „Tuto-

ris auctoritas necessaria est

mulieribus quidem in his re-

bus, si lege aut legitimo ju-

dicio agant, si se obligent” etc.

Eben ſo Gajus III. § 107. 108.

I. 192.

(b) Cujacius obs. VII. 11. Ei-

gentlich ſagt er es nur von den

Ehefrauen in manu, weil ihn da-

zu die L. 2 § 2 de cap. min.

(4. 5.), die er eben erklären

wollte, unmittelbar veranlaßte.

(Vgl. § 70 Note q.) Allein eine

ſolche Ehefrau hatte ja kein an-

deres Recht, als das einer filia-

familias, es iſt alſo unzweifel-

haft, daß Cujacius ganz daſſelbe

von den wirklichen Töchtern in

väterlicher Gewalt behaupten woll-

te, auf welche auch alle ſeine Äu-

ßerungen völlig eben ſo paſſen,

wie auf die Ehefrauen in manu.

(c) L. 141 § 2 de V. O. (45.

|0445 : 431|

Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.

Allein bey genauerer Betrachtung verſchwindet das

Gewicht dieſer Analogie völlig. Denn der Pupill hat eine

natürliche Unfähigkeit zu juriſtiſchen Handlungen welche

ihn ärmer machen würden. Dieſe Unfähigkeit wird künſt-

lich gehoben durch die auctoritas des Vormundes, aber

nur ſo weit dazu ein Bedürfniß vorhanden iſt. Ein ſol-

ches Bedürfniß findet ſich in der That bey dem unabhän-

gigen Pupillen, weil derſelbe eigenes Vermögen hat, wel-

ches oft die Nothwendigkeit mit ſich führen kann, in Schuld-

verhältniſſe einzutreten. Dieſe Nothwendigkeit kann bey

dem Unmündigen in väterlicher Gewalt, welcher kein Ver-

mögen hat, nicht vorkommen, darum war fuͤr ihn kein

Bedürfniß vorhanden, der natürlichen Unfähigkeit durch

eine künſtliche Anſtalt abzuhelfen. — Alles anders bey den

mündigen Frauen. Auch dieſe waren unfähig zu vielen

Handlungen, aber ihre Unfähigkeit ſelbſt war eine blos

künſtliche, erfunden nicht in ihrem eigenen Intereſſe, ſon-

dern im Intereſſe ihrer Agnaten oder Patronen, welchen

dadurch ein Mittel gegeben werden ſollte, die Entziehung

oder Verminderung der künftigen Inteſtaterbſchaft in den

meiſten Fällen zu verhindern (d). So lange ſie nun in

 

1.). „Pupillus, licet ex quo

fari coeperit recte stipulari po-

test, tamen, si in parentis po-

testate est, ne auctore quidem

patre obligatur: pubes vero,

qui in potestate est, proinde

ac si paterfamilias, obligari so-

let. Quod autem in pupillo

dicimus, idem et in filiafami-

lias impubere dicendum est.”

(d) Gajus I. § 190—192. Aus

ſeiner Darſtellung geht klar her-

vor, daß die ernſtliche Bedeutung

der Geſchlechtstutel lediglich auf

den Vortheil der Agnaten und Pa-

tronen berechnet war, und daß

die übrigen Arten dieſer Tutel

nur als Ergänzung oder Milde-

|0446 : 432|

Beylage V.

väterlicher Gewalt lebten, war dieſer Grund einer will-

kührlichen Einſchränkung nicht vorhanden, es war alſo

keine Veranlaſſung da, den natürlichen Zuſtand abzuän-

dern, nach welchem die mündigen Töchter eben ſo fähig

waren Schulden zu haben, als die mündigen Söhne. —

Neuerlich iſt der Meynung des Cujacius eine beſondere

Wendung gegeben worden durch die Unterſcheidung zwi-

ſchen den ſtreng civilrechtlichen, und den freyeren Obliga-

tionen: jene ſollten an die auctoritas gebunden, und da-

her während der väterlichen Gewalt ganz unmoͤglich ſeyn,

dieſe aber nicht (e). Allein zu dieſer Unterſcheidung liegt

weder in den Worten von Gajus und Ulpian, die allge-

mein von jeder Obligirung reden, noch in der Natur und

dem Zweck der Geſchlechtsvormundſchaft irgend ein Grund.

Denn Verſchuldungen einer Frau aus einem Darlehen oder

einem Kaufcontract waren ja für das künftige Erbrecht

eines Agnaten durchaus nicht weniger gefährlich, als die

aus einer Stipulation (f). Ich glaube daher, daß unab-

rung jener beiden Fälle (der legi-

tima tutela) zu betrachten waren.

(e) Rudorff Vormundſchafts-

recht B. 1 S. 171. B. 2 S. 273. 274.

(f) Gegen dieſe Behauptung,

daß die auetoritas zu allen Ar-

ten der Verſchuldung (ſtreng oder

frey) gleich nöthig war, könnte

vielleicht ein Zweifel erhoben wer-

den aus Gajus III. § 91, wo es

von der Schuld aus einem em-

pfangenen indebitum heißt: „qui-

dam putant, pupillam aut mu-

lierem, cui sine tutoris aucto-

ritate non debitum per erro-

rem datum est, non teneri con-

dictione, non magis quam mu-

tui datione;” er ſelbſt erklärt ſich

nachher gegen dieſe Meynung.

Aber bey dieſer Frage kam es

nicht auf die hiſtoriſche Klaſſe an,

wozu die vorliegende Obligation

gehörte, ſondern darauf, daß die

auctoritas überall nur dazu die-

nen ſollte, den Willen zu ergän-

zen, hier aber die Obligation gar

|0447 : 433|

Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.

hängige Frauen zu allen Schulden (aus altem jus civile

herſtammend oder nicht) die auctoritas nöthig hatten, die

filiaefamilias dagegen in allen Fällen ſchon allein durch

ihre eigene Handlungen verpflichtet werden konnten, ſo

gut wie die Soͤhne: das heißt beide nur unter der Voraus-

ſetzung des mündigen Alters. Wenn daher in der oben

angeführten Stelle Ulpian die Verſchuldung einer Frau

an die Bedingung vormundſchaftlicher auctoritas knüpft,

ſo iſt das nur von ſolchen Frauen zu verſtehen, die über-

haupt einen Tutor haben oder wenigſtens haben können (g),

alſo nur von unabhängigen. Dieſe Einſchränkung aber

iſt ſo wenig in jene Stelle willkührlich hinein getragen,

daß ſie ja ohnehin in dem ganzen elften Titel Ulpians,

bey Unmündigen und bey Frauen, ſtets hinzu gedacht wer-

den muß, ohne daß es Ulpian auch nur nöthig fände, die-

ſes ausdrücklich zu ſagen, weil es ſich zu ſehr von ſelbſt

verſteht.

So ſteht die Sache nach allgemeiner Betrachtung; noch

entſcheidender aber müſſen einzelne Anwendungen ſeyn,

 

nicht ex voluntate, ſondern ex

re, entſtand. Ohnehin müßte die-

ſer Fall, wegen der condictio,

vielmehr den ſtrengen Obligatio-

nen zugezählt werden; beſonders

aber macht es die Gleichſtellung

mit dem Pupillen ganz unmög-

lich, hier an eine Eigenthümlich-

keit der Geſchlechtstutel zu den-

ken. — In dieſem ſpeciellen Fall

hat übrigens Juſtinian das Ge-

gentheil von der Meynung des

Gajus angenommen, und iſt den

Quidam beygetreten, hat aber

wörtlich den Grund des Gajus

beybehalten, ſo daß bey ihm der

rechte Zuſammenhang des Gedan-

kens fehlt, der bey Gajus ſehr

befriedigend erſcheint. § 1 J. quib.

mod. re (3. 14.).

(g) Gajus III. § 108. „Idem

juris est in feminis, quae in tu-

tela sunt.”

II. 28

|0448 : 434|

Beylage V.

woraus hervorgeht, entweder daß die Verpflichtung einer

filiafamilias moͤglich, oder daß ſie nicht möglich war.

Ohne Zweifel würden wir Stellen dieſer Art in ſolcher

Anzahl übrig haben, daß die ganze hier erörterte Frage

niemals hätte ſtreitig werden können, wenn nicht der Zu-

ſammenhang dieſer Frage mit der zu Juſtinians Zeit ver-

alteten Geſchlechtstutel Veranlaſſung geworden wäre, die

Stellen der alten Juriſten, worin dieſer Punkt berührt

war, meiſt wegzulaſſen. In der That findet ſich auch

nur ein einziges Rechtsverhältniß, worin jene Frage ganz

unmittelbar vorkommt; hier aber glücklicherweiſe ſo klar

und beſtimmt, daß die Stelle, die davon redet, allein

ſchon hinreichen müßte, jeden Zweifel zu beſeitigen. Das

Sc. Macedonianum ſprach von dem filiusfamilias, ge-

brauchte alſo wie gewöhnlich die männliche Form des

Ausdrucks (h). Darüber ſagt nun Ulpian Folgendes (i):

Hoc Sc. et ad filias quoque familiarum pertinet. Nec

ad rem pertinet, si adfirmetur ornamenta ex ea pecunia

comparasse: nam et ei quoque, qui filiofamilias credidit,

decreto amplissimi ordinis actio denegatur: nec interest

consumti sint numi, an exstent in peculio. Multo igitur

magis, severitate Scti, ejus contractus improbabitur, qui

filiaefamilias mutuum dedit. Wenn nun aus dem einer

Tochter gegebenen Gelddarlehen die Exception des Sena-

(h) L. 1 pr. de Sc. Mac. (14. 6.).

(i) L. 9 § 2 de Sc. Mac. (14.

6.). Daſſelbe, nur theils kürzer,

theils ausführlicher, ſteht in § 6.

7 J. quod cum eo (4. 7.).

|0449 : 435|

Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.

tusconſults entſtehen ſoll, ſo muß eine Klage vorhanden

geweſen ſeyn, folglich war die Tochter überhaupt fähig,

eine Schuld zu contrahiren. — Durch dieſe Stelle ſcheint

mir die ganze Frage entſchieden, ich will jedoch nicht die

möglichen Einwürfe verſchweigen, die dagegen noch etwa

verſucht werden könnten. Erſtlich dürfte man ſagen, Das

was wir hier leſen, rühre nicht von Ulpian her, ſondern

von Tribonian, der darauf ausgieng, jede Spur der Ge-

ſchlechtstutel zu vertilgen. Zwar würde wohl Niemand

ſo weit gehen, die ganze hier abgedruckte Stelle für er-

funden zu erklären: allein es wäre nicht undenkbar, daß

Ulpian ausdrücklich nur von der Exception des Vaters ge-

gen die actio de peculio geſprochen hätte, und daß dieſe

Einſchränkung von den Compilatoren weggelaſſen worden

wäre. In der Inſtitutionenſtelle freylich (Note i) wird

geradezu geſagt, die Exception gelte ſowohl für die Toch-

ter ſelbſt, als für den Vater; allein die Inſtitutionen ſind

ja überhaupt ein neues Werk. — Dieſe Annahme einer

Interpolation würde nicht unzuläſſig ſeyn, wenn wir aus

anderen Zeugniſſen wüßten, daß die Tochter ſich ſelbſt

nicht verpflichten konnte. Da aber ſolche Zeugniſſe fehlen,

und allgemeine Gründe vielmehr für die entgegeſetzte An-

nahme ſprechen, ſo wäre es doch ein ſehr unkritiſches Ver-

fahren, ganz ohne Noth die Annahme einer Interpolation

in jene ganz unverdächtig erſcheinende Stelle hinein zu

tragen, nur um eine vorgefaßte, durch andere Stellen

gar nicht begründete, Meynung zu unterſtützen. — Zwey-

28*

|0450 : 436|

Beylage V.

tens könnte man ſagen, Ulpian habe an ſolche Frauen

gedacht, die durch die Geburt von drey Kindern befreyt

waren von der Nothwendigkeit aller Tutel. Allein ſo viel

wir wiſſen, hat ſich das jus liberorum niemals auf Töch-

ter in väterlicher Gewalt bezogen; auch hätte es bey

ihnen keinen Sinn und Zweck gehabt. Unabhängige Frauen

ſollten dadurch die Fähigkeit erlangen, Mancherley zu er-

werben, ſo wie über ihr Vermögen frey zu verfügen; eine

filiafamilias aber konnte überhaupt weder Etwas für ſich

erwerben, noch über ein Vermögen (das ſie niemals hatte)

verfügen, ſo daß jenes Recht für ſie lediglich in dem ſelt-

ſamen, unwahrſcheinlichen Privilegium beſtanden hätte,

Schulden zu haben, wozu ſie nach der hier bekämpften

Meynung außerdem nicht fähig geweſen wäre.

Beyläufig kommen indeſſen außer jener Hauptſtelle auch

noch folgende Stellen in Betracht.

 

1) Vat. Fragm. § 99. „P. respondit: Filiamfamilias

ex dotis dictione obligari non potuisse.” Man könnte

nämlich dieſen Satz als eine bloße Anwendung der allge-

meinen Schuldenunfähigkeit betrachten, die dann dadurch

bezeugt ſeyn würde. Allein wenn man erwägt, daß die

dotis dictio ein höchſt eigenthümliches Rechtsinſtitut war,

insbeſondere daß dazu Niemand die Fähigkeit hatte, als

allein die Frau, ihr Schuldner, ihr Vater und Großva-

ter (k), ſo wird man wohl jene Argumentation für ganz

unzuläſſig erkennen müſſen.

 

(k) Ulpian. VI. § 2.

|0451 : 437|

Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.

2) Die Schlußworte der L. 141 § 2 de V. O. (Note c)

erklären die filiafamilias impubes für gleich unfähig zur

Verſchuldung mit dem pupillus in parentis potestate. Dieſe

Gleichſtellung entſcheidet über unſre, die mündigen Frauen

betreffende, Frage unmittelbar nicht, obgleich ſie die ohne-

hin vorhandene Wahrſcheinlichkeit verſtärkt, daß zwiſchen

beiden Geſchlechtern, da wo keine Geſchlechtstutel eintre-

ten konnte, überhaupt kein Unterſchied ſtatt fand. Neuer-

lich iſt nun aber die Behauptung aufgeſtellt worden, die

letzten Worte jener Stelle ſeyen interpolirt, und Gajus

(der Verfaſſer der Stelle) habe geſchrieben: idem et in

filiafamilias pubere dicendum est (l). In dieſer Geſtalt

würde die Stelle allerdings geradezu für die hier be-

kämpfte Meynung beweiſen, und hätten wir andere Zeug-

niſſe dafür, ſo würde jene Annahme mit vieler Wahr-

ſcheinlichkeit dazu benutzt werden können, die hier ange-

führte Stelle mit jenen anderen Zeugniſſen in unmittelba-

ren Zuſammenhang zu bringen. So lange aber ſolche

Zeugniſſe fehlen, und vielmehr die oben aufgeſtellten Gründe

dagegen ſtreiten, kann es doch nicht zuläſſig ſeyn, zuerſt

in jene Stelle ohne Noth die Annahme einer Interpola-

tion hinein zu tragen, und dann mit dem ſo umgearbeite-

ten Text einen hiſtoriſchen Beweis zu führen.

 

(l) Rudorff Vormundſchafts-

recht B. 1 S. 171. Er beruft ſich

beſonders darauf, daß außerdem

die Schlußworte von der filiafa-

milias impubes gar zu trivial

ſeyn würden. Allein mit dieſem

Argument ließe ſich in unzähli-

gen Stellen der Pandekten die

Ächtheit anfechten, und gewiß

ohne Grund. Gleich die oben im

Text abgedruckte L. 9 § 2 de Sc.

Mac. würde dahin gehören.

|0452 : 438|

Beylage V.

3) L. 3 § 4 commodati (13. 6.). „Si filiofamilias ser-

vove commodatum sit, dumtaxat de peculio agendum erit:

cum filio autem familias ipso et directo quis poterit.

Sed et si ancillae vel filiaefamilias commodaverit, dum-

taxat de peculio erit agendum.” — Der Hauptzweck der

Stelle geht darauf, daß nicht etwa die actio commodati

in größerer Ausdehnung als andere Klagen gegen den

Vater oder Herrn angeſtellt werden könne, ſondern immer

nur wegen eines dem Commodatar vorher anvertrauten

peculii. Daneben wird bey dem Sohn der Satz einge-

ſchaltet, daß auch er perſönlich verklagt werden könne.

Da nun dieſe Einſchaltung bey der Tochter nicht wieder-

holt wird, ſo möchte man daraus ſchließen, dieſelbe könne

nicht verklagt werden. Allein es iſt gewiß einfacher und

natürlicher anzunehmen, Ulpian habe die Einſchaltung bey

der Tochter nicht wiederholt, weil er dachte, ihre Wie-

derholung werde Jeder ohnehin hinzudenken. Hätte er

einen Gegenſatz im Sinne gehabt, ſo würde er wohl ſchwer-

lich bey der Tochter genau dieſelben Worte wie bey dem

Sohn gebraucht, und den Gegenſatz lediglich durch Weg-

laſſen der Einſchaltung angedeutet haben. Freylich könnte

man ſagen, Ulpian habe den Gegenſatz beſtimmt ausge-

drückt, und dieſer auf die Geſchlechtstutel bezügliche Zu-

ſatz ſey von den Compilatoren weggelaſſen worden. Allein

wenn in der That die Compilatoren einen ſolchen Zuſatz

vorgefunden hätten, ſo würden ſie ſich ſchwerlich mit dem

bloßen Wegſtreichen deſſelben begnügt haben, wodurch ja

 

|0453 : 439|

Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.

eben die jetzt vorliegende Zweydeutigkeit entſtehen mußte;

vielmehr würden ſie dann die völlige Gleichheit beider Ge-

ſchlechter geradezu ausgeſprochen haben, was ja durch

bloße Wiederholung des von Ulpian bey dem Sohn ein-

geſchalteten Zuſatzes ſo leicht zu bewirken war.

Man könnte endlich verſuchen, der hier bekämpften

Meynung noch eine neue Seite abzugewinnen, die Seite

der gerichtlichen Verfolgung. Wenn auch, könnte man

ſagen, eine filiafamilias die Fähigkeit hatte, Schuldnerin

zu ſeyn, ſo konnte ſie doch niemals verklagt werden, da

Ulpian ſagt, daß eine Frau nie anders als mit einem

Tutor in einem legitimum judicium auftreten durfte

(Note a), die filiafamilias aber niemals einen Tutor ha-

ben konnte. — Gegen dieſe prozeſſualiſche Vertheidigung

jener Meynung aber iſt Folgendes zu bemerken.

 

Zuerſt Daſſelbe, was ſchon oben über die Schulden ge-

ſagt worden iſt. Die Nothwendigkeit der auctoritas bezog

ſich nur auf diejenigen Frauen, die überhaupt einen Tu-

tor hatten oder haben ſollten, das heißt auf die unab-

hängigen, nicht auf die in väterlicher Gewalt lebenden.

 

Zweytens würden die alten Juriſten durch die Rück-

ſicht auf das legitimum judicium in keinem Fall haben

beſtimmt werden koͤnnen, eine Unfähigkeit der Frauen im

Allgemeinen zu behaupten, da zu ihrer Zeit bey weitem

die meiſten Prozeſſe im Römiſchen Reich nicht legitima

judicia waren, ſondern judicia quae imperio contineban-

 

|0454 : 440|

Beylage V.

tur, worauf ſich Ulpians Regel gar nicht bezog. Dahin

gehörten nicht nur alle Prozeſſe außer der Stadt Rom

und ihrer nächſten Umgebung, ſondern auch in Rom ſelbſt

ein großer Theil der Prozeſſe (m), ja es hieng bey vielen

Klagen von jeder einzelnen Partey ab, die freyere Art

des Prozeſſes herbey zu führen (n), wodurch dann auch

das Hinderniß überwunden worden wäre, welches ſich le-

diglich der Anwendung des ſtrengeren legitimum judicium

in den Weg geſtellt hätte.

Endlich drittens ſpricht Ulpian wörtlich nur von der

Frau als Klägerin nicht als Beklagten (si .. agant, nicht

si conveniantur), und es ließe ſich ſehr wohl denken, daß

man ſie in dem willkührlichen Entſchluß eine Klage anzu-

ſtellen mehr beſchränkt hätte, als in der unfreywilligen

Vertheidigung gegen die Klage eines Andern, z. B. aus

den Schulden, die aus der väterlichen Erbſchaft auf ſie

gekommen waren. Bezog ſich nun die Nothwendigkeit der

auctoritas überhaupt nicht auf die Beklagte, ſo konnte in

dieſer Nothwendigkeit auch nicht einmal ein ſcheinbarer

Grund liegen, der filiafamilias die Fähigkeit zum Beklag-

tenverhältniß zu verſagen. Geſetzt aber auch, man wollte

dem Ausdruck si agant eine weitere Bedeutung beylegen,

und darunter die Beklagte eben ſowohl, als die Klägerin

verſtehen, ſo iſt doch wenigſtens unläugbar, daß auch die

Klägerin darunter begriffen war. Ließe ſich alſo zeigen,

daß zur Zeit der alten Juriſten die filiafamilias als Klä-

 

(m) Gajus IV. § 104. 105.

(n) Gajus IV. § 163—165.

|0455 : 441|

Schuldenfähigkeit einer filiafamilias.

gerin jemals wirklich auftreten konnte, ſo war ſie durch

jene prozeſſualiſche Rückſicht auf das legitimum judicium

nicht ausgeſchloſſen, und dieſer negative Satz darf dann

ohne Bedenken auch überall geltend gemacht werden, um

ihre angebliche Unfähigkeit zum Beklagtenverhältniß zu wi-

derlegen. Kommt nun bey den alten Juriſten die filiafa-

milias in der That als Klägerin vor? In der Regel

freylich nicht, aber aus einem materiellen Grunde, der

mit dem Geſchlechte Nichts gemein hatte, ſondern auf der

väterlichen Gewalt unmittelbar beruhte, und daher auf

Söhne und Töchter völlig gleich einwirkte. Beide konnten

in der Regel nicht als Kläger auftreten, weil ſie keine

Rechte hatten, die durch Klagen geltend zu machen wa-

ren, namentlich kein Eigenthum und keine Schuldforderun-

gen (§ 67). Ausnahmsweiſe aber konnten ſie dennoch ei-

nige einzelne Klagen anſtellen, und in dieſen ausgenom-

menen Fällen war die Fähigkeit der Tochter durchaus nicht

geringer, als die des Sohnes. So wird ausdrücklich er-

wähnt, daß in gewiſſen Fällen der beleidigte Sohn die

Injurienklage in eigenem Namen anſtellen konnte: in den-

ſelben Fällen aber auch die Tochter (o). Eben ſo wird

erwähnt, daß die filiafamilias nach Trennung ihrer Ehe

in manchen Fällen die dotis actio allein, ohne den Vater,

anſtellen konnte (p). War nun bey dieſen beiden Klagen

(o) L. 8 pr. de procur. (3. 3.).

— Vergl. über dieſen und den

gleich folgenden Fall § 73.

(p) L. 8 pr. de procur. (3. 3.).

L. 22 § 4. 10. 11 sol. matr.

(24. 3.).

|0456 : 442|

Beylage V.

die Form des legitimum judicium kein Hinderniß für die

Tochter als Klägerin, ſo kann in dieſer Form auch kein

Grund liegen, ſie zur Stellung einer Beklagten im alten

Prozeß für unfähig zu halten; vielmehr war ſie dazu eben

ſo fähig wie der Sohn, das heißt in großer Ausdehnung.

Denn der materielle Grund, der die Söhne und Töchter

in der Regel hinderte Kläger zu werden, hatte auf das

Beklagtenverhältniß keinen Einfluß, indem ſie Schulden

haben, und aus dieſen, gleich unabhängigen Perſonen,

verklagt werden konnten.

Faſſen wir alle dieſe Gründe kurz zuſammen, ſo er-

giebt es ſich, daß der angebliche Unterſchied zwiſchen Söh-

nen und Töchtern, in der Fähigkeit zu Schuldverhältniſ-

ſen, auf einer irrigen Annahme beruht, daß vielmehr eine

filiafamilias ganz eben ſo fähig war Schulden zu haben,

als ihr gleichfalls in väterlicher Gewalt lebender Bruder.

 

|0457 : 443|

Status und Capitis deminutio.

Beylage VI.

Status und Capitis deminutio.

(Zu § 64—68.)

I.

Im Rechtsſyſtem ſelbſt ſind die Bedingungen der Rechts-

fähigkeit, ſo wie die Abſtufungen derſelben, dargeſtellt wor-

den (§ 64—67), und hieran wurde die Lehre von der

dreyfachen Capitis deminutio (§ 68) angeknüpft. Auf

zweyerley Weiſe aber weichen von den dort aufgeſtellten

Anſichten die Meynungen der meiſten neueren Schriftſteller

ab: Erſtlich durch Einmiſchung einer beſondern Lehre vom

status, welcher Begriff in meiner Darſtellung keinen Platz

gefunden hat: Zweytens durch einen ganz verſchiedenen

Begriff der minima Capitis deminutio, wodurch zugleich

der allgemeine Begriff der Capitis deminutio überhaupt

eine andere Geſtalt erhalten mußte. Ich will hier eine

vorläufige Überſicht der bedeutendſten Schriftſteller über

beide verwandte Gegenſtände geben, um auf dieſelben in

der Folge kürzer verweiſen zu können.

 

Über Status:

 

Feuerbach civiliſtiſche Verſuche B. 1. Gieſſen 1803

Num. 6 (S. 175—190).

Löhr über den Status, Magazin für Rechtswiſſen-

ſchaft B. 4 N. 1 (S. 1—16) (1820).

|0458 : 444|

Beylage VI.

Uber Capitis deminutio:

 

Hotomanus Comm. ad Inst. tit. de capitis deminu-

tione (1. 16.).

Conradi parerga p. 163—193 (1737).

Glück Pandekten B. 2 § 128. (1791).

Ducaurroy, Thémis Vol. 3 p. 180—184 (1821).

Zimmern Rechtsgeſchichte I. 2 § 229 (1826).

Seckendorf de capitis deminutione minima Colon.

1828.

Niebuhr Römiſche Geſchichte B. 1 S. 606 (4te Ausg.)

B. 2 S. 460 (2te Ausg.). Hier iſt dieſer Gegen-

ſtand in Beziehung auf die alte Staatsverfaſſung,

nicht vom Standpunkt der Rechtsquellen aus, be-

trachtet.

II.

Alſo lautet die gewöhnliche Lehre der Neueren über

den Status (a). Status heißt eine Eigenſchaft, vermoͤge

deren ein Menſch gewiſſe Rechte hat. Solche Eigenſchaf-

ten aber kommen in zweyerley Arten vor: natürliche

(St. naturales) in unbegränzter Anzahl, ſo z. B. die Ein-

theilung der Menſchen in Männer und Frauen, Geſunde

und Kranke u. ſ. w.; moraliſche oder juriſtiſche (St.

civiles), deren es nicht mehr noch weniger als drey giebt:

 

(a) Ausführlich findet ſich die

Sache dargeſtellt bey Höpfner

Comm. über die Inſtitutionen

§ 62 und Tabelle VIa. Vgl. auch

Mühlenbruch § 182.

|0459 : 445|

Status und Capitis deminutio.

Status libertatis, civitatis, familiae. Dieſe werden von

Manchen auch wohl als principales, oder als die Status

im eigentlichen Sinn bezeichnet, ſo daß dann die natürli-

chen nur uneigentlich den Namen führen ſollen.

Wir wollen zuerſt den Status naturalis betrachten. Da-

bey liegt lediglich die Abſicht zum Grunde, ſolche Eigen-

thümlichkeiten der Menſchen, von welchen irgendwo im

Rechtsſyſtem beſondere Folgen abhängen, ſchon vorläufig

in einer allgemeinen Uberſicht zuſammen zu ſtellen. In

conſequenter Vollſtändigkeit iſt dieſer Gedanke noch von

keinem Schriftſteller durchgeführt worden (b). Auch iſt

ſehr zu bezweifeln, daß durch eine ſolche Einrichtung irgend

Etwas für die Klarheit oder Gründlichkeit der Darſtel-

lung gewonnen werden möchte, vielmehr ſcheint es gera-

thener, die Notizen, die man unter dem Namen der na-

türlichen Status zuſammen zu ſtellen pflegt, theils an den

Orten des Syſtems, wo ſie eine praktiſche Bedeutung ha-

ben, mitzutheilen, theils anderwärtsher als bekannt voraus

zu ſetzen. Schon aus dieſer Stellung der Frage geht aber

 

(b) So z. B. müßten unter den

Status naturales (wegen der Te-

ſtamentsform) auch die Einthei-

lungen der Menſchen in Sehende

und Blinde, in Schreibenskun-

dige und Unkundige aufgezählt

werden; ferner (wegen des Be-

weiſes bey der cond. indebiti,

L. 25 § 1 de prob.) die Eigen-

ſchaften der simplicitate gauden-

tes und der desidiae dediti. End-

lich iſt nicht einzuſehen, warum

dieſe Vorbetrachtungen auf die

menſchliche Natur beſchränkt blei-

ben ſollten; Vieles aus der Phy-

ſiologie der Thier- und Pflanzen-

welt, ferner der Unterſchied zwi-

ſchen ſtehendem und fließendem

Waſſer ꝛc. iſt ja auch nicht ohne

Eiufluß auf Rechtsverhältniſſe.

und könnte daher auch auf die

Zuſammenſtellung in einer prä-

liminären Statuslehre Anſpruch

machen.

|0460 : 446|

Beylage VI.

hervor, daß der hier angefochtenen Auffaſſung, ſelbſt von

ihren Vertheidigern, kein hiſtoriſcher Boden zugeſchrieben

wird, und daß alſo die Frage ſelbſt nicht ſowohl Rechts-

begriffe und Rechtsregeln, als vielmehr die Zweckmäßig-

keit einer gewiſſen Methode wiſſenſchaftlicher Darſtellung

zum Gegenſtand hat.

Mehr in die Sache ſelbſt geht der Tadel ein, welcher

über den oben angegebenen allgemeinen Begriff des Status

ausgeſprochen werden muß. In dieſem Begriff wird das

Rechtehaben als eine menſchliche Eigenſchaft aufgefaßt,

ſo daß z. B. der Status civitatis angegeben wird als der

Inbegriff derjenigen Rechte, welche einem Civis zukom-

men. Nimmt man nun dieſe Betrachtungsweiſe an, ſo iſt

durchaus nicht einzuſehen, warum ſie nicht conſequent

durchgeführt werden ſollte, da alle anderen Rechte eben

ſo gut, als die der Freyheit und der Civität, unter den

Begriff von Eigenſchaften des Berechtigten gebracht wer-

den können. Dann würden wir auch einen Status des

Ehegatten, des Eigenthümers und Fructuars, des Credi-

tors, des Erben u. ſ. w. annehmen müſſen, und die ganze

Rechtswiſſenſchaft wäre in der Lehre vom Status enthal-

ten. Dieſes heißt aber mit anderen Worten nur ſo viel,

daß die Lehre vom Status in der Lehre von den Rech-

ten überhaupt aufgegangen, folglich als eine beſon-

dere, ſelbſtſtändige Lehre gänzlich aufgegeben wäre (c).

 

(c) Sehr ſchwach iſt die Ant-

wort von Höpfner (§ 62 Note a)

auf dieſen Einwurf: „nach dem

„Redegebrauch rechnet man das

|0461 : 447|

Status und Capitis deminutio.

So zeigt ſich alſo dieſe Lehre als eine in ſich ſelbſt, aus

logiſchen Gründen, unhaltbare, wenn man ihr nicht eine

ganz andere als die gewöhnliche Bedeutung giebt, indem

man ſie auf die Rechtsfähigkeit bezieht, wovon ſo-

gleich weiter die Rede ſeyn wird.

III.

Das Wichtigſte aber iſt der Inhalt, welchen man je-

ner Lehre von den Status (den civilen nämlich) geben will,

alſo der Begriff der mit jedem der angeblichen drey Status

verbunden werden ſoll. Dabey iſt man mit den zwey er-

ſten wenig in Verlegenheit. Status libertatis, ſagt man,

bezeichnet den Umſtand, daß Jemand frey iſt, St. civi-

tatis, daß er Civis iſt, mit Einſchluß aller der Rechte,

die er als freyer Menſch oder als Civis zu genießen hat.

Dieſe Erklärung ſcheint ſo natürlich, da die Benennung

unmittelbar darauf führt: ſie iſt aber darum nicht auch

 

„Eigenthum nicht unter die Qua-

„litäten eines Menſchen.“ Was

geht denn uns, die wir die logi-

ſche Forderung der Conſequenz in

der Wiſſenſchaft zu befriedigen ha-

ben, der Redegebrauch des ge-

meinen Lebens an? Es iſt wohl

zu bemerken, daß er die Sache

an ſich damit rechtfertigen will,

nicht etwa hiſtoriſch die Auffaſ-

ſung der Römer erklären oder

währſcheinlich machen. — Auch die

Erwiederung auf unſren Einwurf,

als ob gerade nur die wichtigſten

Eigenſchaften in die Statuslehre

aufgenommen wären, würde un-

haltbar ſeyn. In dem Unmündi-

gen z. B. können wir zweyerley

Eigenſchaften unterſcheiden: die

eines Pflegebefohlenen, und die

eines Vermögensinhabers. Jene

pflegt in der Statuslehre erwähnt

zu werden, dieſe nicht. Wollten

wir nun ſagen, das geſchehe, weil

die erſte Eigenſchaft ſo viel wich-

tiger wäre als die zweyte, ſo wür-

den wir ja das Mittel höher ſtel-

len als den Zweck.

|0462 : 448|

Beylage VI.

eben ſo ſicher. Bey dem ſogenannten Status familiae bie-

tet ſich eine gleich unmittelbare Hinweiſung durch den

Namen nicht dar: auch haben hier die Erklärungen von

jeher zwey völlig verſchiedene Wege eingeſchlagen, deren

jeder wieder zu mancherley Verzweigungen geführt hat.

Der erſte Weg der Erklärung geht dahin, den Status

familiae auf die Geſammtheit derjenigen Perſonen zu be-

ziehen, die mit einander in Agnation ſtehen, alſo auf die

Agnatenfamilie, ſo daß der Status familiae eines Men-

ſchen deſſen Mitgliedſchaft in einer beſtimmten, einzelnen

Agnatenfamilie, bezeichnen würde, mit Inbegriff der hier-

aus entſpringenden Rechte. Dabey fällt jedoch ſogleich in

die Augen der gänzliche Mangel eines inneren Zuſammen-

hangs dieſes dritten Status mit den beiden erſten, ſo daß

gar nicht zu begreifen iſt, warum gerade dieſes Rechts-

verhältniß und kein anderes mit jenen beiden unter einen

gemeinſamen Gattungsbegriff geſtellt werden ſoll. Daß

die Agnation wichtige Rechte begründet, erklärt dieſen Um-

ſtand auf keine Weiſe; denn auch der Ehe, der väterli-

chen Gewalt, dem Patronat wird Niemand die Begrün-

dung wichtiger Rechte abſtreiten, und doch nennt Keiner

die Ehe, die väterliche Gewalt, oder den Patronat einen

Status. Man könnte verſuchen, dieſem Einwurf durch die

Wendung zu entgehen, daß der Status familiae nicht ſo-

wohl die Stellung in einer beſtimmten Agnatenfamilie, als

vielmehr die Fähigkeit zur Agnation überhaupt bezeichnen

ſollte. Allein auch dieſe Auskunft zeigt ſich als unzuläſſig,

 

|0463 : 449|

Status und Capitis deminutio.

da dieſe Fähigkeit mit der Civität völlig zuſammenfällt,

alſo nicht geeignet iſt, einen eigenen, von der Civität ver-

ſchiedenen, Status zu bilden.

Der zweyte Weg der Erklärung bezieht den Status fa-

miliae auf die Eintheilung der Menſchen in Abhängige

und Unabhängige (§ 67). Den Status familiae eines Men-

ſchen beſtimmen, heißt alſo nun ſo viel als angeben, ob

derſelbe sui juris oder alieni juris iſt. Und nun zeigt ſich

ſogleich die Möglichkeit, alle oben vorgebrachte Einwürfe

abzuwehren. Der dritte Status hat nun mit den beiden

erſten das Gemeinſame, daß er ſich, eben ſo wie jene, auf

die Rechtsfähigkeit bezieht. Daß es überhaupt drey

Bedingungen höherer Rechtsfähigkeit giebt: Freyheit, Civi-

taͤt, Unabhängigkeit — dieſes iſt ohnehin unzweifelhaft.

Und für dieſe unbeſtrittene Lehre hätten wir jetzt in den

drey Status einen angemeſſenen Ausdruck gefunden. Der

Status libertatis z. B. bezeichnet uns nun nicht mehr das

Freyſeyn an ſich, ſondern die durch die Freyheit bedingte

Rechtsfähigkeit: und nun erſcheint es durchaus nicht mehr

inconſequent, Freyheit, Civität und Unabhängigkeit (Fa-

milie) als Status zu bezeichnen, das Eigenthum aber, die

Ehe, das Erbrecht u. ſ. w. von dieſer Benennung auszu-

ſchließen, da der Erwerb dieſer Rechte uns zwar wichtige

Befugniſſe gewährt, aber in unſrer Rechtsfähigkeit durch-

aus keine Veränderung hervorbringt. — Auf der andern

Seite ſchließt ſich an dieſe Auffaſſung die dreyfache Capi-

tis deminutio auf die einfachſte und natürlichſte Weiſe an.

 

II. 29

|0464 : 450|

Beylage VI.

Jede Capitis deminutio erſcheint uns nun als Degrada-

tion in Beziehung auf einen der drey Status. Und ſo

zeigt ſich jetzt nach allen Seiten hin ein völlig befriedi-

gender innerer Zuſammenhang, anſtatt der bey der ande-

ren Erklärungsweiſe wahrgenommenen Willkührlichkeit und

Inconſequenz.

Indeſſen kann dieſer innere Zuſammenhang doch nur

als negative Rechtfertigung der zuletzt verſuchten Erklä-

rungsweiſe gelten. Das Unlogiſche kann allerdings nicht

geduldet werden, aber das logiſch Tadelloſe iſt darum noch

nicht hiſtoriſch wahr. Und ſo wird es ſich in der That

durch die nachfolgende Unterſuchung ergeben, daß auch

dieſe letzte Erklärungsweiſe, ungeachtet ihrer formalen Ta-

delloſigkeit, dennoch aufgegeben werden muß.

 

IV.

Hugo hat, im richtigen Gefühl der Mangelhaftigkeit

der gewöhnlichen Lehre vom Status, nicht blos die drey

Status verworfen, ſondern auch dem Ausdruck Status jede

techniſche Bedeutung abgeſprochen. Nach ihm heißt Sta-

tus, und eben ſo conditio, ſo viel als Zuſtand oder Be-

ſchaffenheit überhaupt, es wird von Juriſten ſo wie jedes

andere Wort aus dem gemeinen Leben gelegentlich ge-

braucht, iſt aber durchaus kein juriſtiſches Kunſtwort (a).

 

Und in der That findet ſich dieſer unbeſtimmte, nicht-

techniſche Gebrauch des Worts ſehr häufig, ſowohl bey

 

(a) Hugo Rechtsgeſchichte Ausg. 11. S. 118.

|0465 : 451|

Status und Capitis deminutio.

Juriſten, als bey anderen Schriftſtellern: dieſes iſt der

Fall in allen Stellen, worin der Ausdruck mit einem an-

deren Gegenſtand als einer Perſon in Verbindung geſetzt

wird, wenngleich manche dieſer Stellen durch eine ſchein-

bare Beziehung auf Perſonen, ja insbeſondere auf die

oben erwähnten drey Status der Perſonen, leicht täuſchen

können.

So z. B. wenn von einem Status facultatium oder pe-

culii die Rede iſt (b), ſo wird darunter gewiß nichts An-

deres verſtanden, als die Beſchaffenheit des Vermögens

oder des Pecnlii, das heißt ſo viel als der Umfang oder

Geldwerth derſelben. — Eben ſo ferner in der Stelle des

Cicero de legibus I. 7, die man oft mit Unrecht in die

juriſtiſche Lehre vom Status eingemiſcht hat: Agnationi-

bus familiarum distinguuntur status. Das heißt: zu je-

der Familie gehören nicht mehr und nicht weniger Men-

ſchen, als gerade mit einander im Agnationsverhältniß

ſtehen, ſo daß durch die Agnation der Umfang, die Glie-

derzahl, der Beſtand (status) einer jeden Familie beſtimmt

wird. Es iſt blos ein in den Worten liegender täuſchen-

der Schein, welcher uns verleiten kann, die hier genann-

ten Status familiarum mit dem von unſren Juriſten erfun-

denen Status familiae zu verwechſeln; denn Cicero ge-

 

(b) L. 2 § 1. 2. 3 ubi pupillus

(27. 2). Hier iſt abwechslend die

Rede von modus, vires und sta-

tus facultatium, welche Aus-

drücke alſo gewiß gleichbedeutend

ſind. — L. 32 § 1 de pecul. (15. 1.).

— Andere ähnliche Stellen finden

ſich bey Brissonius v. Status

num. 2.

29*

|0466 : 452|

Beylage VI.

braucht hier Status genau in demſelben Sinn, welcher

oben dem Status peculii zum Grund lag. — Endlich ge-

hört dahin auch noch eine Stelle der Digeſten, die eben

ſo oft benutzt, als zweifelhaft befunden oder misverſtan-

den worden iſt, L 5 § 1. 2 de extraord. cogn. (50. 13.):

„Existimatio est dignitatis inlaesae status … Minuitur

„existimatio, quotiens manente libertate circa statum di-

„gnitatis poena plectimur, sicuti cum relegatur quis, vel

„cum ordine movetur” etc. Daraus haben die Neueren

einen Status existimationis gemacht: wörtlich iſt hier ein

Status dignitatis genannt: in der That aber hat der

Ausdruck hier diefelbe blos faktiſche Bedeutung, wie in

den oben angeführten Stellen (c). Dignitas iſt die äußere

Stellung eines Menſchen, worin ſeine perſoͤnliche Würde

erſcheint, woran ſich alſo die öffentliche Werthſchätzung

natürlich anknüpft (d). So lange der von uns einmal er-

langte Grad oder Zuſtand dieſer dignitas unverletzt bleibt,

(c) Ganz in dieſem Sinne iſt

auch bey Brissonius v. Status

die L. 5 de eztr. cogn. unter

num. 2 geſetzt, wo die blos fak-

tiſchen Anwendungen des Aus-

drucks Status zuſammengeſtellt

ſind. — Über die L. 5 cit. vergl.

auch § 79. a.

(d) Dieſe Bedeutung des Wor-

tes dignitas wird durch folgende

Anwendungen beſonders anſchau-

lich: L. 49 § 4 de leg. 3 (32. un.).

„Parvi autem refert, uxori an

„concubinae quis leget, quae

„ejus causa emta parata sunt:

„sane enim, nisi dignitate, ni-

„hil interest.” (Das heißt: nur

die uxor nimmt Theil an dem

Rang und Stand des Mannes,

und durch dieſes äußere Kenn-

zeichen iſt dieſelbe am leichteſten

und ſicherſten von einer concu-

bina zu unterſcheiden). L. 14 pr.

de muner. (50. 4.). „Honor mu-

nicipalis est administratio rei-

publicae cum dignitatis gradu”

(nämlich weil es auch ſtädtiſche

Geſchäfte giebt, die dem, welcher

ſie beſorgt, keinen neuen Rang

geben).

|0467 : 453|

Status und Capitis deminutio.

haben wir eine reine, vollſtändige existimatio. Die exi-

stimatio kann aber vermindert oder ganz aufgehoben wer-

den durch Ehrenſtrafen, d. h. durch ſolche Strafen, welche

gerade auf Herabſetzung des Grades jener dignitas be-

rechnet ſind (quotiens circa statum dignitatis poena plecti-

mur); vermindert wird ſie ſchon durch jede Verbannung,

durch die Ausſtoßung aus einem höheren Ehrenſtand (Se-

natoren oder Decurionen), durch jede Art der Infamie;

aufgehoben wird ſie durch ſolche Strafen, die dem Ver-

brecher die Freyheit oder Civität entziehen. Schon hier

iſt es klar, daß der Status dignitatis dieſer Stelle mit den

ſogenannten drey Status gar keine Gemeinſchaft hat. Denn

er ſoll ja verändert werden können bey bleibender Frey-

heit und Civität, iſt alſo von dieſen beiden Status ganz

verſchieden; mit dem Status familiae aber hat er ganz ge-

wiß keine Berührung. Noch unzweifelhafter aber wird die

blos faktiſche Natur des hier erwähnten Status dignitatis

weiter unten hervortreten, wo gezeigt werden ſoll, daß

der wirklich juriſtiſche Status aller dignitas ſchlechthin ent-

gegen geſetzt wird.

V.

In vielen Stellen alſo findet ſich Hugo’s Erklärung des

Wortes Status bewährt: dagegen geht er wohl zu weit,

indem er ihr allgemeine Gültigkeit beylegt. Vielmehr müſ-

ſen wir anerkennen, daß die alten Juriſten, da wo ſie

von dem Status, als Eigenſchaft einer Perſon, reden, den-

 

|0468 : 454|

Beylage VI.

ſelben allerdings in einer techniſchen Bedeutung nehmen,

und dieſe ſoll nunmehr feſtgeſtellt und erwieſen werden.

Status heißt in dieſem techniſchen Sinn bey den Rö-

miſchen Juriſten die Stellung oder der Standpunkt, wel-

chen der einzelne Menſch im Verhältniß zu anderen Men-

ſchen einnimmt. Da nun jeder Menſch in zweyerley Ver-

hältniſſen lebt, öffentlichen und Privatverhältniſſen, ſo

koͤnnte wohl auch ein zwiefacher Status unterſchieden wer-

den, publicus und privatus. Dieſe Ausdrücke wären ganz

Römiſch gebildet, und es ſcheint blos zufällig, daß ſie

nicht gerade ſo in den erhaltenen Stellen der alten Juri-

ſten vorkommen; denn, was die Hauptſache iſt, die Be-

griffe ſelbſt ſind den Römern geläufig, die einzelnen Fälle

des Status (im techniſchen Sinn) ſind auch wirklich unter

dieſen Begriffen enthalten, und erſchöpfen dieſelben: nur

da wo dieſe Begriffe im Allgemeinen erwähnt und einan-

der entgegengeſetzt werden, ſind nicht jene präciſen Aus-

drücke gebraucht, ſondern anſtatt derſelben die allgemeine-

ren, und mehr beſchreibenden Ausdrücke: publica jura, ci-

vitatis jura, und im Gegenſatz derſelben: privata hominis

et familiae jura (a).

 

Dieſe Grundbegriffe nun vorausgeſetzt, ſoll unterſucht

werden, welche einzelne Verhältniſſe in conſequenter An-

wendung darunter bezogen werden können.

 

Unter den ſtaatsrechtlichen Status (publicus) wären

zu beziehen vor Allem die Freyheit und die Civität, als

 

(a) L. 5 § 2 L. 6 de cap. iminutis (4. 5.).

|0469 : 455|

Status und Capitis deminutio.

die Grundbedingungen aller zum öffentlichen Recht gehö-

renden Befugniſſe; eben ſo aber auch, wie es ſcheint, ſehr

vieles Andere, namentlich die Stellung eines Magiſtratus,

Senators, Ritters, eines Juder u. ſ. w. Allein es iſt zu

bedenken, daß es die alten Juriſten ſind, die von dieſem

Gegenſtand reden, und natürlich nur im Intereſſe ihrer

Wiſſenſchaft. Ihre Wiſſenſchaft aber iſt lediglich das Pri-

vatrecht, keinesweges alles Dasjenige, was wir Neueren

zu der Rechtswiſſenſchaft zu rechnen gewohnt ſind. Da-

her gelten ihnen denn als (publicus) Status nur diejeni-

gen perſönlichen Zuſtände des öffentlichen Rechts, welche

Einfluß auf das Privatrecht haben. Dieſes iſt der Fall

bey der Freyheit und Civität, weil durch dieſe die pri-

vatrechtliche Rechtsfähigkeit bedingt iſt, bey allen übrigen

ſtaatsrechtlichen Zuſtänden iſt es nicht der Fall. Daraus

folgt, daß zwar die Freyheit und Civität als Status be-

zeichnet werden müſſen, nicht aber die Zuſtände eines Ma-

giſtratus, Senators, Ritters, Juder. — Daß Dieſem nun

wirklich ſo iſt, das heißt daß die Römer dieſe etwas ſub-

tile Unterſcheidung nicht blos von ihrem Standpunkt aus

conſequenterweiſe vornehmen konnten, ſondern auch wirk-

lich vorgenommen haben, ſoll nunmehr durch Zeugniſſe

erwieſen werden.

L. 20 de statu hom. (1. 5.). „Qui furere coepit, et

„statum, et dignitatem, in qua fuit, et magistratum

(b)

 

,

(b) Man könnte einwenden, die

Magiſtratur ſey ja auch eine dig-

nitas, alſo bezeichne in dieſer

Stelle die Verbindung durch et

|0470 : 456|

Beylage VI.

„et potestatem videtur retinere, sicut rei suae do-

„minium retinet.”

§ 5 J, de cap. demin. (1. 16.). „Quibus autem digni-

„tas magis, quam status permutatur, capite non mi-

„nuuntur: et ideo Senatu motum capite non minui

„constat.”

In beiden Stellen werden Status und dignitas augen-

ſcheinlich unterſchieden und entgegengeſetzt, und es wird

namentlich die Würde eines Senators für etwas von dem

Status völlig Verſchiedenes erklärt, welches nur aus der

oben dargeſtellten Unterſcheidung begreiflich wird, ſo daß

dadurch dieſe ihre volle Beſtätigung erhält. Eben dahin

gehört auch noch folgende Stelle:

 

L. 6 C. ex quib. caus. inf. (2. 12.). „Ad tempus in

„opus publicum damnati pristinum quidem statum

„retinent, sed damno infamiae post impletum tem-

„pus subjiciuntur.”

Daß die Infamie eine ungemeine Veränderung in der

dignitas hervorbringt, verſteht ſich von ſelbſt, und wird

 

überhaupt keine Verſchiedenheit.

Man könnte noch weiter gehen

mit dieſer Bemerkung, indem ja

auch die Stelle des magistratus

eine potestas enthält. Der Ge-

dankengang ſcheint aber folgen-

der: Wahnſinn entzieht nicht den

Status; nicht die (davon verſchie-

dene) dignitas, die ja auch in

einer bloßen Ehrenauszeichnung

beſtehen kann; ſelbſt nicht (was

man am erſten erwarten könnte)

die mit einer Regierungsgewalt

verbundene dignitas des magi-

stratus; endlich auch nicht die

Privatgewalt (die väterliche). —

Allerdings hätte durch beſtimmte-

ren Ausdruck dieſer Zweifel ver-

hütet werden können; in der fol-

genden Stelle aber iſt auch dieſes

Bedenken nicht vorhanden.

|0471 : 457|

Status und Capitis deminutio.

auch in L. 5 § 2 de extr. cogn. ausdrücklich bemerkt: die

Fähigkeit zu allen oͤffentlichen Ehren und Würden geht

dadurch gänzlich verloren (c): dennoch ſoll ſie auf den

Status gar keinen Einfluß haben. Hierin liegt denn zu-

gleich die Vollendung des Beweiſes, daß bey dem Status

dignitatis der L. 5 de extr. cogn. (ſ. o. Num. IV.) der

Ausdruck Status nicht in dem techniſchen, ſondern in dem

unbeſtimmteren faktiſchen Sinn gebraucht iſt.

Es ſteht alſo feſt, daß zu dem publicus Status (wenn

dieſer Ausdruck erlaubt ſeyn ſoll) die Freyheit und die Ci-

vität zu zählen ſind, aber kein anderes perſönliches Staats-

verhältniß.

 

VI.

Welche perſönliche Verhältniſſe gehören nun ferner un-

ter die privatrechtlichen Status? Wenn man ſich ganz an

die Analogie der ſtaatsrechtlichen halten wollte, dürfte man

nur diejenigen dahin rechnen, welche auf die Rechtsfä-

higkeit Einfluß haben. Allein der Grund, welcher dort

auf eine ſolche Beſchränkung führte, beſtand lediglich darin,

daß nur wenige ſtaatsrechtliche Zuſtände für die Rechts-

wiſſenſchaft (das Privatrecht) Intereſſe hatten; dieſer Grund

fällt jetzt ganz hinweg, da alle hier vorkommende perſön-

liche Verhältniſſe ſchon unmittelbar ihrer eigenen Natur

wegen, nicht blos wegen ihres Einfluſſes auf die Rechts-

fähigkeit, juriſtiſche Bedeutung haben. Daher kommt es,

 

(c) L. 2 C. de dign. (12. 1.), und viele andere Stellen.

|0472 : 458|

Beylage VI.

daß alle privatrechtlichen Verhältniſſe der Perſon als ſol-

cher, das heißt alle Verhältniſſe des Familienrechts (§ 53

— 55), ohne Unterſchied zu den Status gerechnet werden.

Vergleichen wir ſie mit den ſtaatsrechtlichen Status, ſo

liegt darin eine ſcheinbare, aber ganz erklärliche Inconſe-

quenz. Demnach heißt Status jede Stellung des Menſchen

in den einzelnen zur Familie gehörenden Verhältniſſen.

Daß es ſich die alten Juriſten in der That ſo gedacht

haben, nicht blos ſo denken konnten, muß freylich bewie-

ſen werden. Dazu aber iſt es nöthig, zuvor die hier auf-

geſtellten Begriffe (ihre Wahrheit einſtweilen vorausge-

ſetzt), in ihrer vollſtändigen Anwendung darzuſtellen.

Demnach würden überhaupt folgende Verhältniſſe als

Status anerkannt werden müſſen:

 

A. Staatsrechtliche:

1) Freyheit.

2) Civität.

B. Privatrechtliche: alle Verhältniſſe der Familie, alſo

(nach § 54. 55):

1) Ehe.

2) Väterliche Gewalt.

3) Verwandtſchaft.

4) Manus.

5) Servitus.

6) Patronatus.

7) Mancipii causa.

8) Tutela und Curatio.

|0473 : 459|

Status und Capitis deminutio.

In dieſer (noch blos hypothetiſchen) Aufzählung aller

denkbaren Status kommt einer derſelben zweymal vor: die

Freyheit (oder Abweſenheit des Sklavenſtandes) als Grund-

bedingung aller Theilnahme am öffentlichen Recht, und

dann wiederum dieſelbe als Gegenſatz der Sklaverey, welche

eine eigenthümliche Art der häuslichen Abhängigkeit, alſo

ein Familienverhältniß bildet. Bey dieſer Lage der Sache

war es natürlich, einen dieſer beiden Geſichtspunkte als

den überwiegenden zu betrachten. Dann aber mußten zwey

Gründe dahin führen, dieſes Übergewicht vielmehr den

ſtaatsrechtlichen als den privatrechtlichen Status zuzuſchrei-

ben: erſtlich die größere Wichtigkeit des öffentlichen Rechts

überhaupt: zweytens, und noch mehr, die Betrachtung, daß

der Begriff des Sklavenſtandes (des Gegenſatzes der Frey-

heit) umfaſſender iſt als der Begriff der häuslichen Herr-

ſchaft über die Sklaven (dominica potestas). Denn der

Sklavenſtand umfaßt auch die herrenloſen Sklaven (§ 55. a

und § 65), die dominica potestas nur diejenigen Sklaven,

welche gerade im Eigenthum eines Herrn ſtehen. Daher

erſcheint die ſtaatsrechtliche Auffaſſung der Freyheit (mit

ihrem Gegenſatz, der Sklaverey) ſchon deshalb als vor-

herrſchend, weil durch ſie allein der Gegenſtand erſchoͤpft

wird, anſtatt daß die privatrechtliche Auffaſſung nur auf

einen einſeitigen und unvollſtändigen Begriff des Sklaven-

ſtandes führt. Von dieſer Bemerkung wird weiter unten,

bey der Capitis deminutio, Gebrauch gemacht werden.

 

|0474 : 460|

Beylage VI.

VII.

Nunmehr kann der Beweis unternommen werden, daß

in der That die Roͤmiſchen Juriſten unter den (privat-

rechtlichen) Status nichts Anderes verſtanden haben, als

das hier Vorausgeſetzte, nämlich:

die Stellung, welche der einzelne Menſch in den ver-

ſchiedenen Arten des Familienverhältniſſes einnimmt.

 

Ich fange an mit den Inſtitutionen des Gajus, als

dem reinſten und vollſtändigſten Werk, welches aus der

juriſtiſchen Literatur der Römer auf uns gekommen iſt.

Nach einer kurzen Einleitung von den Rechtsquellen giebt

er im § 8. des erſten Buchs den Inhalt des ganzen, durch

jene verſchiedenen Quellen beſtimmten Privatrechts, wo-

von ſein Werk handeln ſoll, alſo an: De juris divisione.

Omne autem jus, quo utimur, vel ad personas pertinet,

vel ad res, vel ad actiones. Sed prius videamus de per-

sonis. Dieſes jus quod ad personas pertinet füllt bey

ihm gerade das erſte Buch. Er handelt dieſen Theil der

Rechtswiſſenſchaft nach drey Eintheilungen der Menſchen

ab, welche ſo lauten:

 

§ 9. De condicione hominum (a). Et quidem summa

divisio de jure personarum haec est, quod omnes

homines aut liberi sunt aut servi.

(a) Bey dieſer Überſchrift muß

jedoch bemerkt werden, daß ſie zu

den wenigen bey Gajus vorkom-

menden Rubriken gehört, und daß

für alle dieſe Rubriken die Ächt-

heit zweifelhaft iſt.

|0475 : 461|

Status und Capitis deminutio.

§ 10. Rursus liberorum hominum alii ingenui sunt, alii

libertini.

§ 48. Sequitur de jure personarum alia divisio. Nam

quaedam personae sui juris sunt, quaedam alieno

juri sunt subjecti.

§ 49. Sed rursus earum personarum, quae alieno juri

subjectae sunt, aliae in potestate, aliae in manu,

aliae in mancipio sunt.

§ 50. Videamus nunc de iis, quae alieno juri sub-

jectae sint: Si cognoverimus, quae istae personae

sint, simul intellegemus, quae sui juris sint.

§ 142. Transeamus nunc ad aliam divisionem. Nam

ex his personis … quaedam vel in tutela sunt, vel

in curatione, quaedam neutro jure tenentur.

Dieſen Stellen liegt folgender Gedanke zum Grunde.

Das jus quod pertinet ad personas hat zu beſtimmen die

condicio hominum oder (wie es im Context heißt) das jus

personarum, das heißt die Stellung, welche der einzelne

Menſch in gewiſſen Verhältniſſen einnimmt. Und welches

ſind dieſe Verhältniſſe? Sie ſind enthalten unter den drey

divisiones, und werden nach deren Anleitung in folgender

Ordnung aufgeführt und abgehandelt:

 

1) Patronatus. Dieſer füllt die ganze erſte divisio.

Denn daß dieſelbe wörtlich den Gegenſatz der Freyen und

|0476 : 462|

Beylage VI.

Sklaven angiebt, iſt nur ſcheinbar, und ſoll nur als Ein-

leitung und Übergang zu den verſchiedenen Arten der Pa-

tronatsrechte dienen. Auf dieſen Zuſammenhang deutet

ſchon der § 10, die ganze nachfolgende Ausführung aber

macht ihn unzweifelhaft.

2) Potestas dominorum oder Servitus.

3) Patria potestas, und (als Grund und Bedingung

derſelben aufgefaßt),

4) Die Ehe.

5) Manus.

6) Mancipii causa.

Num. 2 — 6 erſchöpfen die zweyte divisio.

 

7) Tutela und curatio, als Inhalt der dritten divisio.

Hieraus iſt nun klar, daß Gajus als Arten des jus

personarum genau diejenigen Verhältniſſe angiebt, welche

ich oben als privatrechtliche Status aufgezählt habe. Das

einzige dieſer Verhältniſſe, welches in ſeiner Darſtellung

fehlt, iſt die Verwandtſchaft (Agnation), und es iſt merk-

würdig genug, daß es gerade dasjenige Verhältniß iſt,

welches ſo Viele unter den Neueren für den einzigen Sta-

tus familiae ausgeben. Ich bin aber weit entfernt, auf

dieſe Auslaſſung bey Gajus irgend ein Gewicht zu legen,

und ſie etwa als ein Kennzeichen anzuſehen, als ob die

Agnation von Gajus, oder gar von den alten Juriſten

überhaupt, als etwas den anderen hier genannten Ver-

hältniſſen Ungleichartiges betrachtet worden wäre. Sie

paßte ihm nur gerade nicht unter die drey divisiones, die

 

|0477 : 463|

Status und Capitis deminutio.

ihm zur Darſtellung des Jus quod pertinet ad personas

ſo ſehr tauglich erſchienen. Auch wird ſogleich der un-

mittelbare Beweis geführt werden, daß die Verwandt-

ſchaft von den alten Juriſten wirklich als Status bezeich-

net wurde (Num. IX.).

Die Inſtitutionen Juſtinians befolgen genau denſelben

Gang wie die des Gajus, und ſchließen ſich auch in den

Worten großentheils an die oben aufgenommenen Stellen

an. Auch ſie handeln das ganze Perſonenrecht nach den-

ſelben drey divisiones ab, welche Gajus zum Grunde legt.

Eine Abweichung betrifft den Ausdruck; die Überſchrift,

welche die erſte divisio einleitet, heißt bey Gajus: de con-

dicione hominum, bey Juſtinian: de jure personarum.

Wichtiger iſt die ſehr natürliche Abweichung, daß bey Ju-

ſtinian zwey Rechtsinſtitute weggelaſſen ſind, welche au-

ßer Gebrauch gekommen waren: Manus und Mancipii

causa.

 

Im erſten Buch der Digeſten iſt der fünfte Titel über-

ſchrieben: de Statu hominum. Daß nun der ſo überſchrie-

bene Titel denſelben Gedanken, welcher oben aus Gajus

mitgetheilt wurde, ausdrücken, und nur weiter ausführen

ſoll, wird gleich durch den Anfang deſſelben ganz unzwei-

felhaft. Denn die erſte und dritte Stelle des Titels be-

ſtehen gerade aus den oben aufgenommenen § 8. und 9.

des Gajus. Zwiſchen dieſen beiden Stellen (als L. 2)

ſteht eine andere aus Hermogenian, deren für unſre Un-

terſuchung weſentlichſter Theil ſo lautet:

 

|0478 : 464|

Beylage VI.

Cum igitur hominum causa omne jus eonstitutum sit:

primo de personarum statu … dicemus.

Dazu kommt endlich noch folgende Erklärung der mi-

nima capitis deminutio, worin mehrere Stellen wörtlich

übereinſtimmen:

 

Ulpian. XI. § 13. Minima capitis deminutio est, per

quam, et civitate et libertate salva, status dumtaxat

hominis mutatur.

§ 3 J. de cap. dem. (1. 16.). Minima capitis deminu-

tio est, cum et civitas et libertas retinetur, sed

status hominis commutatur.

Mit dieſer letzten Stelle ſtimmte ohne Zweifel wörtlich

überein Gajus I. § 162, worin nur die hier bedeutenden

Worte unlesbar geblieben ſind.

 

VIII.

Ich will nun in einzelnen Sätzen zuſammenſtellen, was

ſich aus der Vergleichung der angeführten Zeugniſſe als

gemeinſame Anſicht der alten Juriſten ergiebt.

 

1) Das jus quod pertinet ad personas umfaßt ſämmt-

liche, ſehr mannichfaltige Verhältniſſe der Familie.

 

2) Die Stellung, die jedem Menſchen in dieſen ver-

ſchiedenen Verhältniſſen zukommt, wird abwechslend durch

folgende, völlig gleichbedeutende Ausdrücke bezeichnet:

 

Jus personarum (Gajus und Juſtinian).

Personarum status (Hermogenian).

|0479 : 465|

Status und Capitis deminutio.

Condicio hominum (Gajus, wenn anders dieſe Stelle

ächt iſt ſ. o. VII. a).

Status hominum (Digeſten).

Status hominis (Ulpian, Juſtinian, und wahrſcheinlich

Gajus).

3) Status hominum oder hominis bezeichnet alſo nicht

unbeſtimmt einen Rechtszuſtand des Menſchen überhaupt,

ſondern gerade deſſen Familienſtellung, und bildet

daher den beſtimmten Gegenſatz gegen die Stellung im

Staate. Der Status hominis iſt die Stellung des Men-

ſchen (privata hominis et familiae jura), im Gegenſatz

der Stellung des Bürgers (publica und civitatis jura).

 

4) Status alſo bedeutet nicht etwa die höhere Stellung

in jenen verſchiedenen Verhältniſſen, ſondern die Stellung

überhaupt, hoch oder niedrig. Inſofern kann man auch

dem Sklaven einen Status zuſchreiben, nämlich eben ſei-

nen Sklavenzuſtand. Weil aber er unter Allen allein ganz

rechtlos, folglich ſein Zuſtand der einzige blos negative

iſt, ſo wird ihm auch wohl aller status überhaupt abge-

ſprochen (a).

 

5) Jus personarum bezeichnet alſo hier nicht einen Ab-

ſchnitt der Rechtswiſſenſchaft, ſondern einen gewiſſen Zu-

ſtand der einzelnen Menſchen; oder (nach dem Sprachge-

brauch mancher Neueren) es bezieht ſich auf das Recht im

ſubjectiven, nicht im objectiven Sinn (§ 54. d und § 59).

 

(a) L. 3 § 1 L. 4 de cap. min. (4. 5.). Vgl. unten Num. XIII.

II. 30

|0480 : 466|

Beylage VI.

IX.

Folgende in unſren Quellen vorkommende einzelne An-

wendungen ſollen dazu dienen, theils die aufgeſtellten Sätze

zu beſtätigen oder anſchaulich zu machen, theils ſie gegen

ſcheinbare Einwürfe zu vertheidigen.

 

Die häufigſte Anwendung unter allen iſt die in den

Ausdrücken Status quaestio, Status causa, Status contro-

versia. Dieſe Ausdrücke kommen namentlich vor, wenn

über die Agnation zu einem beſtimmten Verſtorbenen, als

Bedingung der Erbfolge, geſtritten wird (a), und dieſer

Umſtand iſt in zweyerley Rückſicht bemerkenswerth: erſtlich

als Beweis, daß jene Ausdrücke wirklich gebraucht wur-

den um den Streit über das Daſeyn von Familienver-

hältniſſen zu bezeichnen; zweytens weil es dadurch unmit-

telbar gewiß iſt, daß auch die Verwandtſchaft von den

alten Juriſten als Status bezeichnet wurde, welches nach

dem Inhalt des erſten Buchs von Gajus bezweifelt wer-

den könnte (Num. VII.).

 

Daneben aber iſt nicht zu verkennen, daß in ungleich

mehreren Stellen jene Ausdrücke gebraucht werden, um

den Streit über Freyheit oder Sklavenſtand, Ingenuität

oder Libertinität, zu bezeichnen, ſo daß wir in jeder Stelle

unſrer Quellen, worin die Ausdrücke unbeſtimmt gebraucht

werden, mit Wahrſcheinlichkeit annehmen können, der Ver-

faſſer habe gerade hieran gedacht. Der Grund dieſes häu-

 

(a) L. 3 § 6 — 11 L. 6 § 3 de Carbon. edicto (37. 10.).

|0481 : 467|

Status und Capitis deminutio.

figeren Sprachgebrauchs liegt jedoch nur in dem zufälli-

gen und faktiſchen Umſtand, daß der Rechtsſtreit über das

Daſeyn von Verwandtſchaftsverhältniſſen ungleich ſeltner

vorkam, als der über Freyheit. Auch dieſes aber läßt

ſich natürlich erklären. Denn theils wurde auf die Ver-

hältniſſe anerkannt freyer Menſchen gewiß mehr Aufmerk-

ſamkeit verwendet, als auf die faktiſche Verwandtſchaft

Derjenigen, die im wirklichen oder ſcheinbaren Sklaven-

ſtand lebten, weshalb jene ſeltener zweifelhaft und beſtrit-

ten ſeyn konnten: theils mußte die Vererbung und Veräu-

ßerung der Sklaven, ſo wie die Fortpflanzung des Skla-

venſtandes durch die Mutter, Gelegenheit zu häufigen

Streitigkeiten geben, wie ſie bey den mehr individuellen

Familienverhältniſſen kaum vorkommen konnten. Endlich

kam auch der Streit über Verwandtſchaft häufig (vielleicht

meiſtens) gar nicht als ſelbſtſtändige status quaestio vor,

ſondern nur als incidens quaestio bey Gelegenheit einer

Erbſchaftsklage (a¹). — Daß aber von einem Streit über

Civität als Status quaestio nicht die Rede iſt, erklärt ſich

aus einem anderen Grunde; darüber kam überhaupt keine

Privatklage vor.

Eine merkwürdige Beſtätigung dieſes gewöhnlichen

Sprachgebrauchs findet ſich in der aus einem Edict von

Nerva herſtammenden Rechtsregel, daß Fünf Jahre nach

dem Tod eines Menſchen keine nachtheilige Status quae-

 

(a¹) Vgl. L. 1 C. de ord. jud. (3. 8.).

30*

|0482 : 468|

Beylage VI.

stio über den Verſtorbenen zugelaſſen werden ſollte (b).

Nach dem allgemein gefaßten Ausdruck konnte man dieſe

Regel auch auf jeden Streit über Familienverhältniß be-

ziehen, z. B. über die Frage, ob eine vorgenommene Eman-

cipation rechtsgültig ſey oder nicht; dennoch war es an-

erkannt, daß dieſe Anwendung nicht in dem Sinn der Re-

gel liege (c), ſo daß dieſelbe lediglich auf die Beſtreitung

der Freyheit oder der Ingenuität des Verſtorbenen bezo-

gen wurde (d). In dieſer Regel bezeichnet alſo Status

nur das, was ich oben den ſtaatsrechtlichen Status ge-

nannt habe, mit Ausſchluß des privatrechtlichen.

Auf dieſen zuweilen vorkommenden engeren Sprachge-

brauch des Worts bezieht ſich auch eine Stelle, welche

von jeher große Zweifel erregt hat:

 

L. 1 § 8 ad Sc. Tert. (38. 17.). Capitis minutio salvo

statu contingens liberis nihil nocet ad legitimam he-

reditatem .... Proinde sive quis .. capite minuatur,

ad legitimam hereditatem admittetur: nisi magna ca-

pitis deminutio interveniat, quae vel civitatem adi-

mit, utputa si deportetur.

Hier unterſcheidet Ulpian offenbar zwiſchen der magna

(d. h. maxima oder media) und minima capitis deminutio

 

(b) Ne de Statu defunctorum

post quinquennium quaeratur.

Dig. XL. 15. Cod. VII. 21.

(c) L. 5 C. ne de statu (7. 21.).

(d) Daß auch der Streit über

Ingenuität, nicht blos der über

Freyheit, unter jener Regel ſtand,

ſagen ausdrücklich L. 1 § 3 ne

de statu (40. 15.). L. 6. 7. C.

eod. (7. 21.). L. 6 C. ubi de

statu (3. 22.). In dieſer letzten

Stelle hob Juſtinian die Regel

in Beziehung auf Ingenuität auf.

|0483 : 469|

Status und Capitis deminutio.

(§ 68. d), und er nennt dieſe letzte: salvo statu contin-

gens, anſtatt daß andere Stellen zu ſagen pflegen: salva

civitate (e). Er gebraucht alſo hier Status für publicus

Status, das heißt in demſelben eingeſchränkten Sinn, der

in der Zuſammenſetzung mit quaestio der gewöhnliche, au-

ßer dieſer Zuſammenſetzung aber (und auch in anderen

Stellen des Ulpian) nicht gewöhnlich iſt. Wir haben da-

her in dieſer Stelle, wie in ſo manchen anderen, mit einem

ſingulären Sprachgebrauch zu thun, dieſe Bemerkung muß

uns genügen, und zu einer Veränderung des Textes iſt

kein Bedürfniß vorhanden (f). — Ein ähnlicher Sprach-

gebrauch findet ſich in einem ſchon oben (Num. V.) mit-

getheilten Reſcript des Severus, L. 6 C. ex quib. c. inf.

Denn auch da heißt Statum retinent: ſie verlieren weder

Freyheit, noch Civität.

In mehreren Stellen kommen vor: de statu suo in-

certi, dubitantes, errantes (g). Dieſer Ausdruck geht auf

Zweifel bald über Freyheit, bald über Unabhängigkeit von

väterlicher Gewalt, beſtätigt alſo ganz unſren vorausge-

ſetzten Begriff.

 

Die häufigſte Anwendung von Status in der Ausdeh-

 

(e) L. 2 pr. L. 5 § 2 de cap.

min. (4. 5.). L. 2 de leg. tutor.

(26. 4.).

(f) Noodt observ. II. 21 will

emendiren: salvo statu c. con-

tingens, welches heißen ſoll: salvo

statu civitatis contingens. Al-

lerdings kommt nun C. als Sigle

für civitas vor: aber theils iſt

jede Annahme von Siglen in den

Digeſten ſehr mißlich, theils iſt

auch die Zuſammenſetzung status

civitatis ohne anderes Beyſpiel:

abgeſehen davon, daß überhaupt

zu irgend einer Emendation keine

Noth drängt.

(g) Ulpian. XX. § 11. L. 14.

15 qui test. (28. 1.).

|0484 : 470|

Beylage VI.

nung, die ich dem Wort beygelegt habe, findet ſich in

der Erklärung der capitis deminutio als einer Status mu-

tatio, worin offenbar Status ſowohl die Freyheit und Ci-

vität, als auch bloße Familienverhältniſſe bezeichnet. Das

Genauere hierüber wird weiter unten vorkommen.

Abwechslend mit Status wird auch condicio gebraucht,

unter andern um das Standesverhältniß in Beziehung

auf Civität zu bezeichnen (h).

 

Folgende Stellen endlich könnten gebraucht werden als

ſcheinbare Beſtätigungen der Annahme von Status naturales.

 

a) Status aetatis.

 

L. 77 § 14 de leg. 2 (31. un.) quamquam igitur testa-

mento cautum esset, ut cum ad statum suum fra-

ter pervenisset; ei demum solveretur etc.

L. 5 C. quando dies (6. 53.). Ex his verbis: Do, lego

Aeliae … quae legata accipere debebit, cum ad le-

gitimum statum pervenerit etc.

In beiden Stellen heißt status suus und legitimus sta-

tus nichts Anderes als Volljährigkeit; aber ein techniſcher

Sprachgebrauch kann daraus gewiß nicht abgeleitet wer-

den, da dieſe Ausdrücke hier nicht von Juriſten oder Kai-

ſern, ſondern von Teſtatoren gebraucht werden, deren ſehr

unjuriſtiſcher Ausdruck oft den alten Juriſten ſelbſt ſo große

Noth macht.

 

b) Status sexus. In dem Digeſtentitel de statu ho-

minum handeln L. 9 und 10 von dem Unterſchied der Män-

 

(h) Gajus I. § 68. Ulpian. V. § 8. VII. § 4.

|0485 : 471|

Status und Capitis deminutio.

ner, Frauen und Hermaphroditen, und Dieſes könnte man

wegen der Überſchrift des Titels für einen Status halten

wollen. Allein bey der compilatoriſchen Entſtehungsweiſe

der Digeſten kann dieſer Umſtand gewiß Nichts beweiſen.

Mag übrigens auch mancher alte Juriſt bey Gelegenheit

der Familienverhältniſſe von dem Unterſchied der Geſchlech-

ter gehandelt haben, was gar nicht unwahrſcheinlich iſt,

ſo ſtellte er denſelben dadurch noch nicht auf gleiche Linie

mit den wirklichen Rechtsverhältniſſen, die als Status be-

zeichnet werden. Überhaupt kommt in jenen beiden Stel-

len das Wort Status gar nicht vor: condicio feminarum

iſt darin allerdings genannt, aber gerade dieſes Wort wird

gewiß noch häufiger als Status in einem unbeſtimmten,

blos faktiſchen Sinn gebraucht.

X.

Die bisher angeſtellte Unterſuchung ergiebt für den

Gattungsbegriff von Status folgendes Reſultat. Status

bezeichnet zwey Verhältniſſe des oͤffentlichen Rechts (Frey-

heit und Civität), und aus dem Privatrecht alle der Fa-

milie angehörende Rechtsverhältniſſe.

 

Die unter dieſer Gattung enthaltenen einzelnen Arten

kann man auf folgende verſchiedene Weiſe anordnen:

 

1) Durch Zurückführung auf allgemeine Begriffe:

Staatsrechtliche Status (Freyheit und Civität).

Privatrechtliche Status (Alle Familienverhältniſſe).

|0486 : 472|

Beylage VI.

2) Durch Aufzählung einzelner Fälle:

Freyheit,

Civität,

Familie (Status hominis),

wobey jedoch bemerkt werden muß, daß die Gleichartig-

keit dieſer drey Fälle nur ſcheinbar iſt, indem die zwey

erſten in der That einfache Verhältniſſe ſind, anſtatt daß

der dritte Fall nur der collective Ausdruck einer Mehr-

heit einfacher Verhältniſſe iſt, alſo mehrere einzelne Fälle

in ſich ſchließt.

 

Keine dieſer beiden Anordnungen hat im Roͤmiſchen

Recht einen unmittelbaren Ausdruck gefunden, aber für

jede derſelben läßt ſich eine indirecte Anerkennung nach-

weiſen. Auf die erſte Anordnung beziehen ſich die Römi-

ſchen Ausdruͤcke magna (major) und minor capitis demi-

nutio (§ 68. d); auf die zweyte die gangbareren Aus-

drücke maxima, media, minima, capitis deminutio (§ 68).

 

Wie verhält ſich nun dazu die bey den Neueren ge-

woͤhnliche Lehre von den drey Status? (Num. II. III.).

Auf den erſten Blick moͤchte man ſie mit der zweyten An-

ordnung für gleichbedeutend halten wollen, das iſt ſie aber

in der That nicht, und zwar in keiner der beider Geſtal-

ten, die man ihr bisher zu geben verſucht hat (Num. III.).

Denn die Agnatenfamilie, die nach der einen Erklärung

als Status familiae gelten ſoll, iſt doch nur eines unter

den zahlreichen Familienverhältniſſen; die Eintheilung der

Menſchen in sui juris und alieni juris (nach der andern

 

|0487 : 473|

Status und Capitis deminutio.

Erklärung), das heißt eigentlich die Geſammtheit der Ab-

hängigkeitsverhältniſſe, iſt zwar umfaſſender als die Agna-

tenfamilie, kommt alſo der Wahrheit näher, läßt jedoch

gleichfalls mehrere Zweige der Familie unberührt, nament-

lich Tutel, Patronat, Verwandtſchaft.

Jetzt erſt läßt ſich mit Erfolg die Frage aufwerfen,

welchen juriſtiſchen Boden die gewöhnliche Lehre von den

drey Status haben moͤge.

 

Daß in keiner Stelle der Alten die drey Status er-

wähnt werden, muß wohl Jeder zugeſtehen, und dieſer

Umſtand iſt um ſo bedenklicher, als die ganz nahe liegende

dreyfache capitis deminutio häufig genug vorkommt.

 

Aber auch einzeln kommen die den Neuern ſo geläufi-

gen Namen der drey Status beynahe gar nicht vor. Status

civitatis und Status familiae finden ſich durchaus nicht, und

Status libertatis finde ich nur in einer einzigen Stelle ganz

ſpäter Zeit, in einer Conſtitution von Conſtantin (a); auch

hier aber ohne alle Beziehung auf den wirklichen Begriff

 

(a) L. 5 C. Th. ad Sc. Claud.

(4. 11.) bey Hänel p. 401: „Quae-

cunque mulierum .. servi contu-

bernio se miscuerit … statum

libertatis amittat.” — Man könn-

te noch darauf beziehen Sueto-

nius de illustr. Grammaticis

Cap. 21 „C. Melissus ingenuus,

sed ob discordiam parentum

expositus … quamquam adse-

rente matre, permansit tamen

in statu servitutis: praesentem-

que conditionem verae origini

praeposuit, quare cito manu-

missus … est.” Allein hier heißt

offenbar status servitutis der blos

auf Irrthum beruhende faktiſche

Zuſtand der Unfreyheit: der Aus-

druck iſt alſo hier in dem oben

(Num. IV.) erwähnten, nichttech-

niſchen Sinn genommen. Denn

der wirkliche status des Meliſſus

war ja der aus der vera origo

hervorgehende.

|0488 : 474|

Beylage VI.

von Status, und nur als eine ganz müßige, nichtsſagende

Varietät für libertas allein.

Scheinbare Beſtätigung erhält die Lehre von den drey

Status durch künſtliche Herleitung aus zwey in unſren

Quellen enthaltenen Angaben, woraus allein jene Lehre au-

genſcheinlich entſtanden iſt:

 

a) Aus der dreyfachen capitis deminutio, verbunden

mit der Definition der capitis deminutio als Status muta-

tio, wodurch beide Begriffe in unmittelbare Verbindung

geſetzt werden. Davon kann erſt weiter unten, durch die

Unterſuchung der wahren Natur der capitis deminutio,

Rechenſchaft gegeben werden.

 

b) Aus folgender Stelle des Paulus:

 

L. 11 de cap. min. (4. 5.). „Capitis deminutionis tria

genera sunt: maxima, media, minima; tria enim sunt,

quae habemus, libertatem, civitatem, familiam” etc.

Auch dieſe Stelle kann erſt bey der capitis deminutio

vollſtändig erklärt werden. Schon hier aber muß es je-

dem Unbefangenen auffallen, daß gerade der Ausdruck

Status von Paulus nicht gebraucht iſt, ſondern an deſ-

ſen Stelle der höchſt ſeltſame, von keinem Standpunkt

aus zu rechtfertigende, Ausdruck quae habemus. Einen

entſcheidendern Beweis kann es kaum geben, daß die Rö-

mer die drey Status, wenigſtens unter dieſem Namen, nicht

kannten; ſonſt hätte gewiß Paulus nicht unterlaſſen, den

ſicheren und bequemen Kunſtausdruck zu gebrauchen an-

ſtatt einer höchſt ungenügenden Umſchreibung.

 

|0489 : 475|

Status und Capitis deminutio.

XI.

In der Lehre von der dreyfachen Capitis deminutio

(§ 68 — 70) iſt Vieles einfach und faſt unbeſtritten. Da-

hin rechne ich die Natur der beiden höheren Arten derſel-

ben (maxima und media): ferner die Angabe der meiſten

einzelnen Fälle, in welchen eine ſolche anzunehmen iſt:

endlich auch ihre Wirkungen.

 

Einige Stücke derſelben aber gehören zu den vorzüg-

lich ſchwierigen und ſtreitigen Fragen des alten Rechts,

und dieſe ſollen nunmehr einer beſondern Unterſuchung un-

terworfen werden. Dahin gehört die genaue Beſtimmung

des allgemeinen Begriffs: der beſondere Begriff der unter-

ſten Art derſelben (minima): endlich einige wenige Fälle

der Anwendung.

 

Der Gattungsbegriff der Capitis deminutio wird von

den alten Juriſten übereinſtimmend, und nur mit Abwei-

chungen in Nebenausdrücken, dahin beſtimmt: es ſey eine

Status mutatio (§ 68. b). Durch dieſe Definition werden

wir alſo zurück verwieſen auf den allgemeinen Begriff des

Status, für welchen oben (Num. III. und X.) drey mehr

oder weniger verſchiedene Erklärungen aufgeſtellt worden

ſind. Dieſe ſtimmten unter einander darin überein, daß

Freyheit und Civität in allen enthalten war: neben beiden

aber noch ein Drittes, in deſſen Angabe die Meynungen

aus einander giengen. Demnach wäre die oben angege-

bene Definition der Capitis deminutio dahin zu entwickeln,

daß ſie beſtehen müßte in einer Veränderung:

 

|0490 : 476|

Beylage VI.

entweder der Freyheit (maxima),

oder der Civität (media),

oder eines Dritten, je nach jenen drey Erklärun-

gen Verſchiedenen (minima).

Dieſes Dritte nun, durch deſſen Veränderung eine Ca-

pitis deminutio (naͤmlich die minima) bewirkt werden koͤnnte,

müßte ſeyn:

 

1) nach der einen Erklärung: die Agnatenfamilie,

2) nach der andern: die Unabhängigkeit oder Abhän-

gigkeit,

3) nach der dritten: irgend ein Familienverhältniß,

worin alſo die in den beiden erſten Erklärungen voraus-

geſetzten Veränderungen unter andern auch mit begriffen

wären.

Bey jeder dieſer drey Erklärungen entſteht ein großes,

ihnen gemeinſames Bedenken, daß nämlich nur eine Ver-

änderung überhaupt, und nicht eine nachtheilige Ver-

änderung gefordert werden ſoll, ſo daß alſo auch eine vor-

theilhafte oder gleichgültige unter jenem Begriff enthalten

ſeyn könnte. Dieſe nothwendige Folge der aufgeſtellten

Definition widerſpricht:

 

a) dem Ausdruck deminutio, der doch geradezu eine

Verminderung, einen Verluſt bezeichnet (a);

(a) Dieſem Einwurf begegnet

Noodt Comm. in Dig. IV. 5

durch die Bemerkung, minuere

könne auch ſo viel heißen als

mutare überhaupt. Allein von

dem Begriff des minuere iſt die

Verminderung oder der Verluſt

unzertrennlich; und wenn in ein-

zelnen Fällen jene beiden Aus-

drücke identiſch ſeyn mögen, ſo

entſteht dieſes gerade umgekehrt

nur dadurch, daß das mutare

|0491 : 477|

Status und Capitis deminutio.

b) dem unzweifelhaften Sprachgebrauch in manchen

einzelnen Fällen der Anwendung. Denn wenn ein Pere-

grine oder Latine die Civität erhielt, ſo ereignete ſich für

ihn gewiß eine bedeutende Status mutatio, aber unmoͤglich

hätte ein Römer dieſe Standeserhöhung eine Capitis de-

minutio nennen können.

Nach den zwey letzten Erklärungen kommt noch ein

anderes Bedenken hinzu. Eine ſolche Veränderung, wo-

durch ein bisher Abhängiger die Unabhängigkeit erlangt,

kann auch aus einem Naturereigniß (dem Tod des Va-

ters) entſtehen. Da nun dieſer Fall gewiß nicht als Ca-

pitis deminutio angeſehen werden kann, ſo müßte die De-

finition wenigſtens den Zuſatz bekommen: Veränderung

durch juriſtiſche Handlungen, nicht durch natürliche Urſa-

chen. Wird übrigens dem erſten Bedenken abgeholfen, ſo

iſt dadurch das zweyte zugleich mit erledigt. Denn der

eben angegebene Fall beſteht in einer vortheilhaften Ver-

änderung, und es läßt ſich kein Fall einer nachtheiligen

auffinden, welcher durch bloße Naturereigniſſe herbeyge-

führt würde.

 

Es ergiebt ſich hieraus, daß nach jeder der drey Er-

klärungen des Status, jene Definition ſo ergänzt werden

müſſe: Status mutatio in deterius. Allein auch in ihrer

erſten Unvollſtändigkeit iſt ſie doch keinesweges leer und

nichtsſagend. Denn ſie fordert doch immer eine den Sta-

 

zufällig einen Verluſt ſchon in ſich begreift. Vgl. Conradi parerga

p. 171.

|0492 : 478|

Beylage VI.

tus berührende Veränderung, ſchließt alſo z. B. den Ver-

luſt der bloßen dignitas von dem Begriff der Capitis de-

minutio aus.

Mir ſcheint nun aber auch dieſe Ergänzung der Defi-

nition noch nicht genügend. Vielmehr wird dieſelbe voll-

ſtändig ſo lauten müſſen:

Veränderung des Status, zum Nachtheil, und zwar ge-

rade in Beziehung auf die Rechtsfähigkeit.

 

Da nun aber jede Verminderung der Rechtsfähigkeit

gar nicht anders denkbar iſt, als durch eine im Status vor-

gehende Veränderung, ſo läßt ſich nun die ganze Defini-

tion kürzer, und dennoch erſchöpfend, auch ſo faſſen:

Capitis deminutio heißt jede Verminderung der Rechts-

fähigkeit (§ 68).

 

XII.

Die größten Zweifel finden ſich bey dem Begriff der

minima c. d., indem derſelbe von den alten Juriſten ſelbſt

auf zweyerley, dem Weſen nach verſchiedene, Weiſe be-

ſtimmt wird.

 

1) Paulus ſagt, ſie beſtehe in der Veränderung der

Familie, das heißt in dem Austritt aus der angebornen

Agnatenfamilie (a).

 

L. 11 de cap. min. (4. 5.) .. cum et libertas et civi-

(a) Es iſt alſo hier gemeynt

die familia communi jure, nicht

jure proprio, nach Ulpians Un-

terſcheidung in L. 195 § 2 de V.

S. (50. 16.).

|0493 : 479|

Status und Capitis deminutio.

tas retinetur, familia tantum mutatur, minimam

esse capitis deminutionem constat.

L. 3 pr. eod. Liberos, qui adrogatum parentem se-

quuntur, placet minui caput .. cum familiam mu-

taverint.

L. 7 pr. eod. Tutelas etiam non amittit capitis minu-

tio … Sed legitimae tutelae ex duodecim tabulis

intervertuntur … quia agnatis deferuntur, qui desi-

nunt esse, familia mutati.

Nach dieſer Erklärung, worin er ſich überall gleich

bleibt (b), bezieht er alſo die minima c. d. allerdings auf

einen privatrechtlichen Status, aber nicht auf jeden über-

haupt, ſondern nur auf einen einzigen: und merkwürdi-

gerweiſe iſt dieſes gerade derjenige, deſſen Anerkennung

in der Reihe der privatrechtlichen Status, nach dem In-

halt des erſten Buchs des Gajus, allein bezweifelt wer-

den könnte (Num. VII.).

 

2) Ulpian und die Inſtitutionen, ohne Zweifel auch

Gajus, erklären die minima c. d. als eine Begebenheit,

 

(b) Man könnte glauben, in

folgender Stelle ſchwanke er nach

der andern Erklärung hinüber.

Paulus III. 6 § 29 Capitis mi-

nutione amittitur (ususfructus),

si in insulam fructuarius de-

portetur, vel si ex causa me-

talli servus poena efficiatur, aut

si statum ex adrogatione vel

adoptione mutaverit. Hier ſollen

indeſſen die Worte statum muta-

verit nicht als ſpecielle Bezeich-

nung der minima c. d. gelten

(ſonſt hätte hominis dabey ſtehen

müſſen), ſondern als wiederho-

lender Ausdruck der c. d. über-

haupt. Denn ſo kommen ſie ja

überall bey den alten Juriſten

vor, und Paulus wollte gewiß

nicht andeuten, der Ausdruck sta-

tum mutaverit paſſe nur auf den

Adoptirten, und nicht auch auf

den Deportirten oder den Berg-

werksſklaven.

|0494 : 480|

Beylage VI.

wodurch der privatrechtliche Status (St. hominis) verän-

dert werde, während die Freyheit und Civität unverän-

dert bleiben.

Ulpian. XI. § 13: Minima capitis deminutio est, per

quam, et civitate et libertate salva, status dumtaxat

hommis mutatur.

§ 3 J. de cap. demin. (1. 16.). Minima capitis demi-

nutio est, cum et civitas et libertas retinetur, sed

status hominis commutatur.

Gajus I. § 162. In ihm ſind gerade die hier entſchei-

denden Worte unlesbar geblieben; nach den erhalte-

nen Worten aber darf man annehmen, daß ſie eben

ſo lauteten, wie wir ſie in Juſtinians Inſtitutio-

nen leſen.

Wollte man noch zweifeln, ob auch wirklich Status ho-

minis hier den ausgedehnten Sinn habe, welcher durch

den Zuſammenhang mit vielen anderen Stellen begründet

wird (Num. VIII.), ſo würde dieſer Zweifel wenigſtens

durch die in den Inſtitutionen unmittelbar folgende erläu-

ternde Anwendung beſeitigt werden:

Quod accidit in his, qui cum sui juris fuerunt, coe-

perunt alieno juri subjecti esse, vel contra. Servus

autem manumissus capite non minuitur, quia nullum

caput habuit.

 

In dieſen Anwendungen, und beſonders in der Art wie

die Anwendung auf den Sklaven abgelehnt wird, iſt keine

Spur wahrzunehmen von einer Beſchränkung der mi-

 

|0495 : 481|

Status und Capitis deminutio.

nima c. d. auf die Agnatenfamilie, alſo von der Deutung,

welche Paulus dieſem Kunſtausdruck giebt.

Nach den oben entwickelten Gründen muß nun die Er-

klärung des Gajus und Ulpian als richtig anerkannt, und

nur auf folgende Weiſe ergänzt werden:

Minima c. d. heißt eine Veränderung des privatrechtli-

chen Status (der Familienverhältniſſe), welche mit einer

Verminderung der Rechtsfähigkeit verbunden iſt.

 

Iſt dieſe Beſtimmung des Begriffs richtig, ſo werden

wir folgende Fälle der minima c. d. anerkennen müſſen

(§ 68).

 

1) Jede Verwandlung eines Unabhängigen (sui juris)

in einen Abhängigen (alieni juris).

 

2) Jede Degradation eines Kindes oder einer Frau

aus der potestas oder manus in die mancipii causa.

 

Dagegen werden wir nicht dahin zu rechnen haben:

 

a) Die Verwandlung eines Freyen in einen Sklaven,

denn dieſe gilt vielmehr als maxima c. d. (c). Der Grund

liegt darin, daß eine ſolche Veränderung zwey verſchie-

dene Beziehungen hat: ſie iſt nämlich zugleich Eintritt in

den Sklavenſtand, und Begründung einer häuslichen po-

testas. In der erſten Beziehung gehört ſie dem öffentli-

chen Recht an, in der zweyten dem Privatrecht. Da nun

 

(c) Daſſelbe müſſen wir be-

haupten von der Verwandlung

eines Ingenuus in einen Liberti-

nus, wenn dieſe überhaupt als Ca-

pitis deminutio betrachtet wurde.

Vgl. § 68. e.

II. 31

|0496 : 482|

Beylage VI.

aber die erſte Beziehung die überwiegende iſt, ſo gilt ſie

überhaupt als maxima, nicht als minima c. d. (vergl.

Num. VI. und § 68).

b) Die Verwandlung eines Vormundsfreyen in einen

Bevormundeten. Denn dieſe verändert allerdings den

Status hominis, aber ohne die Rechtsfähigkeit zu vermin-

dern. Der Wahnſinnige alſo, der unter Curatel kommt,

erleidet keinesweges eine Capitis deminutio (d).

 

Die Neueren pflegen entweder eine jener beiden alten

Erklärungen der minima c. d. anzunehmen, oder zwiſchen

beiden hin und her zu ſchwanken. Es kommt auch wohl

vor, daß eine Vereinigung von beiden verſucht wird, ſo

daß die minima c. d. zwey Fälle umfaſſen ſoll: Verluſt

der eigenen Familie (Verwandlung des sui juris in alieni

 

(d) L. 20 de statu hom. (1. 5.)

„Qui furere coepit, et statum,

et dignitatem … videtur reti-

nere, sicut rei suae dominium

retinet.” Bey dem Status war

zunächſt an Freyheit und Civität

gedacht, wie der Gegenſatz der

dignitas zeigt, und dadurch iſt

das videtur retinere gerechtfer-

tigt. Für den Status hominis

läßt ſich allerdings eine mutatio

behaupten, aber gewiß keine Ca-

pitis deminutio. — Zweifelhafter

iſt die Sache bey dem commer-

cium interdictum des prodigus,

da dieſer die testamentifactio

verliert. Ulpian. XX. § 13. L. 18

pr. qui test. (28. 1.). § 2 J.

quibus non permittitur (2. 12.).

Eigentlich aber iſt es doch auch

hier nur Fiction des Wahnſinns,

alſo einer natürlichen Handlungs-

unfähigkeit, ſo daß der Ausdruck

testamentifactio in dem, auch

ſonſt wohl vorkommenden, fakti-

ſchen Sinn gebraucht wird. Der

Beweis liegt darin, daß das von

dem Verſchwender vor der Inter-

diction gemachte Teſtament ſchlecht-

hin gültig bleibt (L. 18 cit. § 2

J. cit.), anſtatt daß jede capitis

deminutio das Teſtament zer-

ſtört, und ſelbſt die indirecte prä-

toriſche Aufrechthaltung nur ein-

tritt bey einer vorübergehenden

Unfähigkeit in der Zwiſchenzeit,

nicht bey einer ſolchen, die noch

zur Zeit des Todes fortdauert.

Ulpian. XXIII. § 4. 6.

|0497 : 483|

Status und Capitis deminutio.

juris), und der gemeinſcheinſchaftlichen, das heißt der Agna-

tenfamilie (e).

XIII.

Es iſt alſo jetzt zwiſchen zwey Angaben der alten Ju-

riſten ſelbſt zu entſcheiden, deren eine (von Paulus her-

rührend) die minima c. d. als Veränderung der Agnaten-

familie, die andere als Veränderung irgend eines Fami-

lienverhältniſſes (nach meiner Ergänzung: verbunden mit

verminderter Rechtsfähigkeit) erklärt.

 

Folgende Gründe entſcheiden gegen die Erklärung des

Paulus.

 

I. Der erſte Grund liegt in dem Namen der Capitis

deminutio. Dieſer uralte Name fordert eine Erklärung.

Es muß daher eine Bedeutung des Wortes caput nach-

gewieſen werden, woraus es begreiflich werde, warum

gerade dieſes Wort zur Bezeichnung derjenigen Ereigniſſe

verwendet wurde, welche unſtreitig den Namen Capitis

deminutio führen. Was heißt alſo hier caput?

 

Nach Paulus müßte es geradezu das Familienband

heißen; allein wo findet ſich auch nur eine entfernte Ana-

logie, um dieſe Worterklärung zu unterſtützen?

 

Man könnte ferner annehmen, caput heiße ſo viel als

Status, oder es heiße die Rechtsfähigkeit; beide Voraus-

ſetzungen würden die Zuſammenſetzung Capitis deminutio

befriedigend erklären, aber beide ſtehen gleichfalls völlig

 

(e) Glück B. 2 § 128.

31*

|0498 : 484|

Beylage VI.

willkührlich da, und ermangeln gänzlich der Begründung

durch eine ſonſt erweisliche Bedeutung des Wortes caput.

Da nun ohne Zweifel in dieſem Wort etwas Althiſto-

riſches angedeutet iſt, ſo iſt man ſchon frühe darauf ver-

fallen, unſren Kunſtausdruck aus den alten Cenſustafeln

oder Bürgerliſten zu erklären. Dieſes geſchah auf die

Weiſe, daß man das caput auf die capita censa bezog,

deren Anzahl öfter bey Livius vorkommt. Verlor Einer

die Civität, ſo war die Römiſche Bürgerſchaft um ein

caput vermindert worden, es war in ihr ein caput exem-

tum, deletum. Die minima c. d. ſollte dann daraus er-

klärt werden, daß der Arrogirte ſein Vermögen verlor,

alſo in eine geringere Klaſſe kam (a). Allein das Ge-

zwungene in dieſer Erklärung konnte ſich der Vertheidiger

derſelben ſelbſt nicht verbergen, und er fand mit Recht

Bedenken bey der c. d. des Emancipirten. Ganz beſon-

ders aber hätte man nach dieſer Worterklärung eigentlich

ſagen müſſen, daß in einem ſolchen Fall das Römiſche

Volk eine capitis deminutio erleide, nicht der einzelne Menſch.

 

Dieſe Bedenken verſchwinden bey der ſehr befriedigen-

den Erklärung von Niebuhr (b). Nach ihm hieß Caput

die Rubrik jedes Römers in der cenſoriſchen Bürgerliſte,

mit Allem was dabey über ſeine perſönlichen Verhältniſſe

bemerkt war: und dieſe Wortbedeutung wird durch die in

 

(a) Heineccii antiqu. jur. I. 16

§ 1. 12.

(b) Niebuhr Römiſche Ge-

ſchichte B. 1 S. 606 (ed. 4.) B. 2

G. 460 (ed. 2.).

|0499 : 485|

Status und Capitis deminutio.

ſpäterer Zeit eingetretene Umbildung vollkommen beſtä-

tigt (c). Wurde nun in jener Liſte bey dem Namen eines

Roͤmers eine ſolche Veränderung eingetragen, weil das

Individuum juris deterioris geworden, ſo war das eine

deminutio capitis. Dahin gehörten alſo namentlich die

Fälle, wenn der bisherige Bürger wegen verlorner Frey-

heit oder Civität ganz ausgeſtrichen wurde; eben ſo, wenn

der paterfamilias arrogirt war, und nun als Sohn eines

Andern eingetragen werden mußte. — Dieſe Erklärung

halte ich an ſich für befriedigend, und ich muß nur noch

auch hier wieder ergänzend hinzuſetzen: vorausgeſetzt, daß

jene vermerkte nachtheilige Veränderung mit einer Vermin-

derung der Rechtsfähigkeit verknüpft war. Wenigſtens

vom Standpunkt der Römiſchen Juriſten aus, in einer

Zeit worin das Privatrecht ſo ſehr überwiegend gewor-

den, das öffentliche ſo ſehr zurückgetreten war, muß ich

dieſes behaupten: womit ſehr wohl die Annahme beſtehen

könnte, daß zur Zeit der Republik auch manche blos po-

litiſche Herabſetzung, ſelbſt wenn dieſelbe keinen Einfluß

auf die privatrechtliche Fähigkeit hatte, den Namen der

Capitis deminutio geführt haben möchte (d).

(c) In der Steuerverfäſſung

der Kaiſerzeit hieß caput eine

Steuerhufe, d. h. jedes in die

Kataſter eingetragene Ganze von

Grundſtücken, wovon ein Sim-

plum entrichtet werden mußte:

alſo auch wieder, wie in jener

früheſten Zeit, ein einzelner Ab-

ſchnitt der Steuerrolle, denn die

alte Römiſche Bürgerliſte war ja

zugleich Steuerrolle. Vgl. Zeit-

ſchrift für geſchichtliche Rechtswiſ-

ſenſchaft B. 6 S. 323. 377.

(d) Als Beyſpiele nennt Nie-

buhr die Verwandlung eines Ple-

bejers in einen Ärarius (Verluſt

der Tribus), und die Verſetzung

in eine tribus minus honesta.

|0500 : 486|

Beylage VI.

Mit dieſer Worterklärung von caput ſtimmt völlig

überein die oben (Num. XII.) angeführte Stelle der In-

ſtitutionen, worin von dem Freygelaſſenen, in Beziehung

auf ſeinen früheren Sklavenſtand, geſagt wird: nullum

caput habuit. Sehr natürlich, weil in den cenſoriſchen

Liſten die Sklaven als Perſonen gewiß nicht aufgeführt

ſeyn konnten. Nur ſcheinbar damit ähnlich, im Weſen

verſchieden, iſt der Ausdruck, welcher für denſelben Fall

von Paulus und Modeſtin gebraucht wird:

 

L. 3 § 1 de cap. min. (4. 5.). Aliter atque cum ser-

vus manumittitur: quia servile caput nullum jus ha-

het, ideo nec minui potest.

L. 4 eod. Hodie enim incipit statum habere.

Bey Paulus bezeichnet nun offenbar caput den Men-

ſchen, und servile caput heißt ihm ein Menſch, welcher

Sklave iſt. Dieſem beſtreitet er die Möglichkeit einer Ca-

pitis deminutio nicht deswegen, weil er kein caput habe

(denn ſo nennt er ihn ja geradezu), ſondern weil er recht-

los ſey, alſo Nichts verlieren, nicht heruntergeſetzt wer-

den könne. In demſelben Sinn ſpricht dem Sklaven in

der zweyten Stelle Modeſtin den Status ab (Num. VIII. a).

 

Man könnte hinzuſetzen einen ſol-

chen Vermögensverluſt, wodurch

Einer in eine geringere Klaſſe

kam. Ganz beſonders aber ge-

hört dahin die Infamie, bey wel-

cher der unter den Kaiſern ver-

änderte Sprachgebrauch unmittel-

bar erweislich iſt (§ 81). — Die

im Text behauptete Beſchränkung

der capitis deminutio auf die

Verminderung privatrechtli-

cher Rechtsfähigkeit ſteht im con-

ſequenteſten Zuſammenhang mit

der ganz ähnlichen Beſchränkung

des Ausdrucks Status (ſ. oben

Num. V.).

|0501 : 487|

Status und Capitis deminutio.

Es würde alſo ganz unrichtig ſey, wenn man aus der

Vergleichung dieſer Stellen mit der angeführten Inſtitu-

tionenſtelle beweiſen wollte, das Wort caput habe bey

den Römern ſo viel bedeutet als jus oder als Status.

XIV.

II. Ein zweyter Grund gegen die Erklärung des Pau-

lus liegt in dem gänzlichen Mangel an einem befriedigen-

den logiſchen Zuſammenhang. Die maxima, media, mi-

nima c. d. ſollen Arten derſelben Gattung ſeyn: ſie müſ-

ſen doch alſo etwas Gemeinſames haben, worin allein das

Weſen dieſer ſie umſchließenden Gattung geſucht werden

kann. Nach unſrer Erklärung iſt dieſes Gemeinſame un-

verkennbar. Es iſt die verminderte Rechtsfähigkeit, welche

in jeder dieſer drey Rechtsveränderungen wahrzunehmen

iſt, außer ihnen aber nirgends. Die Erklärung des Pau-

lus vermag ein ſolches gemeinſames Merkmal durchaus

nicht aufzuweiſen. Es iſt wohl der Ausweg verſucht wor-

den, die Stellung in einer beſtimmten Agnatenfamilie des-

wegen als Rechtsfähigkeit zu behandeln, weil man da-

durch fähig werde, eine Inteſtaterbſchaft zu erwerben.

Allein dieſer Auffaſſung liegt zum Grunde die Verwechs-

lung der Rechtsfähigkeit mit den faktiſchen Bedingungen

des Erwerbs von Rechten. Die justa causa bey der Tra-

dition, der Titel bey der Uſucapion ſind eben ſo, wie die

Agnation bey der hereditas intestati, faktiſche Bedingun-

gen des einzelnen, wirklichen Erwerbs: aber ſie alle ſind

 

|0502 : 488|

Beylage VI.

durchaus nicht Elemente der Rechtsfähigkeit. Der Verluſt

der Agnation iſt Verluſt eines beſtimmten erworbenen

Rechts, gerade ſo wie der Verluſt des Eigenthums an

einem Hauſe: durch Beides leidet die Rechtsfähigkeit nicht.

So wenig nun irgend Jemand die Verarmung eine Capi-

tis deminutio nennt, ſo wenig kann conſequenterweiſe der

Verluſt der Agnation als ſolcher mit jenem Namen be-

zeichnet werden.

Von der einen Seite alſo iſt kein Grund vorhanden,

den Verluſt der Agnation mit dem Verluſt der Freyheit

oder der Civität als gleichartig zu behandeln. Eben ſo

aber erſcheint es auch auf der andern Seite als inconſe-

quent, denſelben von anderen Ereigniſſen zu iſoliren, mit

welchen er doch in der That ganz gleichartig iſt. Denn

das Weſen deſſelben beſteht in dem Ausſcheiden aus einem

einzelnen Familienverhältniß, wodurch uns zugleich der

Erwerb mancher anderen Rechte (hauptſächlich Erbſchaft)

entzogen werden kann. Wenn nun hierin ein Grund lie-

gen ſoll, die aufgehobene Agnation eine Capitis deminutio

zu nennen, ſo iſt gar nicht zu begreifen, warum ſo manche

Ereigniſſe nicht denſelben Namen führen ſollen, für welche

ihn doch Niemand in Anſpruch nimmt.

 

So z. B. die Eheſcheidung. Der Mann ſcheidet aus

dieſem wichtigen Familienverhältniß aus, und verliert da-

durch die (erſt von Juſtinian aufgehobene) Ausſicht, durch

den Tod der Frau die Dos für immer mit ſeinem Ver-

mögen zu vereinigen. Ich weiß nicht, warum dieſe Er-

 

|0503 : 489|

Status und Capitis deminutio.

wartung weniger Rückſicht verdienen ſollte, als die der

Inteſtaterbſchaft der Agnaten.

Eben ſo müßte auch die Emancipation eine Capitis de-

minutio des Vaters genannt werden. Denn der Vater

ſcheidet aus dem bisherigen Familienverhältniß aus, und

verliert dadurch die Möglichkeit, durch die Handlungen des

Sohnes Etwas zu erwerben, wodurch er vielleicht weit

reicher werden koͤnnte, als durch die ganz unſichere Inte-

ſtaterbfolge aller ſeiner Agnaten.

 

Unſere Erklärung hat mit dieſen Schwierigkeiten wie-

der nicht zu kämpfen, da es augenſcheinlich iſt, daß in

allen ſolchen Ereigniſſen keine Verminderung der Rechts-

fähigkeit liegt.

 

Auf den hier entwickelten Grund übrigens will ich nicht

allzuviel Gewicht legen. Die Capitis deminutio iſt ein

hiſtoriſcher Begriff, und es wäre denkbar, daß dieſer auf

ganz unlogiſche Weiſe, ohne Rückſicht auf inneren Zu-

ſammenhang, conſtruirt und gegliedert worden wäre. Aber

für wahrſcheinlich können wir das doch nicht halten, und

wenn es möglich iſt eine Erklärung zu finden, durch welche

die Conſequenz in der Ausbildung jenes Begriffs gerettet

wird, ſo verdient dieſelbe entſchieden den Vorzug vor der-

jenigen, die dieſen Dienſt nicht leiſtet.

 

Die hier hervorgehobene Schwäche der Erklärung des

Paulus iſt auch in vielen neueren Behandlungen unſres

Gegenſtandes ſehr fuͤhlbar. So in den beiden oben (Num. I.)

angeführten Schriften von Feuerbach und Löhr, die ſich

 

|0504 : 490|

Beylage VI.

genöthigt ſehen, ſtets zwiſchen den Begriffen von Rechts-

fähigkeit und erworbenen Rechten zu ſchwanken, um, un-

ter Vorausſetzung der minima c. d. als familiae mutatio,

dennoch die drey Stufen der c. d. als Arten einer ge-

meinſamen Gattung behandeln zu können.

XV.

III. Ein dritter Grund gegen Paulus liegt in der

völlig ſchwankenden Art, in welcher er ſelbſt über manche

einzelne Anwendungen ſich erklärt. Dahin gehört folgende

Stelle, auf welche ſtets von allen Seiten großes Gewicht

gelegt worden iſt.

 

L. 3 pr. § 1 de cap. min. (4. 5.). Liberos, qui adro-

gatum parentem sequuntur, placet minui caput (al.

capite), cum in aliena potestate sint, et cum fami-

liam mutaverint. — Emancipato filio, et ceteris per-

sonis, capitis minutio manifesto accidit: cum eman-

cipari nemo possit, nisi in imaginariam servilem

causam deductus. Aliter atque cum servus manu-

mittitur etc. (ſ. o. Num. XIII.).

Er ſtellt hier zwey Fälle zuſammen, für welche er eine

c. d. behauptet: bey den Kindern eines Arrogirten, und

bey dem Emancipirten. Für den erſten Fall ſagt er pla-

cet, für den zweyten manifesto accidit. Nun iſt zwar im

Allgemeinen auf die Ausdrücke, worin die alten Juriſten

ihre Behauptungen einzukleiden pflegen, nicht allzu viel

Gewicht zu legen, und gewiß ſteht in vielen Stellen pla-

 

|0505 : 491|

Status und Capitis deminutio.

cet, worin doch eine unbedingte Gewißheit gemeynt iſt.

Anders verhält es ſich hier, wo dicht neben einander zwey

ſo verſchiedene Ausdrücke recht abſichtlich gewählt zu ſeyn

ſcheinen, um einen verſchiedenen Grad der Sicherheit bei-

der Behauptungen zu bezeichnen. Dieſe an ſich ſo natür-

liche Erklärung wird aber noch dadurch beſtärkt, daß Pau-

lus für beide Fälle ganz verſchiedene Gründe angiebt, an-

ſtatt daß die einfache Berufung auf die familiae mutatio

für beide Fälle völlig genügt haben würde, wenn dieſe

als das eigentliche Weſen der minima c. d. unbedenklich

und allgemein anerkannt geweſen wäre. Für den erſten

Fall giebt er nun allerdings die familiae mutatio als Grund

an, aber ſie allein iſt ihm nicht ſicher genug, und er fin-

det es nöthig, ſie durch einen zweyten Grund zu unter-

ſtuͤtzen, welcher ſeltſamerweiſe ſo lautet: cum in aliena

potestate sint. Unſtreitig ſind die Kinder des Arrogirten

vor und nach der Arrogation in fremder Gewalt: aber

eben weil ſich dieſer ihr Zuſtand gar nicht verändert, iſt

es kaum begreiflich, wie man dieſe unveränderte Dauer

eines Zuſtandes als einen Beweis für die Capitis demi-

nutio ausgeben kann, deren eigentliches Weſen doch nur

in der Veränderung des bisherigen Zuſtandes beſteht. In-

dem er nun zu dem Fall des Emancipirten übergeht, ſieht

man deutlich, wie vergnügt er iſt, hier die mißlichen Be-

weisgründe des erſten Falles entbehren zu können: er er-

wähnt ſie auch gar nicht wieder, ſondern beruft ſich

nun auf den Durchgang durch die imaginaria servilis

|0506 : 492|

Beylage VI.

causa (a), indem er hinzufügt, wegen dieſes Grundes ſey

die c. d. ganz offenbar (manifesto accidit). — Dieſe auf-

fallende Verſchiedenheit des Ausdrucks und der Gründe

macht es wahrſcheinlich, daß Paulus jenem althiſtoriſchen

Begriff eine praktiſche Seite abzugewinnen ſuchte vermit-

telſt eines hypothetiſch aufgeſtellten Grundes der minima

c. d., welchem er ſelbſt jedoch nicht allzu ſicher zu ver-

trauen wagte. Beſtimmtere Gründe für dieſe Annahme

werden erſt weiter unten angegeben werden können (b).

IV. Ein vierter Grund endlich gegen die Erklärung

des Paulus liegt in manchen einzelnen Anwendungen, die

nach jener Erklärung als Fälle der minima c. d. betrach-

tet werden müßten, während wir aus anderen vollgülti-

gen Zeugniſſen beweiſen können, daß in ihnen eine c. d.

durchaus nicht angenommen wurde. Solche Anwendun-

gen ſind entſcheidender, als die bisher angeſtellten allge-

meinen Betrachtungen. Um die Sache klar zu machen,

werde ich eine Überſicht von allen bekannten Fällen der

minima c. d. geben.

 

(a) Es iſt wohl möglich, daß

Paulus geſchrieben hat: nisi in

mancipii causam deductus, und

daß die Compilatoren die Erwäh-

nung des veralteten Rechtsinſti-

tuts durch umſchreibende Aus-

drücke zu umgehen ſuchten.

(b) Die ſchwankende Erklärung

des Paulus iſt auch ſchon von An-

deren bemerkt worden. Sehr ge-

zwungen erklärt dieſelbe Schel-

tinga bey Fellenberg jurispr.

antiqua T. 2 p. 519 durch fol-

gende nicht glückliche Hypotheſe.

Die alten Juriſten ſeyen im Streit

geweſen, ob die status mutatio

bey der c. d. gerade in deterius

ſeyn müſſe. Erſt durch fori dis-

putatio ſey dieſe Frage verneint

worden, und daher das Schwanken.

|0507 : 493|

Status und Capitis deminutio.

XVI.

A. Die Arrogation iſt für den Arrogirten eine c. d.,

und zwar nach beiden Meynungen; denn er verliert die

Rechtsfähigkeit eines Unabhängigen, und er tritt zugleich

aus ſeiner angebornen Agnation heraus.

 

B. Die Kinder des Arrogirten erleiden eine c. d. nach

der Meynung des Paulus, indem ſie aus ihrer Agnation

austreten: nicht nach der entgegengeſetzten Meynung, in-

dem ihre Rechtsfähigkeit unverändert bleibt (a). Hier zeigt

ſich alſo eine praktiſche Differenz beider Meynungen (b).

 

(a) Einige neuere Schriftſteller,

welche die Erklärung der mini-

ma c. d. als einer familiae mu-

tatio verwerfen, ſuchen dennoch

die einzelne, von Paulus daraus

abgeleitete, Anwendung auf die

Kinder des Arrogirten aus ande-

ren Gründen zu rechtfertigen. So

z. B. Seckendorf de cap. dem.

minima § 15, welcher dem Enkel

ein minus caput in Vergleichung

mit dem Sohn zuſchreibt, da doch

ihr gegenwärtiger Rechtszuſtand

völlig gleich iſt. Eben ſo Dei-

ters de civili cognatione p. 41,

nach welchem der Enkel ein ca-

put impeditum haben ſoll, weil

er um einen Grad weiter von der

Unabhängigkeit entfernt ſey; allein

dieſes betrifft ja nicht den gegen-

wärtigen Zuſtand, ſondern nur

die Ausſicht auf die Zukunft, näm-

lich auf die künftige Unabhängig-

keit: auch dieſe Ausſicht iſt für

das Kind des Arrogirten durch

die Arrogation nur möglicherweiſe

zurückgeſchoben, ja nicht einmal

wahrſcheinlicherweiſe, da im ge-

wöhnlichen Lauf der Natur der

Arrogator vor dem Arrogirten ſter-

ben wird.

(b) Dieſe praktiſche Differenz

äußert ſich jedoch auch nur auf

beſchränkte Weiſe. Denn daß die

angeborne Agnation für die Kin-

der des Arrogirten aufhört, wird

auch von unſrem Standpunkt aus

zugegeben, nur aus einem an-

dern Grunde, nämlich weil jede

Agnation nur von dem Vater ab-

geleitet werden kann, ſo daß die

Kinder ſtets dieſelbe Agnation ha-

ben müſſen wie der Vater; als

praktiſche Streitfragen blieben

alſo noch etwa dieſe übrig, ob

für die Kinder des Arrogirten

die Schulden und die perſönli-

chen Servituten untergiengen, was

allerdings behauptet oder verneint

werden muß, je nachdem man ih-

nen eine erlittene Capitis demi-

nutio zuſchreibt oder nicht.

|0508 : 494|

Beylage VI.

Zu einer ſicheren Entſcheidung führt dieſer Fall nicht, weil

denſelben kein anderer alter Juriſt als Paulus erwähnt,

ſeine eigene Meynung aber von ihm ſelbſt auf ſo unſichere

Weiſe begründet wird (Num. XV.).

C. Die causae probationes des älteren, und die Le-

gitimationen des neueren Rechts führen nach beiden Mey-

nungen jedesmal eine c. d. mit ſich, da durch ſie ſtets

ein Unabhängiger in einen Abhängigen verwandelt, und

zugleich eine neue Agnatenverbindung gegründet wird.

Dieſe Fälle ſtehen alſo mit dem Fall der Arrogation

(lit. A.) vollkommen auf gleicher Linie.

 

D. Die an einem Kind in väterlicher Gewalt oder

an einer Frau in manu vorgenommene Mancipation ent-

hält nach beiden Meynungen ſtets eine minima c. d. für

die mancipirte Perſon (c); nach unſrer Meynung, weil

dadurch immer eine Degradation zu der mancipii causa,

alſo zu einer tiefer ſtehenden Art der Familienabhängig-

keit, bewirkt wird: nach der entgegengeſetzten Meynung,

weil dadurch die bisherige Agnation aufgehoben wird.

Wenn dagegen der Käufer die ihm ſo mancipirte Perſon

weiter mancipirt, ſo entſteht dadurch ſicher keine neue

c. d., da hierdurch weder eine fernere Degradation be-

wirkt, noch irgend eine Agnation aufgehoben wird.

 

E. Die Emancipation, das heißt die Entlaſſung eines

Kindes aus väterlicher Gewalt. Daß dieſe in der That

 

(c) Gajus I. § 117 — 118a § 162. Ulpian. XI. § 5. Vergl. auch

oben § 67.

|0509 : 495|

Status und Capitis deminutio.

eine c. d. (und zwar eine minima) war, gehoͤrt nach al-

ten Zeugniſſen unter die gewiſſeſten Thatſachen in dieſer

ganzen Lehre, ſo daß es nach beiden Meynungen nicht be-

zweifelt werden darf, ſondern aus jeder derſelben erklärt

werden muß, wenn ſie dadurch nicht widerlegt werden

ſoll. Cicero, indem er die c. d. als ein Hinderniß der

Gentilität angiebt, denkt wahrſcheinlich blos an die in der

Emancipation liegende c. d. (§ 69. n). Aus welchem

Grund aber iſt ſie ſo zu betrachten?

Nach unſrer Meynung deswegen, weil zur Form der

Emancipation eine vorübergehende Degradation zu der

mancipii causa unentbehrlich war (d). So lange nun die

Eigenthümlichkeit der mancipii causa, und ihre weſentliche

Verſchiedenheit von der Servitus, noch nicht durch Gajus

bekannt geworden war, konnten unſre Schriftſteller wohl

zweifeln, ob nicht die Emancipation vielmehr eine maxima

als minima c. d. enthalte (e); durch Gajus iſt hierüber

jeder Zweifel verſchwunden (f).

 

Nach der conſequent durchgeführten Meynung des Pau-

lus war es deswegen eine c. d., weil dadurch der Eman-

cipirte aus der angebornen Agnatenfamilie heraus trat.

 

Merkwürdig ſind hierüber folgende Äußerungen unſrer

Quellen. Die Juſtinianiſchen Inſtitutionen, in der oben

(Num. XII.) mitgetheilten Stelle, wollen die veraltete man-

 

(d) Gajus I. § 132. Ulpian. X.

§ 1.

(e) Heineccius antiquit. I. 16

§ 12 und die daſelbſt citirten

Schriftſteller.

(f) Gajus I. § 162.

|0510 : 496|

Beylage VI.

cipii causa nicht erwähnen, und geben daher die bloße

Veränderung, nämlich hier die Befreyung aus der pote-

stas (alſo eine Verbeſſerung des Zuſtandes) als Erklä-

rungsgrund der c. d. an; dadurch ſind ſie genoͤthigt zu

dem auffallenden Geſtändniß, auch die Manumiſſion des

Sklaven könne eigentlich als eine c. d. angeſehen werden,

und es geſchehe nur deswegen nicht, weil er vor der Frey-

laſſung überhaupt gar kein caput gehabt habe.

Paulus, in der gleichfalls oben (Num. XV.) mitge-

theilten Stelle, bezeichnet als Erklärungsgrund der c. d.

nicht, wie nach ſeiner Hauptanſicht zu erwarten war, die

familiae mutatio, ſondern inconſequenterweiſe die imagi-

naria servilis causa, alſo den wahren Grund.

 

Die ſchwierigſte Stelle endlich iſt die des Gajus, theils

durch den nicht ganz deutlichen Ausdruck, theils durch eine

Lücke im Text.

 

Gajus I. § 162. Minima (capitis) deminutio est .... et

in his, qui mancipio dantur, quique ex mancipio ma-

numittuntur; adeo quidem, ut quotiens quisque man-

cipetur, a — tur, totiens capite diminuatur.

Dieſe Stelle hat man wohl ſo verſtanden, als ob nicht

nur jede einzelne Mancipation, ſondern auch jede Manu-

miſſion, wieder eine beſondere c. d. enthielte, welcher letz-

ten Behauptung es doch an aller begreiflichen Rechtferti-

gung fehlen würde. Die Zweydeutigkeit liegt in dem Wort

quique, welches man allerdings ſo verſtehen kann, wie

wenn es hieße: et in his, qui ex mancipio manumittun-

 

|0511 : 497|

Status und Capitis deminutio.

tur, ſo daß es neue Fälle bezeichnen würde. Jedoch iſt

dieſe Deutung keinesweges nöthig, das quique kann eben

ſowohl unter dem vorhergehenden in his ſtehen, dann heißt

es eben ſo viel als ein bloßes et, und enthält blos eine

nähere Beſtimmung des vorher ſchon erwähnten Falles.

Nach dieſen beiden Erklärungen muß ſich zugleich auch

die Ausfüllung der folgenden Lücke richten. Der Heraus-

geber hat geſetzt: aut manumittatur, wodurch wieder die

Manumiſſion zu einem neuen Fall der c. d. gemacht wird.

Es iſt aber vielmehr zu leſen: ac (oder atq) manumitta-

tur (g), welche Ergänzung die Manumiſſion auch hier wie-

der mit der Mancipation zu einem und demſelben Fall der

c. d. verbindet. Die ganze Stelle hat nämlich folgenden

Sinn. Gajus wollte den Begriff der c. d. durch Bey-

ſpiele erläutern. Dazu wählte er unter andern einen Theil

der Emancipationsformen, deren vollſtändige Darſtellung

hier ganz außer ſeinem Zweck lag. Er will nun ſagen:

Eine minima c. d. liegt unter andern in jeder der bey

der Kinderentlaſſung gebräuchlichen Mancipationen, wor-

auf jedesmal eine Manumiſſion folgt (das ſind gerade

die beiden erſten); ſo daß in jeder dieſer beiden, auf

eine Manumiſſion führenden, Mancipationen eine beſon-

dere minima c. d. liegt.

Er hätte nun auch noch die dritte Mancipation nen-

 

(g) Dieſe Ergänzung iſt bereits

vorgeſchlagen von Deiters de ci-

vili cognatione p. 41. 42, und ge-

billigt von Huſchke Studien

B. 1 S. 222. — Gegen dieſe ganze

Anſicht ſpricht ſich aus, Schil-

ling Inſtitutionen B. 2 § 32

Note 3.

II. 32

|0512 : 498|

Beylage VI.

nen koͤnnen, die gewiß ebenfalls eine c. d. enthielt, nur

nicht die vierte (die remancipatio), worin keine neue De-

gradation lag (ſ. o. lit. D.). Um aber weder ohne Noth

weitläufig zu werden, noch durch Kürze hierin ein Mis-

verſtändniß zu veranlaſſen, begnügte er ſich mit der Er-

wähnung der beiden erſten Mancipationen, die zu ſeinem

Zweck voͤllig hinreichten, und zu deren unzweydeutiger Be-

zeichnung gebrauchte er die mit denſelben jedesmal ver-

bundenen Manumiſſionen.

Iſt nun aber die Emancipation auch noch im neueſten

Recht als eine c. d. anzuſehen? Schon zur Zeit der Ab-

faſſung der Inſtitutionen und Digeſten waren die alten

Mancipationen längſt verſchwunden, und die nunmehr üb-

lichen Formen enthielten durchaus Nichts mehr, was als

Degradation des Kindes angeſehen werden konnte. Zwey

Rückſichten konnten damals den Geſetzgeber beſtimmen, die

alte Behandlung der Emancipation als einer c. d. beyzu-

behalten: das Patronatsrecht des Vaters, und die Zer-

ſtörung der Agnation. Allein dieſe letzte hat er ſelbſt,

ſchon durch frühere Geſetze, bey der Emancipation aufge-

hoben (§ 69): ſonach bliebe nur noch das Patronatsrecht

übrig. Dieſes aber iſt eigentlich gar nicht Folge und

Kennzeichen der c. d., und überdem iſt es durch die neueſte

Geſetzgebung von Juſtinian ganz weggefallen. Vollends

in unſrem heutigen Recht ſcheint es ganz inconſequent, die

Emancipation noch als c. d. anſehen zu wollen.

 

F. Die Adoption im engern Sinn macht keine Schwie-

 

|0513 : 499|

Status und Capitis deminutio.

rigkeit, da ſie ganz dieſelbe Natur hat, wie die Emanci-

pation. Denn auch ſie war mit Degradationen zu der

mancipii causa verbunden (h), und auch ſie bewirkte un-

ſtreitig eine Zerſtoͤrung der angebornen Agnation. Im Ju-

ſtinianiſchen Recht könnte ſie höchſtens noch in dem beſon-

deren Fall als c. d. gelten, wenn der Adoptivvater zu-

gleich ein natürlicher Aſcendent iſt, indem hier die ange-

borne Agnation allerdings verloren geht. Allein, nach der

bisher entwickelten richtigen Anſicht, iſt dieſer Umſtand

allein überhaupt kein Grund, eine c. d. anzunehmen.

XVII.

G. In manum conventio.

 

War die Frau vor dieſer Handlung sui juris, ſo war

die in manum conventio unſtreitig eine capitis deminutio,

und zwar nach beiden Meynungen. Denn eine ſolche Frau

verminderte ihre Rechtsfähigkeit, und ſie trat aus der an-

gebornen Familie in die des Mannes über (a); dabey machte

es auch keinen Unterſchied, ob die in manum conventio

durch confarreatio, coëmtio, oder usus entſtanden war.

 

Anders bey einer Frau, die aus der väterlichen Ge-

walt in die manus übertrat. Auch hier mußte nach der

Meynung des Paulus eine c. d. angenommen werden, weil

unzweifelhaft eine familiae mutatio eintrat. Nach unſrer

Meynung dagegen war es keine c. d. Denn eine wirk-

 

(h) Gajus I. § 134.

(a) Gellius XVIII. 6. Sie

wurde Schweſter ihrer eigenen

Kinder und ihrer Stiefkinder.

Gajus III. § 14.

32*

|0514 : 500|

Beylage VI.

liche Verminderung der Rechtsfähigkeit trat hier nicht ein,

vielmehr ſtand die Ehefrau in manu zu dem Mann völlig

im Verhältniß einer Tochter, hatte alſo dieſelben Rechte

wie dieſe. Aber auch in den Formen, die zur in manum

conventio führten, lag nicht etwa, ſo wie bey der Eman-

cipation und Adoption, eine vorübergehende Degradation.

Bey der confarreatio und dem usus iſt ohnehin nicht an

eine ſolche zu denken. Bey der coëmtio wäre ein ähnli-

ches Verfahren, wie bey der Adoption, alſo eine vermitt-

lende mancipii causa, wohl denkbar: allein Gajus, wel-

cher beide Formen beſchreibt, erwähnt bey der Adoption

dieſe vermittlende Degradation genau, bey der coëmtio

ſchweigt er davon gänzlich (b).

Hätten wir nun ſichere Zeugniſſe darüber, ob gerade

die coëmtio einer in väterlicher Gewalt ſtehenden Tochter

eine c. d. war oder nicht, ſo würden dieſelben als Mo-

mente zur Entſcheidung zwiſchen beiden Meynungen be-

nutzt werden können: die Stellen der Alten aber ſind über

dieſen Punkt ſehr unſicher.

 

Cicero top. C. 4. Si ea mulier testamentum fecit, quae

se capite nunquam deminuit, non videtur ex edicto

Praetoris secundum eas tabulas possessio dari.

In dieſem Satz liegt zugleich der umgekehrte: durch

capitis deminutio macht ſich eine Frau fähig zum Teſti-

ren. Die capitis deminutio iſt hier unſtreitig, wie es auch

Boethius richtig erklärt, die, welche durch in manum con-

 

(b) Gajus I. § 134 und § 113.

|0515 : 501|

Status und Capitis deminutio.

ventio bewirkt wird. Da nun Cicero in jenem Satz nicht

zwiſchen abhängigen und unabhängigen Frauen unterſchei-

det, ſo ſcheint es, beide konnten auf gleiche Weiſe dieſe

Fähigkeit zum Teſtiren erwerben, woraus denn weiter fol-

gen würde (was für unſre Frage wichtig wäre), daß die

in manum conventio bey beiden Arten der Frauen den

Namen einer capitis deminutio geführt hätte. Allein die-

ſer ſcheinbare Beweis verſchwindet durch die Vergleichung

mit Gajus I. § 115a, welcher weit genauer als Cicero

von dieſer Frage handelt. Er belehrt uns dahin, daß

nicht die coëmtio allein hinreichte, um das Teſtament

möglich zu machen, ſondern daß auch noch eine Reman-

cipation und Manumiſſion hinzukommen mußte. In die-

ſer mancipii causa nun lag unſtreitig, und nach allen

Meynungen, eine capitis deminutio, ſo daß dadurch die

angeführte Stelle des Cicero für unſre ſpecielle Frage alle

entſcheidende Kraft verliert.

Gajus führt zweymal die coëmtio als Beyſpiel einer

capitis deminutio an (I. § 162 und IV. § 38), aber in

beiden Stellen nur neben anderen Beyſpielen, und ſo un-

beſtimmt, daß daraus nicht zu ſehen iſt, ob er dabey nur

an unabhängige, oder auch an abhängige Frauen denkt.

 

Auf ähnlich unbeſtimmte Weiſe giebt Ulpian XI. § 13

die coëmtio als Beyſpiel der minima c. d. an. Da Die-

ſes indeſſen auf Veranlaſſung der Rechtsregel geſchieht,

nach welcher die geſetzliche Tutel durch jede c. d. zerſtört

wird, unter der Tutel aber nur unabhängige Frauen ſte-

 

|0516 : 502|

Beylage VI.

hen können, ſo läßt ſich wohl annehmen, daß Ulpian auch

nur an die coëmtio unabhängiger Frauen in der Aufſtel-

lung jenes Beyſpiels gedacht habe.

Sicherer iſt eine merkwürdige Stelle des Livius in der

Geſchichte der Bachanalien. Hier iſt die Rede von einer

Freygelaſſenen, die sui juris iſt, unter einem Dativtutor

ſteht, und bereits ein Teſtament gemacht hat (c). Nach-

dem dieſe der Republik durch Entdeckung einer ausgedehn-

ten, höchſt gefährlichen Verbindung wichtige Dienſte ge-

leiſtet hat, wird ſie durch einen Senatsſchluß unter an-

dern mit folgenden Privilegien belohnt:

 

Livius XXXIX. 19. Utique Feceniae Hispalae datio,

deminutio, gentis enuptio, tutoris optio item esset,

quasi ei vir testamento dedisset.

Die Worte datio, deminutio geben ſo wenig Sinn,

daß die Emendation capitis deminutio gewiß unbedenklich

iſt (d), wodurch allein auch ein ſichtbarer Parallelismus

in den Ausdruck der drey verbundenen Privilegien gebracht

werden kann. Dann heißt hier capitis deminutio ohne

allen Zweifel das Recht eine coëmtio einzugehen. Da

nun hier, wie oben bemerkt, die Frau gewiß suis juris

 

(c) Livius XXXIX. 9: Quin

eo processerat consuetudine

capta, ut post patroni mortem,

quia iu nullius manu erat, tu-

tore a tribunis et praetore pe-

tito, quum testamentum face-

ret, unum Aebutium institueret

heredem.

(d) Dieſe Emendation wird be-

reits vorgeſchlagen von Huschke

de privil. Feceniae Hispalae

Goett. 1822 p. 25, der indeſſen

bey der Erklärung unnöthige

Schwierigkeiten in die Stelle

bringt.

|0517 : 503|

Status und Capitis deminutio.

war, ſo iſt es in dieſer Stelle noch weniger als in den

übrigen zweifelhaft, daß hier nur die coëmtio einer unab-

hängigen Frau als eine capitis deminutio bezeichnet wer-

den ſoll.

XVIII.

H. Die wichtigſten Fälle endlich für die Feſtſtellung

des wahren Begriffs der capitis deminutio überhaupt,

und der minima insbeſondere, ſind die Weihen des flamen

Dialis und der Veſtaliſchen Jungfrauen.

 

Von den Veſtalinnen ſagen die alten Juriſten, daß ſie

aus der väterlichen Gewalt austreten (a). Allein weit ge-

nauere Nachrichten über die bey ihnen eintretende Verän-

derung des Rechtszuſtandes giebt Gellius I. 12, und zwar

aus den Schriften des Labeo und des Capito, alſo nach

den vollwichtigſten Autoritäten. An zwey verſchiedenen

Stellen jenes Kapitels ſagt er darüber Folgendes:

 

Virgo autem Vestalis simul est capta … eo statim

tempore sine emancipatione ac sine capitis minutione

e patris potestate exit, et jus testamenti faciundi adi-

piscitur.

 

Praeterea in commentariis Labeonis quae ad XII.

tab. composuit, ita scriptum est: Virgo Vestalis neque

heres est cuiquam intestato, neque intestatae quisquam:

sed bona ejus in publicum redigi ajunt. Id quo jure

fiat, quaeritur.

 

(a) Gajus I. § 130. Ulpian. X. § 5.

|0518 : 504|

Beylage VI.

Nach dieſer Stelle ſcheint mir unzweifelhaft, daß die

Agnation zwiſchen der Veſtalin und ihren angebornen Ver-

wandten aufgehoben war. Nur hieraus läßt ſich die Auf-

hebung des wechſelſeitigen Inteſtaterbrechts ungezwungen

erklären, da die Veſtalin ſo wenig vermögenslos war, daß

ſie ſogar teſtiren konnte; auch hätte ja eine Fortdauer der

Agnation, neben dem aufgehobenen Erbrecht, gar keinen

praktiſchen Sinn gehabt, da ohnehin die Tutel (als die zweyte

praktiſche Folge der Agnation) für die Veſtalinnen gar nicht

exiſtirte, und zwar ſchon nach den XII Tafeln (b). Man hat

dagegen eingewendet, wenn wirklich die Agnation aufgehoben

war, wie konnte dann am Schluß Labeo fragen: id quo jure

fiat, quaeritur, indem ihm nun der Grund des aufgehobenen

Erbrechts (die aufgehobene Agnation) von ſelbſt einleuchten

mußte. Allein dieſe Einwendung ſcheint mir aus mehreren

Gründen nicht erheblich. Schon daß dieſe fragenden Worte

noch zu denen des Labeo gehören, iſt zwar möglich, aber

nicht nothwendig, da ſie eben ſo gut ein Zuſatz von Gellius

ſeyn können. Hauptſächlich aber giebt dieſe Frage den ein-

fachſten Sinn, wenn man ſie blos auf den unmittelbar

vorhergehenden Satz (den Heimfall an den Staatsſchatz)

bezieht. Denn darin lag allerdings etwas Singuläres, da

nach uraltem Recht (und davon redet offenbar Labeo) das

erbloſe Vermögen in allen anderen Fällen vielmehr her-

renlos wurde, und erſt die Lex Julia caducaria den Heim-

fall an den Staat allgemein einführte (c). — Nehmen

 

(b) Gajus I. § 145.

(c) Cicero de legibus II. 19.

|0519 : 505|

Status und Capitis deminutio.

wir nun nach dieſer Stelle an, daß die Veſtalin aus der

Agnation austrat, und erwägen wir zugleich, daß ſie nach

dem ausdrücklichen Zeugniß keine capitis deminutio erlitt,

ſo liegt darin eine unmittelbare Widerlegung der Mey-

nung des Paulus, welche jeden Austritt aus der Agna-

tion für eine capitis deminutio erklärt. Zugleich dient aber

dieſe Stelle zu einem vollſtändigen Beweis der von mir

behaupteten Unvollſtändigkeit der alten Definition der c. d.

als einer Status mutatio. Denn eine Veränderung des

Status lag für die Veſtalin allerdings in der verlornen

Agnation, ja auch ſchon (wenn man etwa den Verluſt der

Agnation nicht zugeben wollte) in der Befreyung von der

väterlichen Gewalt; erlitt ſie nun dennoch keine capitis

deminutio, ſo muß wohl unter dieſer etwas Anderes zu

verſtehen ſeyn, als die bloße Veränderung des Status.

So iſt alſo durch dieſes vollgültige alte Zeugniß meine

Meynung gegen den Vorwurf geſichert, die Definition der

alten Juriſten willkührlich meiſtern zu wollen.

Eine ähnliche, nur weniger vollſtändige Unterſtützung

gewährt unſrer Meynung Dasjenige, was über die Weihe

des flamen Dialis berichtet wird. Auch dieſer trat aus

der väterlichen Gewalt (d), und auch bey ihm war dieſe

wichtige Veränderung ſeines Status entſchieden nicht als

capitis deminutio anzuſehen (e). Die Parallele wäre voll-

 

Ulpian. XXVIII. 7. Vgl. Zeit-

ſchrift für geſchichtl. Rechtswiſſen-

ſchaft B. 2 S. 378.

(d) Tacitus ann. IV 16. Ga-

jus I. § 130. Ulpian. X. § 5.

(e) Gajus III. § 114.

|0520 : 506|

Beylage VI.

kommen, wenn es ſich beweiſen ließe, daß der flamen auch

aus der Agnation getreten wäre: wahrſcheinlich iſt dieſes

allerdings, nicht blos nach der Analogie der von Gajus

und Ulpian mit ihm zuſammengeſtellten Veſtalin, ſondern

auch weil es inconſequent geweſen wäre, die väterliche

Gewalt aufzuheben, und doch die dadurch vermittelte Agna-

tion fortdauern zu laſſen; auch iſt nicht einzuſehen, in wel-

chem Verhältniß nun der Sohn zum Vater gedacht wer-

den ſollte, denn daß er Dieſem fremder geweſen wäre als

den Agnaten, iſt kaum anzunehmen.

Bey dieſer Frage ſteht, eine Controverſe der Alten

vorausgeſetzt, die Autorität des Labeo und des Capito

höher als die des Paulus: nicht als ob ſie überhaupt ſo

viel größere Juriſten geweſen wären, ſondern weil hier

von einem ganz alterthümlichen Rechtsinſtitut die Rede

iſt, deſſen ächtes und vollſtändiges Daſeyn dem Zeitalter

jener Juriſten weit näher ſtand als dem des Paulus.

Strenge genommen iſt es aber nicht einmal eine Contro-

verſe im gewöhnlichen Sinn, wie es allerdings wäre,

wenn z. B. das Daſeyn der capitis deminutio bey der

Veſtalin und dem flamen von Labeo verneint, von Pau-

lus bejaht würde. So war es aber nicht, vielmehr ſchei-

nen in dieſer Verneinung die Juriſten aller Zeiten, ohne

Spur eines Streites, überein zu ſtimmen. So Gajus in

Beziehung auf den flamen (Note e); eben ſo aber auch

Ulpian in folgender Stelle:

 

L. 3 § 4 de Sc. Maced. (14. 6.). Si a filiofamilias

|0521 : 507|

Status und Capitis deminutio.

stipulatus sim, et patrifamilias facto crediderim, sive

capite deminutus sit, sive morte patris vel alias sui

juris sine capitis deminutione fuerit effectus, debet

dici cessare Senatusconsultum quia mutua jam pa-

trifamilias data est.

Die Worte vel alias etc. koͤnnen unmöglich anders

verſtanden werden, als von dem flamen, oder der Veſta-

lin, oder (am wahrſcheinlichſten) von beiden Fällen zu-

gleich. Vielleicht hatte dieſe Ulpian geradezu ausgedrückt,

und die Compilatoren haben abſtractere Ausdrücke an ihre

Stelle geſetzt. — Die abweichende Anſicht betraf alſo nicht

(wie eigentliche Controverſen) unmittelbar einen Satz des

praktiſchen Rechts, ſondern vielmehr den wiſſenſchaftlichen

Verſuch, aus anerkannten einzelnen Rechtsregeln, durch

Auswahl vorgefnndener Merkmale, einen allgemeinen Be-

griff zu bilden. Dabey aber muß auch unſrer logiſchen

Kritik, den alten Juriſten gegenüber, eine größere Frey-

heit eingeräumt werden.

 

XIX.

Ich habe die bey den alten Juriſten vorkommenden

Erklärungen der c. d. theils als ungenügend, theils als

unrichtig darzuſtellen geſucht; um einer ſolchen Behaup-

tung Eingang zu verſchaffen, iſt es beſonders wichtig, die

Entſtehung des angeblich Mangelhaften auf wahrſchein-

liche Weiſe zu erklären.

 

Die Roͤmer hatten eine uralte Lehre von drey Arten

 

|0522 : 508|

Beylage VI.

der capitis deminutio; natürlich ohne Definition, aber

unzweifelhaft in ihren Wirkungen, und eben ſo auch in

den meiſten und wichtigſten Anwendungen auf einzelne

Fälle. Dagegen gab es wohl einige Fälle, in welchen

das Daſeyn oder Nichtdaſeyn der c. d. nicht ſowohl be-

ſtritten, als unbeſtimmt geblieben war, blos weil ſolche

Fälle zufällig nicht vorgekommen oder nicht beachtet wor-

den waren. Bey fortſchreitender Ausbildung der Wiſſen-

ſchaft ſuchte man für jene alte Lehre beſtimmte Begriffe

aufzuſtellen, und daß dabey ganz verſchiedene Wege ein-

geſchlagen wurden, kann bey einem an ſich blos formalen

Unternehmen nicht auffallen. Die Meiſten definirten die

c. d. kurzweg als eine Status mutatio. Daß wir dieſe

Definition gerade nicht als falſch, aber als unzureichend

tadeln, kann wohl ſchwerlich für eine unbefugte Anmaa-

ßung gelten, wenn man erwägt, daß die allermeiſten De-

finitionen der alten Juriſten überaus mangelhaft ſind.

Das Wichtigſte war, ſich vor falſchen Anwendungen aus

conſequenter Durchführung mangelhafter Definitionen zu

ſichern, und dagegen ſchützte ſie meiſtens ihr geſunder prak-

tiſcher Sinn. Hätte man den Gajus oder Ulpian gefragt,

ob denn alſo der Latinus durch die erlangte Civität, der

Sohn durch den Tod des Vaters, eine c. d. erleide, ſo

würden ſie weit entfernt geweſen ſeyn die Frage deswe-

gen zu bejahen, damit nur ihre Definition durch ſtreng

conſequente Anwendungen bey Ehren bliebe.

Einen ganz andern Weg ſchlug Paulus ein, und die

 

|0523 : 509|

Status und Capitis deminutio.

Entſtehung ſeines Gedankens erkläre ich mir auf folgende

Weiſe. Er erwog, daß die wichtigſte, den ſo verſchiede-

nen Fällen gemeinſame Wirkung der minima c. d. in dem

Verluſt der Agnatenfamilie beſtehe; denn der Untergang

der Schulden war durch die Reſtitution ſchon längſt ent-

kräftet, und das Zuſammentreffen eines Niesbrauchs mit

der c. d. in einer und derſelben Perſon konnte nur ſelten

und zufällig vorkommen, anſtatt daß der Austritt aus der

Familie jedesmal erfolgte. Dieſe einzelne Wirkung nun

ſtellte er als das Weſen der c. d. auf, unbekümmert um

den dadurch verdunkelten hiſtoriſchen Zuſammenhang der

Sache ſelbſt und des Namens. Aus ſeinem ſo gebildeten

Begriff ließen ſich auch die meiſten und gangbarſten Fälle

unſtreitiger c. d. (Arrogation, Emancipation, in manum

conventio einer unabhängigen Frau) ohne praktiſchen Irr-

thum ableiten. Allein er folgerte aus jenem Begriff die

Anwendung der c. d. auf die Kinder eines Arrogirten, die

er wohl bey anderen Schriftſtellern nicht gefunden haben

mochte, und daher nur als eine Meynung aufſtellte (pla-

cet). Die Treue gegen ſeine Definition hinderte ihn aber

nicht, gelegentlich auch wieder einem ganz anderen Ge-

danken nachzugehen, und bey dem Emancipirten den Grund

der c. d. in der Degradation durch die mancipii causa

aufzuſuchen, ohne Zweifel weil er hier dieſen Erklärungs-

grund, wegen der Übereinſtimmung aller älteren Schrift-

ſteller, für minder gewagt und hypothetiſch halten mußte

(manifesto accidit).

|0524 : 510|

Beylage VI.

Jetzt erſt iſt es moͤglich, die Stelle des Paulus voll-

ſtändig zu erklären, die auf die Anſicht der Neueren von

den drey Status ſo großen Einfluß gehabt hat (Num. X.).

 

L. 11 de cap. min. (4. 5.). Capitis deminutionis tria

genera sunt: maxima, media, minima. Tria enim

sunt quae habemus: libertatem, civitatem, familiam.

Igitur, cum omnia haec amittimus, hoc est liberta-

tem et civitatem et familiam, maximam esse capitis

deminutionem: cum vero amittimus civitatem, liber-

tatem retinemus, mediam esse capitis deminutionem:

cum et libertas et civitas retinetur, familia tantum

mutatur, minimam esse capitis deminutionem constat.

Er war auf dem oben angegebenen Wege dazu ge-

kommen, die minima c. d. als familiae mutatio zu erklä-

ren. Da nun von alter Zeit her drey Grade der c. d.

angenommen waren, ſo ſuchte er deren dreygliedrige Ein-

heit dadurch begreiflich zu machen, daß er das Poſitive

zuſammenſtellte, was durch jedes dieſer drey Ereigniſſe

verloren werden ſollte. Dieſes mußte alſo ſeyn: Freyheit,

Civität, Familie. Was haben nun dieſe ſehr ungleichar-

tige Verhältniſſe mit einander gemein? Nichts, als daß

wir ſie haben (Tria sunt quae habemus). Dieſes würde

ſich hoͤren laſſen, wenn es wirklich die einzigen Gegen-

ſtände wären, die wir haben. Da wir aber bekanntlich

auch noch einige andere Dinge haben, z. B. Ehe, väter-

liche Gewalt, Eigenthum, Servituten, Forderungen u. ſ. w.,

deren Jedes wir gleichfalls verlieren können, ſo iſt in der

 

|0525 : 511|

Status und Capitis deminutio.

That dieſes um die drey Grade geſchlungene Band, wo-

durch ſie zu einer Einheit werden ſollen, über die Gebühr

loſe zu nennen. Die ganze Stelle des Paulus erſcheint

demnach nur als ein mislungener Verſuch, die dreyfache

capitis deminutio auf eine rationelle Weiſe zu begründen.

Nicht einmal den Troſt haben wir, daß etwa jenes drey-

fache Haben, verglichen mit anderen hier beyſpielsweiſe

aufgezählten Arten des Habens, vorzugsweiſe wichtig wäre.

Daneben gewährt aber allerdings dieſe, ſonſt ſo wenig be-

friedigende, Zuſammenſtellung den Vortheil, daß ſie nicht

ſo, wie die Definition der anderen Römiſchen Juriſten,

zu dem Misverſtändniß Anlaß geben kann, als dürfe die

Verleihung der Civität oder der Tod des Vaters für eine

c. d. gehalten werden.

Durch alle dieſe Schwächen iſt indeſſen die Stelle des

Paulus nicht verhindert worden, zu der Lehre der Neue-

ren von den drey Status den Hauptgrund zu legen. Ohne

Zweifel war dabey mitwirkend die ſtillſchweigende Voraus-

ſetzung, Das was hier Paulus lehre, ſey die urſprüng-

liche und allgemeine Anſicht der Römiſchen Juriſten ge-

weſen. Aber gerade dieſer Vorausſetzung muß ich auf das

Beſtimmteſte widerſprechen. Wäre dieſe Vorausſetzung ge-

gründet, ſo würde die erwähnte Anſicht eben ſo, wie die

dreyfache Capitis deminutio, die Signatur eines feſten, al-

ten Kunſtwortes an ſich tragen, und nicht ſo, wie jetzt,

mit der ſeltſamen Bezeichnung sunt quae habemus in der

Luft ſchweben. Insbeſondere lag der Ausdruck Status ſo

 

|0526 : 512|

Beylage VI.

nahe, daß derſelbe gewiß nicht unausgeſprochen bleiben

konnte, wenn in der That jene tria als drey feſtſtehende

Arten des Status gedacht worden wären. Aber nicht blos

die Vorausſetzung der Allgemeinheit iſt hier ohne Grund,

ſondern auch bey Paulus ſelbſt erſcheint jene Anſicht gar

nicht als eine ſo feſte, tief durchdachte Lehre, wie ſie von

den Neueren auf die Autorität dieſer Stelle angenommen

zu werden pflegt. Es war bey ihm ein hingeworfener

Gedanke, ein augenblicklicher Verſuch, die uralte dreyfache

capitis deminutio durch umſchreibende Ausdrücke faßlich

darzuſtellen, allerdings ausgehend von der Erklärung der

minima c. d. als einer familiae mutatio. Dieſe war ihm

eigenthümlich; aber wie wenig er auch ſie für gewiß, un-

anfechtbar und anerkannt ausgeben wollte, zeigt deutlich

der Umſtand, daß er bey Erklärung der in der Emanci-

pation liegenden c. d. (L. 3 § 1 de c. m.) von ſeiner An-

ſicht wieder keinen Gebrauch machte, ſondern die übliche

Herleitung aus der servilis causa vorzog.

XX.

Die hier verſuchte Kritik der Lehre von der c. d. mag

zugleich hinreichen zur Beurtheilung fremder Arbeiten über

dieſen Gegenſtand, wie ſie oben (Num. I.) zuſammengeſtellt

worden ſind. Anſtatt einer Zergliederung ihres Inhalts

mögen hier nur wenige literariſche Bemerkungen ſtehen.

 

Conradi, deſſen Meynungen überall Anſpruch auf be-

ſondere Aufmerkſamkeit haben, legt als das Gewiſſe zum

 

|0527 : 513|

Status und Capitis deminutio.

Grund die Erklärung der minima c. d. als einer familiae

mutatio, und ſucht hieraus alles Übrige zu erklären.

Durch dieſe falſche Vorausſetzung ſieht er ſich genöthigt,

die servilis causa als Grund der c. d. bey der Emanci-

pation zu verwerfen (p. 180), und dieſes führt ihn weiter

zu einer ſo gezwungenen Auslegung, wie man ſie ſonſt bey

ihm nicht leicht antrifft; nämlich das manifesto accidit in

L. 3 § 1 de c. m. ſoll nicht heißen: tritt unzweifelhaft ein,

ſondern: wird offenbar, erſcheint in ſinnlicher Darſtellung

durch ſymboliſche Handlungen.

Die Schrift von Seckendorf beſtreitet die Lehre des

Paulus und trägt im Weſentlichen die hier aufgeſtellte

Lehre vor; es iſt, wie es ſcheint, die erſte gedruckte Schrift,

worin dieſes geſchieht.

 

Schon ſehr früh iſt ein merkwürdiger Verſuch gemacht

worden, in die Lehre des Paulus Licht und Zuſammen-

hang zu bringen, und dieſer hat noch in der neueſten Zeit

auf mehreren Seiten Anklang gefunden. Es iſt dieſes fol-

gende, zuerſt von Hotomanus aufgeſtellte, Anſicht.

 

Es giebt, ſagt Hotomanus, drey Corporationen von

verſchiedenem Umfang, worin jeder einzelne Menſch ſtehen

kann (a): die Corporation aller freyen Menſchen der Erde,

die der Römiſchen Bürger, die der Mitglieder einer ein-

zelnen Agnatenfamilie. Scheidet ein Mitglied aus einer

 

(a) Er nennt dieſelben ab-

wechslend corpus, ordo, colle-

gium. — Im Weſentlichen haben

dieſe Anſicht adoptirt Dücaurroy

und Zimmern (ſ. oben Num. I.);

dann auch Vangerow Pandek-

ten I. S. 61.

II. 33

|0528 : 514|

Beylage VI.

derſelben, ſo wird dieſe Corporation um Ein Haupt ver-

mindert, ſie erleidet eine Capitis deminutio, welcher Aus-

druck dann aber auf das ausſcheidende Mitglied ſelbſt über-

tragen worden iſt. Seitdem ſich dieſer Sprachgebrauch

gebildet hatte, bezeichnete caput die Stellung eines Mit-

gliedes in einer ſolchen Corporation (b), und in derſelben

Bedeutung muß nun auch das Wort Status in der Defi-

nition der c. d. als einer Status mutatio verſtanden wer-

den (c), denn ſonſt würde ganz unrichtig auch dem Sohn,

deſſen Vater ſtirbt, eine c. d. zugeſchrieben werden müſ-

ſen. — Durch dieſe Auffaſſung wird ein ſcheinbarer Zu-

ſammenhang in die Lehre des Paulus gebracht: mehr Lob

kann man ihr nicht beylegen, denn eine genauere Prüfung

hält ſie nicht aus. Zuerſt iſt die Corporation aller freyen

Menſchen, aus welcher man auf ähnliche Weiſe, wie aus

dem geſchloſſenen Kreis der Römiſchen Bürger, ausſchei-

den könne, ein abentheuerlicher, den Römern beſonders

völlig fremder Gedanke. Auf der andern Seite iſt die Ge-

ſammtheit der Agnaten zwar allerdings ein Rechtsbegriff,

und ein nicht unwichtiger, denn ſie iſt die Grundlage der

Inteſtaterbfolge und der legitima tutela. Sie iſt aber doch

(b) Hotomanus l. c. scire

oportet, caput in hoc ipso

tractatu significare jus, quod

aliquis ob eam causam habet,

quia caput sive locum in or-

dine aliquo illorum trium ob-

tinet.

(c) Intelligi oportet, Status

verbo in hoc tractatu signifi-

cari a Ictis, condicionem per-

sonae in eorum ordine stantis

(i. e. numerum efficientis) qui

vel libertatem, vel cum libertate

civitatem, vel cum utraque fa-

miliam obtinent.

|0529 : 515|

Status und Capitis deminutio.

nur eines unter den verſchiedenen Familienbanden, wo-

durch mehrere Menſchen zu einem engeren Ganzen verei-

nigt werden, man kann ſie nicht einmal das wichtigſte

derſelben nennen, und es iſt alſo durchaus kein Grund

einzuſehen, warum ſie, vorzugsweiſe vor allen anderen

Familienverhältniſſen, in dieſer Lehre mit ſo ausſchließen-

der Wichtigkeit behandelt werden ſollte. Endlich iſt es

auch ein ganz willkührliches, aller inneren Wahrſcheinlich-

keit ermanglendes Verfahren, wodurch der Ausdruck Ca-

pite minui von der wirklich verminderten Corporation auf

das austretende, alſo vermindernde Individuum übertra-

gen wird. Wir können alſo in dieſer ganzen Auffaſſung

nur einen ſinnreichen Einfall ſehen, nichts Beſſeres.

 

33*

|0530 : 516|

Beylage VII.

Beylage VII.

Über einige zweifelhafte Punkte in der

Lehre von der Infamie.

(Zu § 77 und § 82.)

I.

Findet das Rechtsinſtitut der Infamie auch Anwen-

dung auf Frauen?

 

Wer bey der Infamie die Ausſchließung vom Poſtuli-

ren als das Einzige, oder doch als die Hauptſache, an-

ſieht, muß dieſe Anwendung zwar nicht unmöglich, wohl

aber völlig überflüſſig finden. Denn da der Prätor ſchon

in ſeinem zweyten Edict allen Frauen überhaupt unbe-

dingt unterſagt hatte, für Andere poſtulirend vor ihm zu

erſcheinen, ſo war es ganz unnöthig, für einige Frauen

(die ehrloſen) im dritten Edict daſſelbe Verbot, und zwar

ſogar durch Ausnahmen gemildert, zu wiederholen (§ 78).

 

Betrachtet man dagegen die Infamie, wie ich es zu

beweiſen verſucht habe, als Verluſt der politiſchen Rechte

(§ 79—81), ſo hat ſie für Frauen durchaus keinen Sinn,

weil dieſelben ohnehin niemals politiſche Rechte hatten.

Hieraus erklärt es ſich unmittelbar, warum die Tafel von

Heraklea (Lex Julia municipalis), die nur von der Fähig-

keit zu gewiſſen politiſchen Rechten handelt, in ihrem Ver-

zeichniß der Ehrloſen die Frauen gar nicht erwähnen

kann (§ 80).

 

|0531 : 517|

Infamie.

Was finden wir nun als Antwort auf unſre Frage in

den Rechtsquellen? Das in den Digeſten enthaltene Edict

über die Infamen umgeht die Frauen, gerade da wo man

ſie zunächſt erwartet, recht abſichtlich und auf die merk-

würdigſte Weiſe. Wenn eine Wittwe zu frühe eine zweyte

Ehe ſchließt, ſo ſollen infam ſeyn: der Vater der Wittwe,

wenn ſie noch in deſſen Gewalt ſteht, ferner der neue Ehe-

mann, wenn er unabhängig iſt, oder im entgegengeſetzten

Fall deſſen Vater. Von der Wittwe ſelbſt, die doch am

ſtärkſten und unmittelbarſten gefehlt hat, iſt mit keinem

Wort die Rede.

 

Möchte man nun geneigt ſeyn, in dieſer Erſcheinung

eine unmittelbare Beſtätigung einer oder der andern der

oben erwähnten Anſichten von dem praktiſchen Weſen der

Infamie zu finden, ſo wird wieder Alles zweifelhaft durch

eine Anzahl von Stellen, worin als etwas Bekanntes und

Gewiſſes angegeben wird, daß jene Wittwe dennoch infam

werde (§ 77. y). Dieſe Stellen ſcheinen alſo ſowohl mit

dem Weſen der Infamie, als mit dem angegebenen In-

halt des Edicts im Widerſpruch zu ſtehen.

 

Wie ſind dieſe Räthſel zu loͤſen?

 

II.

Die Lex Julia enthält nach Ulpian (XIII. § 1. 2) fol-

gende Eheverbote, die ich der leichteren Überſicht wegen

durch Zahlen bezeichnen will.

 

Lege Julia prohibentur uxores ducere senatores qui-

 

|0532 : 518|

Beylage VII.

dem liberique eorum 1) libertinas 2) et quae ipsae 3) qua-

rumve pater materve artem ludicram fecerit, 4) item cor-

pore quaestum facientem.

Ceteri autem ingenui prohibentur ducere 5) lenam

6) et a lenone lenave manumissam, 7) et in adulterio

deprehensam, 8) et judicio publico damnatam, 9) et quae

artem ludicram fecerit; 10) adjicit Mauricianus, et a se-

natu damnatam.

 

Das Erſte, was in dieſen Verboten auffällt, iſt die

nicht geringe Verſchiedenheit bey beiden Ständen. Wäre

nun überall das Verbot für die Senatoren ſtrenger, wie

es z. B. offenbar in Anſehung der Ehe mit Libertinen der

Fall iſt, ſo wäre das ganz natürlich; allein es findet ſich

auch das Umgekehrte, denn die Ehen N. 5. 6. 7. 8. 10 ſind

dem Freygebornen verboten, dem Senator nicht. Man

könnte das ſo erklären wollen, das Verbot für Freyge-

borne ſey das allgemeine, die Senatoren (als Freyge-

borne) mit umfaſſende; allein auch das paßt nicht genau,

denn der Fall 2 und 9 kommt ausdrücklich in beiden Stän-

den als verboten vor.

 

Die Juriſten verbeſſerten durch Interpretation dieſen

mangelhaften Ausdruck des Geſetzes; nicht nur wandten

ſie einzelne Verbote für die Freygebornen wegen Gleich-

heit des Grundes mit ſenatoriſchen Fällen, auch auf die

Senatoren an (a), ſondern ſie ſtellten auch geradezu die

 

(a) L. 43 § 6 de ritu nupt.

(23. 2.). „Lenocinium facere

non minus est, quam corpore

quaestum exercere.” Die ganze

|0533 : 519|

Infamie.

ſehr natürliche Regel auf: jedes Verbot für die Freyge-

bornen ſey auch auf die Senatoren anzuwenden (b). Sie

giengen aber noch weiter in ihrer Reflexion über das Ge-

ſetz. Dieſes hatte den Ausdruck der Infamie nicht ge-

braucht, ohne Zweifel weil nach altem Recht die Infamie

auf Frauen gar keine Anwendbarkeit hatte (Num. I.), aber

gemeynt war doch etwas ganz Ähnliches in den einzeln

aufgezählten verbotenen Fällen (c), ja mehrere derſelben

kamen ausdrücklich im Edict als Fälle der Infamie vor.

Sollte nun z. B. eine wegen Diebſtahls verurtheilte Frau

nicht dem Eheverbot der L. Julia unterworfen ſeyn? Nichts

war natürlicher, als auf die allgemeine Regel zu kommen:

die Ehe wird für Freygeborne, alſo auch für Senatoren,

durch jeden Fall der Infamie verhindert, bey Senatoren

überdem noch durch die Libertinität des andern Theiles;

gerade ſo wird die Regel wörtlich von Ulpian ausge-

Stelle ſpricht von den Eheverbo-

ten für die Senatoren: da nun

hier die L. Julia zwar den quae-

stus corpore, aber nicht das le-

nocinium, genannt hatte, ſo fin-

det der Juriſt nöthig, für das

lenocinium künſtlich zu beweiſen,

daß es mit unter das Verbot ge-

höre; dennoch war das lenoci-

nium in den Eheverboten der Frey-

gebornen ausdrücklich genannt,

was ihm alſo nicht zu genügen

ſchien.

(b) L. 43 § 8 de ritu nupt.

(23. 2,). „Eas quas ingenui ce-

teri prohibentur ducere uxores,

Senatores non ducent.”

(c) Dieſer Sinn der geſetzli-

chen Beſtimmungen wird auch von

den alten Juriſten in ihren Com-

mentaren über das Geſetz aner-

kannt, indem ſie von den daſelbſt

einzeln aufgezählten Perſonen ganz

dieſelben Ausdrücke gebrauchen,

welche ſonſt von den Infamen des

prätoriſchen Edicts regelmäßig ge-

braucht werden. L. 43 § 4. 12.

13 de ritu nupt. (32. 2.) „lege

notatur,” „erit notata,” „id-

circo notetur,” „notata erit,”

„quia factum lex, non senten-

tiam notaverit” u. ſ. w.

|0534 : 520|

Beylage VII.

drückt (d). Eben ſo mußten nun auch umgekehrt die in

der Lex Julia ausdrücklich genannten Fälle unzuläſſiger

Ehen, wenn ſie nicht ſchon im Edict ſtanden, von jetzt

an als Fälle wahrer Infamie betrachtet werden: natürlich

mit Ausnahme des Falles bloßer Libertinität, da bey die-

ſem das Verbot nicht von ſittlichen Gründen ausgieng.

Der Unterſchied der Senatoren von den übrigen Freyge-

bornen zeigte ſich in zwey Stücken: erſtlich in der Aus-

dehnung des Verbots auf die Freygelaſſenen, ohne Rück-

ſicht auf deren individuelle Ehrbarkeit: zweytens in der

Anwendung des Verbots auf infame Männer, welchen die

Ehe mit den Töchtern und Enkelinnen der Senatoren un-

terſagt war, anſtatt daß das Eheverbot für die Freyge-

bornen nur auf infame Frauen angewendet werden konnte.

Durch dieſe natürliche Entwicklung der Gedanken er-

hielt nun der Begriff der Infamie folgende merkwürdige

Ausdehnung. Infamie bezeichnete jetzt: bey Männern,

Verluſt der politiſchen Rechte und Unfähigkeit zur Ehe mit

weiblichen Nachkommen der Senatoren: bey Frauen,

Unfähigkeit zur Ehe mit freygebornen Männern überhaupt,

was ja die Senatoren und deren Söhne ohnehin auch

 

(d) Ulpian. XVI. § 2. „Ali-

quando nihil inter se capiunt,

id est si contra legem Juliam

Papiamque Poppaeam contra-

xerint matrimonium: verbi gra-

tia, si famosam quis uxorem

duxerit, aut libertinam sena-

tor.” — Si quis, alſo irgend Ei-

ner, Senator oder nicht, wobey

man nur noch hinzu denken muß:

ingenuus. — famosam heißt ent-

ſchieden ſo viel als infamem, und

namentlich Ulpian gebraucht beide

Ausdrücke als völlig gleichbedeu-

tend, mit willkührlicher Abwechs-

lung. L. 6 § 1 de his qui not.

(3. 2.)

|0535 : 521|

Infamie.

waren. In dieſer neuen Ausdehnung war der Begriff

ein eben ſo ſcharf beſtimmter wie früher (§ 78), und ver-

lor ſich alſo auch jetzt nicht in den ſchwankenden Begriff

des ſchlechten Rufs oder der Infamia facti.

Daß nun dieſe Erweiterung der Fälle der Infamie von

Juriſten und Kaiſern beachtet und praktiſch anerkannt wer-

den mußte, verſteht ſich von ſelbſt (§ 77. y); aber ſollte

dieſelbe auch in das prätoriſche Edict über die Infamen

aufgenommen werden? Für die meiſten Fälle war es

ohnehin nicht nöthig irgend eine Änderung vorzunehmen,

da die Ausdrücke des Edicts (furti, mandati damnatus

u. ſ. w.) ſchon an ſich auf beide Geſchlechter bezogen wer-

den konnten, uno es alſo genügte, wenn man die früher-

hin ſtillſchweigend hinzugedachte Ausſchließung der Frauen

jetzt hinwegdachte: aber auch für die Fälle, worin der

Ausdruck des Edicts die Frauen beſtimmt ausſchloß (§ 77),

war ein praktiſches Bedürfniß der Änderung nicht vor-

handen. Denn das prätoriſche Edict über die Infamen

bezog ſich blos auf die Ausſchließung vom Poſtuliren, und

in dieſer Hinſicht machte bey Frauen die Infamie keinen

Unterſchied (Num. I.). Dennoch hat man dieſes, durch

praktiſches Bedürfniß nicht Gebotene, gethan, und das

Edict durch Aufnahme der die Frauen beſonders betreffen-

den Fälle der Infamie ergänzt (Num. VIII.): ohne Zwei-

fel deswegen, weil das prätoriſche Edict über die Infa-

men der einzige Ort überhaupt war, wo ſich ein mit ge-

ſetzlichem Anſehen bekleidetes Verzeichniß der Ehrloſen fand.

 

|0536 : 522|

Beylage VII.

III.

Welche Bedeutung hatte aber das Eheverbot der Lex

Julia, oder was nun daſſelbe ſagt: welche praktiſche Fol-

gen hatte für Frauen die Infamie?

 

Nach Ulpians Ausdruck: prohibentur, womit auch die

Ausdrücke des Geſetzes ſelbſt übereinſtimmen (a), möchte

man erwarten, es ſey für alle dieſe Fälle das Connubium

aufgehoben worden, das heißt eine gegen das Verbot un-

ternommene Ehe ſey nichtig geweſen, gerade ſo wie von

jeher die Ehe zwiſchen Bruder und Schweſter nichtig war.

Oder ſollte man etwa annehmen, das Geſetz habe die Ehe

zwar beſtehen laſſen mit allen nach dem früheren Recht

daran geknüpften Wirkungen, und ihr nur die Vorzüge

entzogen, die eben dieſes Geſetz ſelbſt an das Daſeyn der

Ehe, verglichen mit dem eheloſen Zuſtand, knüpfte? Eine

ſolche Unterſcheidung ſcheint faſt zu ſubtil: und dennoch

ſind wir genöthigt, ſie als wahr anzunehmen. Die Ehe

ſelbſt war alſo rechtsbeſtändig, und die in derſelben er-

zeugten Kinder ſtanden in väterlicher Gewalt; allein in

Beziehung auf die Bedingungen der Capacität galten dieſe

Ehegatten als ehelos, ſo daß jeder derſelben unfähig war,

durch das Teſtament des andern Ehegatten oder eines Drit-

ten irgend etwas zu erwerben. Darüber, ob das Daſeyn

 

(a) L. 44 pr. de ritu nupt.

(23. 2.) „ne quis eorum spon-

sam uxoremve .. habeto,” dann:

„neve Senatoris filia … sponsa

nuptave esto,” endlich: „neve

quis eorum .. sponsam uxo-

remve eam habeto.”

|0537 : 523|

Infamie.

von Kindern aus einer ſolchen Ehe den Eltern Vortheil

bringen ſollte, galt kein ganz feſtes Princip, indem man

in einigen Anwendungen den Vortheil gelten ließ, in an-

deren aber nicht. Alle dieſe Sätze ſind nunmehr zu be-

weiſen.

1) Ulpian XVI. 2 ſagt ausdrücklich, bey einer ge-

gen die Regeln der L. Julia geſchloſſenen Ehe ſeyen die

Ehegatten ganz unfähig, einander Etwas durch letzten

Willen zuzuwenden (Num. II. c). Dieſen Satz mußte er

als etwas Poſitives, ungeachtet der übrigen Rechtsbeſtän-

digkeit dieſer Ehe Geltendes anſehen: denn hätte er die

allgemeine Nichtigkeit der Ehe vorausgeſetzt, ſo verſtand

ſich ja die juriſtiſche Eheloſigkeit dieſer faktiſchen Gatten

von ſelbſt, beſonders aber war es ganz unpaſſend, dieſen

einzelnen Fall einer nichtigen Ehe als Grund der Incapa-

cität anzugeben, und alle anderen Gründe der Nichtigkeit

(z. B. Verwandtſchaft), die doch voͤllig eben ſo in dieſen

Zuſammenhang gehoͤrten, mit Stillſchweigen zu überge-

hen (b).

 

2) Wer drey Kinder hatte, konnte eine ihm auferlegte

Tutel ablehnen, jedoch mußten es justi liberi ſeyn. Da-

 

(b) Ich will jedoch zugeben, daß

in dem Satz des Ulpian eigentlich

zweyerley liegt: 1) ſie ſollen nicht

die Vortheile genießen, die au-

ßerdem in der Capacität die bloße

Ehe den Ehegatten unter ſich giebt;

2) ſie ſollen einander gar Nichts

hinterlaſſen dürfen, ſelbſt wenn ſie

aus anderen Gründen gegen frem-

de Perſonen volle Capacität haben,

z. B. weil die Frau drey Kinder

geboren hat. Die Folgerung, die

ich im Text aus der Stelle ziehe,

iſt nur wahr für den erſten Satz,

nicht für den zweyten.

|0538 : 524|

Beylage VII.

bey entſtand die Streitfrage, ob dieſer Ausdruck nach dem

alten jus civile zu verſtehen ſey, oder nach den enger ein-

ſchränkenden Beſtimmungen der L. Julia. Ein alter Juriſt

entſcheidet für die erſte, alſo die mildere Meynung (c); in

dieſer Entſcheidung liegt die ausdrückliche Anerkennung, daß

die L. Julia blos eine relative Unwirkſamkeit der Ehe, in

Beziehung auf einzelne, genau beſtimmte Zwecke zur Ab-

ſicht hatte, nicht die allgemeine Nichtigkeit der Ehe, un-

ter deren Vorausſetzung dieſe Kinder ja gar nicht Kinder

ihres angeblichen Vaters geweſen wären (d).

Wenn daher die L. Julia für gewiſſe Fälle die Nich-

tigkeit der Ehe ausſprach (was ich beſtreite), ſo war die

mildere Meynung in Beziehung auf die Excuſationen ganz

unmöglich; wenn ſie dagegen (ſo wie ich behaupte) ſolche

Ehen an ſich gelten ließ, nur mit Verſagung gewiſſer Vor-

theile, ſo konnte die in der angeführten Stelle dargeſtellte

 

(c) Fragm. Vaticana § 168.

„Quidam tamen justos secun-

dum has leges putant dici ....

Sed justorum mentio ita acci-

pienda est, uti secundum jus ci-

vile quaesiti sint.” — Daß die

entgegengeſetzte Meynung gleich-

falls Vertheidiger hatte, ſagt hier

der Juriſt ausdrücklich. In einem

andern ähnlichen Fall hatte die

ſtrengere Meynung das Überge-

wicht. Ein Freygelaſſener näm-

lich ſollte durch zwey lebende Kin-

der frey von Laſten und Dienſten

gegen den Patron werden. Da-

bey aber heißt es: ex lege autem

nati liberi prosunt. (L. 37 § 7

de operis libert. 38. 1.) Die lex

iſt natürlich die L. Julia, denn

aus dieſer ſtammte die ganze Be-

günſtigung der Freygelaſſenen her.

(d) § 12 J. de nupt. (1. 10.).

„Si adversus ea, quae diximus,

aliqui coierint: nec vir, nec

uxor, nec nuptiae, nec matri-

monium, nec dos intelligitur.

Itaque ii, qui ex eo coitu na-

scuntur, .... tales sunt .. qua-

les sunt ii, quos vulgo mater

concepit: nam nec hi patrem

habere intelliguntur, cum his

etiam pater est incertus.”

|0539 : 525|

Infamie.

Controverſe ſehr wohl entſtehen; denn da die Excuſation

ein auf Willkühr beruhendes Privilegium war, ſo konnte

man ohne Inconſequenz die Behauptung aufſtellen, daß

die Excuſation nicht auf Kinder aus einer von der L. Julia

misbilligten (wenngleich gültigen) Ehe gegründet wer-

den könne.

3) Die Wittwe, welche innerhalb des Trauerjahrs

eine neue Ehe ſchließt, wird dadurch ehrlos (§ 77. y).

Allen ehrloſen Frauen war durch die L. Julia und deren

Interpretation die Ehe mit jedem freygebornen Mann ver-

boten (Num. II.). Hätte nun dieſes Verbot die Nichtig-

keit der Ehe zwiſchen dem Freygebornen und der infamen

Frau bezweckt, ſo wäre auch die voreilige zweyte Ehe

jener Wittwe gar keine Ehe geweſen, alſo auch die darin

gegebene Dos keine Dos (Note d). Allein gerade die Kai-

ſergeſetze, welche die Strafen einer ſolchen übereilten Ehe

beſtimmen, ſetzen die Gültigkeit derſelben, und insbeſon-

dere das juriſtiſche Daſeyn einer wahren Dos ſo beſtimmt

voraus (e), daß ein vollkommener Widerſpruch nur ver-

hütet werden kann, indem man (ſo wie es hier geſchehen

iſt) das Verbot gewiſſer Ehen in der L. Julia anders als

von der Nichtigkeit dieſer Ehen verſteht.

 

(e) L. 1 C. de sec. nupt. (5.

9.). — Man darf nicht glauben,

dieſen Einwurf durch die Annah-

me beſeitigen zu können, die an-

fangs nichtige Ehe ſey nach Ab-

lauf des Trauerjahrs von ſelbſt

gültig geworden. Die Infamie

der Frau war, wie jede Infamie,

lebenslänglich; machte alſo über-

haupt die Infamie einer Frau die

Ehe mit einem Freygebornen un-

möglich, ſo konnte dieſer Grund

ihrer Unfähigkeit durch keinen

Zeitablauf weggeräumt werden.

|0540 : 526|

Beylage VII.

4) Die vollſtändigſte Beſtätigung aber für unſre Be-

hauptung über den praktiſchen Sinn der L. Julia liegt in

den ſpäteren Ereigniſſen. Unter Marc Aurel wurde ein

Senatsſchluß erlaſſen, nach welchem die Ehen der Frey-

gelaſſenen mit den Senatoren und deren Nachkommen nich-

tig ſeyn ſollten, und dieſer Senatsſchluß wird von dieſer

Zeit an ſtets als Urſprung der Nichtigkeit ſolcher Ehen

angeführt (f). Hieraus folgt nun unwiderſprechlich:

 

a) Daß vorher die Ehe zwiſchen Senatoren und Frey-

gelaſſenen keinesweges nichtig war.

 

b) Daß vorher und nachher die Ehe zwiſchen Sena-

toren und Infamen eben ſo wenig nichtig war; nur wurde

die Nichtigkeit durch Interpretation noch ausgedehnt auf

die Ehen mit Schauſpielern und deren Kindern, oder ſol-

chen Perſonen, die ein anderes der Sittenloſigkeit höchſt

verdächtiges Gewerbe trieben (g); niemals auf Infame

überhaupt (h).

 

(f) L. 16 pr. de ritu nupt.

(23. 2.). „Oratione D. Marci

cavetur, ut si Senatoris filia

libertino nupsisset, ncc nuptiae

essent: quam et Senatusconsul-

tum secutum est.” L. 16 de

spons. (23. 1.). „Oratio Impp.

Antonini et Commodi, quae

quasdam nuptias in persona

Senatorum inhibuit, de spon-

salibus nihil locuta est: recte

tamen dicitur, etiam sponsalia

in his casibus ipso jure nullius

esse momenti: ut suppleatur

quod orationi deest.” Vgl. L 3

§ 1 de don. int. vir. et ux. (24.

1.), L. 27 L. 34 § 3 de ritu

nupt. (23. 2.).

(g) Die Ausdehnung auf Schau-

ſpieler und deren Kinder kennt

ſchon Modeſtin. L. 42 § 1 de

ritu nupt. (23. 2.). Vollſtändi-

ger wurde der Rechtsſatz ausge-

bildet von Conſtantin (L. 1 C.

de natur. lib. 5. 27.), und deſ-

ſen Conſtitution wurde wieder nä-

her beſtimmt von Marcian (L. 7

C. dc incestis 5. 5.).

(h) Die angeführten Geſetze be-

ziehen die Nichtigkeit durchaus nur

|0541 : 527|

Infamie.

c) Daß vorher und nachher die Ehen freygeborner

Männer mit ehrloſen Frauen auf keine Weiſe nichtig wa-

ren, ſondern nur nicht die Vortheile verſchafften, welche

durch die L. Julia mit dem ehelichen Leben verknüpft wa-

ren: Vortheile, welche ſich auf die Fähigkeit bezogen, durch

den letzten Willen eines Verſtorbenen mehr oder weniger

zu erwerben.

 

IV.

Neuere Schriftſteller haben dieſen hiſtoriſchen Zuſam-

menhang der Eheverbote, auf welchen die häufigen Er-

wähnungen des Senatsſchluſſes unter Marc Aurel faſt

unvermeidlich hindeuten, zwar geahnet, aber ſo wenig klar

gedacht, daß dadurch die Verwirrung nur noch größer

geworden iſt. So Heineccius (a), welcher zuerſt ſagt, das

Eheverbot der L. Julia ſey blos eine Lex minus quam

perfecta geweſen, und erſt der Senatsſchluß von Marc

Aurel habe es zu einer perfecta gemacht und die Auflö-

ſung der Ehe vorgeſchrieben. Dann aber erklärt er auch

 

auf den Fall ehrloſer Gewerbe,

nicht auf die Ehrloſigkeit aus

einzelnen Handlungen. Daß ſie

hierauf in der That nicht bezogen

wurden, erhellt auch aus folgen-

der Stelle: L. 43 § 10 de ritu

nupt. (23. 2.). „Senatus cen-

suit, non conveniens esse ulli

Senatori, uxorem ducere aut

retinere damnatam publico ju-

dicio.” Wenn ein Senatuscon-

ſult nöthig war, um eine ſolche

Ehe für unanſtändig zu erklären,

und dadurch indirect zu verhin-

dern, ſo konnte ſie unmöglich ſchon

als nichtig angeſehen werden.

(a) Heineccius ad L. Jul. et

P. P. Lib. 2 Cap. 2 und Cap. 6.

— Im Weſentlichen findet ſich die-

ſelbe Anſicht, nur weniger ſcharf

ausgebildet, auch ſchon bey Ra-

mos ad L. Jul. et P. P. Lib. 2

Cap. 8.

|0542 : 528|

Beylage VII.

ſchon jenes urſprüngliche Verbot von wahrer, vollſtändi-

ger Nichtigkeit der Ehe, ſo daß für den ſchärfenden Se-

natsſchluß keine andere neue und eigenthümliche Wirkung

übrig bleibt, als die Ehegatten polizeylich aus einander

zu treiben, woran denn freylich das Römiſche Recht hierin

niemals gedacht hat.

Mit dieſen falſchen Grundanſichten der Neueren hän-

gen auch einige nicht unwichtige falſche Auslegungen ein-

zelner Stellen zuſammen. Dahin gehört der Anfang des

Inſtitutionentitels de nuptiis: Justas autem nuptias inter

se cives Romani contrahunt, qui secundum praecepta le-

gum coëunt. Hier ſollen praecepta legum die Vorſchrif-

ten der L. Julia und Papia Poppaea ſeyn. Daran kann

aber weder Juſtinian, noch der alte Juriſt, aus welchem

dieſe Stelle genommen ſeyn mag, gedacht haben. Erſtlich

weil in der That der Begriff der justae nuptiae von der

Beobachtung jener Vorſchriften unabhängig war (Num. III.);

zweytens weil, wenn es auch nicht ſo geweſen wäre, der

Begriff der justae nuptiae unmöglich als von dieſen Vor-

ſchriften allein abhängig dargeſtellt werden konnte, mit

Übergehung der weit wichtigeren Bedingungen des alten

jus civile. Daher ſind hier praecepta legum die Vor-

ſchriften des poſitiven Rechts überhaupt, ohne ſpeciellere

hiſtoriſche Andeutung. — Ferner gehört dahin eine ſchwie-

rige Stelle des Paulus in der Collatio (XVI. 3), worin

der Begriff der Sui heredes dahin beſtimmt wird, es ſeyen

die in väterlicher Gewalt ſtehenden Kinder, mit folgender

 

|0543 : 529|

Infamie.

näheren Beſtimmung: „nec interest, adoptivi sint, an na-

turales et secundum legem Juliam Papiamve quaesiti.”

Das ſoll heißen: „es gehören dahin ſowohl Adoptivkin-

der, als natürliche, dieſe letzten jedoch nur unter der

Vorausſetzung, daß ſie nach den Vorſchriften der L. Julia

erzeugt ſind.“ Dieſe Auslegung muß ſchon aus denſelben

zwey Gründen verworfen werden, welche ſo eben bey der

Inſtitutionenſtelle geltend gemacht wurden, nämlich weil

alsdann Paulus etwas Falſches ſagen, daneben aber etwas

Wahres und Wichtiges ungeſagt laſſen würde. Dazu

kommt hier noch der beſondere Grund, daß die Verbin-

dung durch et gar nicht auf eine Bedingung und Beſchraͤn-

kung des zweyten Falls der Sui, ſondern vielmehr auf die

Hinzufügung eines dritten Falls hindeutet. Paulus wollte

wahrſcheinlich ſagen: Sui ſind erſtlich die Adoptivkinder,

zweytens die (in rechter Ehe) natürlich erzeugten, drittens

diejenigen, welche durch eine causae probatio der väterli-

chen Gewalt unterworfen werden. Die Entwicklung und

Rechtfertigung dieſer Auslegung (wozu vielleicht auch eine

Änderung des Textes nöthig ſeyn dürfte) kann nur in Ver-

bindung mit ſehr weit führenden Unterſuchungen über die

Geſchichte der causae probatio nach Zeugniſſen des Gajus

und Ulpian aufgeſtellt werden.

V.

Vorzüglich wichtig für unſren Zweck iſt die ſpätere

Geſchichte dieſer Eheverbote.

 

II. 34

|0544 : 530|

Beylage VII.

Das allgemeine Verbot, welches für die Freygebornen

überhaupt, und in manchen Fällen auch für die Senato-

ren, ſtets nur gewiſſe Nachtheile im Vermögen bezweckte,

wurde durch mehrere Kaiſergeſetze beſeitigt, welche die

Strafen des Cölibats und der Orbität allgemein aufho-

ben (a); denn durch dieſe Aufhebung verlor jenes allge-

meine Verbot alle praktiſche Bedeutung.

 

Das ſpecielle Verbot, welches ſeit Marc Aurel die

Nichtigkeit der Ehen zwiſchen Senatoren und Freygelaſſe-

nen oder Schauſpielern u. ſ. w. bewirkt hatte, dauerte

fort bis auf Juſtinian. Dieſer entkräftete daſſelbe ſtu-

fenweiſe.

 

Zuerſt verordnete er, die Ehe zwiſchen einem Freyge-

bornen und einer Freygelaſſenen ſolle nicht dadurch un-

gültig werden, daß der Freygeborne ſpäterhin die ſena-

toriſche Würde erlange (b).

 

Dann erlaubte er den Senatoren die Ehe mit Schau-

ſpielerinnen, wenn nur dieſe ihrem bisherigen Gewerbe

entſagen würden (c).

 

(a) Tit. de infirmandis poenis

coelibatus etc., im Theodoſiſchen

Codex VIII. 16, im Juſtiniani-

ſchen VIII. 58.

(b) L. 28 C. de nupt. (5. 4.).

Nach den Worten dieſer Stelle

könnte man glauben, die L. Papia

ſelbſt habe ſchon die Nichtigkeit

ausgeſprochen; es iſt aber blos

ein ungenauer Ausdruck, der un-

ter dem Namen der L. Papia zu-

gleich die ſpäteren Zuſätze zu die-

ſem Geſetz befaßt.

(c) L. 29 C. de nupt. (5. 4.).

Dieſes war der L. Julia ſo ſehr

entgegen, daß dieſelbe das Ver-

bot ſogar auf die Kinder der

Schauſpieler ausdehnte, alſo auch

wenn dieſe Kinder nicht ſelbſt

Schauſpieler waren. Juſtinians

Neuerung wurde unmittelbar ver-

anlaßt durch den früheren Lebens-

lauf der regierenden Kaiſerin

Theodora.

|0545 : 531|

Infamie.

Endlich aber erlaubte er dem ſenatoriſchen Stande jede

Ehe ohne Ausnahme, unter der einzigen Bedingung, daß

dabey die Form ſchriftlicher Eheverträge beobachtet wer-

den ſollte (d).

 

Damit war denn jede Spur der durch die Lex Julia

eingeführten Eheverbote vertilgt, zugleich aber auch jede

praktiſche Bedeutung der Infamie in Anwendung auf das

weibliche Geſchlecht.

 

VI.

Wenn eine Wittwe innerhalb des Trauerjahrs (frü-

herhin 10 Monate) zur zweyten Ehe ſchreitet, ſo ſoll nach

der in den Digeſten enthaltenen Edictſtelle die Infamie ih-

ren Vater treffen, wenn ſie in deſſen Gewalt ſteht, ferner

ihren Mann, oder wenn derſelbe noch in väterlicher Ge-

walt ſteht, deſſen Vater (§ 77). Von ihr ſelbſt iſt im

Edict nicht die Rede, aber mehrere Stellen von Juriſten

und Kaiſern ſchreiben auch ihr die Infamie zu (§ 77. y).

Iſt nun ſchon dieſe Verſchiedenheit der Angaben einer Er-

klärung bedürftig, ſo drängen ſich bey genauerer Betrach-

tung noch folgende Fragen auf: wenn wirklich die ver-

letzte Trauerpflicht Grund dieſer Infamie iſt, ſollte nicht

die verletzte Trauer um manche andere Perſonen als den

Mann, namentlich um Eltern und Kinder, eine gleiche

 

(d) Nov. 117 C. 6. Die Ehe-

verträge waren nichts Beſonde-

res für dieſen Zweck, ſondern

durch Cap. 4 derſelben Novelle

als allgemeine Form für die Ehen

der Illustres vorgeſchrieben.

34*

|0546 : 532|

Beylage VII.

Folge haben? und eben ſo, abgeſehen von den Perſonen,

ſollte nicht auch auf andere Trauerverletzungen, als durch

die Ehe in der Trauerzeit, die Infamie herbeygeführt

werden?

Ehe ich in unſren Quellen Antwort auf dieſe Fragen

ſuche, will ich eine Bemerkung vorausſchicken, die der gan-

zen Unterſuchung einen feſteren Boden bereiten kann. Die

Ehe an ſich hat mit der Trauer gar nichts zu ſchaffen,

und durch ſie wird die Trauer gar nicht verletzt. Denn

eine Verletzung der Trauer liegt überhaupt nur in Hand-

lungen und Kennzeichen der Fröhlichkeit, welche allerdings

mit der ernſten Pietät gegen den Verſtorbenen im Wider-

ſpruch ſtehen (a); die Ehe aber kann in geſammleter Stille

des Gemüths geſchloſſen werden, und ſtört dann das An-

denken an den Verſtorbenen nicht, welches beſonders ein-

leuchtend iſt bey der Ehe, die von den verſtorbenen

Eltern der Frau ſelbſt gewünſcht und herbeygeführt wor-

den war. Beſtätigungen dieſer Anſicht liegen noch in fol-

genden Umſtänden. Wäre die Ehe an ſich eine Verletzung

der Trauerpflicht geweſen, ſo hätten die Frauen während

jeder Trauer, namentlich um Eltern und Kinder, eine

vacatio haben müſſen, das heißt die Befugniß einſtweilen

ehelos zu bleiben, ohne in die geſetzlichen Strafen des

 

(a) Paulus I. 21 § 14. „Qui

luget, abstinere debet a convi-

viis, ornamentis, purpura, et

alba veste.” Die Stelle iſt aus

dem Breviarium: nur das Wort

purpura fehlt in den gewöhnli-

chen Handſchriften, und iſt aus

dem Cod. Vesontinus zugeſetzt,

von deſſen Bedenklichkeit weiter

unten die Rede ſeyn wird.

|0547 : 533|

Infamie.

Cölibats zu verfallen, weil ſonſt widerſinnigerweiſe die

Frau durch jeden möglichen Entſchluß in irgend eine der

ihr von zwey Seiten her drohenden Strafen verfallen

wäre. Allein eine ſolche vacatio gab einer Frau nur allein

der Tod ihres Ehegatten (b), nicht der ihrer Verwandten;

alſo muß auch die Ehe nicht als eine ſtrafbare Verletzung

der Trauerpflicht gegen die Verwandten angeſehen wor-

den ſeyn. — Ferner wird gerade umgekehrt die Trauer

einer Frau abgekürzt (d. h. ausnahmsweiſe beendigt) da-

durch daß ſie ſich verlobt (c): wenn alſo nun auf das

Verlöbniß die Ehe ſelbſt folgt, ſo geſchieht dieſes ja zu

einer Zeit, worin die Trauer bereits beendigt iſt, die alſo

dadurch nicht mehr verletzt werden kann. — Auch werden

in dem Geſetz, welches über dieſen Gegenſtand dem Numa

zugeſchrieben wird, beide Vorſchriften als verſchiedene ne-

ben einander geſtellt: Verſtorbene eine beſtimmte Zeit lang

zu betrauern, und nach dem Tod des Ehemannes einige

Zeit hindurch eine neue Ehe zu vermeiden (d). — Endlich

läßt ſich auch leicht erklären, wie die Verwechslung ent-

ſtanden iſt, wozu die Veranlaſſung in der That nahe lag.

Der Prätor erklärte die übereilte zweyte Ehe für einen

(b) Ulpian. tit. XIV. „Femi-

nis lex Julia a morte viri anni

tribuit vacationem, a divortio

sex menses: lex autem Papia

a morte viri biennium, a re-

pudio annum et sex menses.”

(c) Festus s. v. „Minuitur

populo luctus aedis dedicatione

… privatis autem, cum liberi

nati sunt … cum desponsa est”

rel.

(d) Plutarch. Numa C. 12.

Über die verſchiedenen Verſuche,

das Geſetz des Numa herzuſtel-

len, d. h. den praktiſchen Sinn

jener Stelle zu fixiren, vgl. Dirk-

ſen Verſuche S. 331.

|0548 : 534|

Beylage VII.

Grund der Infamie, und er gebrauchte zur Beſtimmung

des Begriffs einer übereilten Ehe denjenigen Zeitraum,

worin der Sitte nach die Wittwe ihren Mann in der Re-

gel zu betrauern hatte (e). Es lag nun ſehr nahe, das-

jenige, was hier als Zeitbeſtimmung für den Fall der In-

famie dienen ſollte, als den Grund der Strafbarkeit an-

zuſehen, da doch dieſer Grund lediglich in der Gefahr

lag, daß für ein bald nachher gebornes Kind der wahre

Erzeuger ungewiß werden konnte.

Die Richtigkeit dieſer Anſicht wird von Ulpian durch

folgende Äußerungen ganz außer Zweifel geſetzt. Er ſagt

ausdrücklich, daß die im Edict vorkommende Erwähnung

der Trauer eine bloße Zeitbeſtimmung ſey (f), und er be-

ſtätigt dieſe Behauptung durch zwey ganz entſcheidende Fol-

gerungen: erſtlich, daß die Infamie nicht dadurch abge-

wendet wurde, wenn etwa der Verſtorbene die Ehre der

Trauer (z. B. durch Hochverrath oder durch Selbſtmord

aus Furcht vor einer Strafe) verwirkt hatte (g); zwey-

tens, daß umgekehrt das Verbot und die Infamie ganz

wegfiel, wenn die Wittwe nach des Mannes Tod ein

Kind geboren hatte, weil dadurch, wenngleich die Trauer-

zeit noch nicht abgelaufen war, dennoch die turbatio san-

guinis unmöglich wurde (h). Eine eben ſo nothwendige

 

(e) „intra id tempus, quo

„elugere virum moris est, an-

„tequam virum elugeret.”

(f) L. 11 § 1 ds his qui not.

(3. 2.). „Praetor enim ad id

tempus se retulit, quo vir elu-

geretur qui solet elugeri, pro-

pter turbationem sanguinis.”

(g) L. 11 § 1. 3 de his qui

not. (3. 2.).

(h) L. 11 § 2 de his qui not.

„Pomponius eam, quae intra

|0549 : 535|

Infamie.

Folge jener Grundanſicht aber war es, daß die Trauer

um Eltern oder Kinder niemals als Hinderniß der Ehe

angeſehen werden konnte (i).

VII.

Das bisher gewonnene Reſultat iſt nunmehr durch an-

dere ſichere Nachrichten auf folgende Weiſe zu ergänzen.

Es gab nach uralter Sitte, die man auf Geſetze des

Numa zurückführte, zwey verſchiedene, jedoch verwandte

Regeln.

 

1) Nach dem Tode eines Ehemannes ſoll die Wittwe

Zehen Monate lang (erſt von den Kaiſern auf Zwölf Mo-

nate erweitert) ohne neue Ehe bleiben. Verletzt ſie dieſe

Regel, ſo ſollen die dazu mitwirkenden Männer (der neue

Gatte, und nach Umſtänden die beiderſeitigen Väter welche

einwilligen) infam ſeyn. Gewiß wurde dieſe Verletzung

vor Allem der Wittwe ſelbſt als etwas ganz Unehrbares

angerechnet. Als infam konnte man dieſelbe nicht betrach-

ten, ſo lange die Infamie überhaupt eine blos politiſche

Bedeutung hatte.

 

2) Nahe Verwandte ſollen betrauert werden, indem

der Trauernde jeden Schmuck der Kleidung, ſo wie die

Theilnahme an Gaſtmählern vermeidet. Dieſe Trauer

ward wahrſcheinlich von jeher nur für gewiſſe Fälle als

 

legitimum tempus partum edi-

derit, putat statim posse nu-

ptiis se collocare: quod verum

puto.”

(i) L. 11 pr. de his qui not.

(3. 2.). „Liberorum autem et

parentium luctus impedimento

nuptiis non est.”

|0550 : 536|

Beylage VII.

ſtrenge Pflicht betrachtet, für andere Fälle blieb ſie der

freyen Pietät überlaſſen; die Gränze aber iſt nicht für

alle Zeiten mit Sicherheit zu beſtimmen (a). In der Kai-

ſerzeit (vielleicht auch ſchon früher) traf dieſe Pflicht über-

haupt nur Frauen, nicht Männer, obgleich auch darüber

eine abweichende, aber als vereinzelt bezeichnete Meynung

erwähnt wird (b). Ferner waren die Frauen damals zur

(a) Vielleicht gab es nicht ein-

mal ganz feſte Gränzen, auch

waren ſie entbehrlich, ſo lange

die Trauerpflicht nicht durch die

Strafe der Infamie (die freylich

nie ohne feſte Gränzen ſeyn konn-

te), ſondern durch das ſehr freye

Ermeſſen der Cenſoren geſchützt

war, welches auch ſpäterhin ne-

ben der Infamie ergänzend ein-

treten konnte. Vgl. Niebuhr

B. 2 S. 450 ed. 2 und 3.

(b) Fragm. Vat. § 321 (wahr-

ſcheinlich aus Paulus ad edi-

ctum): „Parentem inquit. Hic

omnes parentes accipe utrius-

que sexus: nam lugendi eos

mulieribus moris est. Quam-

quam Papinianus lib. II. quae-

stionum etiam liberis virilis

sexus lugendos esse dicat; quod

nescio ubi legerit.” Vielleicht

erklärt ſich dieſes etwas auffal-

lende Schwanken der Meynungen

dadurch, daß in einzelnen Fällen

auch Söhne wegen Verletzung der

Trauer um die Eltern von den

Cenſoren notirt worden waren

(Rote a). Die hier angeführte

und getadelte Stelle des Papinian

iſt uns merkwürdigerweiſe aufbe-

wahrt. L., 25 pr. de his qui not.

(3. 2.). „Papinianus lib. II. quae-

stionum. Exheredatum quoque

filium luctum habere patris me-

moriae placuit. Idemque et in

matre juris est, cujus heredi-

tas ad filium non pertinet.” —

Gegen die Trauerpflicht der Män-

ner ſpricht auch Seneca epist. 63.

„Annum feminis ad lugendum

constituêre, non ut tamdiu, sed

ne diutius: viris nullum legiti-

mum tempus est, quia nullum

honestum.” Das letzte mag eben

ſo für redneriſche Übertreibung

gelten, wie die Behauptung, daß

das Trauerjahr der Frauen nur

als Maximum zu verſtehen ſey;

allein der Unterſchied beider Ge-

ſchlechter in Beziehung auf die

Trauer liegt doch als unzweifel-

hafte Thatſache in dieſer Stelle.

— Eben dahin gehört L. 9 pr.

de his qui not. (3. 2.). „Uxo-

res viri lugere non compellen-

tur.” — Endlich auch, und ganz

beſonders, die Worte mulieribus

remittuntur in L. 15 C. ex quib.

c. inf. (vgl. unten Num. IX. b).

|0551 : 537|

Infamie.

Trauer verpflichtet nur bey dem Tod des Ehemannes,

aller Aſcendenten, und aller Deſcendenten ohne Unter-

ſchied (c); in früherer Zeit wahrſcheinlich auch bey dem

Tod naher Seitenverwandten (d). — Die Verletzung die-

ſer Pflicht galt natürlich als Impietät und ſehr unehr-

bar, als Infamie konnte ſie bey den allein verpflichteten

Frauen nicht gelten, ſo lange die Infamie noch ein blos

politiſches Inſtitut war.

Als aber die Lex Julia, durch die Auslegung der Ju-

riſten vollſtändig entwickelt, die Infamie auch auf Frauen

anwendbar machte (Num. II.), mußte ſich dieſes ändern,

und es war nun ganz natürlich, daß die Wittwe durch

übereilte Ehe, ſo wie jede Frau durch Verletzung der

Trauerpflicht, infam wurde. Dieſe neuen Fälle der In-

famie in das prätoriſche Edict einzutragen, war eigentlich

kein beſonderes Bedürfniß vorhanden: dennoch iſt es ge-

ſchehen (Num. II.).

 

Und als endlich in Folge der Juſtinianiſchen Geſetzge-

bung die Infamie ihre Anwendbarkeit auf Frauen wie-

derum verlor (Num. V.), mußten auch dieſe Fälle der

Anwendung wieder verſchwinden. So erklärt es ſich auf

ganz natürliche Weiſe, daß bey der Aufnahme des Edicts

über die Infamie in die Digeſten, jene ſeit der L. Julia

 

(c) Fragm. Vat. § 320 (Worte

des Edicts) „quae virum, paren-

tem, liberosve suos, uti mos

est, non eluxerit.”

(d) Festus v. minuitur „…

privatis (minuitur luctus) … cum

propiore quis cognatione, quam

is qui lugetur, natus est.” Vgl.

Klenze, Zeitſchrift für geſchicht-

liche Rechtswiſſenſch. B. 6 S. 33.

S. auch unten Num. IX. c.

|0552 : 538|

Beylage VII.

neu zugeſetzten Fälle wieder weggelaſſen wurden. Strenge

genommen, hätte nun auch in den Stellen der Juriſten

und in den Kaiſerconſtitutionen jede Spur jenes Rechts-

ſatzes verwiſcht werden müſſen. Daß dieſes nicht geſchah,

ſondern vielmehr viele ſolche Spuren noch jetzt vorhanden

ſind (§ 77. y), erklärt ſich hinlänglich aus der Art wie

unſre Compilationen entſtanden ſind, und läßt ſich über-

dem auf zu viele Analogieen anderer Rechtslehren zurück-

führen, als daß daraus ein Zweifel gegen die Richtigkeit

unſrer hiſtoriſchen Zuſammenſtellung hergenommen wer-

den könnte.

VIII.

Erſt nach dieſen Vorbereitungen iſt es möglich, von

dem Inhalt unſrer Rechtsquellen in Beziehung auf die zu-

letzt behandelten Fragen deutliche Rechenſchaft zu geben.

Wir beſitzen nämlich, an zwey verſchiedenen Orten, Stel-

len des Edicts über die übereilte Ehe und über die ver-

letzte Trauer: beide Stellen ſind in der Hauptſache von

unzweifelhafter Ächtheit, theilweiſe wörtlich übereinſtim-

mend, in anderen Stücken ſehr abweichend: die eine, wo-

von ſchon bisher beſtändig Gebrauch gemacht wurde, in

den Digeſten aus Julianus lib. I. ad edictum (L. 1 de his

qui not.); die andere in den Vaticaniſchen Fragmenten

aus dem Commentar eines Ungenannten, wahrſcheinlich

Paulus lib. V. ad edictum (a). Daneben haben wir noch

 

(a) Aus einem Commentar über das Edict iſt die Stelle au-

|0553 : 539|

Infamie.

eine wiederum abweichende, dem Paulus zugeſchriebene

Stelle. Ich will es verſuchen, dieſe Widerſprüche zu er-

klären, und zu dieſem Zweck zunächſt die beiden Überlie-

ferungen aus dem Edict zuſammenſtellen.

L. 1 de his qui not. inf.

Infamia notatur .........            Fragm. Vaticana § 320.

A. Qui eam, quae in potestate

ejus esset, genero mortuo,

cum eum mortuum esse

sciret,

intra id tempus, quo eluge-

re virum moris est, ante-

quam virum elugeret,

in matrimonium colloca-

verit:    A. Et qui eam, quam in po-

testate habet, genero mor-

tuo, cum eum mortuum

esse sciret,

in matrimonium colloca-

verit:

B. Eamve sciens quis uxorem

duxerit,

non jussu ejus in cujus

potestate est:   B. Eamve sciens uxorem du-

xerit;

C. Et qui eum, quem in pote-

state haberet, eam, de qua

supra comprehensum est,

uxorem ducere passus fu-

erit.      C. Et qui eum, quem in pote-

state haberet, earum quam

uxorem ducere passus fu-

erit

D. Quae virum, parentem, li-

berosve suos, uti mos est,

non eluxerit;

genſcheinlich. Da nun darin Pa-

pinian angeführt und widerlegt

wird, ſo haben wir nur die Wahl

zwiſchen Ulpian und Paulus. Ich

halte den letzten für den wahr-

ſcheinlichen Verfaſſer, weil Ulpian

in L. 23 de his qui not. (3. 2.)

dieſelbe Frage von einer anderen

Seite aufzufaſſen ſcheint. Doch

gebe ich zu, daß bey der Dürf-

tigkeit der auf uns gekommenen

Excerpte, worin wir alle verbin-

dende Zwiſchenſätze vermiſſen, je-

ner Umſtand nicht ganz entſchei-

dend iſt.

|0554 : 540|

Beylage VII.

E. Quae cum in parentis sui

potestate non esset, viro

mortuo, cum eum mortuum

esse sciret, intra id tem-

pus, quo elugere virum mo-

ris est, nupserit.

Zunächſt werde ich diejenigen Verſchiedenheiten berüh-

ren, die ich für unbedeutend halte, und mich dabey, wie

bey der ganzen Erklärung, der Buchſtaben bedienen, wo-

durch ich die einzelnen Fälle der Infamie von einander

abzuſondern geſucht habe.

 

Darauf wird wohl Niemand Werth legen, daß in der

ganzen Stelle der Vaticaniſchen Fragmente, mit Einſchluß

des im § 321 folgenden Commentars, das Wort Infamia

gar nicht vorkommt; das Excerpt fängt erſt nach der Er-

wähnung der Infamie an, und daß es wirklich aus dem

prätoriſchen Verzeichniß der Infamen hergenommen iſt,

wird durch die großentheils wörtliche Übereinſtimmung mit

den Digeſten ganz unzweifelhaft.

 

Eben ſo halte ich für unbedeutend den Umſtand, daß

in den Vaticaniſchen Fragmenten unter A und B Stücke

fehlen, die zum Theil ganz unentbehrlich ſind, wenn das

Edict nicht völlig unſinnige Beſtimmungen enthalten haben

ſoll. Dieſe Stücke ſind, wie ich glaube, nicht von den

Abſchreibern weggelaſſen worden, ſondern von dem Epi-

tomator ſelbſt, und zwar nicht ſowohl aus Gedankenloſig-

keit, als weil er unter A, B und C nur im Allgemeinen

 

|0555 : 541|

Infamie.

den Gedankengang bezeichnen wollte, um den Zuſammen-

hang der Fälle D und E mit dem Vorhergehenden an-

ſchaulich zu machen; denn daß es ihm hauptſächlich auf

den Inhalt dieſer zwey letzten Fälle ankam, iſt unverkenn-

bar, indem er in dem folgenden § aus dem Commentar

des Juriſten blos eine Stelle über den Fall D mittheilt.

Aus derſelben abſichtlichen Abkürzung des Epitomators er-

kläre ich mir bey C die Verwandlung der umſtändlichen,

aber unſtreitig ächten, Worte: eam de qua supra com-

prehensum est, in die kurzen: earum quam, die nicht ein-

mal genau paſſen, indem in den Stellen unter A und B

durchaus kein Motiv für den Pluralis earum aufzufinden

iſt. Der Sinn iſt uͤbrigens in beiden Stellen derſelbe

(„eine ſolche“), und es erklärt ſich ſehr gut, wie aus der

umſtändlicheren Bezeichnung des wirklichen Edicttextes die

Abkürzung willkührlich gemacht werden konnte, anſtatt daß

die umgekehrte Verwandlung ganz unerklärlich ſeyn würde.

Die wichtigſte Frage aber iſt dieſe: ſollen die Stellen

C und D, wie ich es glaube, in der That zwey getrennte,

unabhängige Faͤlle darſtellen, oder iſt in ihnen nur ein

einziger Fall enthalten, ſo daß die Worte quae virum ..

non eluxerit blos die Ergänzung der vorhergehenden Worte

earum quam ſind?

 

Nach meiner Annahme ſind infam: C der Vater des

neuen Ehegatten, D jede die Trauerpflicht verletzende Frau,

wobey denn durchaus nicht an Ehe gedacht wird.

 

Nach der entgegengeſetzten Annahme iſt infam: der

 

|0556 : 542|

Beylage VII.

Vater eines Mannes, welcher eine die Trauer verletzende

Frau heurathet (b).

Die Gründe für meine Meynung ſind folgende:

 

1) Die entgegengeſetzte iſt nur moͤglich unter Voraus-

ſetzung der Worte earum quam (weil dieſe zu dem vor-

hergehenden ſowohl als zu dem nachfolgenden conſtruirt

werden können), die aber, wie ich bereits gezeigt habe,

nicht dem Prätor, ſondern dem Epitomator angehören.

Nach den ächten Worten der Digeſten iſt dieſe Erklärung

völlig unmöglich, weil nun die Worte nur allein als auf

das Vorhergehende zurückweiſend verſtanden werden koͤnnen.

 

(b) Dieſe Meynung findet ſich

bey Wenck praef. ad Hauboldi

opuscula Vol. I. p. XXXII.

XXXIII. Er kommt darauf ganz

conſequent, indem er von der

Vorausſetzung ausgeht, das Edict

ſo wie wir es kennen (in den Va-

ticanen ſowohl als in den Dige-

ſten) zähle überall nur Männer

als Infame auf, keine Frauen,

da es ja überhaupt nur an die

Unfähigkeit der Infamen zum Po-

ſtuliren denke. Auf eine Erklä-

rung der großen Verſchiedenheit

unter den beiden Texten läßt er

ſich gar nicht ein. — Eigentlich

läßt ſich nun dieſe Meynung noch

in zwey Geſtalten denken, je nach-

dem man die Infamie des Schwie-

gervaters als Folge anſieht 1) ent-

weder von der während der Trau-

erzeit geſchloſſenen Ehe, 2) oder

von einem Trauerbruch, deſſen ſich

einmal die Frau in irgend einer

früheren Zeit, durch welche Hand-

lung es auch ſey, ſchuldig gemacht

hat. Die letzte Deutung ſchließt

ſich mehr an die Worte an (quae

… non eluxerit). Man muß es

dann ſo verſtehen: durch den

Trauerbruch ſey die Frau für

ihr ganzes Leben infam gewor-

den, und wenn ſie nachmals heu-

rathete, ſo ſey auch der Mann

oder deſſen Vater in Infamie ver-

fallen. Dieſes iſt wirklich die Mey-

nung von Wenck p. XXXIII, aber

eine ſolche anſteckende Kraft der

Infamie iſt nun vollends ganz

unerhört, ohne irgend eine Ana-

logie, ja im Widerſpruch mit ganz

ſicheren Zeugniſſen. Denn wenn

z. B. ein Senator durch die Ehe

mit einer Schauſpielerin infam

geworden (alſo aus dem Senat

getreten) wäre, warum hätte man

denn ganz unnützerweiſe dieſe Ehe

auch noch für nichtig erklärt (L. 42

§ 1 de ritu nupt. 23. 2.)?

|0557 : 543|

Infamie.

2) Wären die Worte earum quam wirklich der ächte

Text, ſo müßte ſich das „quae … eluxerit” auf earum

beziehen, alſo im Pluralis ausgedrückt ſeyn, wie es jetzt

nicht iſt.

 

3) In der Handſchrift ſteht vor quae virum ein leerer

Raum, welcher auf den Anfang eines ganz neuen Falls,

nicht auf die bloße Fortſetzung eines angefangenen Satzes

deutet.

 

4) Die entgegengeſetzte Meynung ſetzt voraus, daß durch

die bloße Ehe die Trauer um Eltern und Kinder verletzt

werde, wozu durchaus kein Grund vorhanden iſt (Num. VI.).

 

5) Geſetzt aber auch, die Verletzung jeder Trauer

durch die bloße Ehe wäre wahr, ſo würde dennoch die

entgegengeſetzte Meynung, wegen des gänzlichen Mangels

an praktiſchem Zuſammenhang, aufgegeben werden müſſen.

Denn es wäre alsdann für ehrlos erklärt der Vater eines

Mannes, der eine die Trauer verletzende Frau geheura-

thet hätte. Nicht nur wäre dieſe Strenge an ſich ſelbſt

kaum begreiflich, ſondern ſie würde noch unbegreiflicher

dadurch, daß der Vater der Frau, und der neue Ehemann

ſelbſt (im Fall der Unabhängigkeit von väterlicher Ge-

walt) von einer gleichen Strenge nicht betroffen würden;

denn dieſe beiden ſollen nach A und B infam werden, nur

wenn die Wittwe vor Ablauf der Trauerzeit heurathet,

nicht wenn blos die Trauer um Eltern oder Kinder ver-

letzt iſt. Soll man nun etwas ſo Widerſinniges für mög-

lich halten?

 

|0558 : 544|

Beylage VII.

Ganz dieſelbe Streitfrage wiederholt ſich bey dem

Fall E, welcher nach meiner Meynung die Ergänzung

von A. B. C iſt. In dieſen drey Regeln waren bey einer

übereilten Ehe die mitwirkenden Männer für infam er-

klärt, die Regel E erſtreckt die Infamie auch auf die

Frau ſelbſt.

 

Nach der anderen Meynung iſt auch dieſes Stück nur

noch als eine nähere Beſtimmung des earum quam anzu-

ſehen, folglich abermals auf den Schwiegervater der Frau

zu beziehen (c). Dagegen ſprechen zunächſt alle ſchon bey

D ausgeführte Gründe. Dazu kommt aber noch der neue,

ganz entſcheidende Grund, daß dann der Schwiegervater

nur infam werden ſollte, wenn die Frau frey von väter-

licher Gewalt wäre; aber ſeine Schuld, indem er die

ſträfliche Ehe ſeines Sohnes zuläßt, iſt ja voͤllig dieſelbe,

die Schwiegertochter mag in väterlicher Gewalt ſtehen

oder nicht. Alles, was nach der hier widerlegten Mey-

nung unter E mit der ſchleppendſten Wiederholung geſagt

ſeyn ſoll, ſteht in der That ſchon im Edict in den kurzen

und verſtändlichen Worten, welche wir unter C in den

Digeſten leſen: eam de qua supra comprehensum est.

 

IX.

Die Verſchiedenheit beider hier zuſammen geſtellten

Texte des Edicts über die Infamie iſt zum Theil bereits

 

(c) So verſteht es wieder (durch

ſeine Grundanſicht genöthigt)

Wenck p. XXXIII, der deshalb

bey dem zweyten quae (nicht bey

dem erſten) die erklärende Pa-

rentheſe hinzufügt: i. e. quaeve.

|0559 : 545|

Infamie.

aus dem Verfahren des Epitomators erklärt worden, von

welchem die Vaticaniſchen Fragmente herrühren; ein an-

derer Theil, und gerade der weſentlichere, beſteht in den

Fällen der Infamie (D und E), welche in den Fragmenten

ſtehen, in den Digeſten aber ganz fehlen. Dabey fällt

natürlich jene Erklärung weg, indem der Epitomator nach

eigenem Gutdünken Stücke weglaſſen, aber nicht zuſetzen

konnte. Die vollſtändige Darlegung des hiſtoriſchen Zu-

ſammenhangs wird jene Verſchiedenheit erklärlich machen.

So lange die Infamie ein blos politiſches Inſtitut

war, konnte ſie auf Frauen nicht bezogen werden. Durch

die Lex Julia und deren Auslegung wurde ſie auf Frauen

anwendbar (Num. II.), und nun betrachtete man unter an-

dern als infam die Frauen, welche irgend eine ſtrenge

Trauerpflicht verletzt hatten, und eben ſo diejenigen, welche

vor Ablauf von Zehen Monaten nach dem Tod ihres Man-

nes eine neue Ehe ſchloſſen. Dieſe neuen Fälle wurden

auch in das Edict eingeſchrieben (Num. VII.), und zwar

als neue Zuſätze hinter diejenigen alten Fälle, womit ſie

am meiſten Ähnlichkeit hatten. Die Geſtalt des Edicts,

welche ans dieſer Einſchaltung hervorgieng, erkennen wir

aus den Vaticaniſchen Fragmenten (Num. VIII.), und es

wird nunmehr klar, warum der Fall E erſt hinter den

Fällen A, B, C, und ſogar getrennt von ihnen, einge-

ſchoben iſt, da er dem innern Zuſammenhang nach neben

jenen Fällen, ja ſogar vor denſelben ſeine richtige Stelle

gefunden hätte. Ohne Zweifel hätte er dieſe erhalten,

 

II. 35

|0560 : 546|

Beylage VII.

wenn er ſchon bey der erſten Abfaſſung des Edicts hätte

aufgenommen werden können.

In der Folge aber ereignete ſich hierin eine ſehr wich-

tige Veränderung. Ein Senatsſchluß aus unbekannter

Zeit (a) trennte die zwey für Frauen neu aufgenommenen

Fälle der Infamie. Die Verletzung der Trauerpflicht (ohne

darum gebilligt zu werden) ſollte hinfort keine rechtlichen

Folgen mehr nach ſich ziehen, alſo nicht mehr infami-

ren: dagegen wurde bey der übereilten Ehe die Infamie

der Frau und des neuen Ehemannes beſtätigt (b). Der

hieraus hervorgehende Rechtszuſtand iſt ſehr beſtimmt aus-

geſprochen in einer Stelle des Ulpian, worin die Trauer

allgemein, und ohne Unterſchied der Geſchlechter, als eine

bloße Sache der Pietät, ohne rechtliche Folgen, insbeſon-

dere ohne die Folge der Infamie, dargeſtellt wird (c).

 

(a) Allzu ſpät können wir den-

ſelben ſchon deswegen nicht an-

ſetzen, weil überhaupt kein ſiche-

res Senatusconſult aus der Zeit

nach Severus vorhanden iſt.

(b) L. 15 C. ex quib. causis

inf. (2. 12.). „Imp. Gordia-

nus. Decreto amplissimi ordi-

nis luctu foeminarum deminu-

to, tristior habitus ceteraque

hoc genus insignia, mulieribus

remittuntur: non etiam intra

tempus, quo his elugere mari-

tum moris est, matrimonium

contrahere permittitur: cum

etiam, si nuptias alias intra

hoc tempus secuta est, tam ea,

quam is qui sciens eam duxit

uxorem, etiamsi miles sit, per-

petuo Edicto labem pudoris con-

trahat. 239.” Das heißt: in die-

ſem zweyten Fall ſoll es bey der

im Edict (nach ſeiner neueſten Er-

gänzung) angedrohten Infamie

verbleiben, im erſten Fall ſoll die-

ſelbe nicht mehr gelten.

(c) L. 23 de his qui not. (3.

2.). „Parentes, et liberi utri-

usque sexus, nec non et ceteri

agnati vel cognati, secundum

pietatis rationem et animi sui

patientiam, prout quisque vo-

luerit, lugendi sunt: qui autem

eos non eluxit, non notatur in-

famia.” Der hier ausgedrückte

Gedanke kann ſo entwickelt und

|0561 : 547|

Infamie.

Bey der völligen Übereinſtimmung dieſer Stelle mit dem

erwähnten Senatsſchluß iſt es unbegreiflich, daß in der-

ſelben neuere Schriftſteller eine Interpolation der Compi-

latoren wahrzunehmen glauben konnten (d).

Man konnte nunmehr auch das Edict von Neuem än-

dern, und den Fall D wieder wegſtreichen. Daß es nicht

geſchehen iſt, zeigt der in den Vaticaniſchen Fragmenten

aufbewahrte Text. Der Senatsſchluß fiel ohne Zweifel

in eine Zeit, worin Änderungen im Text des Edicts im-

mer ſeltner wurden, und endlich ganz aufhörten; auch

hatte er ſelbſt ſo viel Anſehen und Publicität, daß von

der unveränderten Stelle des Edicts kein Misbrauch zu

befürchten war. Blieb aber jene antiquirte Stelle dennoch

im Text des Edicts ſtehen, ſo darf es uns auch nicht be-

fremden, daß Paulus oder einer ſeiner Zeitgenoſſen ſie

noch commentirte. Ohne Zweifel bemerkte er hinterher,

daß der Senat die Infamie für dieſen Fall aufgehoben

habe, obgleich dieſe Bemerkung in dem kleinen Excerpt

aus jenem Commentar zufällig nicht mit vorkommt.

 

Ganz anders ſtellte ſich die Sache unter Juſtinian.

 

ergänzt werden: In früherer Zeit

war die Trauer in einigen Fäl-

len eine ſtrenge Pflicht, und zu-

letzt ſogar durch die Strafe der

Infamie geſchützt; in anderen

Fällen war ſie ſchon damals bloße

Gewiſſensſache, namentlich für

trauernde Männer, und bey ver-

ſtorbenen Seitenverwandten (vgl.

Num. VII. d). Seit dem neue-

ſten Senatsſchluß fallen alle dieſe

Unterſchiede weg, und die Trauer

iſt nunmehr, für alle erwähnte

Fälle gleichmäßig, bloße Gewiſ-

ſensſache geworden. — Es iſt

durchaus kein Grund vorhanden,

in dieſer Stelle irgend eine In-

terpolation anzunehmen.

(d) So z. B. Cujacius, ob-

serv. Lib. 21 C. 12.

35*

|0562 : 548|

Beylage VII.

Unter ihm hatte die Infamie wieder, wie im älteſten Recht,

alle Anwendbarkeit auf die Frauen verloren (Num. V.).

Nun war es natürlich, daß man aus dem Text des Edicts

über die Infamen (L. 1 de his qui not.) die Fälle, welche

nur die Frauen betrafen, wiederum wegſtrich, und ſo er-

klärt ſich die Abweichung der beiden uns überlieferten Texte

auf die einfachſte Weiſe.

X.

Die Edictſtelle, da wo ſie vollſtändiger in den Dige-

ſten erhalten iſt (Num. VIII.), bietet noch eine beſon-

dere, bisher nicht berührte Schwierigkeit dar in folgenden

Worten:

Qui eam, quae in potestate ejus esset, genero mor-

tuo, cum eum mortuum esse sciret, intra id tempus

quo elugere virum moris est, antequam virum elugeret,

in matrimonium collocaverit.

 

Die hier curſiv gedruckten Worte werden von Jedem

auf den erſten Anblick mit collocaverit verbunden werden,

ſo daß darin beſtimmt wäre die Zeit, innerhalb welcher

die Ehe geſchloſſen ſeyn müßte, um für den Schwieger-

vater die Infamie zu bewirken. Dennoch muß aus zwey

Gründen dieſe Erklärung verworfen werden. Erſtlich,

weil alsdann jene Worte eine vollkommen müßige Wie-

derholung in ſich ſchließen würden: denn die Worte intra

id … moris est, ſagen (ſo verſtanden) genau daſſelbe wie

die folgenden antequam virum elugeret. Zweytens weil

 

|0563 : 549|

Infamie.

die vorhergehenden Worte cum eum mortuum esse sciret

offenbar auf den Gegenſatz eines Falles ſchuldloſer Un-

wiſſenheit hindeuten, von welchem die Infamie abgewen-

det werden ſoll (a). Dieſer unſchuldige Fall würde ſo ge-

dacht werden müſſen, daß der Vater glaubte, ſein erſter

Schwiegerſohn ſey noch am Leben. Allein bey dieſem Ge-

danken wäre ja die Handlung des Vaters noch weit ſchlech-

ter, indem er dann die Abſicht hätte, eine Bigamie ſei-

ner Tochter zu veranlaſſen.

Dieſe Schwierigkeiten verſchwinden, wenn man die an-

geführten Worte in zwey, durch Sinn und Conſtruction

getrennte Theile aufloͤſt. Die Worte antequam virum elu-

geret gehoͤren in der That zu collocaverit, und haben den

oben erklärten Sinn. Allein die vorhergehenden Worte

gehören als nähere Beſtimmung zu mortuum esse, und

ſollen folgenden Gedanken ausdrücken:

Nur dann wird der einwilligende Vater infam, wenn

er wußte, daß der Tod ſeines Schwiegerſohnes in einen

ſolchen Zeitpunkt falle, ſeit welchem die Trauerzeit noch

nicht abgelaufen war. Ein Irrthum über dieſen Um-

ſtand macht ſeine Einwilligung ſchuldlos.

 

Geſetzt alſo, der Schwiegerſohn war in den Krieg ge-

zogen, und hatte ſeitdem keine Nachricht gegeben. Nach

anderthalb Jahren wird ſein Tod gemeldet, mit dem Zu-

ſatz, er ſey ſchon einen Monat nach der Abreiſe umge-

 

(a) L. 8 de his qui not. (3. 2.).

„Merito adjecit Praetor, cum

eum mortuum esse sciret, ne

ignorantia puniatur.”

|0564 : 550|

Beylage VII.

kommen: dieſer Zuſatz aber iſt irrig, und der Tod war

vielmehr erſt vor einem Vierteljahr erfolgt. Wenn jetzt

die Wittwe auf der Stelle eine zweyte Ehe ſchließt, ſo

kann ſie und den Vater kein Vorwurf treffen, weil ihnen

die noch nicht abgelaufene Trauerzeit unbekannt war: was

ſie thaten, war, unter Vorausſetzung der von ihnen ge-

glaubten Thatſachen, ganz erlaubt (b).

Dieſe Erklärung drängt ſich nur darum nicht auf den

erſten Blick als richtig auf, weil es dabey nöthig iſt, die

Worte mortuum esse intra id tempus auf den rückwärts

liegenden Zeitraum zu beziehen, was jedoch ſowohl mit

dem Gedanken, als mit den Worten, völlig vereinbar iſt.

Übrigens iſt dieſelbe ſchon längſt auf ganz befriedigende

Weiſe dargeſtellt worden (c).

 

(b) L. 8 de his qui not. (3. 2.)

„sed cum tempus luctus con-

tinuum est, merito et ignoranti

cedit ex die mortis mariti: et

ideo si post legitimum tempus

cognovit, Labeo ait, ipsa die

et sumere eam lugubria et de-

ponere.” Was hier zunächſt von

der eigentlichen Trauer geſagt iſt,

gilt eben ſo auch von der Zeit,

worin eine neue Ehe unterblei-

ben muß: ja in dieſer Beziehung

allein wird es von Ulpian ange-

führt. — Für dieſe ganze Erklä-

rung iſt es freylich nöthig, in der

eben angeführten commentiren-

den Stelle die Worte cum eum

mortuum esse sciret ſo aufzu-

faſſen, als ob die folgenden Worte

intra id tempus … moris est

noch dahinter geſetzt wären (gleich

als wenn hinter sciret ein etce-

tera ſtände), ſonſt iſt der Unſinn

unvermeidlich, daß der Vater ta-

dellos ſeyn ſollte, wenn er zur

Zeit der zweyten Ehe den erſten

Schwiegerſohn noch am Leben

glaubte.

(c) Rücker Observ. C. 1 hin-

ter deſſen Diss. de civ. et nat.

temp. comput. C. 1. Lugd. Bat.

1749. — Auch Wenck l. c. p.

XXXIV — XXXVI hat dieſen

Punkt richtig aufgefaßt.

|0565 : 551|

Infamie.

XI.

Ich komme nun auf ein ſehr abweichendes altes Zeug-

niß von der aus der Trauerverletzung entſtehenden Infa-

mie. Es iſt dieſes die Stelle des Paulus Lib. 1 Tit. 21,

welche ſo lautet:

 

§ 13. Parentes et filii majores sex annis anno lugeri

possunt: minores mense: maritus decem mensibus:

et cognati proximioris gradus octo: Qui contra fe-

cerit, infamium numero habetur.

§ 14. Qui luget, obstinere debet a conviviis, orna-

mentis, purpura, et alba veste.

Wenn wir zuerſt den Inhalt des § 13 betrachten, ſo

iſt darin Weniges, was nicht mit den ſicherſten Nachrich-

ten, und namentlich mit dem in den Vaticanen § 321 excer-

pirten Commentar über das Edict (wahrſcheinlich von Pau-

lus) in Widerſpruch ſtände, welches um ſo bedenklicher

iſt, als der § 321 durch die Übereinſtimmung mit dem Ge-

ſetz des Numa bey Plutarch unterſtützt wird. Zuerſt das

sex annis, da es heißen muß decem; man hat vorgeſchla-

gen zu emendiren decem, was aber nur heißt den Scha-

den von Einer Seite zudecken. Ferner das anno, was

neben den nachher bey dem Ehemann folgenden 10 Mo-

naten nur heißen kann 12 Monate: der § 321 ſpricht

zwar auch von einem annus, erklärt dieſen aber ſogleich,

und mit überzeugenden Gründen, von dem alten zehenmo-

natlichen Jahr. Ferner das possunt, welches auf ein blo-

 

|0566 : 552|

Beylage VII.

ßes Verbot längerer Trauer zu deuten ſcheint, und zu der

nachfolgenden Infamie gar nicht paßt. Weiter das mense,

da doch die Kinder unter 10 Jahren mit eben ſo viel

Monaten betrauert wurden, als ſie Jahre zählten, jedoch

von 3 Jahren abwärts nur noch mit Halbtrauer (sublu-

getur), unter einem Jahr gar nicht mehr. Dann die

Cognaten, von welchen der § 321 gar Nichts ſagt, und

die Edictſtelle ſelbſt (im § 320) auch Nichts. Endlich die

unbedingte Drohung der Infamie, ohne Unterſchied des

Geſchlechts, da doch die Männer deshalb nie von der In-

famie betroffen wurden, die Frauen aber zur Zeit des

Paulus gleichfalls davon befreyt waren (Num. VII.) (a).

Dieſe Widerſprüche würden als eben ſo viele unauf-

lösliche Räthſel gelten müſſen, wenn die äußere Autorität

der angeblichen Stelle des Paulus feſt ſtände; dieſe iſt

alſo nunmehr zu prüfen. Hier müſſen wir zuerſt den

§ 13 völlig trennen von dem (ſchon oben benutzten) § 14,

welcher, mit Ausnahme des gleichgültigen Wortes pur-

pura, in allen Handſchriften des Breviarii ſteht, und un-

zweifelhaft ächt iſt; auch macht ſein Inhalt keine Schwie-

rigkeit, da er nur einige Beſtimmungen über die Art des

 

(a) Um der bedenklichſten Schluß-

ſtelle nothdürftig abzuhelfen, hat

man verſchiedene Wege eingeſchla-

gen. Herm. Cannegieter observ.

p. 203 will anſtatt: infamium nu-

mero habetur leſen: numero

ō habetur, was heißen ſoll: non

habetur. Allein dieſes ō als Sigle

für non kommt ſonſt nirgends vor.

— Jo. Cannegieter de notis

p. 350 emendirt das qui contra

fecerit in quae. — Bynkershoek

observ. V. 13 meynt, dieſer letzte

Satz rühre von Anian her. Allein

daß im Weſtgothiſchen Reich die In-

famie für den Trauerbruch wieder

neu eingeführt ſeyn ſollte, iſt ge-

rade das Allerunwahrſcheinlichſte.

|0567 : 553|

Infamie.

Trauerns enthält, die auch noch nach Aufhebung der In-

famie als Stück der alten Sitte füglich erwähnt werden

konnten. Der § 13 aber rührt her aus dem räthſelhaften

Codex Vesontinus, einer Handſchrift des Paulus, die

Cujacius aus der Stadtbibliothek zu Beſanzon erhalten

hatte (b), und von welcher er leider nicht ſagt, was ſie

enthielt, ob blos den Paulus (was wohl ſonſt nicht leicht

vorkommen wird), oder das ganze Breviarium. Höchſt

verdächtig wird die Sache dadurch, daß die vielen aus

jener Handſchrift zuerſt mitgetheilten Stellen in den zahl-

reichen, zum Theil uralten, anderen Handſchriften des

Breviarii durchaus fehlen.

Halten wir dieſe äußeren Gründe zuſammen mit dem

oben dargelegten ſehr bedenklichen Inhalt des § 13, ſo

ſind wir wohl berechtigt, den ſogenannten Codex Veson-

tinus für einen in unbekannter Zeit ſehr ſtark überarbei-

teten und entſtellten alten Text zu erklären, deſſen einzelne

Stellen, da wo ſie mit anderen ſicheren Zeugniſſen in

Widerſpruch ſtehen, auf keine Autorität Anſpruch machen

können.

 

(b) Cujacius erwähnt dieſe

Handſchrift zuerſt im 21. Buch der

Obſervationen (1579), worin er

zugleich viele neue Stellen aus

derſelben mittheilt. Er ſagt da-

von Cap. 13: Superiores sen-

tentias dedi ex libro vetustis-

simo Sententiarum Pauli ad me

Vesontione perlato, und Cap. 16:

in optimo libro quem Vesontio

dedit civitas nobilissima mihi-

que amicissima. In den Text

aufgenommen wurden alle dieſe

Stellen zuerſt in der Ausgabe des

Paulus hinter dem Codex Theo-

dosianus Paris. 1586 fol.

II. 36

|0568 : 554|

Beylage VII.

XII.

Über die Infamie der unzüchtigen Frauen (quaestum

corpore facientes) iſt Folgendes anzumerken. Das ur-

ſprüngliche Edict nannte ſie natürlich nicht, weil es über-

haupt keine Frauen nannte. Die Lex Julia nannte ſie

unter denjenigen, welchen die Ehe mit einem Senator und

deſſen männlichen Nachkommen unterſagt war (a). Es iſt

aber kaum zu zweifeln, daß auch mit bloßen Freygebor-

nen ihre Ehe unzuläſſig war, obgleich dieſes nicht aus-

drücklich geſagt iſt. Dafuͤr ſpricht erſtlich die anerkannt

gleiche Verächtlichkeit dieſes Gewerbes mit dem der Kupp-

lerwirthſchaft, für welches jene Unzuläſſigkeit unmittelbar

ausgeſprochen war (b); zweytens die Ausnahme zu Gun-

ſten derjenigen Freygelaſſenen, welche in ihrem früheren

 

(a) Ulpian. XIII. § 1 vgl. oben

Num. II. — Man könnte einen

Zweifel hernehmen aus der wört-

lich in die Digeſten aufgenomme-

nen Stelle des Geſetzes über die

Frauen denen die Ehe mit den

Senatoren unterſagt war (L. 44

pr. de ritu nupt. 23. 2.), denn

in dieſer Stelle finden ſich jene

Frauen nicht. Aber es war ja

das auch nur ein einzelnes Ka-

pitel der Lex Julia, in dem fol-

genden (zufällig nicht auch excer-

pirten) mögen ſie geſtanden ha-

ben. Ulpian dagegen wollte eine

vollſtändige Überſicht der Verbote

geben, nur nicht mit den Worten

des Geſetzes. Daß das Geſetz

wirklich davon ſprach, erhellt deut-

lich aus L. 43 de ritu nupt. (23.

2.), die aus Ulpians Commentar

zur Lex Julia genommen iſt, und

worin der Begriff des quaestum

facere ausführlich erörtert wird.

(b) L. 43 § 6 de ritu nupt.

(23. 2.). Lenocinium facere non

minus est, quam corpore quae-

stum exercere.” Indem der Ju-

riſt blos denen widerſpricht, die

etwa das lenocinium für weni-

ger ſchändlich als den eigenen

quaestus halten möchten, erkennt

er die ohnehin ausgemachte äu-

ßerſte Schändlichkeit dieſes quae-

stus deutlich an.

|0569 : 555|

Infamie.

Sklavenſtand ein ſolches Gewerbe getrieben hatten (c).

Dieſe Ausnahme konnte nur Sinn haben unter der Vor-

ausſetzung, daß in anderen Fällen den unzüchtigen Frauen

die Ehe mit Freygebornen für immer unterſagt ſey: auf

Senatoren konnte ſie ſich nicht beziehen, da dieſen die Ehe

mit allen Freygelaſſenen, auch den ehrbarſten, ohnehin

verboten war.

Wahrſcheinlich wurden nunmehr jene Frauen in das

Edict, welches das Verzeichniß aller Infamen enthielt,

mit aufgenommen, bey der Abfaſſung der Digeſten aber

aus denſelben Gründen, wie alle andere Frauen, wieder

weggelaſſen.

 

XIII.

Das Gewerbe der Kuppeley, von Männern getrieben,

ſtand ſchon im urſprünglichen Edict unter den Fällen der

Infamie; Frauen von gleichem Gewerbe konnten dabey

nicht erwähnt ſeyn. Die Lex Julia unterſagte allen Frey-

gebornen die Ehe mit Kupplerinnen, imgleichen mit frey-

gelaſſenen Frauen, die von einem Kuppler oder einer

Kupplerin manumittirt waren (a). Bey den Ehen der Se-

natoren waren die Kupplerinnen nicht erwähnt, aber man

ſchloß auf die Unzuläſſigkeit ſolcher Ehen aus der Gleich-

 

(c) L. 24 de his qui not. (3. 2.).

„Imp. Severus rescripsit, non

offuisse mulieris famae quae-

stum ejus in servitute factum.”

(a) Ulpian. XIII. § 2 vgl. oben

Num. II. — Es iſt auffalle[nd,] daß

in dieſem Fall die freygelaſſenen

Sklavinnen infam waren, wäh-

rend ſie es nicht ſeyn ſollten,

wenn ſie auf eigene Rechnung im

Stlavenſtand Unzucht getrieben

hatten (Num. XII. c).

36*

|0570 : 556|

Beylage VII.

heit dieſes Gewerbes mit dem der eigenen Unzucht (b).

Jetzt wurde wahrſcheinlich auch dieſer Fall in das Edict

über die Infamen aufgenommen.

Auf dieſen Fall bezieht ſich eine Erzählung aus der

Zeit des Tiberius, die von der äußerſten Verſunkenheit

des Zeitalters Zeugniß giebt (c). Vornehme Frauen un-

ternahmen förmlich die Kuppeley als Gewerbe „ut ad evi-

tandas legum poenas jure ac dignitate matronali exsol-

verentur.” Welche Vortheile konnten ſie von dieſer Schänd-

lichkeit erwarten? Zuerſt machten ſie ſich fähig, freyge-

laſſene Sklaven, die ihnen gefielen, zu heurathen, was

ihnen außerdem die von der Lex Julia mit einer in ihrem

Sinn gültigen Ehe verknüpften Vortheile nicht hätte ver-

ſchaffen können (d); allein das heißt nicht ad evitandas le-

gum poenas. Zweytens wurden die unverheuratheten

Frauen dadurch ſicher, für eigene Unzucht nicht nach der

Lex Julia de adulteriis beſtraft werden zu können, denn

das Verbrechen des stuprum (auch wohl adulterium ge-

nannt) bezog ſich nur auf ſolche Frauen, die bis zu die-

ſer Handlung ihre Matronenehre nicht verwirkt hatten (e);

dieſer Fall war ohne Zweifel gemeynt, denn man fand es

noͤthig, durch ein beſonderes Senatusconſult dem Verbre-

 

(b) Vgl. Num. XII. b.

(c) Suetonius, Tiber. C. 35.

(d) Daß die Tochter eines Se-

nators, wenn ſie ſich ſelbſt ehr-

los machte, dadurch zur Ehe mit

einem Freygelaſſenen fähig wurde,

ſagt ausdrücklich L. 47 de ritu

nupt. (23. 2.); „impune liber-

tino nubit,” d. h. ſie wird dadurch

frey von den geſetzlichen Strafen

des Cölibats.

(e) L. 13 pr. § 2 ad L. Jul.

de adult. (48. 5.).

|0571 : 557|

Infamie.

chen dieſen Ausweg zu verſperren (f). Drittens gehörte

dahin der Vortheil, daß die Frauen ſich dadurch unfähig

machten, fernerhin irgend eine im Sinn der Lex Julia

gültige Ehe, ſelbſt mit einem gemeinen Freygebornen, zu

ſchließen; vom Standpunkt dieſes Geſetzes aus konnte ih-

nen alſo auch nicht mehr ein freywilliger Cölibat zum

Vorwurf und zur Strafe gereichen, da ihnen durch daſ-

ſelbe Geſetz in ihrer gegenwärtigen Lage die Ehe mit

allen Männern (außer etwa mit Freygelaſſenen) unmög-

lich gemacht war. Dieſe Berechnung ſcheint faſt übertrie-

ben raffinirt; und dennoch muß ſie wirklich angeſtellt wor-

den ſeyn (ſo daß die Stelle des Sueton zugleich auch auf

dieſen Vortheil zu beziehen iſt), weil man ſelbſt dagegen

vorbauende Maasregeln nöthig fand. Sueton. Domitia-

nus C. 8. „Probrosis feminis lecticae usum ademit: jus-

que capiendi legata hereditatesque.” Dieſe Worte ſind

gewiß am einfachſten ſo zu erklären: „den ehrloſen Frauen

ſollte nicht mehr der Vorwand zu gut kommen, daß ſie in

einem durch ihre Infamie erzwungnen Cölibat lebten, ſon-

dern ſie ſollten eben ſo, wie freywillig Eheloſe, ganz un-

fähig ſeyn, Teſtamentserbſchaften und Legate zu er-

werben.“

Damit ſtehen auch noch einige, meiſt misverſtandene,

Digeſtenſtellen in Verbindung. In der Regel war der

 

(f) L. 10 § 2 ad L. Jul. de

adult. (48. 5.). „Mulier, quae

evitandae poenae adulterii gra-

tia lenocinium fecerit, aut ope-

ras suas in scenam locaverit,

adulterii accusari damnarique

ex Senatusconsulto potest.”

|0572 : 558|

Beylage VII.

Erwerb aus dem Teſtament eines Soldaten durch den

Coͤlibat des Erben oder Legatars nicht beſchränkt (g).

Dieſe Regel blieb im Allgemeinen anwendbar auch bey

denjenigen Frauen, die durch ihr ſittenloſes Leben in Be-

ziehung auf andere Teſtamente gegen die Strafe des Coͤ-

libats keinen Schutz finden ſollten. Für den Fall aber,

daß eine ſolche Frau mit dem Soldaten ſelbſt (dem Te-

ſtator) in unzüchtigem Umgang gelebt hatte, verordnete

Hadrian, daß die Incapacität auch bey dem Soldatente-

ſtament eintreten ſollte.

 

L. 41 § 1 de test. mil. (29. 1.). „Mulier, in quam

turpis suspicio cadere potest, nec ex testamento mi-

litis aliquid capere potest, ut D. Hadrianus re-

scripsit.”

Der Inhalt dieſes Reſcripts wird auch in folgender

Stelle anerkannt und außer Zweifel geſetzt.

 

L. 14 de his quae ut ind. (34. 9.). „Mulierem, quae

stupro cognita in contubernio militis fuit … non

admitti ad testamentum jure militiae factum, et id

quod relictum est ad fiscum pertinere, proxime tibi

respondi.”

Hier iſt alſo eine Einwirkung der alten Grundſätze

von der Incapacität noch auf das Juſtinianiſche Recht

ſichtbar. Nur muß man dieſe Stellen, wie es in ſo vie-

len ähnlichen Fällen nöthig iſt (§ 41), aus dem Zuſam-

 

(g) Gajus II. § 111. (Vergl. L. 19 § 2 de castr. pec. (49. 17.),

L. 5 C. de test. mil. (6. 21.).

|0573 : 559|

Infamie.

menhang, in welchem ſie urſprünglich gedacht waren, in

den neuen Zuſammenhang der Juſtinianiſchen Geſetzgebung

übertragen. Was alſo urſprünglich als Incapacität ge-

meynt war, iſt jetzt als Indignität zu denken, ſo daß ſich

das urſprüngliche caducum von ſelbſt in ein ereptorium

(bey den Neueren ereptitium) verwandelt.

Gedruckt bei den Gebr. Unger.

 

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