(0008 : [II])

Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft.

Unter Mitwirkung der Professoren Dr. H. Brunner in Berlin, Dr. E. Brunnenmeister in Halle, Dr. O. Bülow in Leipzig, Dr. H. Degenkolb in Tübingen, Dr. V. Ehrenberg in Rostock, Dr. A. Franken in Jena, des General-Procurators Dr. J. Glaser in Wien, der Professoren Dr. A. Grawein in Czernowitz, Dr. A. Haenel in Kiel, Dr. R. Heinze in Heidelberg, Dr. A. Heusler in Basel, Dr. R. v. Jhering in Göttingen, Dr. P. Krüger in Königsberg, Dr. P. Laband in Strassburg, Dr. F. v. Martitz in Tübingen, des Curators Dr. E. Meier in Marburg, der Professoren Dr. Th. Mommsen in Berlin, Dr. F. Oetker in Bonn, des Dr. M. Pappenheim in Breslau, der Professoren Dr. F. Regelsberger in Göttingen, Dr. W. v. Rohland in Dorpat, Dr. A. Schmidt in Leipzig, Dr. R. Sohm in Strassburg, Dr. A. Wach in Leipzig, Dr. R. Wagner in Leipzig, Dr. B. Windscheid in Leipzig herausgegeben von Dr. Karl Binding, Professor in Leipzig.

Zweite Abtheilung, erster Theil, erster Band: Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte. Band I.

[Abbildung]

Leipzig, Verlag von Duncker & Humblot. 1887.


(0009 : [III])

Deutsche Rechtsgeschichte.

Von Heinrich Brunner.

Erster Band.

[Abbildung]

Leipzig, Verlag von Duncker & Humblot. 1887.


(0010 : [IV])

Das Recht der Uebersetzung bleibt vorbehalten.

Pierer’sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.


(0011 : [V])

Vorwort.

Als ich mich vor acht Jahren verpflichtete, für Bindings Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft die Geschichte des Deutschen Rechtes zu bearbeiten, wurde in Aussicht genommen, daſs der erste Band in etwa vierzig Bogen die germanische und die fränkische Zeit umfassen werde. Da sich der Abschluſs der Arbeit aus Gründen, die zum Teil in der Sache, zum Teil in meinen persönlichen Verhältnissen beruhten, länger hinausschob, als ursprünglich zu erwarten stand, so entschloſs ich mich im Einverständnis mit dem Herrn Herausgeber und mit dem Herrn Verleger, zunächst einen minder umfangreichen Band zu veröffentlichen, in demselben nur die germanische Zeit und die allgemeine Rechtsgeschichte der fränkischen Zeit zu behandeln, dagegen die besondere Rechtsgeschichte der fränkischen Periode dem zweiten Bande vorzubehalten.

Daſs eine zusammenfassende, nicht an den Rahmen eines kurzen Lehrbuches gebundene Darstellung der deutschen Rechtsgeschichte nachgerade ein dringendes Bedürfnis geworden war, ist eine nicht bloſs in Fachkreisen allgemein anerkannte Thatsache. Der Versuch, die seit einem halben Jahrhundert durch Spezialuntersuchungen gewonnenen Ergebnisse unter Dach und Fach zu bringen, konnte nur gewagt werden auf die Gefahr hin, daſs die Ausführung im einzelnen mancherlei Mängel und Lücken aufweisen werde. In dem Bewuſstsein, diese Gefahr nicht scheuen zu dürfen, hatte ich andererseits den redlichen Willen, nicht mehr wissen zu wollen, als wir bei dem heutigen Stande der Forschung wissen können.


(0012 : VI)

Vorwort.

Freundliche Belehrung auf sprachwissenschaftlichem Gebiete verdanke ich meinen leider zu früh hingegangenen Kollegen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Für vielfache Unterstützung und Anregung schulde ich Herrn Dr. Karl Zeumer in Berlin und Herrn Professor Konrad Maurer in München meinen lebhaftesten Dank. Über mein Verhältnis zu Richard Schröders Deutscher Rechtsgeschichte, von der ich bedauere, daſs ich sie nicht mehr als es geschehen ist benutzen konnte, habe ich mich in der Einleitung ausgesprochen.

Berlin, 18. März 1887.

Heinrich Brunner.


(0013 : [VII])

Erläuterung der Abkürzungen.

Aelfred = Aelfreds Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 58 ff.

Aethelbirht = Aethelbirhts Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 2 ff.

Aethelred = Aethelreds Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 198 ff.

Aethelstan = Aethelstans Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 126 ff.

Aist. = Aistulfs Gesetze im Edictus Langobardorum nach Bluhmes Ausgabe in Mon. Germ. LL IV 195 ff.

Ahd. Gl. = Die althochdeutschen Glossen gesammelt und bearbeitet von Elias Steinmeyeru. Eduard Sievers, Bd 1: Glossen zu biblischen Schriften, 1879; Bd. 2: Glossen zu nicht biblischen Schriften, 1882.

Antiqua = Reccaredi Wisigothorum regis antiqua legum collectio, ed. Blume 1847.

Apollinaris Sidonius = Oeuvres de Sidoine Apollinaire publ. par Eugène Baret, Paris 1879.

Beyer = Urkundenbuch zur Geschichte der mittelrheinischen Territorien, hg. von H. Beyer, Bd 1 1860.

Bouquet = M. Bouquet, Recueil des historiens des Gaules et de la France, 23 Bde 1738—1876.

Bracton = Henrici de Bracton, De legibus et consuetudinibus Angliae libri quinque, London 1640.

Brev. Not. Salzb. = Breves Notitiae Salzburgenses in Keinz, Indiculus Arnonis und Breves Not. Salzb., 1869.

Cap. = Capitularia regum Francorum nach der Ausgabe von Boretius in Mon. Germ. Legum sectio II tomus I. Wo der Zusammenhang ergiebt, daſs ein Kapitular gemeint sei, ist nur Band und Seitenzahl angegeben. Die Kapitularien nach 827 sind nach der Ausgabe von Pertz in Mon. Germ. LL I zitiert.

Cap. Rem. = Remedii Curiensis episcopi capitula, ed. Haenel in Mon. Germ. LL V 181 ff.

Cap. zur Lex Sal. = Lex Salica, hg. von Behrend, nebst den Capitularien zur Lex Salica bearbeitet von Boretius, 1874, S 83 ff.

Cart. Lang. = Cartularium Langobardicum nach der Ausgabe von Boretius in Mon. Germ. LL IV 595 ff.

Chartae = Chartarum tomus I. II in den Historiae patriae monumenta, Aug. Taurin. 1836 ff.

Chartes de Cluny = Recueil des chartes de l’abbaye de Cluny formé par A. Bernard, publié par A. Bruel Paris 1876.

Cassiod. Var. = M. Aurelii Cassiodori Variarum libri duodecim bei Migne, Patrologia latina tom. LXIX, 1865, col. 500 ff.

Cod. dipl. Lang. = Codex diplomaticus Langobardiae in den Historiae patriae monumenta tom. XIII, Aug. Taurin. 1873.


(0014 : VIII)

Abkürzungen.

Dipl. = Abteilung Diplomata in den Monumenta Germaniae historica.

Edg. = Edgars Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 182 ff.

Ed. Theod. = Edictum Theoderici regis nach Bluhmes Ausgabe in Mon. Germ. LL V 149.

Edmund = Edmunds Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 172 ff.

Edward = Edwards Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 110.

Edward u. Guthrum = Edwards und Guthrums Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 118 ff.

Expositio = Expositio zum Liber legis Langobardorum in der Ausgabe von Boretius, Mon. Germ. LL IV 290 ff.

Form. = Formulae Merowingici et Karolini aevi, ed. Karolus Zeumer in Mon. Germ. Legum sectio V.

Frostuþíngslög = Ældre Frostathings-Lov in Norges gamle Love indtil 1387, udg. ved R. Keyser og P. A. Munch, Christiania 1846, I 119 ff.

Gallia christiana, 2. editio, 13 Bde Parisiis 1715—1785.

Germania, Vierteljahrsschrift für Deutsche Alterthumskunde herausgegeben von Fr. Pfeiffer, 12 Bde 1856—1867. Neue Reihe fortgesetzt von K. Bartsch, 18 Bde 1868—1885.

Grim. = Grimoalds Gesetze im Edictus Langobardorum nach Bluhmes Ausgabe in Mon. Germ. LL IV 91 ff.

Gulaþíngslög = Ældre Gulathings-Lov in Norges gamle Love indtil 1387, udg. ved R. Keyser og P. A. Munch, Christiania 1846, I 1 ff.

Heliand, herausgegeben von Eduard Sievers 1878.

Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur, 35 Bde Leipzig 1819—1831.

Hermes, Zeitschrift für classische Philologie, 21 Bde 1866—1886.

Hisp. ill. = (Andr. Schottus) Hispaniae illustratae … scriptores varii, Francofurti, 4 Bde 1603—1608.

Hlothar und Eadric = Hlothars und Eadrics Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 10 ff.

Indic. Arn. = Indiculus Arnonis in Keinz, Indic. Arn. und Breves Notitiae Salzburgenses, 1869.

Ine = Ines Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 20 ff.

J des gem. d. R. = Jahrbuch des gemeinen deutschen Rechts, hg. von E. J. Bekker und Th. Muther (und O. Stobbe), 6 Bde 1857—1863.

Jordanis, De origine actibusque Getarum, ed. Mommsen in Mon. Germ. Auctorum antiquissimorum tom. V 53 ff.

Kemble = Kemble, Codex diplomaticus aevi Saxonici, 6 Bde 1839 ff.

Kleinmayrn = (J. F. Th. v. Kleinmayrn) Nachrichten vom Zustande der Gegenden und Stadt Juvavia, 1784.

Klitschdorfer Kodex, eine im Besitze des Herrn Grafen Solms-Baruth auf Schloſs Klitschdorf bei Bunzlau in Schlesien befindliche, teilweise verstümmelte Handschrift des 9. oder 10. Jahrh., über welche mir Herr Dr. Wernicke zu Bunzlau freundliche Auskunft erteilt hat. Sie enthält u. a. den Prolog Moyses gentis etc., Konstitutionen des Codex Theodosianus, die Lex Salica emendata, Teile der Lex Ribuaria und der Lex Baiuwariorum, die Lex Alamannorum, einzelne Kapitularien und die Recapitulatio legis Salicae. Die Handschrift ist vor kurzem von dem Besitzer auf Ansuchen der Berliner Akademie nach Berlin gesendet worden, wo sie für die Mon. Germ. hist. verwertet werden soll.

Knut = Cnuts Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 250 ff.

Lacomblet UB = Lacomblet, Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins, 1840 ff.

Leges Edw. Conf. = Leges Edwardi Confessoris in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 491 ff.


(0015 : IX)

Abkürzungen.

Leges Henr. I. = Leges regis Henrici primi in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 432 ff.

Lex Al. oder Lex Alam. = Lex Alamannorum nach Merkels Ausgabe in den Mon. Germ. LL III 45 ff. Wo nichts weiter bemerkt wird, ist die Hlothariana zitiert.

Lex Al. Lantfr. = Lex Alamannorum Lantfridana nach Merkels Ausgabe in den Mon. Germ. LL III 84 ff.

Lex Al. Kar. = Lex Alamannorum Karolina nach Merkels Ausgabe in den Mon. Germ. LL III 125 ff.

Lex Angl. = Lex Angliorum et Werinorum hoc est Thuringorum nach v. Richthofens Ausgabe in Mon. Germ. LL V 119.

Lex Bai. oder Lex Baiuw. = Lex Baiuwariorum nach Merkels Ausgabe in den Mon. Germ. LL III 269 ff. Wo nichts weiter bemerkt wird, ist Merkels Textus primus zitiert.

Lex Burg. = Lex Burgundionum nach Bindings Ausgabe in den Fontes rerum Bernensium Bd 1 1880.

Lex Fris. = Lex Frisionum nach v. Richthofens Ausgabe in Mon. Germ. LL III 656 ff.

Lex Cham. = Lex Francorum Chamavorum nach Sohms Ausgabe in Mon. Germ. LL V 271.

Lex Gundobada = Lex Burgundionum.

Lex Rib. = Lex Ribuaria nach Sohms Ausgabe in Mon. Germ. LL V 213 ff.

Lex Rom. Burg. = Lex Romana Burgundionum vulgo Papianus dicta nach Bluhmes Ausgabe in den Mon. Germ. LL III 595 ff.

Lex Rom. Cur. = Lex Romana Curiensis oder Epitome S. Galli in Haenels Ausgabe der Lex Romana Visigothorum 1849.

Lex Rom. Utin. = Lex Romana Curiensis.

Lex Rom. Wis. = Lex Romana Visigothorum, ed. Gust. Haenel 1849.

Lex Sal. = Lex Salica nach der Ausgabe von Hessels, London 1880.

Lex Sax. = Lex Saxonum nach v. Richthofens Ausgabe in den Mon. Germ. LL V 47 ff.

Lex Thur. = Lex Angliorum et Werinorum hoc est Thuringorum.

Lex Wis. oder Lex Wisig. = Lex Wisigothorum nach Walters Ausgabe in dessen Corpus iuris germanici antiqui I 417 ff. Wo eine andere Ausgabe zitiert wird, ist dies besonders bemerkt.

Liber leg. Lang. = Liber legis Langobardorum Papiensis dictus nach der Ausgabe von Boretius in Mon. Germ. LL IV 290 ff.

Liu. = Liutprands Gesetze im Edictus Langobardorum nach Bluhmes Ausgabe in Mon. Germ. IV 107 ff.

LL = Abteilung Leges in den Monumenta Germaniae historica.

Mansi, S. conciliorum nova et amplissima collectio, 31 Bde 1759—1798.

Marini, Papiri diplomatici, Roma 1805.

MG oder Mon. Germ. = Monumenta Germaniae historica.

Meichelbeck, Historiae Frisingensis tomus I, 1724. Pars prima ist nur mit Angabe der Seitenzahl (I S), Pars altera instrumentaria mit Angabe der Urkundennummer (I Nr) zitiert.

Mieris, Groot Charterboek der graaven van Holland, van Zeeland en herren van Vriesland, 4 D. Leyden 1754—1756.

Migne, Patrologiae Cursus completus, seu bibliotheca … omnium SS. patrum, doctorum scriptorumque ecclesiasticorum, Series latina, 1844 ff.

Mohr, Cod. dipl. = v. Mohr, Codex diplomaticus, Sammlung der Urkunden zur Geschichte Cur-Rätiens und der Republik Graubünden, 1848 ff.

Muratori, Ant. = Muratori, Antiquitates italicae medii aevi, 6 Bde Mediolani 1738—1742.

Muratori, SS = Muratori, Rerum italicarum scriptores, 28 Bde Mediolani 1723—1751.

Östgötal. = Östgötalagen utg. af Collin och Schlyter in Schlyters Corpus iuris Sveo-Gotorum antiqui t. II.

Pactus Alam. = Pactus Alamannorum nach Merkels Ausgabe in Mon. Germ. LL III 34.

**


(0016 : X)

Abkürzungen.

Pard., Dipl. = Pardessus, Diplomata, chartae, epistolae, leges prius collecta a De Brequigny et La Porte Du Theil, 2 Bde Paris 1843. 1849.

Pez, Thesaurus anecdotorum novissimus, 6 Bde 1771—1829.

Ratchis = Gesetze des Königs Ratchis im Edictus Langobardorum nach Bluhmes Ausgabe in den Mon. Germ. LL IV 183 ff.

Registr. Farfense = Regesto di Farfa compilato da Gregorio di Catino e pubblicato dalla società romana di storia patria a cura di Giorgi e Balzani, Roma Bd 2 1879, Bd 3 1883.

v. Richthofen, RQ = Karl Freih. v. Richthofen, Friesische Rechtsquellen, 1840.

Roth. = Rotharis Gesetze im Edictus Langobardorum nach Bluhmes Ausgabe in Mon. Germ. LL IV 13 ff.

Roz. = Rozière, Recueil général des formules usitées dans l’empire des Francs du Ve au Xe siècle, 3 Bde 1859—71.

Saxo Grammaticus, Gesta Danorum, ed. Alfr. Holder 1886.

Ssp = Sachsenspiegel Landrechts nach C. G. Homeyer, Des Sachsenspiegels erster Theil, 3. Aufl. 1861.

SS = Abteilung Scriptores in den Monumenta Germaniae historica.

Sunesen = Andreas Sunesens Paraphrase des Schonischen Rechtes in Schlyters Corpus iuris Sveo-Gotorum antiqui t. IX.

Trad. Corb. = Traditiones Corbeienses, ed. Wigand 1843.

Trad. Fuld. = Traditiones Fuldenses in Dronke, Codex dipl. Fuldensis, 1850.

Troya = Troya, Storia d’Italia IV: Codice diplomatico Longobardo, 5 Bde 1852 ff.

Ulfilas = Die gotische Bibel des Vulfila nebst der Skeireins, dem Kalender und den Urkunden herausgeg. von E. Bernhardt 1884. Wo es der Zusammenhang ergiebt, daſs Ulfilas gemeint sei, sind nur die betreffenden Bibelstellen zitiert.

Vaissete, Hist. de Langued. = Histoire générale de Languedoc, par Dom Cl. Devic et Dom J. Vaissete, nouv. édition Toulouse 1872 ff.

Wartmann = Wartmann, Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, 3 Bde 1863 ff.

Westgötal. = Westgötalagen utg. af Collin och Schlyter in Schlyters Corpus iuris Sveo-Gotorum antiqui t. I.

Wihträd = Wihträds Gesetze in R. Schmids Gesetze der Angelsachsen, 2. Aufl. 1858, S 14 ff.

Z f. DA = Zeitschrift für Deutsches Alterthum (und Deutsche Litteratur) herausgegeben von M. Haupt, 12 Bde 1841—1865; Neue Folge (fortgesetzt von K. Müllenhoff, W. Scherer u. E. Steinmeyer), 18 Bde 1867—1886.

Z f. HR = Zeitschrift für das gesammte Handelsrecht herausgegeben von Goldschmidt u. a., 32 Bde 1858 ff.

Zeuſs, Trad. Wiz. = Traditiones possessionesque Wizenburgenses, ed. Zeuſs 1842.

Die sonstigen Abkürzungen finden in § 4 S 10 ff. und in § 5 S 22 ff. ihre Erläuterung.


(0017 : [XI])

Inhaltsverzeichnis.

Seite

Einleitung.

§ 1. Aufgabe und Bedeutung der deutschen Rechtsgeschichte 1

§ 2. Die Gliederung des Stoffes 4

§ 3. Die Quellen der deutschen Rechtsgeschichte 8

§ 4. Hilfsmittel und Hilfswissenschaften 10

§ 5. Die Bearbeitungen der deutschen Rechtsgeschichte 14

Erstes Buch.

Die germanische Zeit.

§ 6. Das deutsche Volk 27

§ 7. Das Germanentum im römischen Reich 32

§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme 40

§ 9. Die Reichsgründungen der arianischen Germanen 48

§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit 56

§ 11. Die Landnahme in den Provinzen des römischen Westreichs 64

§ 12. Das Haus 70

§ 13. Die Sippe 81

§ 14. Die Stände 95

§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen 109

§ 16. Die politischen Verbände 114

§ 17. Königtum und Fürstentum 119

§ 18. Die Landesgemeinde 128

§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft 132

§ 20. Die Gerichtsverfassung 143

§ 21. Fehde und Buſse 156

§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod 166

§ 23. Der Rechtsgang 177


(0018 : XII)

Inhaltsverzeichnis.

Zweites Buch.

Die fränkische Zeit.

Erster Abschnitt.

Die allgemeine Rechtsgeschichte.

Seite

I. § 24. Das fränkische Reich 187

II. § 25. Die wirtschaftlichen Zustände um die Zeit der Reichsgründung 194

§ 26. Grundherrschaften und Landleihe 203

§ 27. Geld- und Münzwesen 213

§ 28. Die Sippe 217

§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft 224

§ 30. Die Knechte 231

§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen 238

§ 32. Adel und Freie 247

III. Rechtsbildung und Rechtsquellen.

§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes 254

§ 34. Das Personalitätsprinzip 259

§ 35. Das Fremdenrecht und das Judenrecht 273

§ 36. Volksrecht und Königsrecht 277

§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts 282

§ 38. Die Volksrechte 285

§ 39. Die Lex Salica 292

§ 40. Die Lex Ribuaria 303

§ 41. Pactus und Lex Alamannorum 308

§ 42. Die Lex Baiuwariorum 313

§ 43. Die Leges Wisigothorum 320

§ 44. Die Lex Burgundionum 332

§ 45. Die Lex Frisionum 340

§ 46. Die Lex Saxonum 345

§ 47. Die Lex Angliorum et Werinorum 349

§ 48. Die Ewa Chamavorum 353

§ 49. Die Lex Romana Burgundionum 354

§ 50. Die Lex Romana Wisigothorum 358

§ 51. Die Lex Romana Curiensis und die Capitula Remedii 361

§ 52. Die ostgotischen Edikte 365

§ 53. Edictus Langobardorum 368

§ 54. Königsrecht und Kapitularien 374

§ 55. Die Kapitulariensammlungen 382

§ 56. Das langobardische Recht der fränkischen u. der nachfränkischen Zeit 387

§ 57. Die Urkunden 392

§ 58. Die Formelsammlungen 401


(0019 : [1])

Einleitung.

§ 1. Aufgabe und Bedeutung der deutschen Rechtsgeschichte.

Karl Friedr. Eichhorn, Über das geschichtliche Studium des deutschen Rechts, in der Z f. gesch. RW I 124 ff. Paul Roth, Die rechtsgeschichtlichen Forschungen seit Eichhorn, Z f. RG I 7 ff. v. Amira, Über Zweck und Mittel der germanischen Rechtsgeschichte, 1876.

Die deutsche Rechtsgeschichte will das Recht des deutschen Volkes in seiner geschichtlichen Entwicklung ergründen und zur wissenschaftlichen Darstellung bringen. Keinen Bestandteil ihrer Aufgabe bilden die Schwesterrechte und die Tochterrechte des deutschen Rechtes, sowie die von dem deutschen Volke adoptierten fremden Rechte.

Die deutsche Rechtsgeschichte deckt sich nicht mit der germanischen Rechtsgeschichte, denn sie hat es nicht mit den Rechten der sämtlichen germanischen Stämme zu thun. Allerdings gab es eine Periode, in der die Rechtseinrichtungen der deutschen und der nicht deutschen Germanen im wesentlichen gleichartig waren; allein die Rechte der letzteren stehen in der Zeit, da ihre ältesten selbständigen Rechtsquellen auftauchen, dem deutschen Rechte trotz naher Verwandtschaft bereits in eigenartiger Ausbildung gegenüber und fallen damit aus dem Rahmen der Aufgabe heraus, welche zu verfolgen die deutsche Rechtsgeschichte sich bescheiden muſs. Man kann diese Rechte, das norwegische und isländische Recht, das schwedische und das dänische und die Rechte der gotisch-vandalischen Völkerschaften, die Schwesterrechte des deutschen Rechtes nennen, weil sie mit ihm auf ursprünglich gemeinsamer germanischer Grundlage erwachsen sind.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 1


(0020 : 2)

§ 1. Aufgabe und Bedeutung

Als Tochterrechte des deutschen Rechtes erscheinen das angelsächsische und das englische, das langobardisch-italienische, das französische Recht und die niederländischen Rechte. Die deutschen Auswanderer, die man nachmals als Angelsachsen zusammenfaſste, verpflanzten ihr heimisches Recht in das von ihnen eroberte Britannien, um es hier in selbständiger Weise fortzubilden. Als dann die westfränkischen Normannen England eroberten, brachten sie daselbst die fränkischen Rechtseinrichtungen ihrer Heimat zur Geltung. Hauptsächlich auf fränkisch-normannischen, teilweise auf angelsächsischen Grundlagen beruht die Entwicklung des englischen Rechtes. Die Langobarden verschwinden mit ihrer Wanderung nach Italien aus dem eigentlichen Gesichtsfelde der deutschen Rechtsgeschichte, treten aber durch ihre Unterwerfung unter das fränkische Reich in die gemeinsame Rechtsentwicklung der in diesem vereinigten Stämme ein. Nach der Auflösung der fränkischen Monarchie geht nicht bloſs das langobardische Recht in enger örtlicher Berührung mit dem römischen Rechte Italiens seine eigenen Wege, sondern es zweigt sich auch das westfränkische Recht als französisches Recht von dem Strome der deutschen Rechtsgeschichte ab. Zuletzt haben sich die niederländischen Rechte dem deutschen Rechte soweit entfremdet, um aus der Stellung deutscher Partikularrechte in die Rolle deutscher Tochterrechte einzurücken.

Anders wie zur Darstellung verhalten sich die Schwester- und die Tochterrechte zur Erforschung der deutschen Rechtsgeschichte. Muſs auch jene sie ausschlieſsen, so kann doch diese sie nicht entbehren. Denn nur die kritische Vergleichung der Schwester- und Tochterrechte gestattet uns die Geschichte des deutschen Rechtes bis in Zeiten zurück zu verfolgen, über welche unsere Rechtsquellen keine oder keine ausreichende Auskunft gewähren, und nicht selten bieten uns die Denkmäler der verwandten Rechte die einzige oder die sicherste Zuflucht zur methodischen Aufklärung dunkler und zweifelhafter Fragen unserer heimischen Rechtsentwicklung.

In Deutschland sind seit dem 15. Jahrh. römisches Recht, kanonisches Recht und langobardisches Lehnrecht rezipiert worden. Diese drei Rechte hat man im Sinne, wenn man schlechtweg von den in Deutschland rezipierten fremden Rechten spricht. Was als römisches Recht in Geltung trat, war nicht das reine römische Recht der Rechtsbücher Justinians, sondern das Recht, welches italienische Rechtswissenschaft und Rechtspraxis auf Grund jener Rechtsbücher ausgebildet hatten. Auf die Ausgestaltung desselben und ebenso auf den Entwicklungsgang des kanonischen Rechtes übte das langobardische Recht einen


(0021 : 3)

der deutschen Rechtsgeschichte.

nicht unerheblichen Einfluſs aus, ein Umstand, durch welchen es unter den deutschen Tochterrechten für uns erhöhte Bedeutung gewinnt. Soweit die fremden Rechte sich unabhängig vom deutschen Rechte entwickelt haben, sind sie nicht Gegenstand der deutschen Rechtsgeschichte, wohl aber hat diese die Einwirkungen ins Auge zu fassen, welche die fremden Rechte vor der Rezeption durch die im langobardischen Rechte vertretenen deutschen Rechtsprinzipien erfahren haben, und ebenso die Fortbildung, welche den fremden Rechten auf deutscher Erde zuteil geworden ist.

Abgesehen von den drei „fremden Rechten“ hat das deutsche Volk einzelne bedeutsame Rechtsinstitutionen auswärtigen Ursprungs bei sich eingeführt. Schon im Mittelalter fand im Wege der Handelspraxis eine Rezeption italienischen Handelsrechtes statt. In neuerer und neuester Zeit gelangten bei uns Einrichtungen des französischen und des englischen Rechtes zur Aufnahme. Die Entstehungsgeschichte dieser Rechtsinstitute darf von der deutschen Rechtsgeschichte nicht völlig abgelehnt werden, sondern ist zur Darstellung zu bringen, soweit sie auf deutschrechtliche Keime zurückführt, die erst in den Tochterrechten zu selbständiger Ausbildung gelangten.

Früher wurde die deutsche Rechtsgeschichte in Verbindung mit der politischen Geschichte des deutschen Volkes als deutsche Reichsund Rechtsgeschichte, oder als deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, oder als deutsche Reichs- und Staatenrechtsgeschichte dargestellt. Durch die Ausscheidung der politischen Geschichte hat sie ein einheitliches wissenschaftliches Prinzip gewonnen und trat sie aus einer Zwitterstellung in die Reihe der reinen Rechtsdisziplinen ein. Daſs die politischen Ereignisse, deren Kenntnis für das Verständnis der Rechtsbildung wesentlich ist, nicht völlig übergangen werden, darf für selbstverständlich gelten und ist kein Grund, die politische Geschichte mit der Rechtsgeschichte zu verschwistern und letztere unter einer Kollektivfirma vorzuführen.

Die Rechtsgeschichte hat es mit dem Werden des Rechtes zu thun; sie lehrt uns, wie das Recht von seinen erkennbaren Anfängen ab bis zur Gegenwart sich entwickelt hat. Dadurch unterscheidet sie sich von den Rechtsaltertümern, welche den dauernden Zustand des Rechtes in einem gegebenen Zeitpunkte der Vergangenheit erfassen, ihren Stoff sonach nicht im Flusse der Entwicklung, sondern als einen ruhenden betrachten. Hebt sich die Rechtsgeschichte über die rein antiquarische Behandlung des in der Vorzeit geltenden Rechtes hinaus, so hat sie doch den Stoff, den es zu verarbeiten gilt, mit der juristischen Altertumskunde gemein. Sie darf sich nicht auf die Ge-

1*


(0022 : 4)

§ 2. Die Gliederung des Stoffes.

schichte der in der Gegenwart lebenden Rechtsinstitute beschränken, um etwa den Rechtsaltertümern die bereits abgestorbenen Rechtseinrichtungen zu überlassen, denn auch letztere spielen ihre Rolle in dem Werdeprozeſs des Rechtes und bei den innigen Wechselbeziehungen, welche zwischen den gleichzeitigen Rechtsinstituten der Vergangenheit obwalten, wäre es schlechterdings unmöglich, aus dem mehr wie tausendjährigen Gewebe der deutschen Rechtsgeschichte nur die bis zur Gegenwart fortlaufenden Fäden auszulösen.

Wie alle Geschichte arbeitet auch die Rechtsgeschichte an dem erhabenen Problem der Selbsterkenntnis der Menschheit. Sie hat daher die Berechtigung ihrer Existenz in sich selbst und braucht sie nicht erst durch den Nutzen zu begründen, welchen das Verständnis des heutigen Rechtes aus ihr zu schöpfen vermag. Neben dieser Auffassung hat aber noch eine andere, eine praktische Erwägung Platz, die bei dem wissenschaftlichen Aufbau der deutschen Rechtsgeschichte in erster Linie maſsgebend war. Da alles, was da ist, nur verstanden werden kann, wenn man weiſs, wie es geworden, wäre es eine Selbsttäuschung, zu glauben, daſs man das geltende Recht ohne Betrachtung seiner geschichtlichen Grundlagen zu erkennen vermöge. Erst durch die Rechtsgeschichte, welche die Gegenwart des Rechtes aus seiner Vergangenheit heraus erklärt, gelangt man zum wissenschaftlichen Verständnisse des bestehenden Rechtes. Unter diesem Gesichtspunkte ist die deutsche Rechtsgeschichte nicht nur das unentbehrliche Fundament der gesamten deutschen Rechtswissenschaft, sondern ragt ihre Bedeutung noch über das heutige Geltungsgebiet des deutschen Rechtes hinaus. Bei der Stellung, welche das deutsche Recht zu seinen Tochterrechten und zu seinen Schwesterrechten einnahm, bei dem unmittelbaren oder mittelbaren Einfluſs, den es auf die Rechtsbildung des Ostens ausübte, bildet die deutsche Rechtsgeschichte recht eigentlich den Ausgangspunkt für die geschichtliche Erkenntnis der Rechtszustände ganz Europas und seiner Kolonien.

§ 2. Die Gliederung des Stoffes.

Die Geschichte des Rechtes kann nach der historischen oder nach der systematischen Methode gegliedert werden. Erstere nimmt zum obersten Einteilungsgrunde die hervorragendsten Marksteine der Rechtsentwicklung, teilt nach ihnen die Rechtsgeschichte in bestimmte Perioden ein und stellt innerhalb jeder einzelnen Periode den ihr zugehörigen Rechtsstoff in systematischer Ordnung dar. Die systematische Methode geht von der Unterscheidung der einzelnen Rechtsinstitute


(0023 : 5)

§ 2. Die Gliederung des Stoffes.

aus, ordnet sie gemäſs dem heutigen System der Rechtswissenschaft in gröſsere Gruppen und behandelt jedes einzelne Rechtsinstitut ohne Unterbrechung vom Anfang bis zum Ausgang seiner Geschichte. Ihr oberster Einteilungsgrund ist die Gliederung der Rechtswissenschaft. Sie teilt zunächst das Recht und dann erst die Geschichte, die historische Methode dagegen zunächst die Geschichte und dann das Recht ab.

Die Wissenschaft der deutschen Rechtsgeschichte ging aus der Verbindung von zwei ursprünglich getrennten Disziplinen hervor, deren eine als Geschichte des Reiches und des Reichsstaatsrechtes ihren Stoff historisch gliederte, wogegen die dem Staatsrechte fremden Institutionen als Antiquitates juris meist ohne jegliche historische Perspektive nach mehr oder minder systematischer Anordnung dargestellt wurden. Als dann durch die Vereinigung dieser beiden Disziplinen die deutsche Staats- und Rechtsgeschichte erwuchs, muſste man ihr schon mit Rücksicht auf die Masse des unjuristischen Stoffes die historische Einteilungsmethode zu Grunde legen 1. Erst die in neuerer Zeit vollzogene Abspaltung der politischen Geschichte veranlaſste den gleichzeitigen Übergang zur systematischen Methode.

So sehr jene Trennung die Rechtsgeschichte förderte, so kann doch der Wechsel der Methode nicht als ein dauernder Fortschritt bezeichnet werden. Die systematische Darstellungsweise vermag nicht zur Anschauung zu bringen, wie die Rechtsinstitute eines Zeitalters sich in ihrem Dasein und in ihrer Ausgestaltung gegenseitig bedingen. Indem sie moderne Einteilungsrubriken und Begriffe, die selbst erst ein Ergebnis der historischen Entwicklung sind, in Perioden hineinträgt, denen sie völlig fremd waren, verstöſst sie gegen das in der Rechtsgeschichte waltende Grundgesetz der Differenzierung der Rechtsinstitute. Dieses Gesetz äuſsert sich darin, daſs ein Rechtsinstitut im Laufe der Zeit mit Rücksicht auf die verschiedenen Funktionen, die es übernimmt, sich in mehrere Rechtsinstitute zerspaltet, daſs Rechtsbegriffe und Rechtsgebilde, die sich in jüngerer Zeit mit scharf ausgeprägten Gegensätzen gegenüberstehen, anfänglich in einer ungeschiedenen Einheit vereinigt sind. Erst auf einer gewissen Kulturstufe scheiden sich z. B. die Institute des öffentlichen Rechts von denen des Privatrechts, zweit sich der Rechtsgang in ein Strafverfahren und in ein Zivilverfahren, trennen sich die verschiedenen Arten der Vormundschaft, fällt das Recht an der Sache in eine Reihe dinglicher Rechte auseinander. Will man dem Differenzierungsgesetze einiger-

1 So verfuhren u. a. Eichhorn, Phillips, Hillebrand, v. Daniels.


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§ 2. Die Gliederung des Stoffes.

maſsen gerecht werden, so ist es geboten, die Rechtsgeschichte nach der historischen Methode einzuteilen, also den Stoff zunächst nach Perioden zu gliedern.

Die Periodisierung der Rechtsgeschichte darf keine pedantische sein. Steife Zeitgrenzen, wie etwa das Todesjahr Chlothars I. (561), der Monat des Vertrags von Verdun (August 843), die Wahl Rudolfs von Habsburg (29. September 1273), die Daten der goldenen Bulle (10. Januar und 25. Dezember 1356), der Tag des Wormser Reichsabschiedes (7. August 1495), sind abzulehnen und durch möglichst elastische Abrundung der einzelnen Perioden zu ersetzen, so daſs für die Darstellung der verschiedenen Rechtsinstitute ein gewisser Spielraum offen bleibt. Nur dadurch wird es möglich, jene lästigen Wiederholungen und störenden Unterbrechungen zu vermeiden, welche man der historischen Darstellungsweise zum Vorwurfe macht.

Als die älteste Periode der deutschen Rechtsgeschichte stellt die germanische Zeit sich dar. Mit den ersten Anfängen unserer rechtsgeschichtlichen Kunde beginnend, endigt sie mit dem Stillstande der sogenannten Völkerwanderung, welche durch die Bildung germanischer Staaten auf römischer Erde und durch die Gründung des fränkischen Reiches zum Abschluſs gelangte. Die Berührung der Germanen mit römischer Kultur und mit dem Christentum eröffnete ihrem Rechtsleben eine neue Epoche, die Zeit des fränkischen Reiches, welches die Durchdringung der deutschen Stämme mit den neuen Bildungselementen vermittelte. Seit der Auflösung der fränkischen Monarchie beginnt eine neue, die dritte Periode der deutschen Rechtsgeschichte. Ihr Gesichtskreis beschränkt sich nunmehr auf das deutsche Reich, welches die nicht verwelschten deutschen Stämme als politische Einheit umfaſst. Auf den Grundlagen, welche die fränkische Zeit geschaffen hatte, erwächst eine rein volkstümliche Rechtsbildung, welche schlieſslich, weil von oben her sich durchaus selbst überlassen, einem weitgehenden Partikularismus verfällt. Um dieses Gebrechens willen war es dem deutschen Rechte nicht beschieden, seine Entwicklung selbständig zu vollenden. Vielmehr sind seit dem Ausgange des fünfzehnten Jahrhunderts das römische und das kanonische Recht nebst dem langobardischen Lehnrechte als gemeines Recht in die Rechtsprechung eingedrungen. Da sich um dieselbe Zeit in der Verfassung des deutschen Reiches eine Umwandlung fühlbar macht, welche ihm den Charakter einer Staatenrepublik aufprägt, so erscheint es als angemessen, die dritte Periode als die Zeit der nationalen Rechtsbildung in Deutschland vor dem Eintritte der Rezeption der fremden Rechte abzuschlieſsen. Die vierte und letzte Periode


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§ 2. Die Gliederung des Stoffes.

beginnt mit dem Ausgange des fünfzehnten Jahrhunderts und findet in der Gründung des neuen Reiches und in den Anfängen eines deutschen Reichsrechtes ihren naturgemäſsen Abschluſs.

Die Rechtsgeschichte zerfällt nach dem Gegenstande ihrer Betrachtung in die allgemeine und in die besondere Rechtsgeschichte. Jene verfolgt die Entwicklung des Rechtes in seiner Totalität, diese die Entwicklung der einzelnen Rechtsinstitute. Es ist herkömmlich, die allgemeine Rechtsgeschichte als äuſsere, die besondere als innere Rechtsgeschichte zu bezeichnen. Allein diese Bezeichnung entspricht nicht dem Einteilungsgrunde, durch den sie sich rechtfertigen will. Ihn hat am schärfsten Puchta formuliert, indem er ausführte 2: „Die Geschichte des Rechtes … hat eine doppelte Richtung. Der Organismus entwickelt und verändert sich teils im Ganzen, teils in seinen Gliedern, so daſs jedes Glied, da es ein ihm eigentümliches, obwohl mit dem des Ganzen wesentlich zusammenhängendes und von ihm untrennbares Leben besitzt, auch seine eigene, aber mit der des Ganzen innig verwachsene Geschichte hat. So haben wir zwei Teile der Rechtsgeschichte zu unterscheiden, die Geschichte des Rechtes im Ganzen und die Geschichte der einzelnen Glieder des Rechtes.“ Schlieſst man sich dieser Auffassung an, so wird man es füglich vermeiden, von äuſserer und von innerer Rechtsgeschichte zu sprechen, weil das Ganze eines Organismus nicht seine Auſsenseite ist und ebensowenig die einzelnen Glieder seine innere Seite darstellen.

Die allgemeine Rechtsgeschichte hat es vorzugsweise mit der Geschichte der Rechtsquellen zu thun. Auſserdem soll sie die politischen, die wirtschaftlichen und die sozialen Verhältnisse als die Grundlagen und treibenden Kräfte der Rechtsbildung zur Anschauung bringen. Demgemäſs wird in dem jeder einzelnen Periode gewidmeten Abschnitte dieses Handbuches zunächst eine Übersicht über die für die Rechtsbildung erheblichen politischen Thatsachen und eine Erörterung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände ihren Platz finden. Die Einteilung der inneren Rechtsgeschichte legt die Unterscheidung des Rechtes in Staatsrecht, Strafrecht, Prozeſsrecht und Privatrecht zu Grunde, soweit innerhalb der gewählten Zeitabschnitte die Glieder jener Einteilung als bereits vorhanden betrachtet werden dürfen.

2 Cursus der Institutionen I § 34.


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§ 3. Die Quellen der deutschen Rechtsgeschichte.

Spricht man von den Quellen der deutschen Rechtsgeschichte, so hat man es nicht mit den Entstehungsquellen, sondern mit den Erkenntnisquellen des Rechtes zu thun. Man kann unter ihnen Haupt- und Nebenquellen unterscheiden, indem man als Hauptquellen diejenigen zusammenfaſst, welche zum Zwecke der Anwendung im Rechtsleben entstanden sind, sei es nun daſs sie die Kenntnis von Rechtssätzen vermitteln oder zur Beurkundung einzelner Rechtsakte dienen wollten. Es gehören hierher 1. Aufzeichnungen von Satzungen, 2. schlichte Rechtsaufzeichnungen, 3. die Erzeugnisse der juristischen Litteratur, für das Mittelalter hauptsächlich durch die Rechtsbücher vertreten. Sie heben sich durch die Tendenz schriftstellerischer Bearbeitung des Rechtsstoffes von den schlichten Rechtsaufzeichnungen ab, welchen es nur darauf ankommt, geltende Rechtssätze schriftlich zu fixieren. 4. Rechtssprichwörter, landläufige kurzgefaſste Sätze von durchschlagender Kraft, in welche der Volksmund allgemein anerkannte Rechtsgedanken einzukleiden liebte, oft Jahrhunderte hindurch im Wege mündlicher Überlieferung fortgepflanzt, ehe sie zur schriftlichen Aufzeichnung gelangten 1. 5. Formeln, Formelsammlungen und Formelbücher. Unter Formeln versteht man einerseits Muster für mündliche Erklärungen, welche bei staatsrechtlichen Akten 2, im Rechtsgang oder bei Abschluſs von Rechtsgeschäften zur Anwendung kamen 3, andrerseits Muster für Urkunden, Urkundenformeln. Letztere sind gemeint, wenn man von Formeln schlechtweg spricht. Formelsammlungen sind Zusammenstellungen von Formeln zum Zwecke des Unterrichts oder zum praktischen Gebrauche. Sind sie systematisch angelegt, so darf man sie Formelbücher nennen. 6. Urkunden, Sammlungen und Bearbeitungen von Urkunden. Als Urkunden stellen sich dem Rechtshistoriker Schriftstücke dar, welche zum Abschluſs von Rechtsgeschäften

1 Die reichhaltigste (3698 Rechtssprichwörter umfassende) Sammlung lieferten Graf und Dietherr, Deutsche Rechtssprichwörter, 1864. Ergänzungen bietet Schröder in der Z f. RG V 32 ff. Als Rechtsquellen sind die Sprichwörter mit Vorsicht zu benutzen, weil sie es mehr auf mundgerechte Fassung als auf genaue juristische Formulierung absehen. Allitterierende Form des Sprichworts ist in der Regel ein Kennzeichen hohen Alters. Über die Bedeutung des Rechtssprichworts handelt Osenbrüggen, Die d. R., 1876.

2 Man denke an die Krönungsformeln.

3 Dem Rechtsgange dienten z. B. die Formeln für Gottesurteile, die Hegungsformeln, die niederländischen Dingtalen; dem Abschlusse von Rechtsgeschäften die Formeln 1—16 des sog. Cartularium Langobardicum, die nicht selten mit Unrecht zu den Formularien für Urkunden gestellt werden.


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§ 3. Die Quellen der deutschen Rechtsgeschichte.

oder zum Zeugnis über rechtliche Handlungen bestimmt waren 4. Als Führer durch die unübersehbare Masse des überlieferten Urkundenstoffes dienen die Regesten, Verzeichnisse, welche in chronologischer Anordnung kurzgefaſste Inhaltsangaben darbieten. Solche Regestenwerke sind in neuerer und neuester Zeit insbesondere für die Königsund Kaiserurkunden angelegt worden 5. Im Mittelalter hat man in den Kirchen und Klöstern Abschriften der Urkunden, welche sich auf die Rechtsverhältnisse der Kirche oder des Klosters bezogen, zur besseren Übersicht in besondere Codices, Kartularien, Traditionsbücher eingetragen. Bei der Eintragung wurden die Urkunden manchmal einer Verkürzung unterworfen, indem man Urkundenbestandteile, die als überflüssig erschienen, hinweglieſs, oder es wurde von vorneherein nur eine Sammlung von Auszügen aus den Urkunden des Kirchenarchivs angelegt.

Zu den Nebenquellen zählen die rein historischen Quellen, Annalisten, Chronisten und Geschichtschreiber 6, Briefe, Gesandtschaftsberichte, Memoiren und Staatsschriften, Inschriften 7, Monu-

4 Zur Orientierung über die Sammlungen gedruckter und ungedruckter in der historischen Litteratur erwähnter Urkunden dient Oesterley, Wegweiser durch die Litteratur der Urkundensammlungen, 2 Bde 1885. 1886 (vgl. Götting. gel. Anz. 1886 Nr 22 S 890). Einer Aufzeichnung der wichtigsten Urkundenpublikationen, wie sie noch Eichhorn und Phillips für zweckmäſsig hielten, darf man sich jetzt durch einen Hinweis auf jenes Werk und auf das Verzeichnis entheben, welches sich bei Dahlmann-Waitz, Quellen und Bearbeitungen der deutschen Geschichte, 3. Aufl. 1883, unter den Nummern 307—455 vorfindet. Eine treffliche Auswahl von Urkunden, welche für die Geschichte des deutschen Privatrechts von Belang sind, lieferten nebst Litteraturnachweisen Loersch u. Schröder, Urkunden zur Geschichte des deutschen Rechtes für den Gebrauch bei Vorlesungen und Übungen I. Privatrecht, 2. Aufl. 1881.

5 Hervorzuheben sind Böhmers Regesta Imperii. Als neue Bearbeitungen und Fortsetzungen erschienen die Regesten der Karolinger: Regesta Imperii I 752—918, bis jetzt vier Lieferungen, von Engelbert Mühlbacher, 1880 bis 1886; die Regesten von Philipp bis Richard 1198—1272: Regesta Imperii V, von J. Ficker 1881 ff.; die Regesten Karls IV.: Regesta Imperii VIII, 1346—78, von Huber 1877. Im übrigen siehe Dahlmann-Waitz S 27. 30 ff.

6 Potthast, Bibliotheca historica medii aevi, Wegweiser durch die Geschichtswerke des europäischen Mittelalters 375—1500, 1862, dazu ein Supplement 1868. Die wichtigsten Quellen und Bearbeitungen der deutschen Geschichte verzeichnet Dahlmann-Waitz a. O. Eine Geschichte der deutschen Historiographie gaben Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des 13. Jahrh., 5. Aufl., 2 Bde 1885. 1886, und Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen von der Mitte des 13. bis zum Ende des 14. Jahrh., 2. Aufl. 2 Bde 1876—77, 3. Aufl. 1. Bd 1886.

7 Neben den germanischen Runeninschriften kommen die römischen Inschriften


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§ 4. Hilfsmittel und Hilfswissenschaften.

mente 8, Wappen, Siegel, Münzen und sogenannte Altertümer 9. Dazu kommen noch die Denkmäler der germanischen und romanischen Litteratur, soweit sie nicht unter die bereits aufgezählten Quellen fallen, insbesondere die Dichtungen des Mittelalters 10. Für die ältere Zeit, da die Hauptquellen spärlich flieſsen, haben die Nebenquellen bedeutsamen rechtsgeschichtlichen Wert. Für die germanische Periode, der es an Rechtsdenkmälern völlig gebricht, sind sie unsere einzige unmittelbare Erkenntnisquelle.

§ 4. Hilfsmittel und Hilfswissenschaften.

Die Reihe der Hilfsmittel aufzuzählen, welche die für das Verständnis der Quellen erforderliche philologische Vorbildung gewähren, ist hier nicht der Ort, doch mag es immerhin als zweckmäſsig erscheinen, auf die gangbarsten Wörterbücher hinzuweisen, welche für die Sprachen und Mundarten vorliegen, deren Kenntnis das Studium der Quellen voraussetzt.

Ein recht brauchbares Wörterbuch älterer deutscher Rechtsausdrücke, welches schon längst eine ergänzende Umarbeitung verdient hätte, ist Christian Gottlob Haltaus, Glossarium Germanicum medii aevi, 2 Bde 1758. Für das mittelalterliche Latein, welches bis in das 13. Jahrhundert die Sprache der deutschen Rechtsquellen war, dient als unentbehrliches Hilfswerk: Carolus Du Fresne dominus Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, mit den Zusätzen der Benedictiner, Carpentiers, Adelungs und anderer herausgegeben von G. A. L. Henschel, 1840 7 Bde. Ein aus den Glossen und Vokabularien des Mittelalters zusammengestelltes Supplement ist Lorenz Diefenbach, Glossarium Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis, 1857 1.

in Betracht. Beispiele von solchen, die für die germanische Rechtsgeschichte bedeutsam sind, siehe in Z d. Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte V 226.

8 Die sieben Nischen des Aachener Rathauses werden als ein Argument für die Siebenzahl der Kurfürsten zur Zeit seiner Erbauung verwertet.

9 Lindenschmit, Die Alterthümer unserer heidnischen Vorzeit, 3 Bde 1858.

10 Schröder, Corpus iuris germanici poeticum, Z f. d. Philologie I 257, II 302; derselbe, Z f. d. Altert. XIII 139, Z f. RG VII 131. Loersch, Der Prozeſs in der Mörin des Hermann von Sachsenheim, aus dem Bonner Festgruſs an Homeyer 1871. Dreyer, Vom Nutzen des trefflichen Gedichtes Reineke de Voſs in Erklärung der deutschen Rechtsaltertümer, insonderheit des ehemaligen Gerichtswesens, Nebenstunden I 1764. Pfeffer, Die Formalitäten des gottesgerichtlichen Zweikampfs in der altfranzösischen Epik, Z f. roman. Phil. IX. K. Lehmann u. Schnorr v. Carolsfeld, Die Njálssage, insbesondere in ihren juristischen Bestandteilen, 1883.

1 Eine neue und vermehrte, auf zehn Bände berechnete Ausgabe des Du Cange hat Léopold Favre zu veröffentlichen begonnen, von welcher seit 1883 sieben Bände erschienen sind. Die eigenen Zusätze dieser Ausgabe sind meistens, namentlich in dem ersten Bande, von zweifelhaftem Werte.


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§ 4. Hilfsmittel und Hilfswissenschaften.

Dem Verständnis der germanischen Sprachen dienen und zwar der gotischen: E. Schulze, Gotisches Glossar, 1847; ders., Gotisches Wörterbuch, 1867. der althochdeutschen: E. G. Graff, Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althochdeutschen Sprache, 1834 ff. 6 Bde. Dazu ein alphabetischer Index von Maſsmann, 1846. O. Schade, Althochdeutsches Wörterbuch, 2. Aufl. 1872—1882. E. Steinmeyer u. E. Sievers, Die althochdeutschen Glossen, gesammelt und erläutert, bisher 2 Bde 1879. 1882. der mittelhochdeutschen: W. Müller u. Zarncke, Mhd. Wörterbuch mit Benutzung des Nachlasses von G. F. Benecke, 3 Bde 1854 ff. M. Lexer, Mhd. Handwörterbuch, 3 Bde 1872—1878. der neuhochdeutschen Sprache und ihrer geschichtlichen Entwicklung: J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, fortgesetzt von Weigand, Hildebrand, Heyne, Lexer und Wülcker, 1854 ff. I—III. IV erste Abteilung erste Hälfte und zweite Hälfte Lieferung 1—7 (genug). IV zweite Abteilung. V. VI. VII Lieferung 1—8. VIII 1. 2. XII 1. Fr. Kluge, Etymolog. WB der deutschen Sprache, 1884. der bairischen Mundart: A. Schmeller, Bayerisches Wörterbuch, 2. Ausg. bearbeitet von G. K. Frommann, 2 Bde 1872. 1877. des Altsächsischen: A. Schmeller, Glossarium Saxonicum, 1840. Heyne, Kleinere, altniederdeutsche Denkmäler, mit Glossar, 2. Aufl. 1877. des Angelsächsischen: Ettmüller, Lexicon Anglosaxonicum, 1851. Grein, Sprachschatz der ags. Dichter, 2 Bde 1861 ff. als Bd 3 u. 4 seiner Bibl. d. ags. Poesie. Reinhold Schmids Glossar in dessen Gesetze der Angelsachsen, 1858, S 521. Bosworth, Anglo-Saxon and English Dictionary, 1866. Toller u. Bosworth, An AngloSaxon Dictionary based on the MS. Collections of the late Jos. Bosworth, edited and enlarged by T. N. Toller, 1882 ff. (parts I and II). Wright, Anglosaxon and old english vocabularies, 2. ed. by Wülcker, 2 Bde 1884 (Glossen und Vokabularien vom 8. bis 15. Jahrh.). Groschopp, Kl. ags. WB nach Grein, 1883. des Mittelniederdeutschen: K. Schiller und A. Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch, 6 Bde. 1872—1881. des Friesischen: K. v. Richthofen, Altfriesisches Wörterbuch, 1840. J. ten DoornkaatKoolman, Wörterbuch der ostfriesischen Sprache, 1879 ff. des Niederländischen: Kiliani Dufflaei Etymologicum, Ultraj. 1623. Verwijs en Verdam, Middelnederlandsch Wordenboek, 1882 ff. (im Erscheinen). des Altfranzösischen: Diez, Etymolog. WB der romanischen Sprachen, 4. Aufl. 1878. Ragueau & Laurière, Glossaire du droit français, nouv. éd. p. Favre 1882. Dupin & Laboulaye, Glossaire de l’ancien droit français, 1846 und in ihrer Ausgabe


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§ 4. Hilfsmittel und Hilfswissenschaften.

von Loisels Institutes coutumières. Roquefort, Glossaire de la langue romane, 2 Bde 1808. Godefroy, Dictionnaire de l’ancienne langue française et tous ses dialectes du IX. au XV. siècle, bis jetzt 4 Bde 1881 ff. La Curne de Sainte Palaye, Dictionnaire historique de l’ancien langage françois depuis son origine jusqu’au siècle de Louis XIV, 10 Bde 1875—82. der nordischen Sprachen: Schlyter, Glossarium ad corpus iuris Sveo-Gotorum antiqui, Ordbok till Samlingen af Sweriges gamla Lagar, 1877. Als Bd 13 des corp. iuris S.-G. Das Wortregister zur Ausgabe der Grágás, Cod. Arnamagnaeanus, skálholtsbók, 1883, S 579 ff. Lund, Det aeldste danske Skriftsprogs Ordforraad, 1877, hauptsächlich aus den Rechtsquellen gearbeitet 2. Für die norwegischen Rechtsquellen steht der dem Glossar gewidmete fünfte Band der Norges gamle Love indtil 1387 noch aus. Cleasby-Vigfússon, An Icelandic-English Dictionary based on the MS. collections of the late R. Cleasby, enlarged and completed by Gudbr. Vigfússon, 1874. Th. Moebius, Altnordisches Glossar, Wörterbuch zu einer Auswahl altisl. und altnorw. Prosatexte, 1866.

Als Hilfswissenschaften der deutschen Rechtsgeschichte kommen in Betracht:

1. Die Geschichte der Tochterrechte und der Schwesterrechte des deutschen Rechtes. Aus der allgemeinen rechtshistorischen Litteratur der Tochterrechte sind hervorzuheben und zwar

des französischen Rechtes: Warnkönig und Stein, Französ. Staats- und Rechtsgeschichte, 3 Bde 1846—48. Schäffner, Gesch. der Rechtsverfassung Frankreichs, 4 Bde 1845—50. Laferrière, Histoire du droit français, 6 Bde 1852—58. Viollet, Précis de l’histoire du droit français, 1885. 1886. H. Brunner, Überblick über die Gesch. d. franz. Rechtsquellen in HEnc, 4. Aufl. 1882, S 279 ff. Revue historique de droit français et étranger von Laboulaye, Dareste, Rozière und Ginouilhac, 15 Bde 1855—69, fortgesetzt zuerst als Revue hist. de législation ancienne et mod. fr. et étr., 7 Bde 1870—76, dann als Nouvelle Revue hist. de dr. fr. et étr., 1877 ff. des langobardisch-italienischen Rechtes: A. Pertile, Storia del diritto italiano dalla caduta dell’ impero romano alla codificazione, 1871 ff. I. II: Verfassungs- und Quellengeschichte. III. IV: Privatr. V. Strafr. VI 1 Prozeſsrecht. Archivio giuridico (diretto da Serafini), 1868 ff. des englischen Rechtes: Reeves, History of the English Law, 5 Bde 3. Aufl. 1814. 1829, neuerdings mit Zusätzen herausgegeben von Finlason in 3 Bdn 1869 3. Crabb, History of the English Law, 1829, übersetzt von Schäffner 1839. Mathew Hale, History of the Common Law, 2 Bde unvollendet, in 6. Ausg. von Runnington 1820. H. Brunner, Überbl. über die Gesch. der normannischen und englischen RQ in HEnc S 297 ff.

2 Vgl. Konr. Maurer, KrV XXI 94.

3 Über den Unwert dieser Ausgabe siehe KrV XIII 228 und American Law Review 1873 Oktober S 138.


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§ 4. Hilfsmittel und Hilfswissenschaften.

des nordgermanischen Rechtes: Konrad Maurer, Überblick über die Gesch. der nordgermanischen Rechtsquellen in HEnc S 321 ff.; derselbe, Udsigt over de Nordgermaniske Retskilders Historie, 1878. Ein Verzeichnis der Rechtssammlungen und der Rechtslitteratur des Nordens giebt: Aagesen, Fortegnelse over Retssamlinger, Retsliteratur . . i Danmark, Norge, Sverig og til Dels Finland usw., 1876. Vgl. KrV XIX 106. des norwegischen Rechtes: Fr. Brandt, Forelæsninger over den norske Retshistorie, Christiania 1880. 1883. L. M. B. Aubert, En Udsigt over de norske Loves Historie, Kopenhagen 1875. P. A. Munch, Det Norske Folks Historie, 6 Bde Christ. 1851—59. Eine Übersetzung der zwei ersten Abschnitte gab Claussen u. d. T.: Die nordischgermanischen Völker, ihre ältesten Heimat-Sitze, Wanderzüge und Zustände, 1853; eine Übersetzung aus dem dritten und vierten Abschnitt u. d. T.: Das heroische Zeitalter der nordisch-germanischen Völker und die Wikinger-Züge, 1854. des isländischen Rechtes: Magnus Stephensen, Commentatio de legibus, quae jus Islandicum hodiernum efficiunt. Kopenhagen 1819. Konrad Maurer, Beitr. zur RG des german. Nordens, Heft 1: Die Entstehung des isl. Staats und seiner Verfassung, 1852, übersetzt und mit Anmerkungen versehen Reykjavík 1882; derselbe, Island von seiner ersten Entdeckung bis zum Untergang des Freistaats, 1874. Vilhjálmr Finsen, Om de islandske Love i Fristatstiden, 1873. des schwedischen Rechtes: J. O. Stiernhöök, De iure Sveonum et Gothorum vetusto libri duo, 1672. Nordström, Bidrag till den Svenska samhälls-författningens Historia, 2 Bde 1839. 1840. v. Amira, Altschwedisches Obligationenrecht, 1882. des dänischen Rechtes: Kofod Ancher, En dansk Lov Historie, 2 Bde 1769. 1776. KolderupRosenvinge, Grundrids af den danske Lovhistorie, 2. Aufl. 1832, wieder abgedruckt 1860; eine mit Anmerkungen versehene Übersetzung der ersten Auflage gab Karl G. Homeyer u. d. T.: Grundriſs der dänischen Rechtsgeschichte, 1825. Larsen, Samlede Skrifter, 4 afdel. 1857—1861. Stemann, Den danske Retshistorie indtil Christian Vs Lov, 1871.

2. Die vergleichende Rechtsgeschichte und zwar insbesondere soweit sie die arischen Völker betrifft. Sie ist als Wissenschaft noch in ihren ersten Anfängen begriffen, hat aber das Stadium des Dilettantismus bereits überschritten 4.

4 Zu nennen sind aus der neuesten Litteratur die Arbeiten von Henry Sumner Maine, bes. Lectures on the early history of institutions, 2. ed. 1875; Ancient law, 9. ed. 1883; Dissertations on early law and custom, 1883; die Schriften von Alb. Herm. Post, Ursprung des Rechts, Prolegomena zu einer allgem. vergl. RW, 1876; Die Anfänge des Staats- und Rechtslebens, 1878; Bausteine für eine


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§ 5. Die Bearbeitungen

3. Die Dogmatik des heute geltenden Rechtes, weil sie die Ergebnisse seiner historischen Entwicklung zu wissenschaftlicher Darstellung bringt.

4. Die deutsche Altertumskunde.

5. Die deutsche Geschichte mit Einschluſs der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte 5.

6. Die sog. Hilfswissenschaften der Geschichte 6: die Diplomatik, die Paläographie, die Siegel- und Wappenkunde, die Chronologie, Genealogie, die historische Geographie 7.

7. Die vergleichende Sprachwissenschaft und die Philologie der germanischen und der romanischen Sprachen 8.

§ 5. Die Bearbeitungen der deutschen Rechtsgeschichte.

Eingehende litteraturgeschichtliche Notizen giebt Gengler, Deutsche Rechtsgesch. im Grundr., 1850, S 9 ff. Über die Litteratur vor Eichhorn s. Eichhorn, Deutsche Staats- u. Rechtsgeschichte § 7—10. Die Bibliographie der deutschen Rechtsgesch. von E. H. Costa, 1858, ist weder zuverlässig noch vollständig und darf nur deshalb genannt werden, weil sie das einzige neuere Hilfsmittel dieser Art ist.

Die Wissenschaft der deutschen Rechtsgeschichte ist verhältnismäſsig jung. Zwar reichen die Bestrebungen um die Erforschung der älteren deutschen Rechtszustände bis in das sechzehnte Jahrhundert zurück; allein sie blieben lange Zeit hindurch vereinzelt und entbehrten des wissenschaftlichen Erfolges, weil sie gegen widrige Strömungen anzukämpfen hatten, welche das geistige Leben des deutschen Volkes auf dem Gebiete des Rechts beherrschten. Seit die Rezeption der fremden Rechte die Erinnerung an das Rechtsleben des Mittelalters verschüttet hatte, richtete sich die Arbeit der Gelehrten fast ausschlieſslich auf die Pflege des römischen Rechtes. Die ersten be-

allg. RW auf vergleichend ethnologischer Basis, 2 Bde 1880 ff. Die Grundlagen des Rechts u. die Grundzüge seiner Entwicklungsgeschichte, 1884; Einleitung in das Studium der ethnologischen Jurisprudenz, 1886; ferner zahlreiche Spezialuntersuchungen von Jos. Kohler und die Z f. vgl. RW, herausg. von Bernhöft, Cohn und Kohler 1878 ff., bis jetzt 6 Bde.

5 S. Dahlmann-Waitz, Quellen u. Bearbeitungen der d. Gesch. S 81 u. dazu Lamprecht, D. Wirtschaftsleben im Mittelalter, 1. Bd 1886.

6 Dahlmann-Waitz a. O. S 4 ff.

7 K. v. Spruner, Historisch-geographischer Handatlas, 3. Ausg. neu bearbeitet von Th. Menke 1871—1880. H. Oesterley, Historisch-geographisches Wörterbuch des deutschen Mittelalters, 1881 ff.

8 Über die Bedeutung der historischen Sprachwissenschaft für die germ. RG siehe v. Amira, Zweck und Mittel S 25 ff.


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der deutschen Rechtsgeschichte.

scheidenen Anfänge germanistischer Thätigkeit fallen in die Zeit, als man unter dem Einfluſs des Humanismus sich von der Herrschaft der italienischen Jurisprudenz und ihrer scholastischen Methode zu befreien suchte und auf die reinen römischen Rechtsquellen zurückzugehen begann. Der auf die Vergangenheit gewendete Sinn lenkte damals den Blick auch auf die ältesten Quellen des deutschen Rechtes. Johann Sichard in Basel edierte 1530 einige Volksrechte; 1557 veröffentlichte Bas. Joh. Herold eine umfassendere Sammlung der Volksrechte. Ihnen folgte 1613 Friedrich Lindenbruch mit seinem Codex legum antiquarum.

Der rechtsgeschichtlichen Verwertung des damals bekannten Kreises deutscher Rechtsquellen standen die fundamentalen Irrtümer im Wege, welche über den Grund der Geltung des römischen Rechtes verbreitet waren. Man glaubte steif und fest an das von Sigonius, einem italienischen Juristen des sechzehnten Jahrhunderts, referierte Gerücht, daſs Lothar II., als er den Pisanern die von ihnen zu Amalfi erbeutete Handschrift der Pandekten schenkte, zugleich die Anwendung des römischen Rechtes in den Gerichten und die öffentliche Lehre desselben angeordnet habe. Der Widerlegung dieses Märchens verdanken wir die erste methodische Leistung auf dem Gebiete der deutschen Rechtsgeschichte, Hermann Conrings 1 Buch de origine iuris Germanici, 1643. Es beschränkt sich nicht auf die Polemik gegen jenen Irrtum, sondern liefert ein abgerundetes Gesamtbild der allgemeinen Geschichte des deutschen Rechtes, dessen Grundlinien mit so genialer Treffsicherheit gezogen sind, daſs sie noch heute als richtig anerkannt werden müssen. Es ist kein Zufall, daſs dieses bedeutsame Werk nicht aus den Kreisen der zünftigen Jurisprudenz hervorgegangen ist, welche damals noch in den Fesseln romanistischer Schulgelehrsamkeit befangen war. Der in Ostfriesland geborene Verfasser war Professor der Medizin, später der Politik an der braunschweigischen Universität Helmstädt.

Die auf Conring folgende juristische Litteratur läſst eine befruchtende Wirkung seiner Thätigkeit in rechtsgeschichtlicher Hinsicht vermissen. Ebenso unempfänglich blieb sie für eine andere germanistische Leistung ersten Ranges, nämlich für die klassische Darstellung, die kurz vorher eines der bestkonservierten deutschen Partikularrechte durch Hugo Grotius gefunden hatte. Seine Inleyding tot de

1 Über Conring und seine Bedeutung siehe Roderich Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft II, 1884, S 3 ff. 165 ff.; O. Stobbe, Hermann Conring, der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte, 1870.


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§ 5. Die Bearbeitungen

Hollandsche Regtsgeleertheyt 2 giebt eine mit musterhafter Klarheit geschriebene Übersicht über das holländische Privat- und Strafrecht, welche die älteren holländischen Rechtsquellen ausgiebig verwertet und auch auf die geschichtliche Entwicklung der einheimischen Rechtseinrichtungen eingeht. Daſs trotz Groots und Conrings Arbeiten in der germanistischen Litteratur eine Periode auffallender Dürre eintrat, erklärt sich aus dem Eintritt einer neuen wissenschaftlichen Bewegung, welche das Studium des nationalen Rechtes und seiner Geschichte in Deutschland auf geraume Zeit in den Hintergrund drängte. Hugo Grotius hatte 1625 in den Prolegomena zu seiner Schrift De iure belli ac pacis das Evangelium des Naturrechtes verkündigt. Es war die Wirkung dieser Schrift und des von ihr ausgehenden Impulses, daſs nunmehr das Naturrecht die litterarische Stellung errang, die dem deutschen Rechte neben dem römischen gebührt hätte. Wie früher das römische Recht, so absorbierte jetzt das Naturrecht die besten Kräfte der deutschen Rechtswissenschaft. Die von den Naturrechtsjuristen in Mode gebrachte Unterschätzung der Vergangenheit wirkte ebenso lähmend auf die Pflege der deutschen Rechtsgeschichte wie früher die einseitige Überschätzung des römischen Rechtes.

In der germanistischen Litteratur des 17. und 18. Jahrhunderts kann man zwei Strömungen unterscheiden, eine publizistisch-historische und eine juristisch-antiquarische. Jene verfolgt mehr praktische, diese mehr theoretische Ziele. Das Staatsrecht des deutschen Reiches und seiner Territorien war durch die Rezeption der fremden Rechte thatsächlich so gut wie gar nicht betroffen worden, wogegen sie im Privat- und Prozeſsrecht das Bewuſstsein des Zusammenhangs zwischen Gegenwart und Vergangenheit des Rechtes ausgetilgt oder doch getrübt hatte. Diesem Unterschied in der Wirkung der Rezeption entkeimte der Gegensatz jener beiden litterarischen Richtungen. Privatund Prozeſsrecht des deutschen Mittelalters wurden als Antiquitates iuris behandelt, denn es fehlte die Befähigung, sie mit dem geltenden Rechte in brauchbare Verbindung zu bringen. Dagegen betrieb man die Geschichte des Staatsrechtes und die damit eng verschwisterte politische Geschichte unter praktischen Gesichtspunkten, weil sie für die Erkenntnis der geltenden Verfassung und für die Entscheidung ihrer zahllosen Kontroversen schlechterdings nicht entbehrt werden konnte. Hervorzuheben sind aus der umfangreichen Litteratur, welche

2 Sie erschien 1631, später auch in lateinischer Übersetzung. Die neueste Auflage ist von 1860. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, unter welchen der gründliche Heineccius genannt werden muſs, ist dieses Werk in der deutschen Litteratur bis auf die neueste Zeit kaum beachtet worden.


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der deutschen Rechtsgeschichte.

die historisch-publizistische Schule zu Tage förderte, die Werke von Datt 3, Pfeffinger 4, v. Ludewig 5, Gundling 6, B. G. Struve 7, H. Chr. v. Senckenberg 8, Olenschläger 9 und F. D. Häberlin 10. Der berühmteste Vertreter der Richtung ist Johann Stefan Pütter, die bedeutendste seiner hier in Betracht kommenden Schriften die „Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des teutschen Reiches“ 11. Pütter schrieb in festem Glauben an den dauernden Bestand und an die Verbesserungsfähigkeit der damals unter den Schutz des Fürstenbundes genommenen Reichsverfassung. Die Tendenz seines Buches ist daher eine wesentlich praktische. Er legt den Schwerpunkt der Darstellung auf die Zeit nach dem westfälischen Frieden und erörtert ebenso gründlich wie scharf die kümmerlichen Institutionen, in welchen die Einheit des absterbenden Reiches zu dürftigem Ausdruck gelangt.

Die juristisch-antiquarische Richtung kultivierte neben den Rechtsaltertümern die Geschichte der älteren Rechtsquellen. Unter ihren Anhängern sind insbesondere Grupen 12, Dreyer 13, Heineccius 14

3 Volumen rerum Germanic. novum sive de pace imperii publica libri V, 1698.

4 Vitriarius illustratus s. Corpus iuris publici ad ductum Ph. R. Vitriarii institutionum iuris publici (1698) 1731. 1754. 4 Bde.

5 Entwurf der Reichshistorie, 1706. Erläuterung der goldenen Bulle, 1716 u. öfter. Singularia iur. publ. Germ. imperii, 1730.

6 Abriſs zu einer rechten teutschen Reichshistorie, 1708.

7 Corpus hist. germ., 1730, zuletzt 1755. Syntagma iur. publ., 1711 u. ö. Comm. de allodiis imperii, 1734.

8 Selecta iuris et historiarum, 1734—42. Gedanken von dem jederzeit lebhaften Gebrauch des uralten deutschen bürgerlichen und Staatsrechts, 1759. Abhandlung der wichtigen Lehre von der kaiserlichen höchsten Gerichtsbarkeit in Deutschland, 1760.

9 Erläuterung der goldenen Bulle, 1766.

10 Umständl. teutsche Reichshistorie, 12 Bde 1767—1773. Neueste teutsche Reichsgesch. (fortgesetzt von R. K. v. Senckenberg), 28 Bde 1774—1804.

11 Zuerst 1786, 1788 u. öfter; 1790 ins Englische übersetzt. Das Werk ist der Königin Sophie Charlotte von England gewidmet, auf deren Wunsch es abgefaſst worden war. Von Pütters Arbeiten sind hier noch zu erwähnen das Handbuch der teutschen Reichshistorie, 2. Aufl. 1772, sein Grundriſs der Staatsveränderungen des teutschen Reiches, 1763, 7. Aufl. 1795.

12 Deutsche Altertümer zur Erläuterung des sächsischen und schwäbischen Land- und Lehnrechts, 1746. Observationes rerum et antiquitatum germ. et rom. oder Anmerkungen aus den teutschen und römischen Rechten u. Altertümern, 1763.

13 Sammlung vermischter Abhandlungen zur Erläuterung der teutschen Rechte und Altertümer, 1754—63. Zur Erläuterung der teutschen Rechte … angewandte Nebenstunden, 1768. Beyträge zur Litt. u. Gesch. d. deutschen Rechts, 1783.

14 Elementa iur. germanici tum veteris tum hodierni, 1736, 3. ed. 1746. Hist.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunuer, Deutsche Rechtsgesch. I. 2


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§ 5. Die Bearbeitungen

und Chr. Gottlob Biener 15 zu nennen. Das Beste leistete Heineccius, „unter den deutschen Juristen des 18. Jahrhunderts vielleicht der bedeutendste, jedenfalls derjenige, welcher den umfassendsten Reichtum gelehrten, namentlich historischen Wissens mit gediegener philosophischer Bildung verband“ 16.

Eine Sonderstellung nimmt unter den Germanisten des vorigen Jahrhunderts der geistvolle Justus Möser mit seiner osnabrückischen Geschichte ein 17. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen der Staatsordnung ins Auge fassend schrieb er darin eine groſsartig konstruierte Geschichte der Landeigentümer. Sie blieb nicht frei von wesentlichen Irrtümern, weil er seiner reichen Phantasie und seinem lebhaften Drange nach plastischer Ausgestaltung der darzustellenden Verhältnisse allzusehr die Zügel schieſsen lieſs. Nichtsdestoweniger sind seine Lehren, insbesondere seine Ausführungen über die Zustände der Urzeit, über die Geschichte des Heerwesens und über die Entstehung der Landeshoheit, welchen sich Eichhorn im wesentlichen anschloſs, auf lange Zeit hinaus zur unbestrittenen Herrschaft gelangt.

Aus den zusammenhanglosen Bruchstücken, welche das 18. Jahrhundert überlieferte, wurde in den ersten Dezennien des 19. die Wissenschaft der deutschen Rechtsgeschichte geschaffen. Mit der Auflösung des deutschen Reiches war der Grund für die Trennung des Staatsrechtes von den übrigen Zweigen der Rechtsgeschichte hinweggefallen. Publizisten der alten Schule hatten ihre Bibliotheken, soweit sie das Reichsstaatsrecht betrafen, mit Resignation als fernerhin unbrauchbar abgeschlossen 18. Das Reichsstaatsrecht stand nunmehr in Bezug auf seine unmittelbare praktische Verwertbarkeit den Privatrechtsantiquitäten ebenbürtig zur Seite. Andrerseits verlor das Naturrecht seine Stellung als treibende Kraft der deutschen Rechtswissenschaft. Schon Montesquieu hatte 1748 in seinem Esprit des lois darauf hingewiesen, wie die Rechtszustände von der Natur und Lage

iur. civilis rom. ac germ., 1733. Antiquitates germanicae iurisprudentiam patriam illustrantes, 1772. 1773, unvollendet, B I: de republica et legibus vet. Germ.; B II: de iure personarum.

15 Commentarii de origine et progressu legum iuriumque germanicarum, unvollendet, pars I.: leges et iura populorum teuton. antiqua, 1787; pars II.: leges et iura pop. teut. media, vol. 1.: de, historia iuris germ. publici atque privati, 1790; vol. 2.: de historia institutorum atque iurium feudalium in regno Germ., 1795.

16 Stintzing in der Allg. deutschen Biographie unter Heineccius.

17 Zuerst 1768. In 3. Aufl. 3 Bde herausg. von C. Stüve 1819.

18 Reyscher in der Z f. DR XV 445.


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der deutschen Rechtsgeschichte.

des Landes und von den jeweiligen Kulturverhältnissen abhängig seien. Angeregt durch Montesquieu 19 und durch den Historiker L. T. Spittler entwickelte Hugo in Göttingen 1789, also im Geburtsjahre der französischen Revolution, für die Behandlung des römischen Rechtes den Grundgedanken des wissenschaftlichen Programms, welches die von ihm begründete historische Rechtsschule charakterisiert 20.

So lagen die Verhältnisse, als ein Schüler Hugos, Karl Friedrich Eichhorn 21, die deutsche Rechtsgeschichte zum Range einer selbständigen Wissenschaft erhob. Das Werk, durch welches ihm diese Geistesthat gelang, war seine deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, von welcher der erste Band 1808, der vierte und letzte 1823 erschien 22. Begonnen unter dem geistigen Drucke der französischen Vorherrschaft, unterbrochen wegen der persönlichen Teilnahme des Verfassers an den Befreiungskriegen, ist sie der litterarische Ausdruck des Zusammenhanges, welcher zwischen dem Erwachen des deutschen Nationalbewuſstseins und der Wiederbelebung des deutschen Rechtes obwaltete. Eichhorn überwand den überlieferten Gegensatz zwischen der Staatsrechts- und der Privatrechtsgeschichte, indem er durch Anwendung der historischen Forschung auf alle Teile des Rechtes die erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung der deutschen Rechtsgeschichte schuf. Seine Methode ist das strikte Gegenteil jener antiquarischen Behandlung, wie sie vor ihm üblich gewesen war. Er setzt sich das Ziel für das noch geltende Recht eine sichere geschichtliche Grundlage zu gewinnen und verweilt daher in der Vergangenheit nur um aus ihr in die Gegenwart zu gelangen. Wollte er den gesamten Stoff bewältigen, die Anfangs- und die Endpunkte der Entwicklung zusammenfassen, so konnte er nicht umhin, sich gewisse Beschränkungen

19 In der Vorrede zu seiner Übersetzung des 44. Kapitels von Gibbons Geschichte des Verfalls des römischen Reiches spricht Hugo den Gedanken aus „wie herrlich und schön das römische Recht sich bearbeiten lieſse, wenn man die Bahn, die Montesquieu eigentlich nur entdeckt hat, ginge …“.

20 O. Mejer, Gustav Hugo, der Begründer der historischen Juristenschule, Preuſsische Jahrbücher XLIV 472 ff.

21 Bruchstück einer Autobiographie bei Fr. v. Schulte, Karl Fr. Eichhorn, Rede zur Säkularfeier … am 20. Nov. 1881. Briefe von K. Fr. Eichhorn, hrsg. von Hugo Loersch 1881. Über Eichhorns Bedeutung für die Rechtsgeschichte Alex Franken, Romanisten und Germanisten, 1882. Eine zusammenfassende Biographie giebt Fr. v. Schulte, Karl Friedrich Eichhorn, sein Leben und Wirken, 1884. Den Einfluſs Hugos auf Eichhorn bezeugt letzterer in einer Stelle seiner Autobiographie, worin er sagt, daſs ihm Hugos Vorträge später das „eigentliche Licht in das Verfahren beim deutschen Rechte“ gebracht hätten.

22 Die d. Staats- u. RG erschien 1843—44 in fünfter Auflage.

2*


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§ 5. Die Bearbeitungen

aufzulegen, welche durch den Begriff der deutschen Rechtsgeschichte an sich nicht geboten waren. Er konzentrierte sich auf den Kreis der deutschen Rechtsquellen, indem er auf die Tochter- und Schwesterrechte geringe oder keine Rücksicht nahm. Er verlor sich nicht in erschöpfende Detailuntersuchungen und verzichtete auf lebendige Schilderungen der vergangenen Rechtszustände, wie er denn von den heimischen Quellen diejenigen minder beachtete, in welchen der abstrakte Rechtsgedanke hinter den anschaulichen Formen des Rechtslebens zurücktritt. Die Zeit bedurfte nicht eines abschlieſsenden oder ausmalenden, sondern eines bahnbrechenden Werkes, und ein solches ist seine Staats- und Rechtsgeschichte nicht nur in vollem Maſse geworden, sondern sie ist trotz zahlreicher Berichtigungen das leitende Buch der Disziplin geblieben, die es geschaffen hat.

Eine bedeutsame Erweiterung ihres Gesichtskreises wurde der germanistischen Forschung durch Jakob Grimm 23 zuteil, dessen Rechtsaltertümer in gewissem Sinne ein ergänzendes Gegenstück zu Eichhorns Rechtsgeschichte bilden 24. Jakob Grimm faſst nur das altertümliche Recht ins Auge. Er will „Materialien für das sinnliche Element der deutschen Rechtsgeschichte sammeln“. Seine Rechtsaltertümer stellen sich in dieser Beziehung als eine unerschöpfliche Fundgrube dar, sie sind aber mehr wie dies, denn sie bringen die formelle Ausgestaltung des alten deutschen Rechtes mit feinstem Verständnis zu lebensvoller Anschauung, sie beleuchten das Recht durch die Sprache und Kultur des Volkes und liefern durch die Heranziehung der nordischen Quellen und auſsergermanischer Rechte den groſsartigen Unterbau einer vergleichenden Altertumskunde des Rechtes 25. Der

23 Eine Darstellung seines Lebens und Wirkens giebt Wilhelm Scherer, Jacob Grimm, 2. Ausg. 1885.

24 Die erste Ausgabe erschien 1828; die zweite (1854) und die dritte (1881) sind nur ein unveränderter Abdruck der ersten. Ein Register zu den RA wurde von Al. Pogatscher aus dem Nachlaſs Th. v. Karajans 1877 in dem Programm der Salzburger Realschule herausgegeben. Jakob Grimm hat zu seinem Handexemplar der RA, welches zu benutzen mir verstattet war, teils auf dem Rande, teils auf losen eingelegten Blättern zahlreiche Nachträge vermerkt, weitere Quellenbelege, Litteraturnachweise, Ergänzungen, hie und da auch Einfälle, die er mit Fragezeichen versah. Wenn im folgenden ein „Nachtrag zu den RA“ zitiert wird, sind diese eigenhändigen Aufzeichnungen J. Grimms gemeint.

25 Von den Männern, die Grimm in der Vorrede als seine Vorgänger nennt, Heineccius, Dreyer, Grupen, Haltaus, Kindlinger und Bodmann, sind die vier ersten schon oben S 17 u. 10 erwähnt. Kindlinger kommt nur als Quellensammler in Betracht. Bodmanns Arbeiten sind inzwischen z. T. als unzuverlässige, ja gewissenlose Machwerke erkannt worden. — Teils Auszug, teils Übersetzung, teils Ergänzung aus


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der deutschen Rechtsgeschichte.

Geschichte des Rechtes führten die Rechtsaltertümer weniger fertige Ergebnisse als ungelöste Probleme zu, weil die Entstehung und Fortbildung der dargestellten Rechtsbräuche von vornherein nicht in dem Plane der Arbeit lag. Daraus erklärt sich die von Grimm gelegentlich gerügte Reserve, welche Eichhorn und seine Schule diesem Werke gegenüber beobachteten 26. Das darin aufgespeicherte Material in den Fluſs historischer Entwicklung zu bringen war eine Aufgabe, der die Wissenschaft damals nicht gewachsen war und deren Lösung noch jetzt zum guten Teile der Zukunft vorbehalten bleiben muſs.

In einem Aufsatze über das geschichtliche Studium des deutschen Rechtes 27, der die nächstliegenden Bedürfnisse für den Ausbau der deutschen Rechtsgeschichte besprach, erklärte Eichhorn, daſs sie viel mehr der Untersuchung als der Anordnung des Untersuchten bedürfe. Soweit die neuere Forschung über Eichhorn hinauskam, hat sie dies der von ihm empfohlenen Methode zu verdanken. Nicht in Lehrbüchern und Kompendien sondern in Spezialuntersuchungen beruhen die Fortschritte der Wissenschaft, wie sie durch die Ausdehnung des Untersuchungsfeldes, durch intensivere Verwertung der Quellen und durch das Wachstum der Hilfswissenschaften vermittelt worden sind. Das meiste geschah für die Aufhellung der fränkischen Zeit. Eichhorn selbst hatte sich veranlaſst gesehen, den dieser Periode gewidmeten Abschnitt seiner Staats- und Rechtsgeschichte in der vierten Auflage vollständig umzuarbeiten. Nichtsdestoweniger ist er durch die neuere Forschung auf diesem Gebiete am meisten überholt worden. Dagegen ist seine Darstellung der Rechtsgeschichte seit der Reformation am wenigsten veraltet, obschon sie in den späteren Auflagen die geringsten Veränderungen erfahren hatte.

In den Bahnen der Forschung hat sich nach Eichhorn eine bemerkenswerte Schiebung vollzogen, welche auf einem Wechsel der Ansichten über das gegenseitige Verhältnis der deutschen Stammesrechte beruht. Bei Eichhorn bildeten für die Zeit des deutschen Mittelalters die sächsischen Quellen die hauptsächlichste Grundlage der Darstellung. Das sächsische Recht hatte der Zersetzung durch das römische am besten widerstanden. Der Zusammenhang zwischen dem vergangenen und dem gegenwärtigen Rechte lieſs sich da auf dem kürzesten Wege darlegen. Da die sächsischen Rechtsdenkmäler auch

holländischen und seeländischen Rechtsquellen sind im Verhältnis zu Grimms Rechtsaltertümern Noordewiers Nederduitsche Regtsoudheden, Utrecht 1853.

26 Scherer aus einem Briefe Grimms an Lachmann a. O. S 267.

27 Z f. gesch. RW I 124 ff. (1815).


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§ 5. Die Bearbeitungen

durch ihren litterarischen Wert die erste Stelle einnahmen, hat sich die Forschung ihnen mit besonderer Vorliebe zugewendet. Das sächsische Stammesrecht gewann so in der germanistischen Litteratur einen gröſseren Vorsprung, als dem ebenmäſsigen Ausbau der deutschen Rechtsgeschichte förderlich gewesen wäre. Gegen die einseitige Überschätzung des sächsischen Quellenkreises, gegen die Versuche, das sächsische Recht vorschnell als gemeines deutsches Recht hinzustellen, hat Paul Roth, in einem Aufsatz über die rechtsgeschichtlichen Forschungen seit Eichhorn, begründeten Einspruch erhoben, indem er die Verschiedenheit der Stammesrechte, namentlich den Gegensatz des sächsischen und des fränkischen Rechtes kräftig betonte 28. Seitdem ist die Wertschätzung des fränkischen Rechtes und der ihm entstammenden Impulse unserer Rechtsentwicklung so sehr gestiegen, daſs sie zu neuer Einseitigkeit zu führen drohte. Eine geistvolle Abhandlung Sohms 29 setzt in die Rolle, welche andere dem sächsischen Rechte zugewiesen hatten, das fränkische Recht ein, indem sie behauptet, daſs das ganze mittelalterliche Deutschland ein einziges Rechtsgebiet, ein Gebiet nämlich des fränkischen Rechtes darstelle. Diese Ansicht stellt sich bei nüchterner Betrachtung als eine Übertreibung dar, gegen welche daran festzuhalten ist, daſs die deutsche Rechtsgeschichte ebensowenig zur fränkischen wie zur sächsischen Rechtsgeschichte degradiert werden darf, sondern die Einheit der Rechtsentwicklung über den einzelnen Stammesrechten zu suchen hat.

Die monographische Litteratur wird dieses Handbuch an der Spitze der einzelnen Paragraphen nennen. Von den Lehr- und Handbüchern der deutschen Rechtsgeschichte, welche nach Eichhorn erschienen, verdienen hervorgehoben zu werden:

G. Phillips, Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte zum Gebrauche bei akademischen Vorlesungen, 4. Aufl. 1859, eine Darstellung, in welcher die Reichsgeschichte breit angelegt ist und die juristischen Gesichtspunkte zurücktreten. Julius Hillebrand, Lehrbuch der deutschen Staats- und Rechtsgeschichte mit Ausschluſs der Privatrechtsinstitute, 1856, ohne selbständige Gesichtspunkte. A. v. Daniels, Handbuch der deutschen Reichs- und Staatenrechtsgeschichte, 1859—1863 4 Bde, unvollendet. Der erste Band verdient als originelles Werk, wenn er auch nur mit Vorsicht benutzt werden darf, in zahlreichen Einzelheiten mehr Beachtung als er gefunden hat.

28 Z f. RG I 7 ff. (1861).

29 Fränkisches Recht und römisches Recht. Prolegomena zur deutschen Rechtsgeschichte, Z d. Savigny-Stiftung f. RG I 1 ff.


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der deutschen Rechtsgeschichte.

Die Fortsetzung scheiterte an dem Plane, auch die Staats- und Rechtsgeschichte der Territorien zu erschöpfender Darstellung zu bringen. Die drei letzten Bände enthalten in der Hauptsache nur eine indigesta moles von Quellenangaben, Litteraturverzeichnissen und Regesten. H. Zöpfl, Deutsche Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 1871. 1872 3 Bde. Der Verfasser, welcher der ersten Auflage noch den Eichhornschen Plan zu Grunde gelegt hatte, ist in den folgenden Auflagen zur systematischen Methode übergegangen, indem er zugleich die Reichsgeschichte abtrennte. Sein Werk ist stoffreich, aber in den Details unzuverlässig und zu spröde gegen die Ergebnisse der Spezialuntersuchungen. Ferd. Walter, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1857, für die fränkische Zeit noch jetzt eine recht brauchbare Kompilation. Fr. v. Schulte, Lehrbuch der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte, 5. Aufl. 1881. Heinr. Siegel, Deutsche Rechtsgeschichte, ein Lehrbuch, 1886 30.

Eine Übersicht über die Quellen und die Geschichte des deutschen Rechts habe ich in v. Holtzendorffs Encyklopädie der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1882, gegeben.

Als Grundrisse kommen in Betracht: Stenzel, Grundriſs und Litteratur zu Vorlesungen über deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, 1832, und Gengler, Deutsche Rechtsgeschichte im Grundriſs, 1850, unvollendet.

Zusammenfassende Darstellungen einzelner Zweige der deutschen Rechtsgeschichte haben geliefert, und zwar der Quellengeschichte: O. Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, 1860. 1864; der Verfassungsgeschichte bis zur Mitte des zwölften Jahrhunderts: Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, I. II in 3. Aufl. 1880. 1882, III. IV in 2. Aufl. 1883. 1885, V—VIII in 1. Aufl. 1874—78 31; der historischen Grundlagen des Privatrechts: Andreas

30 Von Richard Schröders deutscher Rechtsgeschichte haben mir die ersten zehn vielversprechenden Aushängebogen vorgelegen. Da ich mein Manuskript für die betreffende Materie bereits vollendet hatte, als sie mir zu Gesichte kamen, konnte Schröders höchst beachtenswerte Leistung nur teilweise verwertet werden.

31 Dazu Urkunden zur deutschen VG im 10., 11. u. 12. Jahrh., 2. Aufl. 1886. — Die Arbeiten von Waitz haben für unsere ältere VG eine dauernde, kritisch gesichtete Grundlage geschaffen. Sie spiegeln die strenge Wahrhaftigkeit und die unerschütterliche Gewissenhaftigkeit seines schlichten und lauteren Wesens. Es giebt wenige Historiker, deren wissenschaftliche Bedeutung und Methode so vollständig in den Grundzügen des Charakters aufgeht, wie dies bei Waitz der Fall ist. Zur Würdigung seines Wirkens s. Monod, A la mémoire de M. le prof. G. W., 1886, und Weiland, G. W., 1886.


(0042 : 24)

§ 5. Die Bearbeitungen d. deutschen Rechtsgeschichte.

Heusler, Institutionen des deutschen Privatrechts, 1885. 1886. Wildas Geschichte des deutschen Strafrechts, 1842, und Bethmann-Hollwegs Darstellung der Geschichte des deutschen Rechtsgangs in dessen Civilprozeſs des gemeinen Rechts, IV. V, 1868. 1873, sind nicht über die fränkische Zeit hinausgekommen. Eine Geschichte der öffentlichrechtlichen und der privatrechtlichen Verbände liefert auf umfassender historischer Grundlage Gierkes Deutsches Genossenschaftsrecht, 3 Bde 1868—1881.

Von Zeitschriften sind der deutschen Rechtsgeschichte teilweise oder hauptsächlich gewidmet: Die Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft (Z. f. gesch. RW), hrsg. von Savigny, Eichhorn und Göschen, 15 Bde 1815—1850; die Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft (Z f. DR) von Reyscher, Wilda, dann Beseler und Stobbe, 20 Bde 1839—1861; die Zeitschrift für Rechtsgeschichte (Z f. RG) von Rudorff, Bruns, Roth, Merkel und Böhlau, 13 Bde 1861—1878, fortgesetzt unter dem Titel Zeitschrift der Savignystiftung 1880 ff., seitdem in eine germanistische und in eine romanistische Abteilung zerfallend 32. Einzelne sehr beachtenswerte Abhandlungen germanistischen Inhalts finden sich in der Kritischen Überschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KrÜ), hrsg. von Arndts, Bluntschli und Pözl, 6 Bde 1853—1859; in der Kritischen Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KrV), hrsg. von Pözl und anderen 1859 ff.; in der Zeitschrift für schweizerisches Recht von Ott, Schnell, Wyſs, dann von A. Heusler u. a. 1852 ff.; in den Forschungen zur deutschen Geschichte, hrsg. von der historischen Kommission der (Münchener) Akademie der Wissenschaften 1862—1886; in den Mitteilungen des Instituts für österr. Geschichtsforschung, redigiert von Mühlbacher 1880 ff., und im Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde (Büchler, Dümgé, Pertz), 12 Bde 1820—1874, als Neues Archiv usw. (NA) (Wattenbach) seit 1876.

32 Erstere wird im folgenden als Z 2 f. RG zitiert werden.


(0043 : [25])

Erstes Buch. Die germanische Zeit.


(0044 : [26])


(0045 : [27])

§ 6. Das deutsche Volk.

Mascou, Gesch. der Teutschen bis zum Abgang der merowingischen Könige, 2 Bde 2. Aufl. 1750. Waitz, Deutsche VG I 3, 1880. J. Grimm, Gesch. der deutschen Sprache, 4. Aufl. 1880. Müllenhoff, Deutsche Alterthumskunde I. V, 1870. 1883. Arnold, Deutsche Urzeit, 1879, als Deutsche Geschichte I in 3. Aufl. 1881. G. Kaufmann, Deutsche Gesch. bis auf Karl d. Gr., 2 Bde 1880. 1881. Nitzsch, Gesch. des deutschen Volkes I (bis zum Ausgang der Ottonen), 1883. F. Dahn, Deutsche Geschichte I 1 (bis 476), 1883. Munch (Clauſsen), Die nordisch-german. Völker, 1853. Mommsen, Römische Geschichte V, 1885.

Die Germanen gehören zum europäischen Zweige der groſsen arischen Völkerfamilie, deren Ursitze in Asien zu suchen sind. Zu einem eigenartigen Volkstum erwuchsen sie nach einer kürzlich von berufenster Seite ausgesprochenen Ansicht in den Gebieten der Oder und Elbe unterhalb des Gebirges, in welche ihre Vorfahren nicht später eingerückt seien als die verwandten Stämme der Italiker und Griechen in Italien und Griechenland 1. In der Zeit Alexanders des Groſsen fand der griechische Reisende Pytheas von Massilia den Stamm der Teutonen an der norddeutschen Küste. Etwa zwei Jahrhunderte später treten die Germanen gegen Gallier und Römer vordringend in den Gesichtskreis der antiken Historiographie und damit in die Weltgeschichte ein. Von dieser Zeit bis zur endlichen Überflutung des römischen Reiches befinden sich die germanischen Völkerschaften in einer ununterbrochenen Bewegung, deren innere Vorgänge in tiefes Dunkel gehüllt bleiben. Wahrnehmbar wird uns gewissermaſsen nur die Brandung, in welcher von Zeit zu Zeit eine weit vordringende Völkerwelle an dem festgefügten Bau des römischen Reiches zerschellt.

In halb nomadischen Zuständen lebend waren die einzelnen Stämme nicht fest mit ihren Wohnsitzen verwachsen. Wenn die

1 So Karl Müllenhoff, Deutsche Alterthumskunde V 1.


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§ 6. Das deutsche Volk.

Vermehrung der Volkszahl, die Erschöpfung des Bodens, der Druck nachrückender Schwärme einen Wechsel der Wohnsitze veranlaſste, dann wanderte der ganze Stamm oder ein Teil desselben, um neue Siedlungsgebiete zu gewinnen. In harten und blutigen Kämpfen muſsten die Germanen erfahren, daſs ihren Wanderzügen der Weg nach Süd und West durch die Macht des römischen Reiches gesperrt sei. Die in südlicher Richtung wandernden Kimbern und Teutonen wurden auf römischer Erde durch Marius vernichtet. Die auf westlichem Wege vorgedrungenen suebischen Völkerschaften warf Cäsar zurück, nachdem sie sich kurze Zeit in Gallien festgesetzt hatten.

Mit wirksamem Gegenstoſs versuchten dann die Römer in Germanien einzudringen und das Land in eine römische Provinz zu verwandeln. Daſs sie vorübergehende Erfolge erreichten, verdankten sie den unter den Germanen waltenden Gegensätzen, die eine gemeinsame Abwehr verhinderten. Die nordwestlichen Völkerschaften, Bataver, Friesen und Chauken, wurden von den Römern auf gütlichem Wege oder doch ohne nennenswerte Kämpfe gewonnen. Die Widerstandskraft der mittleren Stämme lähmten innere Zwistigkeiten und vornehmlich die Spannung, die zwischen ihnen und dem markomannischen Suebenreiche des Königs Marbod bestand 2. Schon befand sich Germanien bis gegen die Elbe unter römischer Botmäſsigkeit, da brachte die vereinigte Erhebung der Cherusker, Chatten, Brukterer und ihrer Bundesgenossen die Römer um die Früchte ihrer Politik. Seit der Varusschlacht, an deren Folgen die Feldzüge des Germanicus nichts zu ändern vermochten, haben sich die Römer des Gedankens entwöhnt, Germanien zu unterwerfen, und wurden der Rhein und die Donau die Grenzströme des römischen Reiches, auf deren wirksame Verteidigung sich von nun ab das Verhältnis der Römer zu den Germanen im wesentlichen beschränkt.

Unter den Ergebnissen jener Kämpfe darf nicht übersehen werden, daſs sie auf die inneren Zustände der beiden Gegner eine nachhaltige Rückwirkung ausübten. Die Germanengefahr zeitigte und festigte die Entwicklung des römischen Imperatorentums, weil nur eine straffe Regierung dem Reiche die Kraft erfolgreicher Abwehr verleihen konnte. Andrerseits wurden die Germanen durch die Stauung, die ihre Wanderungen an den römischen Grenzen erfuhren, genötigt, allmählich zu gröſserer Seſshaftigkeit überzugehen und jene inneren Wandlungen durchzumachen, durch welche sich das von Cäsar

2 v. Ranke, Weltgeschichte III 16 f. Nitzsch, Geschichte des deutschen Volkes I 32 ff.


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§ 6. Das deutsche Volk.

und das von Tacitus gezeichnete Bild des Volkes sichtlich unterscheiden. Die Veränderung ergriff zuerst die westlichen Völkerschaften; etwas später machte sie sich bei den Sueben geltend, von welchen die an den Rhein vorgerückten Schwärme mit Bewahrung der alten Sitte zum Teil an die Elbe zurückgegangen waren. Die östlichen Germanen, die Völker der gotisch-vandalischen Gruppe wichen dem Aufgeben der gewohnten Lebensweise durch eine Wanderung nach Südosten aus, welche einen Teil der Goten schlieſslich an das Schwarze Meer führte. Im Gegensatz zu den minder beweglichen Bauernstämmen des Westens erscheinen bei der sogenannten Völkerwanderung gerade diese östlichen Völkerschaften als die eigentlichen Wanderstämme der Germanen.

Ethnographisch scheiden sich die Westgermanen oder Deutschen von den Ostgermanen, welche aus der gotisch-vandalischen Völkergruppe und aus den skandinavischen oder nordgermanischen Stämmen gebildet werden 3.

Weder unter den Deutschen noch unter den Ostgermanen besteht ein staatsrechtlicher oder auch nur ein völkerrechtlicher Verband. Sie sind vielmehr in eine groſse Zahl selbständiger Völkerschaften gespalten. Diesem Mangel politischen Zusammenhanges entspricht der Mangel eines gemeinsamen Namens, mit welchem das Volk sich benannt hätte. Die Bezeichnung Germanen, vermutlich soviel wie Nachbarn bedeutend, wurde ihm erst von den Galliern beigelegt und dann von den Römern übernommen, welchen sie seit der Zeit der Sklavenkriege bekannt ist, während sie bei den Germanen selbst nicht üblich wurde. Das Wort „deutsch“ begegnet uns erst in Schriftdenkmälern vom Ende des 8. und vom Anfang des 9. Jahrhunderts, und zwar zur Bezeichnung der Sprache. Es stammt von der Wurzel diet, Volk (ahd. diot, got. thiuda) und wurde noch in fränkischer Zeit an-

3 Die engere Verwandtschaft der Goten und Skandinavier äuſsert sich in der Sprache. Scherer, Zur Gesch. der deutschen Sprache, 2. Aufl. 1878, S 179 u. ö. Zimmer, Ostgermanisch u. Westgermanisch, in d. Z f. deutsches Altertum XIX 461. Sie äuſsert sich in der Gemeinsamkeit einzelner Völkerschaftsnamen. Grimm, Gesch. der deutschen Sprache S 469. 699. 739. Munch (Clauſsen), Die nord.-germ. Völker S 49. Jahn, Burgundionen I 4 Anm 1. 2. Sie äuſsert sich in einer vereinzelten historischen Thatsache. Wie Procop berichtet, zog ein Teil der Heruler nach der Niederlage, die sie durch die Langobarden erlitten, unter der Führung von Mitgliedern des Königsgeschlechtes durch die Gebiete der Slaven, Warnen und Dänen an die Küste der Ostsee, wo sie sich einschifften, um nach Thule zu fahren und sich dem Volke der Gauten anzuschlieſsen. Zeuſs, Die Deutschen und ihre Nachbarstämme S 481.


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§ 6. Das deutsche Volk.

gewendet, um die an der Volkssprache festhaltenden Deutschen von ihren verwälschten Stammesgenossen zu unterscheiden 4.

Trotz der politischen Zersplitterung bestand wenigstens bei den Westgermanen ein Bewuſstsein der Zusammengehörigkeit. Es äuſsert sich in einer Sage über die Abstammung und Gliederung des Volkes, laut welcher die Germanen nach den drei Söhnen des ersten Menschen Mannus in die Hauptstämme der Ingväonen, Istväonen und Herminonen zerfallen 5. Wie die vielen Völkerschaftsnamen, die uns bei den Alten genannt werden, sich unter diese drei Gruppen verteilen, muſs als zweifelhaft dahingestellt bleiben. Die Ostgermanen sind in jener Stammsage schwerlich inbegriffen. Für ziemlich sicher darf gelten, daſs die Ingväonen den Kern jener Völkerschaften in sich fassen, die uns später als Sachsen und Friesen entgegentreten, während die Istväonen am Rhein aus Völkerschaften bestanden, die nachmals in den Stamm der Franken aufgingen, und den Herminonen u. a. die Schwaben, Baiern und Thüringer zufallen.

Bei den römischen Schriftstellern, welche den Namen der Sueben in vielfach schwankender Anwendung gebrauchen, begegnet uns eine Scheidung der Germanen in suebische und nichtsuebische Völkerschaften, von welchen jene als die älteren, diese als die jüngeren

4 Die älteste Fundstelle ist der Bericht der Annales Laurissenses zum Jahre 788, MG SS I 172, 29 über die Verurteilung Tassilos wegen des Verbrechens, quod theodisca lingua harisliz dicitur. Der betreffende Teil der Annalen ist jedenfalls noch bald nach 788 entstanden (Wattenbach, Geschichtsquellen 5 I 184) und der Bericht vermutlich auf Grundlage eines amtlichen, über die Verurteilung Tassilos aufgenommenen Aktenstückes abgefaſst worden. Vgl. Barchewitz, Königsgericht zur Zeit der Merowinger u. Karolinger, 1882, S 44 ff. — Genau in derselben Wendung begegnet uns das Wort in Karls d. Gr. Capit. ital. von 801 Nr 98 c. 3, I 205: quod nos teudisca lingua dicimus herisliz. — Als älteste Stelle zitieren Grimm, Grammatik I 3, 1840, S 13 und Waitz, VG V 8 Anm 2 Conc. Turon. v. J. 813 c. 17, Mansi 14, 85: transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Theotiscam. — Zur Bezeichnung der Volksangehörigkeit Muratori, Ant. II 971, Urk. von 843: vassi domnici tam Teutisci quam et Langobardi. — Diutisc, alts. thiudisc, bedeutet ursprünglich gentilis, popularis. Grimm, Grammatik I 3 12 und WB II 1043. 1048. 1144.

5 Tacitus, Germ. c. 2. Als andere Gruppennamen werden daselbst die der Marser, Gambrivier, Sueben und Vandalen genannt. Plinius, Nat. hist. IV 28 nennt fünf genera Germanorum, nämlich die drei Stämme der Taciteischen Stammsage, die Vandili und als quinta pars die Peucini und Bastarnae. Die Herminones kennt bereits Pomponius Mela neben Kimbern und Teutonen als ultimi Germaniae. Die tres fratres Erminus (Irmin), Inguo und Istio legt auch eine um 520 in Gallien aufgezeichnete Völkerstammtafel zu Grunde. Das H in Herminonen ist nach Müllenhoff, Z f. DA IX 245 ff. nicht wurzelhaft.


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betrachtet werden dürfen. Soweit der Suebenname nur auf westgermanische Völkerschaften bezogen wird 6, scheint er sich mit der Gruppe der Herminonen zu decken. Auf einen engeren Zusammenhang suebischer Völkerschaften weist wohl der Name der unstreitig suebischen Markomannen hin, als der Hüter der einem gröſseren Völkerverbande gemeinsamen Grenze. Unabhängig von dem Gegensatze der suebischen und nichtsuebischen Völkerschaften ist die viel jüngere Scheidung der Westgermanen in Hochdeutsche und Niederdeutsche. Sie beruht hauptsächlich auf einer Verschiebung der gemeingermanischen Lautstufen, welche zuerst und zwar vermutlich zu Anfang des 6. oder gegen Ende des 5. Jahrhunderts bei den Baiern, Schwaben und Langobarden eintrat und dann allmählich auch das mittlere Deutschland ergriff 7.

Zwischen stammverwandten Völkerschaften bestanden religiöse Verbände, welche durch die gemeinsame Verehrung einer Stammesgottheit und durch gemeinsame Kultusstätten zusammengehalten wurden 8. Ein Hain im Gebiete der Semnonen zwischen Oder und Elbe war das Stammesheiligtum der suebischen Völkerschaften. Es war dem arischen Himmelsgotte, dem germanischen Ziu geweiht, dessen besondere Verehrung sich in den ältesten europäischen Sitzen der Germanen als eigenartiger Kultus der Sueben 9 erhielt, als die übrigen Stämme jüngere Götter an die Spitze ihrer Göttersysteme gesetzt hatten. Die ingväonischen Völker besaſsen auf einer Insel der Nordsee eine der Göttin Nerthus gewidmete Kultusstätte. Die gotischvandalischen Stämme hatten ihren religiösen Mittelpunkt in dem heiligen Hain der Naharvalen, wo sie ein jugendliches Brüderpaar als Stammesgottheit verehrten. Wodan, ursprünglich der Gott des Stur-

6 Tacitus, der die Sueben Germ. c. 38—46 behandelt, rechnet auch die Ostgermanen zu ihnen.

7 Scherer, Gesch. der deutschen Litteratur S 39 läſst sie um das Jahr 600, Arnold, Urzeit S 37 schon im 5. Jahrh. eintreten. Die Veränderung hat, wie Scherer bemerkt, einen bestimmten örtlichen Ausgangspunkt. Da sie uns in der ersten Hälfte des 7. Jahrh. bei den deutschen Wörtern des langobardischen Edikts begegnet, da ferner kaum zu vermuten ist, daſs die Langobarden erst in Italien, wo sie durch rätisch-romanische Bevölkerung von Baiern und Schwaben getrennt waren, in die Lautverschiebung hineingezogen wurden, so bleibt es das Wahrscheinlichste, daſs die Abzweigung des Hochdeutschen schon gegen Ende des 5. oder zu Anfang des 6. Jahrh. begann, als die Langobarden noch in Rugiland und Böhmen, also in der Nachbarschaft der Baiern hausten.

8 Müllenhoff in Schmidts Z f. Geschichtswissensch. VIII 209. Sohm, Reichsu. Gerichtsverfassung I 2 f. Scherer a. O. S 8 f.

9 Die Semnonen hielten sich für die ältesten Sueben. Tacitus, Germ. c. 39.


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mes, war zunächst von den Istväonen als Stammesgott zum höchsten Träger ihres religiösen Bewuſstseins erhoben worden, ehe er bei den übrigen Germanen die Stellung des Obergottes erlangte. Nachrichten kirchlicher Schriftsteller bezeugen uns die Bedeutung des gemeinsamen Kultus bei den deutschen Stämmen, die das Heidentum am längsten bewahrt haben, bei den Friesen und Sachsen. Die friesische Insel Helgoland ist noch im 8. Jahrhundert als Stätte allgemeiner Verehrung dem Gott Fosite geweiht, nach welchem sie Fositesland genannt wird 10. Ein im 10. Jahrhundert verfaſstes Heiligenleben berichtet von einer mit Opfern eröffneten Stammesversammlung der heidnischen Sachsen 11.

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Mommsen, Die Conscriptionsordnung der röm. Kaiserzeit, Hermes XIX 1 ff. 210 ff. J. Marquardt, Röm. Staatsverwaltung II, 2. Aufl. 1884, Abschn.: Militärwesen. Heinrich Richter, Das weström. Reich, bes. unter den Kaisern Gratian, Valentinian II. und Maximus (375—388), 1865, S 180 ff. Böcking, Notitia dignitatum (nebst Kommentar), 1839—1853. Jung, Die romanischen Landschaften des röm. Reichs, Studien über die innere Entwicklung der römischen Kaiserzeit, 1881. v. Wietersheim, Gesch. der Völkerwanderung, 2. Aufl. besorgt von Dahn 1880, I 283 ff. v. Bethmann-Hollweg, Der germanisch-romanische Civilprozeſs I 109. Burckhardt, Die Zeit Constantins d. Gr., 2. Aufl. 1880. Giraud, Essai sur l’histoire du droit français au moyen âge I 147 ff., 1846. Léotard, Essai sur la condition des barbares établis dans l’empire romain au quatrième siècle, 1873.

Der Gegensatz zwischen Römern und Germanen fand seine endliche Lösung, indem die westliche Hälfte des römischen Reiches in eine Anzahl germanischer Staaten auseinanderfiel. Das Stück Weltgeschichte, welches diesem Ergebnis eines halbtausendjährigen Kampfes vorausging, und das Ergebnis selbst, insbesondere die Art, wie die germanischen Staatsbildungen sich in die Trümmer der römischen Kultur hineinschoben, kann man sich nicht zu vollem Verständnis bringen, wenn man die Kette der äuſseren Ereignisse vor sich abrollen läſst, ohne das gleichzeitige Wachstum der germanischen Elemente im Innern des römischen Reiches ins Auge zu fassen. Der römische Occident würde seinen gefährlichsten Feinden schon früher erlegen sein, hätte nicht seit Beginn der Germanenkriege ein unablässiges Einströmen germanischen Blutes in den alternden Körper des Reiches stattgefunden. Und die Gründung und Ausbreitung germanischer Staaten auf römischer Erde würde ganz anders ausgefallen

10 v. Richthofen, Untersuchungen über friesische Rechtsgesch. II 423 ff.

11 Hucbaldi Vita s. Lebuini, MG SS II 361.


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sein, wäre ihr nicht eine allmähliche Germanisierung des römischen Staates und des römischen Heeres vorangegangen.

Die Groſsthaten Armins hatten nur den erheblicheren Teil Germaniens vor der Fremdherrschaft gerettet. Neben dem freien Germanien gab es ein römisches, welches aus den beiden Rheinprovinzen Ober- und Niedergermanien bestand. Die deutschen Stämme, die hier unter der Herrschaft der römischen Provinzialverfassung einer raschen Romanisierung entgegengingen, waren die Triboker, Nemeter, Vangionen, die chattischen Mattiaker, wenigstens ein Teil der Usiper, die stets römerfreundlichen Ubier und die von Tiberius gewaltsam verpflanzten Sugambern 1. In einer privilegierten Sonderstellung 2, aber noch in Reichsunterthänigkeit 3 befanden sich die im Rheindelta seſshaften Bataver, die Kannenefaten und die Friesen, deren westliche Gaue etwa bis zur Yssel, bei dem Reiche verblieben, als Kaiser Claudius das übrige Friesland aufgab. In Obergermanien erstreckte sich die römische Herrschaft dauernd über einen Teil des rechten Rheinufers. Um den Grenzverkehr zu überwachen, legten die Römer hier eine Grenzsperre an, die als obergermanischer limes bei Rheinbrohl oberhalb Remagen begann und als rätischer limes bei Kehlheim an der Donau endete. Noch innerhalb des limes saſsen am Taunus die Mattiaker, bei welchen seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts römische Municipalverfassung nachzuweisen ist 4, während weiter südlich im Neckargebiet, in den bei Tacitus sogenannten agri decumates germanische Völkerschaften nicht geduldet wurden.

Andere Teile des Reiches, darunter Gallien, Britannien, die Donauländer und Italien, wurden infolge der römischen Siege durch innere Kolonisation mit germanischer Bevölkerung durchsetzt. Schon seit den Kimbernkriegen füllten die Verknechtung der Kriegsgefangenen und der Gewerbebetrieb römischer Händler Italien und die Provinzen mit germanischen Sklaven. Wahrscheinlich aus Anlaſs des Markomannenkrieges entstand für die Behandlung überwältigter Feinde das eigenartige Rechtsverhältnis des Kolonats, welches zwischen Freiheit und Knechtschaft in der Mitte stehend sich als Hörigkeit darstellt. Der Kolone ist nach der Theorie persönlich frei, kann Vermögen erwerben und zahlt von dem Grundstück, das er zu bebauen hat, bestimmte

1 Manche vermuten, daſs aus ihnen die Cugerni hervorgegangen seien. Schröder, Herkunft der Franken, Histor. Z NF VII 3 ff.

2 Mommsen, Römische Geschichte V 110 ff.

3 Denn sie werden zu den Auxilien der augustischen Heerverfassung ausgehoben.

4 Mommsen, Römische Geschichte V 135.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 3


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Abgaben an den Grundherrn. Andrerseits ist er als membrum terrae an die Scholle gebunden 5 und ist diese Gebundenheit eine erbliche. Die Ansiedlung von Kolonen diente zur Ausfüllung der Lücken, welche die Barbareneinfälle im Verein mit dem Druck der Rekrutierung und der Verwaltung in die Reihen des römischen Bauernstandes rissen. Der Kolonat ergänzte aber nicht bloſs den römischen Bauernstand, sondern auch die römische Armee, denn die Grundherren waren verpflichtet, ihre Kolonen als Rekruten zu stellen. Ausgehobene Kolonen bildeten den Kern der Heere, mit welchen das Reich die Schlachten der Völkerwanderung schlug 6. Die Entstehung des Kolonats ist streitig 7. Daſs er auf germanische Einflüsse zurückzuführen sei, hat vieles für sich. Denn die Gebundenheit und die Erblichkeit des Verhältnisses sind unrömische Züge. Vermutlich war es gerade die Rücksicht auf die Einstellung in das Reichsheer, welches Unfreie grundsätzlich ausschloſs, daſs man die Barbaren nicht als Knechte, sondern als rechtlich freie, aber an die Scholle gebundene Kolonen ansiedelte 8. Wie dem auch sei, Thatsache ist, daſs zahlreiche Germanen, ja ganze Völkerschaften auf römischem Boden namentlich in den Grenzprovinzen als Kolonen unter die Grundbesitzer und auf den kaiserlichen Domänen verteilt wurden 9, um dem Reiche Bauern und Soldaten zu liefern.

Höher als die Kolonen 10 stehen die seit dem Ausgang des dritten Jahrhunderts begegnenden Laeti 11, geschlossene Haufen von über-

5 Cod. Just. XI 48, 23. Über die Stellung der Kolonen s. Karlowa, Röm. RG S 918 f.

6 Mommsen, Conscriptionsordnung, Hermes XIX 18.

7 v. Savigny, Vermischte Schriften II 1. Zumpt, Die Entstehung und hist. Entwicklung des Kolonats, Rhein. Museum 1843 III 1. Giraud a. O. S 148. Revillout, Histoire du colonat, Revue hist. de droit français et étranger 1857 III 216. Mommsen im Hermes XV 408. Jung a. O. S 357. Heisterbergk, Die Entstehung des Kolonats, 1876. Mommsen, Römische Geschichte V 216. Fustel de Coulanges, Recherches sur quelques problèmes d’histoire, 1885. Esmein, Mélanges d’hist. du droit, 1886, S 293. Karlowa, Röm. RG S 918 f.

8 Vgl. Mommsen, Hermes XV 408, XIX 18.

9 Cod. Theod. V 4, 3: Scyras barbaram nationem … imperio nostro subegimus. Ideoque damus omnibus copiam ex praedicta gente hominum agros proprios frequentandi, ita ut omnes sciant susceptos non alio iure quam colonatus apud se futuros.

10 Im 5. Jahrh. gilt die Ehe der Läten mit Kolonen für eine ungleiche Ehe, aus welcher die Kinder dem Herrn der Kolonen zufallen. Nov. Severi II 1 bei Haenel c. 338, aber nur lückenhaft. Vervollständigt bei Bluhme, MG LL III 624.

11 Böcking, Notitia dignitatum II 1044. Giraud, Essai I 184. v. Bethmann-Hollweg a. O. S 113. v. Wietersheim I 322.


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§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.

rheinischen Germanen und ihren Nachkommen, welche auf öffentlichen Ländereien angesiedelt sind. Sie bewirtschaften Grundstücke, terrae laeticae, welche sie nicht veräuſsern dürfen, müssen dafür Kriegsdienste leisten, darben der Freizügigkeit und sind einem praefectus laetorum untergeordnet. Das Verhältnis der Läten ist ein erbliches. Im übrigen ziemlich unabhängig, hatten sie korporative Verfassung12 und lebten, wie es scheint, in ihren gegenseitigen Rechtsbeziehungen nach heimischem Rechte. Die Anweisung lätischer Ländereien war rechtlich dem Kaiser vorbehalten. Doch haben gegen Ende des vierten Jahrhunderts die angesiedelten Läten Grundstücke ohne kaiserliche annotatio okkupiert oder durch Konnivenz der städtischen Behörden zu erwerben gewuſst, Miſsbräuche, welchen eine Konstitution des Kaisers Honorius von 399 zu steuern sucht13. Das römische Ämterverzeichnis vom Anfang des fünften Jahrhunderts nennt zwölf lätische Präfekturen, die unter dem magister militum praesentalis a parte peditum stehen und sich ausnahmlos in Gallien und zwar zumeist in den beiden Belgien befinden14. Soweit die Ursprungsnamen der einzelnen lätischen Truppenkörper angegeben sind, weisen sie in der Mehrzahl auf fränkische Abstammung hin. Das Wort Läten ist germanischer Herkunft15. Es bedeutet bei den Franken, Friesen und Sachsen die Halbfreien, kann dagegen bei den Oberdeutschen und bei den ostgermanischen Stämmen nicht oder doch nicht als bodenständig nachgewiesen werden. Wahrscheinlich führt die Entstehung des Instituts auf die Ausnutzung der ersten Römersiege über die Franken zurück.

Verwandt mit den Läten sind die Gentilen, gleichfalls angesiedelte barbarische Truppenkörper, welche seit der zweiten Hälfte

12 In Nov. Severi cit. a. 465 werden sie zu den corpora publicis obsequiis deputata gezählt.

13 Cod. Theod. XIII 11, 10: Quoniam ex multis gentibus sequentes Romanam felicitatem se ad nostrum imperium contulerunt, quibus terrae laeticae administrandae sunt, nullus ex his agris aliquid nisi ex nostra annotatione mereatur. Et quoniam aliquanti aut amplius, quam meruerant, occuparunt, aut colludio principalium vel defensorum vel subrepticiis rescriptis maiorem quam ratio poscebat, terrarum modum sunt consecuti, inspector idoneus dirigatur, qui ea revocet, quae aut male sunt tradita aut improbe ab aliquibus occupata. Ein Summarium zum Codex Theodosianus faſst nicht bloſs die Läten, sondern alle eingedrungenen Barbaren und ihre Besitzverhältnisse ins Auge, indem es die Konstitution von 399 folgendermaſsen summiert: peregrini occupantes Romanam provinciam nullum beneficium accipiant, nisi eis principalis indulgentia concesserit. Antiqua summaria codicis Theodos. ed. G. Haenel S 47 c. 9. Vgl. Fitting in der Z f. RG X 337 f.

14 Notitia dignitatum ed. Seeck 1876 S 216 f.

15 Näheres unten § 14 S 101 ff.

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§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.

des vierten Jahrhunderts vorkommen. Die Gentilenhaufen stehen unter praefecti gentilium, liegen meist in Italien, auſserdem in Gallien und werden vorzugsweise als Sarmatae, nur vereinzelt als Taifali und Suevi bezeichnet. Augenscheinlich wurden sie aus sarmatischen und germanischen Völkerschaften der Donaulandschaften gebildet, welchen der Lätenname fremd war. Wie die rechtliche Stellung der Gentilen sich von derjenigen der Läten abhob, ist unsicher. Sie dürfte minder selbständig gewesen sein. Jedenfalls standen sie tiefer im Range. Auch waren vermutlich ihre agrarischen Verhältnisse anders geordnet16.

Die römische Sitte, Grenzländereien ausgedienten Soldaten anzuweisen, war seit Alexander Severus dahin ausgebildet worden, daſs die Vererbung der angewiesenen Grundstücke an die Übernahme des Grenzdienstes geknüpft und somit die Erblichkeit des letzteren angebahnt wurde17. Die spätere Kaiserzeit führte das System kolonisierter und erblicher Grenzmilizen vollständig durch, indem die Grenzen ausschlieſslich mit milites limitanei, castellani besetzt wurden, erblich angesiedelten Soldaten, die das Grenzland zu bebauen und die Grenze zu verteidigen hatten. Diese Maſsregel vermittelte und beförderte die allmähliche Germanisierung römischer Grenzgebiete, seit mit der Zahl der Germanen im römischen Heere der Prozentsatz gestiegen war, den sie zur Ansiedlung von Grenzsoldaten stellten.

Auf eine Auslieferung des Reiches an die Germanen lief es hinaus, als man sich gezwungen sah, ganze Stämme, wie die Westgoten und Burgunder, innerhalb der Reichsgrenzen aufzunehmen und ihnen gegen Anerkennung der kaiserlichen Oberhoheit Wohnsitze zu überlassen oder einzuräumen, die sie für sich und das Reich zu verteidigen hatten. Sie blieben in ihrem nationalen Verbande, standen unter ihren heimischen Fürsten und hatten die staatsrechtliche Stellung von foederati. Die Truppen, welche sie dem Reiche lieferten, gleichfalls foederati genannt, galten nicht als Teil des Reichsheeres, wurden überhaupt nicht als ständige Truppen vom Reiche erhalten, sondern nur in Dienst genommen, wenn und solange man sie brauchte.

Zum Teil als Folge der Ansiedlung von Germanen, zum Teil

16 Seeck, Not. dignit. S 218 f. Mit batavischen Läten sind suebische Gentilen zu einer lätischen Präfektur vereinigt in Not. dign. Occ. 42, 34. Die praefecti laetorum gentilium Sueuorum a. O. 42, 35. 44 und der praefectus laetorum gentilium 42, 42 sind entweder gleichfalls auf gemischte Truppenkörper zu beziehen oder daraus zu erklären, daſs der ganze Truppenkörper (vielleicht infolge der Mischung) in gewissen Beziehungen lätische, in anderen gentilische Verfassung hatte.

17 Marquardt a. O. S 611.


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§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.

unabhängig von ihr vollzog sich die Germanisierung des römischen Heeres.

Schon in dem Heere, welches Pompejus gegen Mithradates führte, dienten Germanen. Bei Pharsalos fochten Germanen auf Seite Cäsars, der aus ihnen eine nach germanischer Art aus Fuſsvolk und Reiterei gemischte Truppe gebildet hatte. Da die römischen Legionen grundsätzlich nur aus römischen Bürgern gebildet wurden, muſs die Aufnahme von Germanen in den Legionsverband durch den Erwerb des Bürgerrechts vermittelt worden sein, welches zu verleihen der Feldherr die auſserordentliche Befugnis hatte18.

Die innerhalb der Reichsgrenzen seſshaften Germanen waren der Konskription unterworfen und stellten, da die Konskription wenigstens zeitweise bei ihnen stärker war wie anderwärts, ein beträchtliches Kontingent zu den Auxilien, so lange diese gemäſs der augustischen Heerordnung aus den Unterthanen peregrinischen und latinischen Rechtes gebildet wurden.

Hauptsächlich aus Germanen und zwar besonders aus Batavern bestanden die custodes corporis, die berittenen Leibwächter des princeps, welche bei ihm den unmittelbaren Sicherheitsdienst versahen. Sie hieſsen auch schlechtweg Germani oder Batavi. Persönlich unfrei, werden sie rechtlich nicht zum Heer, sondern zum kaiserlichen Gesinde gerechnet. Im ersten Schrecken der Varusschlacht wurden sie von Augustus aufgelöst, bald wieder hergestellt, dann aber von Galba beseitigt, um in anderer Form wieder aufzuleben. Eine Neubildung der germanischen Leibwache sind nämlich die equites singulares19, ein militärisch organisiertes Truppencorps, welches spätestens seit Hadrian besteht und aus freigeborenen Germanen und anderen Provinzialen zusammengesetzt ist20.

Unter den Prätorianern waren die Germanen nicht oder kaum, wohl aber unter den Hoftruppen der gentiles und scutarii vertreten, welche nach Vernichtung der Prätorianer als Ersatz derselben gebildet worden sind. Als die Zeit ihrer Vorherrschaft im Reiche gekommen war, erschienen die Germanen auch in der Nobelgarde der kaiserlichen protectores, deren Dienst den Weg zu den einfluſsreichsten Staatsämtern zu eröffnen pflegte.

18 Mommsen, Conscriptionsordnung S 12 f.

19 Mommsen, Schweizer Nachstudien im Hermes XVI 458; derselbe, Conscriptionsordnung a. O. S 29. Marquardt a. O. S 488.

20 „Es scheint sogar im gewöhnlichen Leben diesem Truppenkörper der Name der Germanen geblieben zu sein.“ Mommsen, Hermes XVI 459.


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§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.

Innerhalb der nationalen Elemente, von welchen das römische Militärwesen seit seiner allmählichen Barbarisierung getragen wird, läſst sich ein gewisser Gegensatz der gallisch-germanischen und der illyrisch-thrakischen Truppen nicht verkennen. Er muſs bei der Rivalität zwischen der Rhein- und der Donauarmee eine maſsgebende Rolle gespielt haben. Zunächst haben nicht die Germanen, deren entschiedene Begünstigung nach dem Sturz der claudischen Dynastie eine Unterbrechung erfuhr, sondern haben die Illyrier die Oberhand gewonnen. Nachdem Septimius Severus den Schwerpunkt der Konskription nach Pannonien und Thrakien verlegt hatte, ward im dritten Jahrhundert die illyrische Soldateska die Herrin des Reiches, welches aus ihren Reihen eine Anzahl seiner kräftigsten Imperatoren empfing21. Seit Konstantin tritt dann eine Wendung ein, welche die Germanen in die Höhe bringt. Vornehmlich dem Einfluſs eines Alamannenkönigs hatte es Konstantin zu danken, daſs ihn das britannische Heer zum Imperator ausrief. In den Kämpfen gegen Maxentius und gegen den Illyrier Licinius hatten die Germanen ihm wesentliche Dienste geleistet. Ein Eintreten für die Traditionen des altrömischen Kultus war bei ihnen nicht zu besorgen. So lag es denn in der Natur der Verhältnisse, daſs Konstantin jene besondere Vorliebe für die Germanen bethätigte, welche ihm von seinem Nachfolger Julian zum Vorwurf gemacht worden ist.

Veränderungen in der Organisation des Heerwesens beförderten dessen Barbarisierung, so die Bildung geschlossener nationaler Truppenkörper (numeri und cunei22), die Werbung und Pressung von Söldnern aus reichsfremden Völkerschaften, durch welche nunmehr die „Auxilien“ gebildet werden23, ebenso die Trennung des höheren Zivilund Militärdienstes, welche den Germanen den Zugang zu den höheren Offizierstellen erleichterte.

21 Mommsen, Conscriptionsordnung S 55; Röm. Gesch. V 228.

22 Mommsen, Conscriptionsordnung S 219. 231. Der cuneus hat seinen Namen vermutlich der germanischen Heeresordnung entlehnt. Als Bezeichnung einer Heeresabteilung verwendet den Ausdruck noch Gregor von Tours IV 48. Siehe Z2 f. RG V 227. Nach der älteren Vita Vedasti (bald nach 540 verfaſst), bei v. Schubart, Die Unterwerfung der Alamannen unter die Franken S 212, treten dem fränkischen Heere in der Nähe des Rheins die Keile der Alamannen, hostium chunei, entgegen.

23 Das Wort hat eine andere Bedeutung gewonnen. Die im Ausland geworbenen oder aus den Reihen besiegter Feinde zwangsweise eingestellten Auxiliarmannschaften wurden nicht wie die aus Unterthanen ausgehobenen Auxilien der augustischen Heerordnung zum eigentlichen Reichsheere gerechnet. Über das Militärwesen seit Konstantin fehlt es leider an genügenden Untersuchungen.


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§ 7. Das Germanentum im römischen Reich.

Barbarische Soldatennamen nehmen seit dem dritten Jahrhundert mehr und mehr zu. Die in Armins Zeiten übliche Annahme italischer Namen unterbleibt. Vom vierten bis sechsten Jahrhundert ist barbarus technische Bezeichnung des Soldaten, ja der Militärfiskus wird gelegentlich als fiscus barbaricus bezeichnet24. Germanische Sitte dringt in das römische Heer ein. Echt germanische Züge sind es, wenn die Truppen den Feldherrn, den sie zum Augustus ausrufen, auf den Schild erheben, wie dies über Julian und Valentinian I. berichtet wird25, oder wenn das römische Heer i. J. 377 eine Schlacht gegen die Westgoten mit dem Schildgesang eröffnet.

Das letzte Jahrhundert der römischen Geschichte darf man dreist als das Jahrhundert der Germanenherrschaft bezeichnen. Denn Germanen sind es, die im Besitze der höchsten Ämter thatsächlich das Heer und den Staat regieren. Um nicht Gestalten zweiten Ranges zu nennen genügt es, auf die Franken Merobaudes und Arbogast, auf den Vandalen Stilicho, auf den Sueben Ricimer, auf den Burgunder Gundobad und auf den Goten Aspar zu verweisen, glänzende Heerführer und Staatsmänner germanischer Abstammung, welchen aus der Zeit der letzten Entscheidungskämpfe der aus Niedermösien stammende Aëtius gewissermaſsen als letzter Vertreter römisch-illyrischen Soldatentums gegenübergestellt werden darf.

Indem es durch die Germanen gleichzeitig von auſsen zertrümmert und von innen heraus aufgelöst wurde, ist das weströmische Reich zu Grunde gegangen. Der gröſste Teil seines Gebietes war an die feindlichen oder an die föderierten Germanenstämme verloren gegangen, die Idee einer das West- und Ostreich verbindenden Gesamtherrschaft zur Illusion geworden, als ein Akt der inneren Auflösung, eine Meuterei germanischer Soldtruppen, der römischen Herrschaft auch in Italien ein Ende machte. Das aus Skiren, Rugiern, Herulern, Goten, Vandalen und anderen Völkerschaften zusammengesetzte Söldnerheer empörte sich unter der Führung Odovakers, der den letzten im Westreich anerkannten Kaiser beseitigte und den Königstitel annahm26.

24 Marini, Pap. dipl. Nr 73. Spangenberg, Tabulae negotiorum S 371.

25 Grimm, Rechtsaltertümer S 234. 235.

26 In der einzigen von ihm erhaltenen Urkunde einer pagina donationis regiae, regiae largitatis (Marini Nr 83; Spangenberg S 164) urkundet Odovaker als rex. Das Diplom ist von einem notarius regni eius, regiae sedis geschrieben und iussu regio von dem magister officiorum et consiliarius domini regis Andromachus unterschrieben. Die Kurie, bei der die Schenkung insinuiert wird, handelt secundum praecepta regalia.


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§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.

Kaspar Zeuſs, Die Deutschen und die Nachbarstämme, 1837. Jakob Grimm, Gesch. der deutschen Sprache, 4. Aufl. 1880. Arnold, Ansiedelungen und Wanderungen deutscher Stämme, 1875. Baumann, Schwaben u. Alamannen, ihre Herkunft und Identität, Forschungen zur deutschen Gesch. XVI 215. Schröder, Die Herkunft der Franken, historische Z NF VII 1 ff.; derselbe, Die Franken und ihr Recht, Z2 f. RG II 1 ff. Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer, 1834. Riezler, Gesch. Bayerns I, 1878. Platner, Über die Art der deutschen Völkerzüge zur Zeit der Wanderung, Forschungen XX 165.

Die Goten, welche ehemals an der Weichsel saſsen, erschienen zu Anfang des dritten Jahrhunderts in den Gegenden der unteren Donau. Ihr Aufbruch von den Gestaden der Ostsee muſs bald nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts erfolgt sein; denn als eine Folge der gotischen Wanderung erklärt sich die nachhaltige Angriffsbewegung, in welcher die Donausueben und ihre Verbündeten sich während des Markomannenkrieges (166—180) von Illyrien bis Gallien über die Grenzen des römischen Reiches ergossen. Als Vorboten des beginnenden Sturmes zogen zunächst abgesprengte Schwärme von Markomannen und anderen Völkerschaften, darunter ein Haufe des an der unteren Elbe seſshaften Langobardenvolkes, bis nach Pannonien, um von den Römern Wohnsitze zu erbitten. Bald darauf erfolgte ein allgemeiner Einbruch germanischer und sarmatischer Völkerschaften, welche der Zug der Goten auf seiner rechten Flanke gestreift oder aufgescheucht haben mag. Der Hauptstoſs ging von den Markomannen und Quaden aus, östlich von ihnen drangen Sarmaten und ostgermanische Stämme, darunter die Vandalen und die gotischen Victovalen vor. Aber auch in westlicher Richtung hatte die Bewegung sich fortgepflanzt: neben den westlich von den Markomannen wohnenden Nariskern sind noch die Hermunduren und die Chatten an ihr beteiligt. Durch die höchste Anspannung seiner Kräfte vermochte das römische Reich den Angriff abzuwehren, den die Germanen mit einer Hartnäckigkeit führten, wie keinen zuvor. Allein der zurückgestaute Strom der Völkerbewegung, welche Mark Aurel an der mittleren Donau zum Stehen gebracht hatte, teilte sich hinter dem Rücken der Markomannen in zwei Arme, indem er sich ein südöstliches und ein südwestliches Abfluſsbette grub. Etwa drei Jahrzehnte nach Beendigung des Markomannenkriegs treten den Römern am Schwarzen Meere die Goten und gleichzeitig am Main die Alamannen als neue Feinde entgegen.

Die bunte Völkerkarte des westlichen und mittleren Germanien, wie sie uns die Berichte von Strabo und Ptolomaeus, von Plinius und Tacitus


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§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.

darbieten, erfährt seit dem dritten Jahrhundert eine wesentliche Vereinfachung. Die zahlreichen Völkerschaften beginnen allmählich zu verblassen und zu verschwinden und neue Namen von umfassenderer Bedeutung treten an ihre Stelle. Es sind die Namen der groſsen Stämme, in welche das deutsche Volk, soweit seine nationale Überlieferung zurückreicht, ethnographisch und lange Zeit hindurch auch politisch zerfiel. Der Kristallisationsprozeſs hat sich bei den verschiedenen Stämmen zu verschiedenen Zeiten vollzogen. Erst zu Anfang des sechsten Jahrhunderts liegt uns die vollständige Stammeskarte in quellenmäſsiger Begründung vor Augen. Allein der Beginn der Entwicklung geht wahrscheinlich auf Verschiebungen zurück, welche um die Zeit des Markomannenkriegs unter den Völkerschaften zwischen Weichsel und Elbe stattgefunden haben.

Von den neuen Stammesnamen wird am frühesten der der Alamannen genannt1. Es müssen suebische Völkerschaften gewesen sein, die sich als Alamannen vereinigt haben. Die Namen Schwaben und Alamannen werden in der Folge als gleichbedeutend gebraucht; nur der erstere hat sich im Volksmunde erhalten, während der letztere im Munde der Franzosen zum Namen aller Deutschen geworden ist. Näher läſst sich die Abstammung der Alamannen nicht mit Sicherheit bestimmen. Die Sondernamen, mit welchen einzelne Zweige der Alamannen gelegentlich genannt werden, geben darüber keinen Aufschluſs. Von den Völkerschaften, die schon früher in den Rhein- und Maingegenden saſsen, mögen die Tenkterer, Usiper und Tubanten2 sich dem Bunde angegliedert haben und in ihm aufgegangen sein. Allein die bindende und treibende Kraft desselben ist wohl von Osten gekommen. Höchst wahrscheinlich ist sie in dem mächtigen Volke der Semnonen zu suchen, welches vielleicht schon um die Zeit des Markomannenkriegs sich von der mittleren Elbe gegen Südwesten vorzuschieben begann3. Im Jahre 213, zu welchem die Alamannen zuerst

1 Der Name deutet auf eine Bundesgemeinschaft. Asinius Quadratus nennt sie (Agathias I 6) ξύγκλυδες ἄνϑϱωποι καὶ μιγάδες.

2 Zeuſs S 305. Grimm läſst sie Gesch. d. DSpr S 374. 412 zu Franken werden.

3 Wenn die weiter nordwestlich seſshaften Langobarden von der Bewegung ergriffen wurden, so daſs ein Schwarm derselben in Pannonien erschien, liegt die Vermutung nahe, daſs auch die Semnonen nicht in Ruhe blieben. Die Nachricht des Dio Cassius über die Quaden, die in ihrer Bedrängnis zu den Semnonen auswandern wollten, möchte ich nicht mit Baumann a. O. S 223 dahin verstehen, daſs sie die leergebliebenen Sitze der bereits abgezogenen Semnonen besiedeln, sondern so, daſs sie sich dem Zuge der Semnonen anschlieſsen wollten. Wenig glaubhaft ist, daſs die Semnonen bei dem damaligen Völkergedränge in ihren alten


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§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.

erwähnt werden, gaben sie dem Kaiser Caracalla den Anlaſs, sie am Main zu bekämpfen. Nachdem sie den Grenzwall durchbrochen und den Römern das rechte Rheinufer entrissen hatten, fielen sie mehrmals verheerend in Gallien und Italien ein. Von Aurelian zurückgeworfen, von Probus angegriffen und besiegt, vermögen sie sich dennoch jenseits des limes zu behaupten. Auf das nachdrücklichste beschäftigen sie Julian, der ihnen 357 bei Straſsburg eine empfindliche Niederlage beibringt. Obwohl noch mehrmals überwunden haben die Alamannen schlieſslich das römische Obergermanien auf die Dauer erworben. Als die Burgunder vom Mittelrhein nach Gallien abgezogen waren, dehnten sich die Alamannen rheinabwärts aus, bis sie mit Chlodwig zusammentrafen, der sie 496 besiegte und unterwarf. In den Kämpfen gegen Julian standen die Alamannen unter einer Mehrzahl von Königen, Chlodwig hat nur noch mit einem Alamannenkönig zu thun.

Etliche Jahrzehnte nach den Alamannen tauchen aus dem rheinischen Völkergewirre die Franken empor. So viel wie die Freien bedeutend, scheint der Name einen Gegensatz ausdrücken zu wollen zu dem Verhältnis von Unterthänigkeit, in welchem ein Teil der rheinischen Germanen zu den Römern stand oder gestanden hatte. So sehr die Vermutungen über den Ursprung der Franken auseinandergehen, so herrscht doch kaum ein Zweifel, daſs sie sich überwiegend aus Völkerschaften zusammensetzten, welche von altersher am Niederrhein als Unterthanen oder in der Nachbarschaft der niedergermanischen Provinz als oft bekämpfte und oft genannte Gegner des römischen Reiches seſshaft waren. Eine glaubwürdige Nachricht über einen römischen Feldzug vom Jahre 392 läſst die Brukterer, die Chamaven, die Amsivarier und die Chatten als Träger des Frankennamens und als Verbündete erscheinen4. Zu den Franken wurden nach sicherem Zeugnis ferner die Chattuarier gerechnet5. Aber als das wichtigste Glied der Frankengruppe treten seit der zweiten Hälfte des vierten

Sitzen überflüssigen Raum für die Quaden gehabt haben sollten. Eher, daſs die Semnonen damals (um 178) schon im Abzuge begriffen waren und Wandergenossen brauchen konnten.

4 Gregor. Tur. Hist. Franc. II 9 S 74 aus dem vierten Buche des Sulpicius Alexander: Eodem anno Arbogastis Sunnonem et Marcomere subregulos Francorum gentilibus odiis insectans Agrepinam … petiit … omnes Franciae recessus penetrandus urendusque … transgressus Rhenum Bricteros ripae proximos, pagum etiam quem Chamavi incolunt depopulatus est, nullo umquam occursante, nisi quod pauci ex Ampsivariis et Catthis Marcomere duce in ulterioribus collium iugis apparuere.

5 Ammianus Marcellinus 20, 10: Francorum, quos Attuarios vocant.


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§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.

Jahrhunderts die Salier auf. Schon in der Zeit Julians sind sie unter den Franken „primi omnium“6. Damals hatten sie Toxandrien besetzt, wurden von Julian besiegt, durften aber die eigenmächtig besiedelten Gebiete unter römischer Hoheit vermutlich als Föderaten behalten. Das römische Ämterverzeichnis von etwa 412 zählt mehrere salische Truppenkörper auf, kennt aber die Sitze der Salier nicht mehr als Bestandteile des Reiches7. Die Herkunft der Salier ist dunkel. Wahrscheinlich sind die Bataver und die Kannenefaten, vielleicht auch die Sugambern8 in sie aufgegangen9, allein die namengebende Völkerschaft scheint einst an der Yssel, in dem später sogenannten Salgau oder Salland gesessen zu haben10 und dann vermutlich von den Friesen gedrängt gegen Süden gezogen zu sein11. Mit den Saliern verschmolzen nachmals auch die Chattuarier, die im vierten Jahrhundert von ihnen noch unterschieden werden. Nach ihrem Königsgeschlechte, dem die Sage göttlichen Ursprung beilegte, hieſsen die Salier gelegentlich auch Merowingi, ihr Land Merowingia12. Bedeutend später wird in sicheren Zeugnissen der zweite groſse Zweig des Frankenstammes, das Volk der Ribuarier genannt, welche aus den alten Amsivariern und Brukterern hervorgegangen sind13. Auch die

6 Amm. Marc. 17, 8 zum J. 358: petit primos omnium Francos, eos videlicet quos consuetudo Salios appellavit ausos olim in Romano solo apud Toxiandriam locum habitacula sibi figere praelicenter.

7 Waitz, VG II 1 S 28 Anm 5. Schröder, Deutsche RG I 96.

8 Nach Müllenhoff, Z f. DA XXIII 26 ff. ist das Volk der Sugambern erloschen und habe der Name nur noch als poetische und rhetorische Wendung in der entstellten Form Sygambri oder Sigambri fortgelebt. S. dagegen Waitz, VG II 1 S 25.

9 Waitz, VG II 1 S 23. Schröder, Herkunft der Franken und Z2 f. RG II 1 ff. läſst die Salier aus Batavern, Kannenefaten und Kugernen (den Überresten der von Tiberius verpflanzten Sugambern) hervorgehen. S. noch Müllenhoff in der deutschen Litteraturzeitung 1878 Nr 11 und Lamprecht, Fränkische Wanderungen u. Ansiedlungen, vornehmlich im Rheinland, Z d. Aachener Geschichtsver. IV 189 ff.

10 Zeuſs S 329. Anderer Ansicht Schröder, RG I 95.

11 Zosimus III 6. Gegen Schröders Zweifel Waitz II 22 Anm. 3.

12 Siehe Waitz, VG II 1 S 25 Anm 2, S 33 Anm. Merewioinga im Beóvulf hsg. von Heyne, Vers 2922.

13 Über die bei Jordanes genannten Ripari (oli?) s. E. Mayer, Zur Entstehung der Lex Rib. 19 Anm. Die Ansicht Mayers, daſs erst die Lex Rib. den Unterschied zwischen Saliern und Ribuariern hervorgerufen habe, S 38, kann kaum ernst genommen werden. Siehe Schröder, RG S 97. In der Decr. Childeberti II. wird c. 14 statt des Francus der Salicus genannt, weil das Wort Francus in c. 8 bereits in anderem Sinne, nämlich als Gegensatz zur debilior persona verbraucht worden war.


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§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.

Chamaven gehörten zu ihnen, obwohl ihr Sondername sich noch länger erhielt. Die Könige der Ribuarier residieren in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts zu Köln. Den dritten Hauptstamm der Franken bilden die Chatten oder Hessen, deren Geschichte um die Zeit der Gründung des fränkischen Reiches in vollständiges Dunkel gehüllt ist.

Die Sachsen werden zuerst um die Mitte des zweiten Jahrhunderts unter mehreren die kimbrische Halbinsel erfüllenden Völkerschaften erwähnt14. Sie saſsen damals am rechten Ufer der unteren Elbe, die sie von den Chauken trennte. Erst gegen Ende des dritten Jahrhunderts gewinnt der Sachsenname umfassendere Bedeutung und wird er Gesamtname einer niederdeutschen Völkergruppe, welche sich nach Süden bis an den Harz ausdehnt und jedenfalls die Angrivarier, vermutlich auch die Chauken und die Cherusker in sich aufgesogen hat. Schon in der Zeit Diokletians machten sich die Sachsen durch Seeraub und Plünderung der römischen Küsten gefürchtet. Seit der Mitte des fünften Jahrhunderts setzen sich sächsische Schwärme im Verein mit Angeln und Jüten in dem von den Römern aufgegebenen Britannien fest, wo sie eine Anzahl selbständiger Königreiche gründen, aber schlieſslich unter der Einherrschaft der Könige von Wessex vereinigt werden und zu dem Volke der Angelsachsen erwachsen. Die Sachsen des Festlandes zerfallen in karolingischer Zeit, soweit sie links der Elbe sitzen, in die drei Gruppen der Westfalen, der Engern15 und der Ostfalen oder Osterleute. Ihnen werden die nördlichen Sachsen als Nordleute oder Nordalbinger gegenübergestellt.

Zwischen Franken und Sachsen erhielt sich an der Nordseeküste die uralte Völkergruppe der Friesen16. Drusus hatte sie unter römische Botmäſsigkeit gebracht, doch war seit Claudius der gröſsere, etwa der östlich der Yssel seſshafte Teil des Stammes davon frei geworden. Die älteste Gliederung der Friesen ist nicht ganz klar. Tacitus unterscheidet groſse und kleine Friesen, Plinius kennt Frisii und Frisiavones, eine Unterscheidung, die durch römische Militärinschriften bestätigt wird. Eine einzelne friesische Völkerschaft17 sind höchst wahrschein-

14 Der Name wird von sahs, einem kurzen Schwerte hergeleitet.

15 In ihnen hat sich der Name der Angrivarii erhalten. Er stammt von dem Worte Anger (ahd. angar) pratum, arvum. Grimm, WB I 348. Müllenhoff, Z f. DA IX 236.

16 Nach Grimm, Gesch. d. DSpr S 465 f. die Freien; nach Zeuſs S 136 die Wagenden, die Kühnen. Dazu Böcking, Not. dign. S 907 * und die daselbst zit. Stelle des Geographen von Ravenna: et audaces homines eamdem patriam proferre asserunt.

17 Denn sie dienen im cuneus Frisiorum. Z2 f. RG V 226.


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§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.

lich die auf einem Denkmal aus der Zeit des Alexander Severus (222—235) genannten Tuihanten, die dem nachmaligen Gau Twente den Namen gegeben haben. Noch vor dem Ende des dritten Jahrhunderts müssen die reichsangehörigen Friesen sich der römischen Herrschaft entledigt haben, wie aus den Unternehmungen der Franken am Niederrhein und an den Seeküsten geschlossen werden darf18. Unter den Germanen, welche Constantius (Chlorus) nach dem Siege über die Franken der batavischen Insel auf römischem Boden ansiedelte, werden auch die Friesen genannt. Seit dem Auftreten der Franken und Sachsen sind abgesehen von dieser Notiz die Friesen aus dem Gesichtskreis der römischen Historiographie verschwunden und schlieſst der Name der Sachsen bei ihr mitunter auch den der Friesen in sich. Während sie vor der Bildung der neuen Stämme westlich an die Kannenefaten stieſsen und im Osten durch die Ems von den Chauken19 geschieden wurden, haben die Friesen nachmals ihre Sitze längs der Meeresküste nach beiden Seiten ausgedehnt. In fränkischer Zeit reicht Friesland, in West-, Mittel- und Ostfriesland zerfallend, vom Sinkfal bei Brügge bis an die Weser. Später erscheinen an den Küsten und auf den Inseln des östlichen Schleswig die Nordfriesen20, deren älteste Geschichte völlig unsicher ist. Die Friesen des siebenten und achten Jahrhunderts haben vor der fränkischen Unterwerfung ein gemeinsames Königtum21.

Der Stammesname der Thüringer begegnet uns erst gegen Ende des 4. Jahrhunderts. Den Grundstock des Stammes bilden die alten Hermunduren, von welchen wir nach der Zeit des Markomannen-

18 Die Notitia dignitatum nennt Friesen nur auf Britannien, wo 40, 36 ein tribunus cohortis primae Frixagorum (Frisiavonum) erscheint. Allein nach Mommsen, Conscriptionsordn. S 234 weisen die britannischen Kapitel der Notitia keine einzige sichere Spur nachdiokletianischer Abfassung auf, und ist zu vermuten, daſs sie die militärischen Verhältnisse von etwa 300 darstellen. Daſs die von Constantius angesiedelten Friesen Rekruten stellen muſsten, wird von dem Panegyriker des Constantius (Paneg. V 9) ausdrücklich hervorgehoben.

19 Noch in der Vorrede zur Lex Fris. verwarf Richthofen diese Angabe des Ptolomaeus, indem er den pagus Hugmerki mit Grimm als Grenzgau der Friesen gegen die Chauken (Hugen) auffaſste. Allein wie er dann in den Untersuchungen über friesische Rechtsgesch. II 754 Anm 1 dargethan hat, ist hugmerki die Flur des Hug, Hug aber ein Pfahlwerk, das man in einem Flusse zum Fischfang oder zur Schlieſsung gegen das Eindringen feindlicher Schiffer errichtete.

20 Die Frisia minor des Saxo Grammaticus.

21 Im J. 677 erscheint ein König Aldgils (vgl. den Eadgils im Víđsíþ), in der Zeit Karl Martells ein König Redbad (Ratbod). v. Richthofen, Untersuchungen über friesische RG II 349 ff.


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§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.

krieges nichts mehr hören. Mit ihnen haben sich zwei niederdeutsche Völkerschaften vereinigt, nämlich die Warnen und ein Teil der Angeln. Die Zeit ihrer Zuwanderung ist unbekannt. In der Überschrift einer unter Karl dem Groſsen entstandenen Lex werden die Angeln und Warnen als Thüringer bezeichnet22. Zu Anfang des sechsten Jahrhunderts sind uns durch ein Schreiben des ostgotischen Theoderich besondere Könige der Warnen und der Thüringer bezeugt. Als der Frankenkönig Theuderich die Thüringer bekämpft, steht an der Spitze des ganzen Stammes ein einziges Königsgeschlecht, welches durch innere Zwistigkeiten gespalten ist. Gleichzeitig von Franken und Sachsen angegriffen erlagen die Thüringer, ein Teil des Landes ward sächsisch, der gröſsere fränkisch.

Den jüngsten Stammesnamen tragen die Baiern23, die nach der ansprechendsten Herleitung ihres Ursprungs aus den Markomannen und ihren Nachbarn, den Quaden und Nariskern, erwachsen sind. Unsicher bleibt, ob und in welchem Maſse ostgermanische Völkersplitter in sie aufgingen. Die Markomannen und Quaden werden zuletzt unter den Hilfsvölkern Attilas genannt24. Nach der Auflösung des Hunnenreichs scheinen sie eine Periode herulischer Herrschaft durchgemacht zu haben25. Zu Anfang des sechsten Jahrhunderts wanderten die Baiern aus Böhmen nach Westen und Süden in die Donaugegenden ein. Den Namen führen sie nach der Heimat, die sie nach mehr als halbtausendjährigem Aufenthalte verlieſsen. Baiuwarii bedeutet die Bewohner des Landes Baia, Boihaemum. Den Franken der merowingischen Zeit heiſsen sie auch Bogii26, Boii, wie die Kelten, deren Name an dem Lande Böhmen haften geblieben war, nachdem sie von den Vorfahren der Baiern unter Marbod daraus verdrängt worden waren. Als das Thüringerreich zusammenbrach, gerieten die

22 S. unten § 47.

23 Erwähnt in der fränkischen Völkertafel von etwa 520; Müllenhoff, Germania antiqua S 163. Über die ältesten Fundstellen des Namens s. Riezler a. O. I 8 f.

24 Zeuſs S 708. Die Notitia dignitatum kennt in Pannonien 34, 24 einen tribunus gentis Marcomannorum, unter welchem ein Tribun angesiedelter Grenzsoldaten markomannischer Herkunft gemeint sein dürfte.

25 Über die Lage des Reiches der Heruler Eichhorn I 116. 520 Anm t. Um das J. 480 nehmen nach der Vita Severini die Heruler Salzburg ein. Vgl. die Angaben bei Zeuſs S 479, gegen den ich den Hauptsitz der herulischen Macht weiter nach Westen verlegen möchte. Das Schreiben Theoderichs an die Könige der Heruler, Warnen und Thüringer (Cassiodor, Var. III 3) läſst vermuten, daſs ihre Reiche sich berührten.

26 So in der Lex Ribuaria 36, 4.


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§ 8. Das Auftreten der deutschen Stämme.

Baiern in die Machtsphäre des fränkischen Reiches, dem sie sich ohne besonderen Widerstand scheinen unterworfen zu haben.

In die genannten sechs Stämme sind die westgermanischen Völkerschaften vom dritten bis zum sechsten Jahrhundert aufgegangen, ausgenommen die Angelsachsen Britanniens, jene Sueben, die mit den Vandalen und Alanen nach Spanien zogen, und die Langobarden, deren rechtsgeschichtlich beachtenswerte Geschicke später zur Sprache kommen sollen.

Was die Bedeutung und die Ursachen der neuen Völkerverbindungen betrifft, so giebt leider der dürftige Stand der Quellen dem Widerstreite der Vermutungen offenen Spielraum. Bestimmt wird man sagen dürfen, daſs die Stammesnamen nicht bloſse Kollektivbezeichnungen benachbarter Völkerschaften sind, die einander sonst fremd gegenüberstehen, sondern daſs der gemeinsame Name die Völkerschaften, die er bezeichnet, als eine engere Gemeinschaft im Gegensatz zu anderen zusammenfaſst. Geht diese Gemeinschaft auf uralte Gliederungen des deutschen Volkes zurück, so hat sie doch eine erhöhte Bedeutung erlangt, die an sich das Auftreten der Völkergruppen, aus welchen die Stämme erwuchsen, als eine neue Entwicklungsphase der deutschen Geschichte kennzeichnet.

Schon das räumliche Zusammenrücken der einzelnen Völkerschaften, wie es die Vermehrung der Bevölkerung notwendig machte, muſste eine engere Verbindung befördern. Indem umfangreiche Wälder, wüste Strecken, welche die einzelne civitas zur Sicherung der Grenze als Landscheide hatte bestehen oder entstehen lassen, vor dem gesteigerten Anbau besiedelungsfähigen Landes verschwanden, sind die durch Abstammung, Sprache, Kultus und Recht zunächst verwandten Völkerschaften, die populi eiusdem sanguinis einander näher getreten27.

Aber auch andere Ursachen sind wirksam gewesen. Nicht durch Zusammenwachsen alter Siedelungen, sondern aus Anlaſs von Wanderungen hat sich die Entstehung des Alamannenbundes und des bairischen Stammes vollzogen. Und daſs die Bildung neuer Verbände auch unter nicht verwandten Völkerschaften vor sich gehen konnte, läſst die Vereinigung von Angeln und Warnen mit den Thüringern ersehen. Es müssen füglich politische Momente gewesen sein, die den Charakter der neuen Völkergruppierung bestimmten. Wenn auch bei den einzelnen Gruppen verschieden, können sie doch nirgends völlig gefehlt haben. Selbst der Name der Friesen, der doch schon von

27 Dahn, Deutsche Geschichte S 194. 449.


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§ 9. Die Reichsgründungen

altersher an der Nordseeküste vernommen wird, hat zum mindesten insofern neue Bedeutung, als die römische Herrschaft aufgehört hat, römische und freie Friesen zu trennen. Bei der Mehrzahl der Stämme scheint das Bedürfnis gemeinsamen Auftretens nach auſsen hin den Anstoſs zu einer Vereinigung der bis dahin politisch getrennten Völkerschaften gegeben zu haben. So bei den Alamannen, bei welchen schon der Name auf ein einstiges Bundesverhältnis hindeutet. So vermutlich auch bei den Franken. Das Bewuſstsein der Zusammengehörigkeit, wie es ein gröſseres gemeinschaftliches Unternehmen oder ein auf die Dauer berechnetes Bündnis erzeugte oder im Anschluſs an die vorhandene Gemeinsamkeit der Abstammung, des Kultus und der Lebensführung erhöhte, verfehlte nicht seine Wirksamkeit auf die Dauer zu bewähren, auch wenn einzelne Glieder der Gruppe eine Zeit lang wiederum selbständig vorgingen oder sich gegenseitig befehdeten. Wo die Stammesbildung an alte ethnographische Gliederung sich anlehnte, kann die grundlegende politische Verbindung schwach und lose, wo sie darüber hinausgriff, muſs sie straffer gewesen sein. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung hat sich bei allen deutschen Stämmen das einigende Band zur staatsrechtlichen Einheit verdichtet.

§ 9. Die Reichsgründungen der arianischen Germanen.

v. Bethmann-Hollweg, Der germ.-rom. Civilprozeſs im Mittelalter I, 1868. Gaupp, Die germ. Ansiedlungen und Landtheilungen in den Provinzen des röm. Westreichs, 1844. v. Wietersheim, Geschichte der Völkerwanderung, 2. Aufl. besorgt von Dahn 1881. Dahn, Die Könige der Germanen I—VI, 1861—71, VI, 2. Aufl. 1885; derselbe, Urgesch. der germ. und rom. Völker I, 1881. Mannert, Geschichte der Vandalen, 1785. Papencordt, Gesch. der vandal. Herrschaft in Afrika, 1837. Binding, Das burgundisch-romanische Königreich, 1868. Jahn, Die Geschichte der Burgundionen u. Burgundiens, 2 Bde 1874. Manso, Gesch. des ostgothischen Reichs, 1824. Köpke, Die Anfänge des Königthums bei den Gothen, 1859. Flegler, Das Königr. d. Langobarden in Italien, 1851. Bluhme, Die gens Langobardorum, 1. Heft: die Herkunft der gens Langob., 1868.

Die ostgermanischen Völkerschaften der gotisch-vandalischen Gruppe haben sämtlich ihre ursprünglichen Wohnsitze im östlichen Deutschland verlassen, um im Süden eine neue Heimat zu gewinnen. Viele von ihnen, so die Gepiden, Heruler, Rugier, Skiren sind nach wechselvollen Kämpfen in dem Wellenschlage der Völkerwanderung spurlos verschwunden. Andere, die Vandalen, die Burgunder, die Westgoten und Ostgoten haben auf dem Boden des römischen Westreichs die ersten germanisch-romanischen Staaten gegründet, über welche die deutsche Rechtsgeschichte nicht völlig hinwegsehen darf.


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der arianischen Germanen.

Die Vandalen sitzen um die Zeit des Markomannenkrieges an den nördlichen Abhängen des Riesengebirges. Nicht lange darnach finden wir sie in Dacien als Nachbarn der Goten. Von diesen in einer Schlacht an der Marosch geschlagen, lieſsen sie sich durch Konstantin in Pannonien ansiedeln. In zwei Stämme, Astingen und Silingen, geteilt, brachen sie im Bunde mit Alanen und Sueben 406 in Gallien ein, überstiegen 409 die Pyrenäen und machten sich zu Herren des gröſseren Teiles von Spanien. Von den vier verbündeten Völkerschaften, die sich durch das Los in die eroberten Landschaften geteilt hatten, vermochten die Silingen und Alanen ihre Selbständigkeit nicht zu behaupten. Durch unglückliche Kämpfe mit den Westgoten geschwächt, schlossen sie sich dem Reiche der Astingen an, deren Könige sich nunmehr als reges Vandalorum et Alanorum bezeichnen. Mit einem Heere von ungefähr fünfzigtausend Vandalen und Alanen setzte 429 der Vandalenkönig Genserich nach Afrika über. Im Jahre 435 schloſs er mit den Römern einen Frieden ab, in welchem die Vandalen das in Afrika besetzte Gebiet zunächst gegen die Pflicht der Tributzahlung behielten. Nachdem der Krieg aufs neue ausgebrochen war, kam es 442 zwischen Genserich und Valentinian zu einem Vertrag, durch welchen Afrika in der Weise geteilt wurde, daſs von nun ab der Vandalenstaat dem römischen Reiche gegenüber selbständig und unabhängig dasteht. Nach dem Tode Genserichs (477), der noch die letzten römischen Besitzungen in Afrika erobert hatte, geriet das vandalische Reich in Verfall. Dem oströmischen Kaiser Justinian gelang es 534 mit geringer Mühe die vandalische Herrschaft in Afrika zu stürzen.

Die Burgunder wohnten im ersten und zweiten Jahrhundert als östliche Nachbarn der Semnonen zwischen Oder und Weichsel. Um die Mitte des dritten Jahrhunderts von den Gepiden geschlagen, wandten sie sich bald darauf gegen Westen und setzten sich im Rücken der Alamannen in den Maingegenden fest. Hier traten sie frühzeitig in freundschaftliche Beziehungen zu den Römern, von welchen sie sich gegen die Alamannen gebrauchen lieſsen 1. Zu Anfang des fünften

1 Fast möchte es scheinen, als hätten sie ihren Volksnamen aus der römischen Institution der milites castellani erklärt, wenn sie es gelegentlich für passend hielten ihre angeblich uralte Waffengenossenschaft mit den Römern geltend zu machen. Eine bei Orosius, Hist. VII 32 erwähnte Sage führt den Namen der Burgunder auf eine unter Drusus und Tiberius zum Schutz der Grenzkastelle vorgenommene Ansiedelung des Volkes zurück: hos (Burgundiones) quondam subacta interiore Germania a Druso et Tiberio per castra dispositos aiunt in magnam coaluisse gentem atque etiam nomen ex opere praesumpsisse, quia crebra per limitem habitacula

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 4


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§ 9. Die Reichsgründungen

Jahrhunderts sitzen sie in der Stellung römischer Föderaten am linken Rheinufer in der Gegend von Worms und bilden jenes sagenberühmte Reich, welches im Nibelungenliede verewigt ist. In Kämpfe mit den Römern verwickelt, wurden sie 435 von Aëtius besiegt und erlitten im folgenden Jahre durch Hunnen, welche vermutlich Aëtius gedungen hatte, eine furchtbare Niederlage, in der ihr König Gundahar und ein groſser Teil des waffenfähigen Volkes fiel. Den Überresten der Burgunder wiesen die Römer 443 die Sapaudia (Savoien) als Heimat an. Von hier aus haben sie sich in den gallischen Wirren weiter ausgebreitet, nicht ohne Mitwirkung der römischen Provinzialen, die die Burgunder herbeiriefen, um die römischen Steuerbeamten loszuwerden 2. Die weiteren Schicksale des Burgunderreiches greifen so sehr in die Geschichte des fränkischen Reiches ein, daſs sie besser bei dieser besprochen werden. Von den ostgermanischen Stämmen stehen die Burgunder den Westgermanen am nächsten, so nahe, daſs man sie als ein Mittelglied bezeichnen darf. Ihre Sprache vereinigt gotische und deutsche Formen 3.

An den Ufern des Schwarzen Meeres angelangt, haben die Goten einerseits das römische Reich durch verheerende Einfälle und Piratenzüge in Schrecken versetzt, andrerseits ihre Herrschaft nach Osten hin bis in Gegenden des Don ausgedehnt. Aurelian gab ihnen Dacien preis, Konstantin schloſs ein foedus mit ihnen ab. Das ganze Volk zerfiel in die zwei Hauptstämme der Therwingen oder Westgoten und der Greuthungen oder Ostgoten. Letztere erlagen dem vereinigten Angriff der Hunnen und Alanen; die Westgoten wichen damals zum groſsen Teile nach Süden aus, gingen über die Donau und vernichteten ein römisches Heer bei Adrianopel (378). Erst der klugen Politik des Kaisers Theodosius gelang es, sie zu pacificieren, indem er ihnen Wohnsitze anwies und sie als Föderaten in den römischen Kriegsdienst aufnahm. Nach dem Tode des Theodosius erhoben sie Alarich aus dem Geschlechte der Balthen zum König, der sie von Illyrien nach Italien führte. Unter dessen Nachfolger Athaulf besetzten sie

constituta burgos vulgo vocant. Das Wortspiel wurde zur Fabel von der römischen Herkunft der Burgunder ausgesponnen, über welche Ammianus Marcellinus XXVIII 5, 11 berichtet, indem er die Burgunder sagen läſst: quod iam inde temporibus priscis subolem se esse romanam Burgundii sciunt.

2 Fredegar II 46: invitati sunt a Romanis vel Gallis, qui Lugdunensium provincia et Gallia comata et cisalpina commanebant, ut tributarii publice potuissent renuere. Binding S 9. Jahn I 254.

3 Wackernagel, Sprache und Sprachdenkmäler der Burgunden bei Binding a. O. S 331 ff.


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der arianischen Germanen.

das südwestliche Gallien. Nachdem sie als Föderaten im Dienste des Reiches jenseits der Pyrenäen die Silingen und Alanen geschlagen hatten, räumte ihnen Constantius durch einen Vertrag von 419 die Aquitania secunda und einige benachbarte Städtebezirke ein. Das Reich, welches die Westgoten hier errichteten und welches man nach seiner Hauptstadt Toulouse das tolosanische nennt, stand anfänglich als Föderatstaat in Abhängigkeit vom römischen Kaisertum. Allein dieses Verhältnis hat Eurich (466—484) endgiltig aufgelöst, der kräftigste König der Westgoten, unter dem sie durch die Eroberung des gröſsten Teiles von Spanien, der Provence und der Auvergne den Höhepunkt ihrer Macht erreichten.

Von den Hunnen überwunden, befanden sich die Ostgoten in der Botmäſsigkeit des Siegers und muſsten ihm gleich den stammverwandten Gepiden Heerfolge leisten. Unter der Führung dreier Brüder aus dem heimischen Königsgeschlechte der Amaler kämpften sie 451 in der Schlacht von Mauriacum auf hunnischer Seite gegen die verbündeten Römer und Westgoten. Als es ihnen nach Attilas Tod gelungen war, unter dem Vorkampf der Gepiden das Hunnenreich zu sprengen, lieſsen sie sich mit römischer Einwilligung in Pannonien nieder. Von den drei Brüdern, die sich hier räumlich in die Herrschaft teilten, fiel Walamir, der als der älteste die Oberhoheit hatte, in einer siegreichen Schlacht gegen die Skiren. Ein Teil der Ostgoten brach unter Widimir nach Italien auf, lieſs sich aber nach Gallien ablenken, um sich den Westgoten anzuschlieſsen. Der Kern des Volkes zog mit Theodimir über die Donau nach Mösien. Von hier führte dessen Sohn Theoderich 489, wenn nicht auf Anregung, so doch mit Zustimmung des oströmischen Kaisers Zeno, die Ostgoten nach Italien, wo er der Herrschaft Odovakers ein Ende machte. Auſser Italien einen Teil Pannoniens, die Alpenlandschaften und das südwestliche Gallien umfassend, wurde das ostgotische Reich unter Theoderich die vorwaltende Macht des Occidents. Allein nach seinem Tode (526) begann die Kraft der Ostgoten unaufhaltsam hinzuschwinden. Durch innere Zwistigkeiten geschwächt, wurden sie von den Byzantinern angegriffen. In zwanzigjährigem Kriege (535 bis 554), der das Volk nahezu völlig aufrieb, gelang es der zähen und verschlagenen Staatskunst Justinians, Italien dem oströmischen Reiche zu unterwerfen.

Die sämtlichen Staaten, welche die Ostgermanen innerhalb des römischen Reiches errichteten, sind nicht in unvermitteltem Gegensatz gegen dasselbe, sondern in theoretischer Unterordnung unter den römischen Staatsbegriff entstanden, in dessen Rahmen sie sich äuſser-

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§ 9. Die Reichsgründungen

lich einfügten. Als das abendländische Kaisertum erloschen war, galten die oströmischen Kaiser für die Träger des Imperiums und wurde nunmehr diesen gegenüber der äuſsere Schein der Abhängigkeit gewahrt. Am schärfsten kommt die Eingliederung in die römische Universalmonarchie bei den ersten Anfängen der neuen Staatsbildungen zum Ausdruck. Die Burgunder wurden nach einer beinahe vernichtenden Niederlage von den Römern in Savoien angesiedelt. Ein römischer Statthalter rief die Vandalen nach Afrika, wo sie sich 435 verpflichteten, von den abgetretenen Gebieten Abgaben zu leisten. Als Föderaten Roms erhielten die Westgoten das südliche Aquitanien und gleichsam als ein Mandatar des Kaisers Zeno fiel der Ostgotenkönig Theoderich in Italien ein. Sobald die neuen Staaten sich einigermaſsen befestigt hatten oder dem Imperium feindlich gegenübertraten, war freilich von einer staatsrechtlichen Abhängigkeit nichts zu spüren. Aber nur allmählich verblaſste bei den eingewanderten Germanen das Gefühl, die neue Heimat in einem Weltreiche gefunden zu haben. War es vordem eine Verschleierung der germanischen Herrschaft im Innern des Reichs gewesen, daſs germanische Könige und königliche Prinzen sich in die römische Beamtenhierarchie einschieben lieſsen, die Ämter eines Konsuls, eines Heermeisters und Patricius erstrebten und empfingen, so war es andererseits eine nominelle Anerkennung römischer Oberhoheit, wenn sich auch noch Könige der auf dem Boden des Reiches erwachsenen germanischen Staaten vom Kaiser römische Würden und Titel verleihen lieſsen.

Am meisten hielten das ostgotische und das burgundische Reich an der Zugehörigkeit zum Imperium fest, wogegen die Vandalen sich schon unter Genserich, die Westgoten unter Eurich davon emanzipierten. Für die Herrschaft des ostgotischen Theoderich war sie politisches Prinzip. Er hat als Herr von Italien den Gedanken der Reichseinheit, welche nach der römischen Theorie der Gesamtherrschaft Occident und Orient verband, zu musterhaft korrektem Ausdruck gebracht und zwar nicht bloſs in Worten 4, sondern auch darin, daſs er den oströmischen Kaiser bat, der Ernennung des von ihm für den Westen designierten Konsuls zuzustimmen 5. Bei den Burgundern waren nicht nur fast sämtliche Könige von Gundiok bis Sigismund

4 Cassiodori Variarum l. I ep. 1: quia pati vos non credimus inter utrasque respublicas, quarum semper unum corpus sub antiquis principibus fuisse declaratur, aliquid discordiae permanere … Romani regni unum velle, una semper opinio sit.

5 Cassiod. Var. l. 2 ep. 1: atque ideo vos, so schlieſst der Brief, qui utriusque reipublicae bonis indiscreta potestis gratia delectari, iungite favorem, adunate sententiam. Amborum iudicio dignus est eligi, qui tantis fascibus meretur augeri.


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der arianischen Germanen.

magistri militum oder Patrizier, sondern es wird in Inschriften, die aus den Jahren 466 und 473 stammen, Kaiser Leo geradezu dominus noster genannt 6. Und noch im sechsten Jahrhundert bringt es König Sigismund über sich, in Briefen an Kaiser Anastasius die Burgunder als kaiserliche milites zu bezeichnen.

Der Stellung zum Reiche entsprach das Verhalten der Germanen zur römischen Bevölkerung, die ihre neuen Herren verhältnismäſsig früh zu romanisieren vermochte. Obzwar sich ihre Lage in den einzelnen Staaten verschieden gestaltete, so behielt sie doch allenthalben ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Vermögen. Und wenn sie sich auch von den Goten und Burgundern eine Landteilung gefallen lassen muſste, so erfolgte dieselbe doch im Anschluſs an Grundsätze des römischen Verwaltungsrechts, nämlich nach dem Vorbilde des römischen Einquartierungssystems, welches kennen zu lernen die Germanen im römischen Dienste reichliche Gelegenheit gefunden hatten 7.

Die inneren Einrichtungen der neuen Reiche knüpfen in wesentlichen Punkten an die vorgefundenen römischen Institutionen an. Die Burgunder und Westgoten haben sie bald in selbständiger Weise umzubilden begonnen. Dagegen fungierte in Italien die alte römische Verwaltungsmaschine bis zur langobardischen Eroberung ohne erhebliche Störungen fort. Odovaker lieſs den Senat und den ganzen römischen Beamtenapparat bestehen. Theoderich liebte es, die althergebrachten Formen fast mit Ängstlichkeit zu wahren. Schreibt er an den Senat, so spricht er zu den patres conscripti. Sein Reich ist ihm ein regnum Romanum, in welchem die Goten den erblichen Wehrstand bilden.

Formell stellt sich der Übergang von der alten Ordnung der Verhältnisse in die neue als ein fast unmerklicher dar. So groſs auch der Abstand zwischen dem ersten germanischen Reisläufer, der in römischen Kriegsdienst trat, und dem König des germanischen Föderatvolkes, der sich magister militum oder patricius nennen durfte, so erheblich der Unterschied ist zwischen der Einquartierung eines römischen Soldaten germanischer Herkunft und den Landteilungen der Burgunder und Westgoten, so liegt doch auf dem Boden des römischen Staatsund Verwaltungsrechtes eine Reihe von Mittelgliedern, welche die Anfangs- und Endpunkte der Entwicklung verketten.

Sieht man nicht auf die Formen, sondern auf das Wesen der Dinge, so wird man sich freilich der Wahrnehmung nicht verschlieſsen,

6 Binding S 311. 315.

7 S. unten § 11.


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§ 9. Die Reichsgründungen

daſs sich nichtsdestoweniger mit dem Entstehen der ostgermanischen Staaten eine Veränderung von weltgeschichtlicher Tragweite vollzogen hat. Der springende Punkt ist, daſs in ihnen zuerst der römische Occident neue Herren empfangen hat. Das haben die Römer lebhaft gefühlt, die Germanen ihnen deutlich zum Bewuſstsein gebracht. Und wenn der germanische König von jenen dominus rerum genannt wird 8, so haben sie damit eben den Widerspruch formuliert, der zwischen dem wahren Sachverhalt und dem abgelebten Gedanken des römischen Imperiums obwaltete. Übrigens bilden die Staaten der Goten und Burgunder nur den Übergang zu einer gründlicheren Umformung der abendländischen Welt, welche durchzuführen den Franken beschieden war. In Italien, wo die verhängnisvolle Pietät der Ostgoten römisches Wesen fast zärtlich konserviert hatte, wurde den Franken durch die Langobarden tüchtig vorgearbeitet, ein schneidiges Volk aus härterem Stoff wie die bildsamen und duldsamen Ostgoten.

Die Langobarden, deren Vorgeschichte 9 hier kurz nachzuholen ist, saſsen um den Beginn unserer Zeitrechnung in den Gegenden der unteren Elbe, wo ihr Name an dem Bardengau 10 haften geblieben ist. Von Marbod in Abhängigkeit gebracht, traten sie während seiner Kämpfe mit Armin auf die Seite der Cherusker über. In der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts scheint das Volk seine Sitze an der Niederelbe verlassen zu haben. Laut der langobardischen Stammsage wanderte es nach dem Sturz der Rugierherrschaft 487 in Rugiland ein. Bald darauf stehen die Langobarden in Abhängigkeit von den Herulern, welchen sie Tribut zahlen müssen. Nachdem sie sich von dem Joche der Heruler befreit und dieselben vertrieben hatten, scheinen sie sich nach Nordwesten hin ausgebreitet zu haben, denn nach der Stammsage 11 hatte damals ein langobardischer König Wacho, der mit den Sueben kämpfte, seine Residenz in dem nachmaligen Lande der Tschechen (Beowinidi), also in Mähren oder in Böhmen. Später rückten sie in Pannonien ein, besiegten mit den Avaren verbündet die Gepiden und zogen 568 nach Italien, welches sie zum gröſsten Teile den Oströmern entrissen.

8 Bethmann-Hollweg IV 255. Gaupp, Ansiedlungen S 187.

9 Bluhme, Die gens Langobardorum und ihre Herkunft, 1868. Wiese, Die älteste Geschichte der Langobarden, 1877. Platner, Forschungen XX 173. Loserth, Die Herrschaft der Langobarden in Böhmen, Mähren und Rugiland, Mitteil. d. Instituts f. österr. Geschichtsforschung II 353.

10 v. Hammerstein-Loxten, Der Bardengau, 1869.

11 Origo gentis Langobardorum et Chronicon Gothanum in Mon. Germ. LL. IV 641 und besser in Mon. Germ. Scriptores rerum Langobardicarum, 1878, S 1 ff.


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der arianischen Germanen.

Schon Tacitus hebt die geringe Volkszahl der Langobarden hervor 12, die durch ihre hervorragende Tapferkeit ausgeglichen werde, ein Motiv, welches in der langobardischen Stammsage wiederkehrt 13. Um sich ihrer Feinde zu erwehren haben sie im Drange der Not freigelassene Knechte und Schwärme besiegter Völkerschaften in das Volksheer aufgenommen 14. Fremde Elemente sind auf diese Weise in den Volkskörper eingedrungen, ein Umstand, der es erklären hilft, daſs der überlieferte Sprachschatz der hochdeutschen Langobarden vereinzelte Worte aufweist, die als germanische zu bestimmen oder überhaupt aufzuhellen der Sprachwissenschaft bisher nicht gelungen ist.

Im Verhältnis zu den Römern und zu den römischen Institutionen ist das Auftreten der Langobarden ein durchaus anderes als das der Ostgoten. Wo die Langobarden festen Fuſs faſsten, haben sie das römische Verwaltungssystem und die römische Ämterverfassung hinweggefegt und nicht einen Zwitterstaat, sondern ein rein nationales Staatswesen geschaffen. Die Römer wurden nicht als gleichberechtigtes, sondern als unterjochtes Volk behandelt. Noch um die Mitte des siebenten Jahrhunderts ist das Volksrecht der Langobarden fast völlig frei von römischen Einflüssen. Erst als der Staat eine feste volkstümliche Grundlage gewonnen hatte, begann eine maſsvolle Anlehnung an römische Einrichtungen und begann die öffentlichrechtliche Gleichstellung der römischen Bevölkerung sich anzubahnen. Nach mehr wie zweihundertjährigem Bestande ging das Reich der Langobarden auf Karl den Groſsen über. Es ist damals nicht innerer Entkräftung erlegen, sondern durch das übermächtige Bündnis der denkbar gefährlichsten Gegner, nämlich durch die geeinte Kraft des fränkischen Reiches und durch die Todfeindschaft des römischen Papsttums überwunden worden.

Die Reiche der Vandalen, der Burgunder, der Westgoten, der Ostgoten und der Langobarden haben das gemeinsame Merkmal, daſs in ihnen von Anfang an auſser dem nationalen Gegensatze der germanischen und der ihr an Kopfzahl überlegenen römischen Bevölkerung ein folgenschwerer konfessioneller Zwiespalt obwaltete. Durch ihre Berührung mit den Oströmern hatten ostgermanische Stämme

12 Germania c. 40.

13 Origo, SS rer. Lang. 2: erat gens parva quae Winnilis vocabatur.

14 Pauli Hist. Lang. I 13, I 20 a. E., I 27, II 26: certum est autem tunc Alboin multos secum ex diversis, quas vel alii reges vel ipse ceperat, gentibus ad Italiam adduxisse. Unde usque hodie eorum, in quibus habitant vicos Gepidos, Vulgares, Sarmatas, Pannonios, Suavos, Noricos sive aliis huiuscemodi nominibus appellamus.


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§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.

schon im vierten Jahrhundert das Christentum kennen gelernt. Zuerst fand es bei den Westgoten Eingang und zwar nach der Lehre des Arius, welche im fünften Jahrhundert die germanische Form des Christentums geworden ist 15. Ost- und Westgoten, Vandalen und Langobarden waren Arianer. Die Burgunder, die sich ursprünglich dem Katholizismus zugewandt hatten, sind nachträglich zum Arianismus übergegangen 16. Da die römischen Provinzialen katholisch waren, bestand in den genannten Reichen der Germanen von vorneherein eine feindselige Stimmung des katholischen Klerus und der von ihm geleiteten Bevölkerung gegen die herrschende Staatsgewalt. Die Reiche der Burgunder, der Vandalen und der Ostgoten sind als arianische Reiche im Kampfe mit katholischen Mächten untergegangen. Bei ihrem Zerfall und Untergang spielte der Antagonismus der katholischen Kirche eine erhebliche Rolle. Ihn hatte weder ostgotische Toleranz, noch vandalische Gewaltsamkeit zu überwinden vermocht. Im burgundischen Reiche war noch kurz vor dessen Sturz der Katholizismus zum Übergewichte gelangt, ohne dadurch ein Interesse an der Erhaltung des sinkenden Staates zu gewinnen. Die Westgoten traten seit dem Ausgange des sechsten, die Langobarden seit der Mitte des siebenten Jahrhunderts zum Katholizismus über. Bei jenen erwarb der katholische Klerus so weitgehenden Einfluſs auf die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, daſs er die Staatsgewalt untergrub und das Reich die Kraft verlor, sich gegen die Angriffe des Islams zu wehren. Im Langobardenreiche ist an die Stelle des verwundenen konfessionellen Zwiespalts der politische Gegensatz gegen die weltliche Machtsphäre des Papsttums getreten, ein Konflikt, in welchem das fränkische Reich intervenierte, um der nationalen Selbständigkeit der Langobarden ein Ende zu bereiten.

§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.

G. Hanssen, Agrarhistorische Abhandlungen, 2 Bde 1880. 1884. Roscher, Ansichten der Volkswirthschaft, 1861. v. Inama-Sternegg, Deutsche Wirthschaftsgeschichte I, 1879. Hennings, Über die agrarische Verfassung der alten Deutschen, 1869. Meitzen, Der älteste Anbau der Deutschen, J f. Nationalökonomie und Statistik NF II 1881; derselbe, Das Nomadentum der Germanen, Verhandl. des 2. deutschen Geographentags, April 1882; derselbe, Der Boden und die landwirthschaftl. Verhältnisse des preuſs. Staates I, 1868. Karl Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter … auf Grund der Quellen zunächst des Mosel-

15 Der arianische Gottesdienst wurde bei den Germanen in ihrer Volkssprache abgehalten.

16 Jahn, Burgundionen I 111.


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§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.

landes I 1, 1886. v. Sybel, Entstehung des deutschen Königthums, 2. Aufl. 1881. Waitz, Verfassungsgesch. I 97 ff. L. v. Maurer, Gesch. der Markverfassung, 1856; derselbe, Einleitung zur Gesch. der Mark-, Hof-, Dorf- u. Stadtverfassung, 1854; derselbe, Gesch. der Dorfverf., 1865. 1866. Thudichum, Die Gau- u. Markverf., 1860. Gierke, Rechtsgesch. der deutschen Genossenschaft I 56. — Laveleye, Das Ureigenthum, übersetzt u. vervollständigt von Bücher 1879. Dazu Kohler, KrV XXIII 24. Viollet, Caractère collectif des premières propriétés immobilières, Biblioth. de l’école des chartes 1872. Fustel de Coulanges, Recherches sur quelques problèmes ch. 2 u. 3, 1885. Francesco Schupfer, L’Allodio, studi sulla proprietà dei secoli barbarici, 1885. Denman Roſs, The early history of landholding among the Germans, 1883. Seebohm, English Village Community, 1. Ausg. 1883, übers. unter dem Titel: Die englische Dorfgemeinde in ihren Beziehungen zur Gutsherrlichkeit … zur Flureinteilung und Feldgemeinschaft, nach der 3. Ausg. von Th. v. Bunsen 1885.

Als ein Volk, dem ein Städtewesen durchaus fehlte, bewegten sich die Germanen in einfachen wirtschaftlichen Zuständen, welchen eine gewisse Gleichförmigkeit der Besitzverhältnisse entsprechen muſste. Sie betreiben mit Vorliebe die Jagd, stehen aber nicht mehr auf der Stufe des Jägervolkes. Vielmehr bildet den Mittelpunkt ihres Wirtschaftslebens die Viehzucht. Sie liefert die Hauptnahrung des Volkes. Das Vieh ist Geld, in Viehhäuptern zahlt man die Buſsen 1, der Viehstand bestimmt den Reichtum des einzelnen, wie denn die ältesten, Geld und Habe bezeichnenden Ausdrücke der Sprache auf ihn hinweisen 2. Trotzdem sind die Germanen auch kein nomadisierendes Hirtenvolk. Sie haben Wohnsitze und treiben Ackerbau.

Die Seſshaftigkeit ist aber noch eine lose, das Volk nicht fest mit Grund und Boden verwachsen, sondern leicht imstande und leicht entschlossen seine Sitze aufzugeben. Und der Ackerbau, den schon ihre arischen Ahnen gekannt haben müssen, wurde von den Germanen nur nebensächlich und oberflächlich betrieben. Daſs sie auf die Bebauung des Bodens geringe Sorgfalt verwendeten, sagen die übereinstimmenden Berichte der Alten 3, und noch in den fränkischen Volksrechten stehen die dürftigen Angaben über Ackergeräte und Hauseinrichtungen in bezeichnendem Gegensatze zu dem Reichtum an Rechtssätzen, welche den Viehstand und die Jagdbedürfnisse betreffen 4. Über die herrschende Art der Bodenbewirtschaftung sind nur Ver-

1 Über Vieh als Zahlungsmittel Inama-Sternegg I 181.

2 Vieh, got. faíhu; Schatz, fries. sket. Vgl. got. maiþms und s. Vilmar, Deutsche altertümer im Hêliand S 32 f.

3 Caesar, De bello gall. VI 29: minime homines Germani agriculturae student. Pomponius Mela III 3: nam ne illa quidem enixe colunt. Tacitus, Germania c. 15.

4 Lamprecht I 1. 9. 15.


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mutungen möglich. In ältester Zeit hat wohl eine dauernde Scheidung von Ackerland und Weideland überhaupt nicht stattgefunden, sondern wurde der Boden durch wilde Feldgraswirtschaft ausgenutzt, welche von der ganzen Flur nur einzelne Stücke in unregelmäſsigem Wechsel bebaute, um sie nach einiger Zeit als Weideland liegen zu lassen 5. Übrigens ist in dem halben Jahrtausend, welches dem Beginn unserer Zeitrechnung folgte, der wirtschaftliche Zustand des Volkes nicht stabil geblieben, sondern hat einen allmählichen Übergang von loser zu festerer Siedelung, von oberflächlichem zu intensiverem Ackerbau durchgemacht, eine Wandelung, von welcher zunächst die westlichen Stämme ergriffen wurden.

Die ältesten Grundbesitzverhältnisse der Germanen sind Gegenstand einer lebhaft erörterten Kontroverse, welche sich um die Gegensätze des Sonderrechtes und des Gemeinschaftsrechtes an Grund und Boden dreht. So vielfach die neueste Litteratur diese brennende Frage behandelte, so vermochte sie doch nicht zu festen Ergebnissen oder auch nur zu einer communis opinio zu gelangen. Denn die Berichte der Alten reichen nicht völlig aus, und die Bemühungen sie aus jüngeren Quellen zu ergänzen bewegen sich auf schwankendem Boden. Nichtsdestoweniger muſs es versucht werden, hier in allgemeinsten Umrissen ein Bild unserer ältesten Agrarverfassung zu entwerfen.

Dabei darf nicht der Gegensatz von Gemeinschaftsrecht und Sonderrecht, sondern muſs der Gegensatz von gemeinschaftlicher Nutzung und Sondernutzung zum Ausgangspunkte der Betrachtung erhoben werden. Denn wenn es richtig ist, daſs in den Anfängen der Kultur das nutzbare Land nicht durch die in der Isolierung unzureichende Kraft des Einzelnen, sondern durch die vereinte Arbeit wirtschaftlicher Verbände verwertet wurde 6, so liegt es auf der Hand, daſs das Ureigentum an Grund und Boden nicht ein Sondereigentum, sondern ein Gemeinschaftseigentum war und daſs der Fortschritt sich zunächst durch den Übergang von der gemeinschaftlichen zur Sondernutzung vollzog, welche dann nach längerer Dauer das Sondereigentum an Grund und Boden erzeugte.

5 Die Dreifelderwirtschaft ist erst in karolingischer Zeit nachzuweisen. Inama-Sternegg I 402; Lamprecht I 545 f.

6 Spuren von Individualwirtschaft, wie sie Dargun, Ursprung und Entwicklungsgeschichte des Eigentums, Z f. vgl. RW V 1, bei verschiedenen Naturvölkern nachweisen will, befinden sich noch unter den Vorstufen aller Kultur und berechtigen nicht von einem Grundeigentum zu sprechen.


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In der Zeit Cäsars 7 existiert weder ein Privateigentum noch ein Sonderbesitz an Grund und Boden. Die einzelnen Gaue, pagi, Abteilungen, in welche die Völkerschaft, civitas, zerfällt, dürfen als Eigentümer des Gebietes betrachtet werden, über welches der Gau sich erstreckt. Die Obrigkeiten und Fürsten weisen den einzelnen Geschlechtsverbänden des Gaues alljährlich Land zur Nutzung zu. Die Bewirtschaftung muſs innerhalb der einzelnen gentes ac cognationes eine gemeinschaftliche gewesen sein 8. Die Feldmarken wurden jährlich gewechselt und damit war auch ein Wechsel der Wohnungen verbunden 9, indem die Häuser entweder abgebrochen oder etwa mit den neuen Siedlern getauscht wurden.

Das zur Zeit Cäsars noch fehlende Sondereigentum hat sich in der Folge an den verschiedenen Bestandteilen der Bodenfläche zu verschiedenen Zeiten ausgebildet, je nachdem sie früher oder später in permanente Sondernutzung genommen wurden. Dabei sind die Hofstätte, das Ackerland und das Wald- und Weideland zu unterscheiden.

An dem umhegten Raum der Hofstätte, welche die Wohn- und Wirtschaftsgebäude umfaſst, besteht zur Zeit des Tacitus bereits ein Sondereigentum. Der Wechsel der Wohnungen ist verschwunden. Die herrschende Art des Wohnens bildet, soweit wir die Siedelungen der Germanen zurückverfolgen können, das Dorfschaftssystem. Man darf sich vorstellen, daſs schon die Rücksicht auf die äuſsere Sicherheit die Siedler in Dörfer zusammendrängte. Daneben findet sich in einzelnen Strichen Deutschlands die Siedelung in Einzelhöfen oder

7 Caesar, De bello gallico VI 22: Neque quisquam agri modum certum aut fines habet proprios; sed magistratus ac principes in annos singulos gentibus cognationibusque hominum, qui tum una coierunt, quantum et quo loco visum est, agri attribuunt atque anno post alio transire cogunt. Ferner IV 1 von den Sueben: Sed privati ac separati agri apud eos nihil est neque longius anno remanere uno in loco incolendi causa licet.

8 Daſs innerhalb der gens eine abermalige Verteilung der für ein Jahr zugewiesenen Bodenfläche an ihre einzelnen Mitglieder stattgefunden habe, wird bei Cäsar nicht gesagt. Auch würde dann der einzelne wenigstens für ein Jahr ein bestimmtes Maſs von Ackerland gehabt haben, was Cäsar schlechtweg verneint. Das Verfahren der Sueben, bei welchem ein Teil des Volkes in den Krieg zieht, während der andere zu Hause bleibt, um sich und jene zu ernähren, läſst sich mit Individualwirtschaft schlecht vereinigen. Hanssen I 90 findet es sehr wahrscheinlich, daſs bei den Germanen die Genossen einer Feldmark die Äcker gemeinschaftlich bestellt, geerntet und erst die Ernte unter sich verteilt haben.

9 Denn Cäsars Germanen begründen VI 22 den Wechsel der Feldmarken u. a. damit, ne accuratius ad frigora atque aestus vitandos aedificent. Das ist beschönigende Reflexion. Offenbar war mit dem Wechsel des Ackerlandes auch ein Wechsel der gentilitischen Weideplätze verbunden.


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Einöden 10. Nach einer ansprechenden Vermutung haben sie die Germanen von den durch sie verdrängten Kelten übernommen 11. Häufig stellt sich diese Niederlassungsform als eine Einrichtung jüngeren Ursprungs dar, indem eine von Dorfschaften ausgehende Kolonisation successive in Einzelhöfen erfolgte 12. Anderwärts, wie z. B. in Gebirgslandschaften, waren sie von vorneherein durch die Bodenverhältnisse bedingt 13.

In den Gegenden des Dorfschaftssystems hatte das Ackerland eine lange Übergangsperiode abwechselnder Gemeinschaftsnutzung und Sondernutzung durchzumachen, ehe das Sondereigentum seine regelmäſsige Besitzform wurde. Schon ehe ein solches an den Hofstätten entstand, muſs der Wechsel der Feldmarken innerhalb des ganzen Gaues verschwunden und das Land zunächst in dauernden Besitz der einzelnen Sippschaft gelangt sein, aus der die Markgenossenschaft als ein räumlich begrenzter wirtschaftlicher Verband herauswuchs. Die Markgenossenschaft fiel entweder mit der Dorfschaft zusammen oder sie hatte gröſseren Umfang, indem sie mehrere Dorfschaften umfaſste. Wo dies der Fall war, müssen sich aus der groſsen Mark im Laufe der Zeit kleinere Dorfmarken abgesondert haben, indem das bauwürdige Land ganz oder zum gröſseren Teil in den Gemeinbesitz der Dorfschaft überging, als man angefangen hatte, gröſsere Mühe auf den Ackerbau zu verwenden und dieser sich deshalb in der Nähe der Dörfer konzentrierte. Herrschte in den Tagen Cäsars noch die gemeinschaftliche Bewirtschaftung des Bodens vor, so hat sie in der

10 Der Gegensatz darf, wie Schröder, RG I 13 mit Recht bemerkt, nicht zu schroff gedacht werden, da auch in den Dörfern die Höfe sich nicht aneinanderschlossen und ein bestimmter Bebauungsplan regelmäſsig nicht vorhanden war. Tacitus, Germ. c. 16. In den Anfängen der Entwicklung sind Übergänge denkbar. Bei den Russen standen zwischen den Dörfern (ssela), die eine gröſsere Zahl von Höfen umfaſsten, und den Einzelhöfen die derewni, kleinere Ansiedlungen von 1—4 Höfen. Jo. v. Keussler, Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in Ruſsland, 1876, S 58 f.

11 Meitzen, Der älteste Anbau S 37. Erhardt, Älteste germ. Staatenbildung S 33 Anm 1. Lamprecht, Z d. Bergischen Geschichtsvereins XVI 19 ff. Schröder, Z2 f. RG II 50 f. Das Hofsystem des Niederrheins und Westfalens scheint auf die keltischen Menapier zurückzugehen.

12 Hanssen I 148 f.

13 Meitzen a. O. S 44. Nach Denman Roſs haben die freien Männer mit ihren Familien in Einzelhöfen gewohnt, während die Unfreien von ihren Herren dörferweise angesiedelt wurden. Dann würden wahrscheinlich binnen kurzem die vereinigten Knechte die Herren, die isolierten Herren zu Knechten geworden, erstere aber klüglich im Dorfe beisammen geblieben sein, um nicht auf den Einzelhöfen einem ähnlichen Schicksale zu verfallen, wie ihre früheren Herren.


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§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.

Zeit des Tacitus 14 bereits der Sondernutzung durch die einzelnen Familienväter Platz gemacht. Der Wechsel des Ackerlandes findet nunmehr innerhalb der Dorfschaft beziehungsweise der Markgenossenschaft statt. Das Ackerland wird, wahrscheinlich auf Grund periodischer Verlosung, unter die Hofbesitzer verteilt. Da keiner ein Interesse hatte mehr zu erhalten, als er zu bebauen vermochte, und des Bodens die Fülle vorhanden war, so bestand die Möglichkeit, dem Reicheren und Vornehmeren, der über eine gröſsere Zahl von Arbeitskräften verfügte, gröſsere oder mehrere Anteile zuzuweisen. War der Boden, den man nicht zu düngen verstand, binnen kurzer Frist erschöpft, so blieb das abgeerntete Land als wildes Weideland liegen und wurde ein anderer Teil der Mark auf Grund neuer Vermessung und Verlosung als Ackerland aufgeteilt. Der Wirtschaftsplan wurde von der Gesamtheit der Genossen festgestellt, an deren Beschlüsse der einzelne in Bezug auf die Zeit und Art der Bestellung und der Ernte gebunden war.

Die Herrschaft dieses Feldsystems, welches man als Feldgemeinschaft mit wechselnder Hufenordnung oder als strenge Feldgemeinschaft bezeichnet, behauptete sich so lange, als die Dauer der gemeinsamen Nutzung zu Weidezwecken die Dauer der Sondernutzung zu Zwecken des Ackerbaues überstieg. Eine erneute Vermessung und Verlosung der Bodenfläche, welche jedesmal in Kultur genommen werden sollte, empfahl sich unter solchen Umständen weit mehr als die Festhaltung eines Sonderrechts, welches vielleicht Jahrzehnte hindurch praktisch bedeutungslos gewesen wäre 15. Erst als das Bedürfnis intensiveren Ackerbaues den Zeitraum der Sondernutzung verlängerte, konnte die wechselnde Hufenordnung in eine feste übergehen und im Anschluſs daran ein Sondereigentum am Ackerlande erwachsen.

Lange über diese Veränderung hinaus erhielt sich die gemeinschaftliche Nutzung der später sogenannten Almende oder gemeinen Mark, communitas, commarchia. Sie umfaſste alles Land, welches nicht zu Sondereigentum oder zur Sondernutzung ausgeschieden worden ist. Es war das der gröſsere Teil der Bodenfläche, Wald und Weideland, Moor und öde Gründe, Flüsse, Bäche und Seen, soweit eine Okkupation daran stattgefunden hatte. Das berechtigte Subjekt

14 Germ. c. 26: agri pro numero cultorum ab universis in vices occupantur, quos mox inter se secundum dignationem partiuntur; facilitatem partiendi camporum spatia praebent: arva per annos mutant, et superest ager.

15 Aus Nasse, Über die mittelalterliche Feldgemeinschaft und die Einhegungen des 16. Jahrh. in England, 1869, S 8 f.


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§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.

der Almende ist die Markgenossenschaft, noch in jüngerer Zeit nicht selten ein gröſserer Verband als die Dorfschaft. Die Nutzungsrechte der Markgenossen waren ungemessene. Jeder hatte das Recht, Vieh auf die Weide, Schweine auf die Mast zu treiben, Bau- und Brennholz zu fällen, zu jagen und zu fischen, ja sogar die Befugnis der Rodung und Landnahme. Der Boden, den der Einzelne durch Urbarmachung dem Walde abgewann und „einfing“ (bifanc), war sein Sondereigentum und wurde etwa mit einem Vorwerk besetzt, das ein Knecht oder ein Höriger des Eigentümers bewirtschaftete 16.

Wo die Ansiedlung in Einzelhöfen geschah, bilden die vereinigten Siedler den wirtschaftlichen Verband der Bauerschaft. Auch hier erfolgte bei der ersten Niederlassung die Landnahme durch die Gesamtheit, auch hier schälte sich also das Sondereigentum aus dem Rechte der Gemeinde heraus. Allein das Recht des einzelnen erhielt hier sofort gröſseren Umfang und gröſseren Inhalt. Die Sondernutzung muſste bei der Lage der einzelnen Hofstätten alsbald wenigstens einen Teil des Ackerlandes ergreifen 17, so daſs das Sondereigentum nicht bloſs die Hofstätte, sondern auch Ackerland umfaſste und das Gesamtrecht der Bauerschaft sich als Eigentum nur in dem der Almende verbleibenden Gebiete äuſserte. Die sämtlichen Rechte, die der einzelne Genosse der Dorfschaft oder Bauerschaft in Bezug auf Grund und Boden besaſs, also die Eigentums- und Nutzungsrechte, wie sie an der Hofstätte, am Ackerlande und an der Almende bestanden, faſst später der Ausdruck Hufe, hoba, huoba als wirtschaftliche Einheit zusammen 18. Die Hufe stellt sich als das normale Maſs des Besitztums dar, welches der Leistungsfähigkeit und den Bedürfnissen der Durchschnittsfamilie entspricht 19.

Jüngere Quellen 20 und die Zustände, wie sie in einzelnen Strichen

16 Es steht nichts im Wege, ein solches Recht der Rodung schon für die Zeit anzunehmen, da noch die Feldgemeinschaft normale Besitzform war.

17 Gegen Gierke I 70, der eine Feldgemeinschaft bei Einzelhofsystem für undenkbar erklärt, s. Waitz, VG I 132.

18 Waitz, Über die altdeutsche Hufe, 1854. Vgl. Heusler, Instit. des deutschen Privatrechts I 263. Das Wort fehlt dem Nordischen, dem Angelsächsischen und ist im Gotischen nicht nachweisbar.

19 Der angelsächsische Ausdruck für Hufe ist hîd (gelegentlich auch hîwisc) und wird mit familia wiedergegeben. Schmid, Gesetze der Ags. S 610. Er ist nicht von hŷde (Haut), sondern von hîw (familia) abzuleiten und bedeutet „einen Landkomplex groſs genug, um eine Familie zu ernähren“.

20 Namentlich nordische. Hanssen I 1 ff. 123 ff. und die bei Waitz, VG I 117 Anm 4, I 118 Anm 1 zitierte Litteratur. Über die Fortdauer der Feldgemeinschaft in fränkisch-salischen Gegenden Schröder, Forschungen XIX


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§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.

Deutschlands bis heute obwalten 21, bieten genaueren Einblick in das Wesen der strengen Feldgemeinschaft und in die Methode, nach welcher die Verteilung des Ackerlandes bei der Anlage eines Dorfes, bei dem periodischen Wechsel der Hufen oder, wenn die Hufenordnung sich fixiert hatte, bei Eintritt einer Grenzverwirrung bewerkstelligt wurde. Es läſst sich daraus entnehmen, daſs die in Kultur zu nehmende Fläche zunächst nach Lage und Güte des Bodens in gröſsere Teile zerlegt wurde, welche Gewannen, Wannen, Lagen, Flagen genannt werden 22. Jede Gewanne wurde in eine der Zahl der Genossen entsprechende Zahl von Äckern (Losen) eingeteilt, welche dann den einzelnen überwiesen wurden. Der Anteil des einzelnen umfaſste sonach Äcker in jeder Gewanne. Die Vermessung geschah in älterer Zeit mit Stange oder Seil (Reeb), die Verteilung erfolgte vermittelst des Loses 23.

Feldgemeinschaft und Markgenossenschaft sind keine den Germanen ausschlieſslich eigentümliche Einrichtung, denn die vergleichende Rechtswissenschaft vermag das genossenschaftliche Grundeigentum nicht nur bei stammverwandten Völkern älterer und neuerer Zeit nachzuweisen, sondern stellt es als eine urgeschichtliche Institution von all-

151 ff. und Z2 f. RG II 61. S. noch die Zusätze Büchers zu Laveleye, Ureigenthum.

21 So die Haubergsgenossenschaften des Kreises Siegen und die Gehöferschaften des Regierungsbezirkes Trier. Aktenstücke des preuſs. Hauses der Abgeordneten 1878—79 Nr 39. 139; Haubergordnung für den Kreis Siegen vom 17. März 1879. Achenbach, Die Haubergsgenossenschaften des Siegerlandes, 1863. Bernhardt, Die Haubergswirtschaft, 1867. Hanssen, Die Gehöfersch., in dessen Agrarhistor. Abhandlungen I 99 ff., II 1 ff. Nach Lamprecht, D. Wirtschaftsleben I 1 S 442 ff. ist die Gehöferschaft nicht eine Fortsetzung und ein Überrest germanischer Feldgemeinschaft, sondern eine auf grundherrlichem Boden aus genossenschaftlicher Bewirtschaftung der Beunden (gröſserer vom Grundherrn okkupierter und aufgewonnener Almendstücke) erwachsene Gemeinschaft, also eine relativ junge Bildung, welche für das Verständnis urzeitlicher Zustände nur wegen gewisser Einzelanalogien von Wichtigkeit sein könnte. Doch räumt er ein, daſs es auch Gehöferschaften geben könne, für deren Entstehung andere als hörige Grundlagen nachzuweisen wären.

22 Über die Ausdrücke Hanssen, Agrarhistor. Abhandl. II 187.

23 Hanssen I 55, II 209. J. Grimm, Deutsche Grenzaltertümer, 1844; RA S 540 f. Beseler, Der Neubruch, in den Symbolae für Bethmann-Hollweg 1868 und die daselbst Anm 4 zitierte Urk. von 1247 aus Mon. Boica XI 32, wo es sich um eine wegen Grenzverwirrung beliebte Teilung handelt: Compromissum fuit, ut maximus campus per funiculos mensuraretur et cuilibet hube XII iugera deputaretur … item in quot partes maior campus divisus esset, in totidem partes secundus campus et tercius divideretur, licet cuilibet hube in eisdem posterioribus campis non possent cedere XII iugera ut in primis.


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§ 11. Die Landnahme in den Provinzen

gemeiner Verbreitung dar 24, welche sich unter dem Einfluſs eigenartiger Verhältnisse bei verschiedenen Völkern der Erde bis heute als die regelmäſsige bäuerliche Besitzform erhalten hat.

§ 11. Die Landnahme in den Provinzen des römischen Westreichs.

Gaupp, Die german. Ansiedlungen u. Landteilungen, 1844, S 317 f. 394 f. 441 f. 456 f. 466 f. 503 f. Savigny, Gesch. des röm. Rechtes im Mittelalter, 2. Aufl. 1834, I 296. 300. 330 f. 399 f. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 133. 145. 182. 262. 307. Hegel, Geschichte der Städteverfassung von Italien, 1847, I. Binding, Das burgundisch-romanische Königreich, 1868, S 13. 297. Sartorius, De occupatione et divisione agrorum Romanorum per Barbaros, 1816 in den Comm. societ. reg. Gotting. recentiores III 210 f. Gaupp, Comm. de occupatione et divisione provinciarum agrorumque Romanorum … Vratisl. 1841.

Alle bedeutenden Offensivstöſse der Germanen waren Einwanderungsversuche, hervorgerufen durch das Bedürfnis nach ausreichenden und ruhigen Wohnsitzen. Von den Kimbernkriegen bis zur Auflösung des Westreiches ging dem feindseligen Auftreten der Germanen regelmäſsig die Bitte um Landanweisung voraus. Nachdem die Sueben unter Ariovist in Gallien eingedrungen waren, nahmen sie den Sequanern zunächst ein Drittel, und als neue Schwärme nachrückten, ein zweites Drittel ihres Gebietes weg. Die Landfrage war es, die den Sturz des weströmischen Reiches veranlaſste. Die germanischen Söldnerhaufen, welche es aus den Angeln warfen, hatten vergeblich ein Drittel der italischen Ländereien begehrt und erhoben ihren Führer Odovaker zum König, damit er die verlangte Teilung des Grundbesitzes durchführe.

Wie die Scharen Odovakers haben auch die Ostgoten, die Burgunder und die Westgoten, deren Reiche sich wie Vasallenstaaten der römischen Universalmonarchie eingliederten, eine Landteilung vorgenommen. Die Art ihrer Landteilungen hatte das römische Einquartierungssystem zum Vorbilde, so daſs sie der römischen Bevölkerung gegenüber nur in das Verhältnis dauernd ansässiger milites einzurücken schienen.

24 Maine, Village Communities in the East and West, 3. Aufl. 1876; Laveleye, Kohler, Viollet, v. Keussler a. O. Dazu mag noch erwähnt werden, daſs im byzantinischen Reiche seit der zweiten Hälfte des 7. Jahrh., wohl infolge der slawischen Einwanderungen, die im νόμος γεωϱγικός enthaltene Rechtsauffassung aufkam, die Gemeindeflur sei gemeinschaftliches Eigentum aller Gemeindegenossen. Zachariae, Gesch. des griechisch-römischen Rechts, 1877, S 236 ff. Für Livland ist die Feldgemeinschaft der Dörfer durch das älteste livländische Ritterrecht A. 61. 65. 66 (Bunge, Altlivlands Rechtsbücher) festgestellt.


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des römischen Westreichs.

In spätrömischer Zeit war die Einquartierung der Soldaten derart geregelt, daſs der einquartierte Soldat von dem Hauseigentümer, dem er als Einquartierung überwiesen worden war, ein Drittel seines Hauses beanspruchen konnte. Von den Dritteln, in die das Haus geteilt wurde, sollte das erste der Quartiergeber sich auswählen. Die zwei übrigen standen zur Wahl des Soldaten. Das Drittel, welches dieser ablehnte, verblieb dem Wirte 1. Das Verhältnis zwischen dem Wirte und dem einquartierten Soldaten hieſs hospitalitas, der letztere hospes, der erstere possessor, dominus, mitunter gleichfalls hospes 2. Verpflegung konnte der hospes von dem possessor nicht beanspruchen. Er muſste sich in dieser Beziehung mit der annona begnügen, welche ihm von der Militärverwaltung aus den fiskalischen Magazinen in Naturalien, manchmal zum Teil in Geld geliefert wurde.

Gleich den römischen Truppen haben die Germanen bei den römischen possessores Unterkunft genommen. Sie konnten sich aber nicht auf die bloſse Einquartierung beschränken, denn die ärarischen Naturallieferungen, die der römische Soldat erhalten hatte, fielen nunmehr hinweg. Der römische possessor muſste daher einen Teil seines ganzen Besitztums an seinen hospes abtreten: dafür waren jetzt die Provinzialen der Pflicht enthoben, die zur Verpflegung der Soldaten erforderlichen Naturalien an die fiskalischen Magazine zu leisten. So stellt sich, vom Standpunkte des römischen Provinzialen betrachtet, die Landteilung als eine durch Landabtretung vollzogene Abschichtung eines mit Weib und Kind auf die Dauer in Quartier gelegten Germanen dar. Die abgetretenen Quoten heiſsen sortes, die Besitzer des geteilten Grundstücks consortes. Wie es scheint, wurde die erforderliche Zahl teilungspflichtiger possessores unter die germanischen Ankömmlinge verlost 3. Die Ausdrücke hospitalitas und hospes wurden für das durch die Landteilung entstandene Verhältnis in analoger Weise angewendet wie bei dem römischen Einquartierungssystem.

Bei den Burgundern hat eine mehrmalige, vermutlich eine dreimalige Landteilung stattgefunden. Anfänglich können sie, die nicht als ein sieghaftes, sondern als ein besiegtes Volk in der Sapaudia

1 Cod. Theod. VII 8, 5 Arcadius und Honorius v. J. 398: duas dominus propriae domus tertia hospiti deputata ea tenus intrepidus ac securus possideat portiones, ut in tres domo divisa partes primam eligendi dominus habeat facultatem, secundam hospes quam voluerit exsequatur tertia domino relinquenda. Der dominus sollte nicht das beste Drittel einbüſsen, der hospes nicht auf das schlechteste angewiesen sein.

2 Gaupp S 87 Anm 4; Binding S 17 Anm 49.

3 Vgl. Binding a. O. S 18 f.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 5


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§ 11. Die Landnahme in den Provinzen

angesiedelt wurden, gewiſs nicht mehr als das dem römischen Einquartierungssystem entsprechende Landdrittel beansprucht haben 4. Als die Stellung der Burgunder zum Reiche eine selbständigere geworden, das Volk sich vermehrt, durch neuen Zuzug verstärkt und seine Gebiete ausgedehnt hatte, wurde das Quotenverhältnis ein anderes. Nach den ältesten Stellen, welche die burgundische Gesetzsammlung über die Landteilung enthält, umfaſste die burgundische sors die Hälfte von dem ganzen unbeweglichen Vermögen des Possessors 5. Gegen Ende des fünften Jahrhunderts wurde das Verhältnis derart geregelt 6, daſs der burgundische hospes vom Ackerlande zwei Drittel, von den Sklaven ein Drittel, von Hof, Garten, Wald und Weide die Hälfte beanspruchen konnte. Diejenigen Burgunder, welche durch königliche Schenkung Land und Sklaven erworben hatten, sollten an dieser Ausdehnung der burgundischen Quote nicht partizipieren, sondern auf die Hälfte des Ackerlandes beschränkt bleiben und von dem possessor keine Sklaven verlangen dürfen. Mit der Hälfte des Landes muſsten sich nach einem vermutlich unter dem letzten burgundischen König entstandenen Gesetze auch neue Ankömmlinge begnügen 7, wahrscheinlich Burgunder, welche aus Gebieten, die das Reich eingebüſst hatte, zurückgewandert waren, um neue Wohnsitze zu erhalten 8.

Als die Ostgoten Italien erobert hatten, nahmen sie im Anschluſs an die von Odovaker durchgeführte Landteilung ein Drittel der Ländereien an sich 9. Das Fiskalgut ging damals von Odovaker auf

4 Vgl. Jahn, Burgundionen I 397. 475.

5 Arg. Lex Burg. 13. 31. 67; Lex Rom. Burg. 17, 3. Siehe Binding a. O. S 28.

6 Lex Burg. 54.

7 Lex Burg. 107, 11: De Romanis vero hoc ordinavimus, ut non amplius a Burgundionibus, qui infra venerunt, requiratur, quam ad praesens necessitas fuerit, medietas terrae. Infra ist soviel wie intra. S. den Index zu Greg. Tur. Opera in MG SS rer. Meroving. I 950 s. v. infra. Unter den Eingewanderten können nicht alle Burgunder verstanden werden, sonst wäre der Zusatz überflüssig, sondern nur solche, welche gekommen, als der groſse Teil des Volkes fest in seinen Sitzen saſs.

8 Binding S 261.

9 Procop, De bello Got. I 1. Daſs damit nicht ein bloſses Einrücken in die sog. herulischen Landlose gemeint sei, bemerkt mit Recht Gaupp a. O. S 470. In der Urk. Marini Nr 115 von 540 nimmt der Verkäufer in die Gewährleistungsformel die Wendung auf, daſs er die verkauften portiones übereigne liberas a sorte barbarica. Es ist vermutlich gemeint, daſs die veräuſserten portiones einer Landteilung nicht mehr unterworfen werden können, weil schon der ganze Gutskomplex, zu dem sie gehört hatten, Gegenstand einer Realteilung geworden war. Savigny I 333. Anderer Ansicht Gaupp S 477.


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des römischen Westreichs.

das ostgotische Königtum über. Die den Goten eingeräumten Landlose waren der Grundsteuerpflicht unterworfen und hieſsen tertiae 10. Die Landanweisung wird tertiarum deputatio genannt 11.

Über die ältesten Landteilungen der Westgoten sind wir nicht unterrichtet. Es wird uns erzählt, daſs ihnen schon 419 in der Aquitania secunda von den Römern Land überwiesen worden sei 12. Der Teilungsfuſs könnte bei dem von Anfang an selbständigeren Auftreten der Westgoten von vorneherein ein für sie günstigerer gewesen sein, als bei den Ostgoten. Nach der ältesten westgotischen Rechtsquelle hat der Gote zwei Drittel des Ackerlandes, und heiſst der römische Anteil tertia 13. Nicht aufgeteiltes Waldland und nicht umhegtes Weideland gehörte dem gotischen und dem römischen hospes zu gemeinschaftlichem Gebrauche 14. Wenn der eine der beiden consortes ein Stück des gemeinsamen Waldlandes ausrodete, sollte der andere durch eine gleich groſse Waldfläche entschädigt oder das Rottland geteilt werden 15. Die westgotischen sortes waren steuerfrei 16.

Durch die Art der Landteilung wurden die germanischen Ankömmlinge räumlich unter die römischen Provinzialen verteilt. „Wie die Felder des Schachbrettes durchsetzen sich die Wohnsitze der alten und neuen Bewohner 17.“ Nirgends saſs die germanische Bevölkerung in geschlossener Masse beisammen. Das Nachbarverhältnis muſste zahlreiche persönliche Beziehungen erzeugen, um so mehr als die Landteilung zunächst nur ein Miteigenthum der Konsorten herbeiführte, das erst später einer Realteilung Platz machte, während Wald und Weideland noch längere Zeit gemeinschaftlich blieben. Die allmähliche Romanisierung der neuen Ansiedler, die Ausgleichung germanischer und römischer Lebensführung konnten bei dieser Sachlage

10 Das Wort tertiae kommt auch für eine Abgabe aus Leiheverhältnissen vor. Gaupp S 483.

11 Cassiodori Varia II 16. Da der Kriegsdienst ausschlieſslich auf den Goten und sonstigen Germanen lastete, konnte Theoderich a. O. sagen: in parte agri defensor acquisitus est, ut substantiae securitas integra servaretur.

12 Epitome Philostorgii bei Gaupp S 379: cum prius ipsi annonas ab imperatore et quandam Galliae partem ad agros excolendos accepissent.

13 Antiqua 277: sortes Gothicas et tertiam Romanorum … Lex Wis. X 1, 8: nec de duabus partibus Gothi aliquid sibi Romanus praesumat aut vindicet, aut de tertia Romani Gothus sibi aliquid audeat usurpare aut vindicare.

14 Lex Wis. X 1, 9; VIII 5, 5.

15 Lex Wis. X 1, 9.

16 Helfferich, Entstehung und Gesch. des Westgothenrechts, 1858, S 112.

17 Binding S 36.

5*


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§ 11. Die Landnahme in den Provinzen

nicht lange auf sich warten lassen 18. Die Vermischung der beiden Bevölkerungsmassen fand zunächst ein Hindernis an dem Arianismus der Germanen. Im westgotischen Reiche waren zudem die Ehen zwischen Westgoten und Römern bis zur Zeit des Königs Reckessuinth gesetzlich verboten. Allein als diese Schranken hinweggefallen waren, stand einer raschen und innigen Verschmelzung der Burgunder und Westgoten mit den römischen Provinzialen nichts mehr im Wege.

Bei den Vandalen erfolgte die Landnahme nicht im Anschluſs an das römische Einquartierungssystem, sondern nach den Grundsätzen des Eroberungsrechtes. In der ersten Zeit ihres Aufenthalts waren sie vermutlich bei den römischen Grundbesitzern einquartiert. Als es nach der Einnahme Karthagos (439) oder nach dem Frieden von 442 zu einer festen Ansiedelung des Volkes kam, wurde nicht ein Verhältnis der hospitalitas begründet, sondern die in der Nähe Karthagos gelegene sogenannte prokonsularische Provinz, die provincia Zeugitana zur geschlossenen Niederlassung des Volkes ausersehen. Zunächst machten die Vandalen hier tabula rasa, indem sie die römischen Grundbesitzer töteten, vertrieben oder in Hörigkeit versetzten. Das zur Ausstattung der Vandalen erforderliche Land wurde dann vermittelst des Seiles vermessen und unter die Vandalen verteilt, deren Landlose (sortes Vandalorum) sonach einen zusammenhängenden Komplex bildeten. Groſse Güter nahm der König für sich und sein Haus in der Zeugitana und in anderen Provinzen. Wo in letzteren die Römer nicht expropriiert wurden, waren sie als Grundbesitzer dem König tributär 19.

Die Langobarden 20 traten nach ihrer Ankunft in Italien zunächst in das Verhältnis der hospitalitas. Die römischen possessores muſsten ihnen Quartier und vermutlich auch Verpflegung gewähren. Über die Art der Landnahme scheinen dann Differenzen zwischen dem Volke und dem Königtum ausgebrochen zu sein. Der Langobarden-

18 Ein Schreiben Theoderichs sagt von den Folgen der Landteilung: sic enim contigit, ut utraque natio, dum communiter vivit, ad unum velle convenit … Una lex illos et aequabilis disciplina complectitur. Necesse est enim, ut inter eos suavis crescat affectus, qui servant iugiter terminos constitutos. Cassiodori Varia II 16.

19 Procop, De bello Vand. I 5. Dahn, Könige I 204. 241.

20 Hegel, Gesch. der Städteverfassung von Italien, 1847, I 352. BethmannHollweg IV 301 ff. Troya, Della condizione de’ Romani vinti dai Langobardi, 1844. Baudi di Vesme e Fossati, Vicende della proprietà in Italia … 1836. G. Caumo, Sulla condizione dei Romani vinti dai Langobardi, 1870. Pertile, Storia del diritto ital. I 44 ff. Schupfer, Delle istituzioni politiche longob., 1863; derselbe, Aldi, Liti e Romani, Estratto dall’ Enciclop. giur. ital. 1887.


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des römischen Westreichs.

könig Kleph fiel 574 durch Meuchelmord 21. Die Langobarden lebten dann zehn Jahre lang ohne König unter fünfunddreiſsig Herzögen. Diese Zeit benutzen sie, um über die Römer herzufallen. Viele von den vornehmen Römern wurden getötet, ihre Besitztümer eingezogen. Im übrigen machten die langobardischen hospites ihre Wirte zinspflichtig. Dieselben muſsten nach Kolonenart den dritten Teil der Früchte an ihre Herren abliefern 22. Der hospes war sonach zum dominus, der possessor zum Kolonen geworden. Dabei ist selbstverständlich die Zinspflicht nicht auf die gesamte römische Bevölkerung ausgedehnt, etwa durch Rechtssatz jeder Römer für zinspflichtig erklärt worden. Vielmehr erstreckte sich die Maſsregel nur auf den ländlichen Grundbesitz und auch auf diesen nur, soweit innerhalb der besetzten Gebiete ein Bedürfnis dazu vorhanden war. Nicht jeder Römer erhielt einen langobardischen Herrn; aber jeder freie Langobarde bemächtigte sich eines römischen Grundbesitzers, der ihm die tertia zu zahlen hatte. Die Behandlung des römischen Grundbesitzes schlieſst also das Vorhandensein einer freien römischen Bevölkerung nicht aus 23. Als die Expropriierung der römischen Possessoren eine vollendete Thatsache war, schritten die Langobarden zur Wiederherstellung des Königtums, indem sie Authari zum König erhoben. Dabei wurde einerseits das Königtum mit Grundbesitz ausgestattet, indem die Herzöge die Hälfte ihrer Besitztümer dem königlichen Fiskus überwiesen, andrerseits aber die Aufteilung der römischen Landbevölkerung geregelt 24. Die Vorgänge der königlosen Zeit fanden nämlich insofern die königliche Sanktion, als nicht eine Teilung des Landes, sondern eine Verteilung der Grundbesitzer ausgesprochen wurde. Doch beseitigte eine einheitliche und gleichartige Durchführung der Maſsregel die Härten und Ungleichheiten, welche die gewiſs höchst tumultuarischen Okkupationen der vorausgegangenen

21 Zwischen der Behandlung der Agrarfrage und dem Interregnum scheint mir ein innerer Zusammenhang obzuwalten, der die auffallende Thatsache der Abschaffung und Wiederherstellung des Königtums in überraschender Weise erklärt.

22 Paulus II 32: his diebus (nach Beseitigung des Königtums) multi nobilium Romanorum ob cupiditatem interfecti sunt. Reliqui vero per hospites divisi, ut terciam partem suarum frugum Langobardis persolverent, tributarii efficiuntur.

23 Städtischer Besitz, die Existenz freier Kaufleute und Handwerker, Freiheit und Grundeigentum des Klerus sind daher mit jener rigorosen Lösung der Agrarfrage sehr wohl vereinbar.

24 Paulus III 16: Populi tamen adgravati per Langobardos hospites partiuntur. Die partitio populorum steht mit der unmittelbar vorher berichteten Ausstattung des Königtums in Zusammenhang. Die Genehmigung der partitio war vermutlich der Preis, den das langobardische Königtum für seine Restauration zahlte.


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§ 12. Das Haus.

Jahre herbeigeführt hatten. Obwohl sie in letzter Linie die Kosten der Wiederherstellung des Königtums trug, fuhr doch auch die aufgeteilte römische Bevölkerung nicht schlecht, da an die Stelle der früheren Gewaltsamkeiten, Willkürlichkeiten und Bedrückungen ein Zustand allgemeiner Rechtssicherheit trat 25 und die Römer von nun ab gegen weitere Eingriffe in ihr Besitztum geschützt waren.

Die Art der germanischen Ansiedelung verstärkte allenthalben das politische und soziale Gewicht der ländlichen Bevölkerung gegen die Übermacht, welche die Städte durch den exklusiv städtischen Zuschnitt der römischen Verwaltung erlangt hatten. Daſs die neuen Herren sich als Grundbesitzer auſserhalb der Städte niederlieſsen, hob die Bedeutung der ländlichen Bevölkerungsschichten, stellte das Gleichgewicht zwischen Stadt und Land wiederum her und regenerierte die landwirtschaftlichen Zustände der besetzten Gebiete.

§ 12. Das Haus.

Gierke, Rechtsgesch. der deutschen Genossenschaft I 89 f. Kraut, Die Vormundschaft nach den Grundsätzen d. deutschen Rechts I, 1835. Heusler, Instit. d. deutschen Privatrechts I 95 ff., II 277. 431. 521. Waitz, Über die Bedeutung des Mundium im deutschen Rechte, Berl. Sitzungsberichte 1886 S 375. Dargun, Mutterrecht u. Raubehe und ihre Reste im germ. Recht u. Leben, 1883 in Gierkes Untersuchungen XVI. Sohm, Das Recht der Eheschlieſsung, 1875. Viollet, Précis de l’histoire du droit français, 1884. 1886, S 418. Kohler, Indisches Eheund Familienrecht, Z f. vgl. RW III 342; ders., Studien über Frauengemeinschaft, Frauenraub u. Frauenkauf, a. O. V 334; ders., Über die künstl. Verwandtschaft, a. O. V 427. Weinhold, Deutsche Frauen im Mittelalter, 2 Bde 2. Aufl. 1882. W. Wackernagel, Familienrecht u. Familienleben der Germanen, in Kl. Schriften I 1, 1872. Konr. Maurer, Über die Wasserweihe des germ. Heidentums, Abhandl. der bayr. Akad. XV 3. Abteil. Stobbe, Beiträge zur Geschichte des DR, 1865, 1. die Aufhebung der väterl. Gewalt. Scherer im Anzeiger f. deutsches Altertum IV 86 ff. Sohm, Reichs- und Gerichtsverfassung, 1871, Beil. 1: die Wehrhaftmachung. v. Amira, Erbenfolge u. Verwandtschaftsgliederung nach den altniederdeutschen Rechten, 1874, S 211 f. 218 f. Fustel de Coulanges, Recherches S 219 ff.

Innerhalb der Sippe bildet die häusliche Gemeinschaft, hîwiski 1, hisch, familia, domus 2, einen engeren Rechts- und Friedensbereich, der nicht wie die Sippe auf genossenschaftlicher, sondern auf herrschaftlicher Grundlage beruht. Die Hausangehörigen, Weib, Kinder

25 Nulla erat — so fährt Paulus fort — violentia … nemo aliquem iniuste angariabat, nemo spoliabat, non erant furta, non latrocinia.

1 So ahd. und alts. Ags. hîvisce, altn. hyski. S. oben S 62 Anm 19.

2 Graff, Sprachschatz IV 1068. Z2 f. RG III 21 Anm 3. Über bairisch Hîwisch, Heiwisch vgl. Schmeller, Bayer. WB I col. 1193.


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§ 12. Das Haus.

und Gesinde 3, stehen in der Gewalt des Hausherrn. Die Stellung des Hausherrn äuſsert sich nach innen als Herrschaft, nach auſsen als Haftung. Wegen Rechtsverletzungen, die an Hausangehörigen begangen werden, klagt der Herr in eigenem Namen, während er andererseits für jegliches Verschulden einzustehen hat, das ihnen von Dritten zur Last gelegt wird, so daſs sie nach auſsen hin gewissermaſsen nur als pars domus erscheinen, durch die Person des Hausherrn vollständig gedeckt werden.

Im Verhältnis zu unfreien Personen ist die Gewalt des Hausherrn Konsequenz des Eigentums, also von rein sachenrechtlicher Natur. Einen andern Charakter hatte sie in Bezug auf freie Personen der Hausgenossenschaft, insbesondere in Bezug auf Weib und Kinder, ledige und verwitwete Schwestern, welche als Angehörige der Sippe von je zur Not auch gegen den Hausherrn durch die Sippe geschützt werden konnten. Die Gewalt des Hausherrn über dieselben wird im Verhältnis nach auſsen später durch den Ausdruck Munt bezeichnet. Das althochdeutsche Wort: die „Munt“ (niederdeutsch und nordisch mund, latinisiert mundium), welches die neuhochdeutsche Sprache nur in Ableitungen und Verbindungen wie Mündel, Gemunde 4, Vormund, mundtodt 5 bewahrte, hat die Grundbedeutung Hand, manus 6. Bildlich gebraucht mag es einst die hausherrliche Gewalt schlechtweg be-

3 Der Hausgenosse heiſst ahd. hîwo, hîo. Das ahd. Fragment der Lex Salica übersetzt in T. 1 cuicumque de familia: sînero hîwôno etteshwelîhemo.

4 Ein Maſs, Spanne, palma. Grimm, WB IV 3290; Schmeller, Bayer. WB I 1624.

5 Für den Entmündigten Grimm, WB VI 2693.

6 Grimm, RA S 447; Graff II 815. 813. Schmeller, Bayer. WB I 1623. Schmid, Gesetze der Angels. S 634. Richthofen, Fries. WB S 938. Kraut I 1—6. Heusler, Institutionen I 95 Anm 3 verweist auf Heliand 5931: mid irô mundon gripan (mundon ist hier Konjektur, Germ. VIII 60, siehe aber u. a. Beóvulf 3091. 3092: ic gefênc mid mundum); Stobbe, PrR IV 4 Anm auf eine Stelle der Breslauer Statuten, wo von Vermögen die Rede ist, das in eines der Ehegatten „munde verstorben worden“. Auf die Bedeutung Hand führen das Wort Gemunde (s. oben Anm 4) und das friesische Nedmond zurück (Richthofen, WB S 946). Durchschlagend sind das altfranzösische mainbour (aus muntporo) und das italienische manovaldo (für mundoaldus). „Man sieht leicht, daſs munt in das rom. main (Hand) umgedeutet oder übersetzt ist, wie dies auch im it. manovaldo geschah“: Diez, Etymol. WB II c, s. v. mainbour. Das von Phillips, RG S 110 Anm 1 und von Stobbe a. O. herangezogene verhältnismäſsig junge Sprichwort „Morgenstunde hat Gold im Munde“ verdankt seine Entstehung vermutlich einem steifleinenen Schulmeisterwitz über das Wort aurora (aurum in ore). In der Wendung „in verbo, in sermone regis esse“ steht verbum nicht für mundium, sondern für bannus und bezieht sich auf den Friedensbann, welchen der König denjenigen wirkt, die er in seinen Schutz aufnimmt. S. unten S 147 Anm 22.


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§ 12. Das Haus.

zeichnet haben, ein Analogon der hausherrlichen manus des römischen Rechtes. Doch schon in den ältesten Fundstellen tritt die Bedeutung von Schutz, Schirm, Friede hervor, während es andrerseits auf Schutzverhältnisse angewendet wird, welchen das Merkmal der Hausgenossenschaft fremd ist. Munt (mascul.) bezeichnet auch den Inhaber der Munt 7, den Vormund und Schutzherrn; doch wird er regelmäſsig muntporo, mundboro (Träger der Munt), mundoaldus (Mundwalt) oder foramundo genannt. Die rechtliche Bedeutung der verschiedenen Muntverhältnisse soll weiter unten zur Sprache kommen. Hier beschäftigt uns das Hauswesen nur als einer der sozialen Faktoren der Rechtsbildung.

Die Ehe, das die Hausgemeinschaft begründende Verhältnis, war bei den Germanen eine monogamische. Doch schloſs das Recht die Vielweiberei nicht aus, welche nach Tacitus nur ausnahmsweise und zwar bei den Vornehmsten vorkam 8.

Die ältesten Formen der germanischen Eheschlieſsung sind der Frauenraub und der Frauenkauf 9. Allerdings gilt in der Zeit, da die ersten Rechtsquellen flieſsen, nur noch die Kaufehe für erlaubt, wogegen der Frauenraub strenge bestraft wird. Allein verschiedene Anhaltspunkte weisen darauf zurück, daſs auch die Germanen wie ihre arischen Vettern, die Inder, Griechen, Römer und Slawen, einstens die Raubehe gekannt haben 10. An der Schwelle der deutschen Geschichte steht das berühmte Beispiel des Cheruskerfürsten Armin, der die einem Anderen versprochene Tochter des Segestes durch Raub zur Ehe gewann 11. Germanische Sagen und Dichtungen preisen den Helden, der sich durch kühne Waffenthat aus dem Hause des Feindes das Eheweib holt 12. Die ehebegründende Kraft des Frauenraubes verraten noch die Bestimmungen einzelner deutscher Volksrechte, nach welchen

7 Ahd. Glossen, Graff II 813, übersetzen protector mit munt. Im Friesischen heiſst mund, mond der Vormund über Kinder und Frauen. Richthofen, Fries. WB S 938. 939.

8 Tacitus, Germ. c. 18. Vgl. Wackernagel a. O. S 10.

9 Zu weit gehen m. E. Dargun und Heusler, wenn sie die Priorität der Raubehe behaupten und daraus die Kaufehe in der Weise ableiten, daſs der Kaufpreis zunächst die Sühne des Frauenraubes gewesen sei.

10 Kohler, KrV XXIII 15; derselbe, Indisches Ehe- und Familienrecht, Z f. vgl. RW III 342; derselbe, Studien über Frauengemeinschaft, Frauenraub und Frauenkauf a. O. V 334. Dargun a. O.

11 Tacitus, Ann. I 55. 57. Der Frauenraub ist stets raptus in parentes und schlieſst auch die Entführung in sich, da der Konsens der Frau für das älteste Eherecht irrelevant ist.

12 Stiernhöök, De iure Sveonum et Gothorum vetusto S 152.


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§ 12. Das Haus.

der raptor die Geraubte als Ehefrau wider den Willen der Verwandten, welchen er sie raubte, oder wenigstens dann behält, wenn sie in die Entführung eingewilligt hat 13. Die schwedischen Rechte kennen einen gesetzmäſsigen Frauenraub. Wenn nämlich der Verlober sich weigert, die Braut dem Bräutigam zu übergeben, so ist dieser nach Erfüllung gewisser Förmlichkeiten berechtigt, die Schar seiner Freunde zu sammeln und sich die Braut gewaltsam zu nehmen 14. Nachdem die Ehe durch Frauenraub aus dem Rechtsleben verschwunden war, ging das Rauben der Braut in die Trauungsförmlichkeiten über, um schlieſslich zu einem rechtlich unwesentlichen Hochzeitsbrauche abzublassen 15. West- und ostgermanische Sprachen haben für Trauung oder Hochzeit den uralten Ausdruck Brautlauf oder Brautlauft gemeinsam 16. Das Wort ist von laufen, currere, abzuleiten und enthält wohl eine Erinnerung an die einstige Eheschlieſsung durch Frauenraub 17.

13 Lex Sal. 13, 10. Lex Fris. 9, 11. Rothari 188: tunc maritus, qui eam accepit uxorem, componat. Aethelbirht 82. Lex Sax. c. 40. 49. Lex Thur. 47. Lex Rib. 58, 18. Decretio Child. c. 4, I 16: certe si ipsa mulier raptori consenserit, ambo pariter in exilio transmittantur. Lex Rom. Utin. IX 18. Regino II 16. Richthofen, Friesische RQ S 391, 30. Vgl. Grimm, RA S 440. Wenn auch der Entführer buſsfällig ist und nachträglich den Kaufpreis der Frau zu zahlen hat, so bleibt es doch für die juristische Auffassung der Ehe der durchschlagende Gesichtspunkt, daſs der Vormund die Rückgabe der Entführten nicht erzwingen kann, die Verbindung ohne Rücksicht auf den Willen der Verwandten als giltige Ehe und nicht als Konkubinat betrachtet wird, während andrerseits eine Eheschlieſsung durch bloſsen Konsens der Nupturienten dem germanischen Rechte unbekannt ist. Im 9. Jahrh. entstand unter kirchlichem Einfluſs das Ehehindernis des raptus. Cap. eccl. 818—19 c. 24, I 279. Richter-Dove, Kirchenrecht § 271. Colberg, Das Ehehindernis der Entführung, 1869.

14 v. Amira, Schwed. Obligationenrecht S 138 ff.

15 Dargun a. O. S 128. 130.

16 Ahd. prûthlouft, ags. brŷdhleáp, altn. brûđhlaup, schwed. bruþlöp, dän. bryllup. Graff, Spsch. IV 1120; Grimm, WB II 337. Der schwedische Brautlauf, auch bruþfærþ, Brautfahrt, ist die Heimführung der Braut durch den Bräutigam und sein Gefolge. Obwohl bereits angetraut, gehört die Braut bis zum Ende des Brautlaufs noch dem Hause des Verlobers an. Stirbt sie während des Brautlaufs, so werden ihre Leiche und ihre Heimsteuer in das Vaterhaus zurückgebracht. v. Amira, Obligationenrecht S 539. Nach friesischem Rechte gilt die Braut als Frau, wenn sie der Bräutigam heimgeführt hat mit „horne and mith hlude, mit dome and mith drechte“: mit Hörnerschall, mit dem Verspruch ihrer Magen und mit Geleite. Richthofen, Friesische RQ S 98, 18. 52, 16. 53, 16; Untersuchungen I 227 f. Wird der Bräutigam im Drecht (Brautgeleite) erschlagen, so folgt sie der Leiche ins Haus und gewinnt damit das Recht auf das Wittum. Über den Brautlauf als Hochzeitsgebrauch Schröder in der Z f. d. gebildete Welt II 129.

17 Führt Braut auf Sanskrit praudhâ zurück (Grimm, WB II 331), so ist Braut die Fortgeführte von skr. pravah, auferre.


(0092 : 74)

§ 12. Das Haus.

Die vertragsmäſsige Eheschlieſsung erfolgte einer ursprünglich altgermanischen Sitte gemäſs durch Frauenkauf. Der Kaufvertrag wurde zwischen dem Bräutigam und seinen Magen einerseits, dem Vater oder Vormund der Braut und ihren Magen andrerseits abgeschlossen. Die Braut selbst war nicht Kontrahentin, sondern Objekt des Kaufvertrags. Verheiraten heiſst noch in den Volksrechten der folgenden Periode uxorem emere, feminam vendere18, der für die Braut gezahlte Preis wird pretium emtionis19, pretium nuptiale20 oder pretium21, die Braut puella emta22, die Verlobung mercatio genannt23. Wenn man ein Mädchen kauft, so sagt ein kentisches Gesetz24, so sei es mit dem Kauf gekauft, falls kein Trug dabei ist. Ist aber Trug dabei, so bringe er sie nach Hause zurück und man gebe ihm sein Geld wieder. Noch roher klingt eine andere Stelle der Gesetze König Aethelbirhts: wenn ein Freier bei eines Freien Frau liegt, so kaufe er sie mit ihrem Wergeld und erwerbe mit seinem Gelde eine andere Frau, die er jenem heimbringe25. Der Frauenkauf ist noch den jüngeren ostfriesischen Quellen bekannt und wurde noch im 15. Jahrhundert bei den Dietmarschen geübt26. Und wie im Mittelalter die Redensart eine Frau kaufen vielfach verbreitet war, so bezeichnet in Holland der Volksmund noch jetzt die Braut als „verkocht“ (verkauft)27.

Wie jeder Kauf war auch der Frauenkauf ursprünglich ein Zug um Zug erfülltes Baargeschäft, indem von der einen Seite die Zahlung des Kaufpreises, von der anderen die Hingabe der Braut erfolgte. Aber schon früh hat mit der Verfeinerung der Sitte die Eheschlieſsung diesen Charakter eingebüſst und fielen der Veräuſserungsvertrag über die Braut und die Übergabe derselben zeitlich auseinander28, so daſs der ursprünglich einheitliche Akt der Eheschlieſsung sich in die Akte der Verlobung und der Trauung spaltete. Die Verlobung (der Veräuſserungsvertrag) ist bindend, wenn der Kaufpreis bezahlt oder durch rechtsförmlichen Wettvertrag versprochen worden ist. Für den Kauf-

18 Lex Sax. c. 49. 65. Richthofen, Zur Lex Sax. S 288 f.

19 Lex Sax. c. 43.

20 Lex Burg. c. 34. 42, 2. 61.

21 Lex Wisigothorum III 1, 2. III 4, 7.

22 Pactus Alam. 3, 29; Lex Alam. Lantfr. 97, 4.

23 Form. Wisigoth. 18.

24 Aethelbirht c. 77.

25 Aethelbirht c. 31.

26 Richthofen, Zur Lex Sax. S 291.

27 Noordewier, Regtsoudh. S 177.

28 Das läſst sich bereits aus Tacitus, Ann. I 55 schlieſsen: Arminius filiam eius (Segestis) alii pactam rapuerat.


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§ 12. Das Haus.

preis existieren in der folgenden Periode bei den verschiedenen Stämmen rechtlich fixierte Taxen, von welchen man vermutet, daſs sie ursprünglich dem Wergelde der Braut gleichwertig waren. Die Trauung fand als ein öffentlicher Akt in Gegenwart der beiderseitigen Verwandten statt, indem die Braut von ihrem Mundwalt dem Bräutigam übergeben wurde. Sie erscheint daher rechtlich als die traditio puellae und heiſst wohl auch Gift29 oder Brautgabe30. Die Übergabe der Braut schlieſst die Übergabe ihres etwaigen Vermögens in sich.

Die Gewalt des Mannes über die Frau entspricht im allgemeinen der Gewalt des Vaters über die in der Were sitzenden Kinder, ein Verhältnis, welches das ältere schwedische Recht dadurch andeutet, daſs der Bräutigam bei der Verlobung einen der Adoption eigentümlichen Formalakt vornimmt, indem er die Jungfrau auf sein Knie setzt31. Der Mann hat das Recht die Frau zu töten, doch war diese Befugnis nicht bloſs durch die Sitte, sondern auch durch rechtliche Voraussetzungen beschränkt und gewiſs hat schon in ältester Zeit der Grundsatz gegolten, den uns eine langobardische Rechtsquelle überliefert: non licet uxorem interficere ad suum libitum sed rationabiliter32. Als solche rechtmäſsige Gründe der Tötung werden uns später genannt der Fall, wenn die Frau dem Manne nach dem Leben strebt und wenn sie auf Ehebruch ertappt wird33. Er ist befugt sie zu züchtigen und wenn sie sich entehrte schimpflich aus dem Hause zu jagen34, ja er hat sogar das Recht sie zur Strafe35 und im Falle echter Not zu verkaufen36.

Die Kinder stehen in der Gewalt des Vaters, so lange sie im

29 Ags. gifta (Plural) = nuptiae. Schmid, Gesetze der Angels. S 603.

30 Ahd. Glossen bei Graff IV 122: sponsalia brutgepa.

31 Grimm, RA S 433, vgl. S 155. 160. v. Amira, Obligationenr. S 535. 539.

32 Formel des Liber Papiensis zu Rothari 200: MG LL IV 344.

33 Rothari 200. 202. Lex Baiuw. VIII 1. Lex Wisig. III 4, 4. Wilda, Strafrecht S 821 ff. Rosenthal, Rechtsfolgen des Ehebruchs S 41. Noch nach den Gesetzen des westerlauerschen Frieslands, Richthofen S 409, 13 ff., hat der Vormund (der Ehemann) das Recht, die Frau wegen Ehebruchs zu geiſseln oder zu enthaupten mit dem Schwerte, unter dem sie ging, als sie getraut wurde.

34 Tacitus, Germ. c. 19.

35 Liutpr. 121: die Frau, welche sich unzüchtige Handlungen gefallen läſst, darf vom Ehemann nach Belieben gezüchtigt oder verkauft, aber nicht verstümmelt oder getötet werden.

36 Tacitus, Ann. IV 72 von den Friesen: postremo corpora coniugum aut liberorum servitio tradebant. Lex Bai. I 10: et si non habet tantam pecuniam se ipsum et uxorem et filios tradat. Cap. I 187 c. 1. Loersch u. Schröder, Urk. I Nr 87 und dazu Viollet a. O. S 421. Richthofen, Zur Lex Saxonum S 293.


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§ 12. Das Haus.

väterlichen Hause leben37. Des Vaters Wille entscheidet, ob das neugeborene Kind in die Familie aufgenommen oder ausgesetzt werden solle. Die Aussetzung war gestattet bis zur Zeit da dem Kinde ein Name gegeben worden38. Die Namengebung pflegte binnen neun Nächten nach der Geburt zu erfolgen39 und war schon in heidnischer Zeit mit Wassertauche oder Wasserbegieſsung verbunden40. Mit diesem Akte trat das Kind in seine volle Rechtsfähigkeit und in sein volles Wergeld ein, während es bis dahin nur durch ein halbes Wergeld geschützt war41.

Bezüglich der Kinder hat der Vater gleichfalls das Recht, sie wegen echter Not in die Unfreiheit zu verkaufen42. Ebenso darf er sie zur Strafe töten oder verkaufen43. Der Vater haftet für das Hauskind, vertritt es vor Gericht44, schwört Eide für den in der Were befindlichen Sohn45. Aus der väterlichen Gewalt scheiden die Töchter durch die Ehe aus, um in die Munt des Ehemannes einzutreten, die Söhne durch Gründung eines selbständigen Haushalts, ferner durch Eintritt in eine Gefolgschaft und durch Annahme an Kindesstatt. Der Sohn, der die wirtschaftliche Selbständigkeit erlangte, was regelmäſsig bei der Verheiratung, mitunter aber nicht immer bei der Wehrhaftmachung geschah, scheidet wie aus dem Hause so auch aus der Munt des Vaters aus, er wird homo suae potestatis, selb-

37 Die Ausdrücke Degen, Knabe bezeichnen einerseits den puer, andererseits den Diener. Knecht ist ursprünglich Knabe. Got. magus ist Knabe und Knecht, angels. mago Sohn und Diener.

38 Nach einer Nachricht über die heidnischen Friesen war der Vater befugt, das Kind zu töten oder töten zu lassen, so lange es keine Nahrung zu sich genommen hatte. Grimm, RA S 458. Lex Fris. 5 betrachtet nur die Tötung des neugeborenen Kindes durch die Mutter für straflos.

39 Lex Sal. 24, 4; Rib. 36, 10. Vgl. Pact. Alam. 2, 31; Lex Al. Hloth. 79.

40 K. Maurer, Über die Wasserweihe des germ. Heidentums, Abhandl. der bayr. Akad. XV 3. Abteil. 1880. Spuren dieser Sitte hat für die Westgermanen Müllenhoff, Anzeiger f. DA VII 407 ff. nachgewiesen.

41 Ursprünglich mag die Namengebung und Taufe wohl auch die Erbfähigkeit bedingt haben, und vermutlich ist es das Ergebnis einer jüngeren Rechtsbildung, wenn sie nur von bestimmten Merkmalen der Lebensfähigkeit — von der Annahme der ersten Nahrung bei den Nordgermanen, von einer Stunde Leben und der Öffnung der Augen bei den Alamannen — abhängig gemacht wird.

42 S. oben Anm 36. Edictum Pistense v. J. 864 c. 34. Theodorus, Cap. Dach. c. 114 bei Wasserschleben, Buſsordnungen S 155. Theod., Poenit. c. 13 a. O. S 217. Weitere Belege und Litteratur bei Dargun a. O. S 49.

43 Rothari 221. Kraut, Vormundschaft I 46.

44 Greg. Tur. 8, 43. Cap. Worm. v. J. 829 c. 4. Pertz I 353.

45 Form. Andeg. 11.


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§ 12. Das Haus.

mündig46. Die Begründung eigener Wirtschaft wirkt also als Emanzipation. Der Vater haftet nicht mehr für die Handlungen des ausgeschiedenen Sohnes, ausgenommen die Fälle allgemeiner Magschaftshaftung47. Die Annahme an Kindesstatt48 schloſs die Aufnahme in ein fremdes Hauswesen in sich und erfolgte dadurch, daſs das Wahlkind dem Wahlvater tradiert wurde, worauf dieser eine Handlung vornahm, welche die Anerkennung des Vaterverhältnisses zum Ausdruck brachte49. Als solche Handlungen finden sich die Wehrhaftmachung, das Scheren der Haare50, die Kniesetzung51.

Die Wehrhaftmachung geschah in der Landesgemeinde, sobald der Sohn die physische Reife erlangt hatte52. Mit dem Mündigkeitstermine hängt sie auch später nicht zusammen. Nach Tacitus wird sie durch den princeps oder durch den Vater oder durch die Verwandten vorgenommen. Erfolgt sie von Seite eines princeps, so vermittelt sie den Eintritt in sein Gefolge. Überreicht der Vater die Waffen, so hebt er damit seine väterliche Gewalt nicht auf. Als vaterlos ist vermutlich der Jüngling zu denken, der die Waffen von Verwandten empfängt. In diesem Falle ist es die als Gesamtvormund

46 Vgl. Cap. I 285 c. 21. Der Ausdruck selbmündig findet sich nicht blos im Edictus Langob. Roth. 204 (selpmundia), sondern auch im lübischen Stadtr. Hach S 353 Cod. II 203 und in der Dortmunder Urk. bei Frensdorff, Dortm. Statuten 289 Anm.

47 Nach dem Rechte von Schonen, Sunesen c. 10 Schlyter, Corpus iuris SueoGot. IX 246, erklärt der Vater, der den Sohn emanzipieren will: „quod nolit de factis suis de cetero respondere“, nulli de cetero responsurus de suis excessibus preter reatum homicidij interdum a cognatis eciam emendandum.

48 Vulfila hat Römer 9, 4 für Ankindung, υἱοϑεσία, den Ausdruck frastisibja. Diefenbach II 202. Das fränkische Wort Affatomie bedeutete ursprünglich Adoption nach Amira, Erbenfolge S 60.

49 Sie kann bei Franken, Langobarden, Ostgoten, Gepiden und Nordgermanen nachgewiesen werden. Über die Scheinadoption zum Zweck der Emanzipation weiter unten. S. vorläufig Holtzendorffs Encyklopädie I 259.

50 Grimm, RA S 146. 464. Stobbe, Beiträge zur Geschichte des DR S 9 f. Sohm, RUGV S 549. Über die indische Haarschur als Adoptionsform Kohler, Z f. vgl. RW III 410. — Schröder, RG I 62.

51 Im Norden, daher knêsetja adoptieren. Grimm, RA S 433. 464.

52 Tacitus, Germ. c. 13: arma sumere non ante cuiquam moris, quam civitas suffecturum probaverit. tum in ipso concilio vel principum aliquis vel pater vel propinqui scuto frameaque iuvenem ornant. Cassiodori Var. I 38: sic iuvenes nostri qui ad exercitum probantur idonei, indignum est, ut ad vitam suam disponendam dicantur infirmi et putentur domum suam non regere qui creduntur bella posse tractare (es handelt sich um einen vaterlosen Jüngling). Gothis aetatem legitimam virtus facit; et qui valet hostem confodere, ab omni se iam debet vitio vindicare.


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§ 12. Das Haus.

fungierende Sippe, die durch ihre Vertreter den Jüngling wehrhaft macht. Von einem Dritten vorgenommen kann die Wehrhaftmachung Adoptionsakt sein. Die Wirkung der Wehrhaftmachung ist in allen Fällen die Aufnahme in das Heer, womit das Recht verbunden war, in den Volks- und Gerichtsversammlungen zu erscheinen. Emanzipationshandlung ist die Wehrhaftmachung an sich nicht53.

Als Vorbereitung, vielleicht auch als Ersatz der Wehrhaftmachung scheint die Förmlichkeit der capillaturiae, das Abschneiden des Haupthaars54 gedient zu haben. Buſsfällig macht sich nach dem ältesten Rechte der salischen Franken, wer an einem Knaben ohne Einwilligung der Verwandten die Haarschur vornimmt55. Geschenke, die der Sohn aus Anlaſs der capillaturiae vom Vater erhielt, braucht er sich nach salischem Rechte bei der Erbteilung nicht anrechnen zu lassen. Sie haben nicht den Charakter der Abschichtung, wie sie später bei der Entlassung aus der väterlichen Were und Munt vorzukommen pflegte56.

Nach dem Tode des Vaters stehen seine erwachsenen Söhne sich gleichberechtigt gegenüber und zwar auch dann, wenn sie etwa, was noch in der folgenden Periode häufig vorkam, in ungeteilter Erbschaft und in häuslicher Gemeinschaft sitzen blieben57.

53 Übereinstimmend Heusler, Institutionen II 435. Sohm a. O. S 554 sieht in der Wehrhaftmachung die Freilassung aus der väterlichen Gewalt. Nach Schröder, RG I 62 endigte die väterliche Munt bei Lebzeiten des Vaters für die Söhne durch Wehrhaftmachung, doch sei dabei vorausgesetzt worden, daſs der Sohn aus der väterlichen Hausgenossenschaft ausschied. Damit ist im Grunde genommen zugegeben, daſs die Wehrhaftmachung die Emanzipation nicht ist.

54 Lex Sal. Hessels Tit. 100; Cap. 2 zur Lex Sal. c. 2. Ahd. Glossen Graff III 447, II 481 haben für „capillaturae“ die Übersetzungen antfahsi, fahsreitî. Im 9. Jahrh. scheint diese Sitte bei den Franken abgekommen zu sein, denn in Cap. legg. add. v. J. 818—19 c. 21, I 285 de pueris invitis parentibus detonsis ist mit der Haarschur die geistliche Tonsur gemeint.

55 Lex Sal. Hessels Tit. 69. 24, 5 (Cod. 2 ff.). Sal. 24, 1 setzt für den Knaben unter zwölf Jahren (vor dem salischen Mündigkeitstermin) das dreifache Wergeld an. Weil wehrlos, soll er höher gebüſst werden wie der Wehrhafte. Das dreifache Wergeld hat aber auch der puer crinitus ohne Rücksicht auf sein Alter, Wir können daraus schlieſsen, daſs die Haarschur nicht mit dem Eintritt des 12. Jahres stattfinden muſste, sondern später vorgenommen werden konnte und daſs sie mit der Wehrhaftmachung zusammenhängt oder dieselbe ersetzt.

56 Lex Sal. Hessels Tit. 100. Sohm a. O. S 345.

57 Gerade diese ganerbschaftlichen Verhältnisse sind ein Argument gegen die Ansicht, daſs die Wehrhaftmachung Emanzipation gewesen sei, denn die ungeteilte Erbengemeinschaft unter erwachsenen Brüdern setzt voraus, daſs dieselben bis zum Tode des Vaters im väterlichen Hause gelebt haben. In Rothari 167, De fratres qui in casam cummunem remanserunt, wird der Fall besprochen, daſs einer von ihnen durch Königsdienst oder durch Kriegsdienst etwas erwirbt. Cap. Aquisgr.


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§ 12. Das Haus.

Entsprechend der genossenschaftlichen Struktur der Sippe hat nicht etwa der Älteste eine patriarchalische Obergewalt über die Brüder.

Solange die Feldgemeinschaft mit wechselnder Hufenordnung bestand und des baufähigen Landes im Überfluſs vorhanden war, wurde vermutlich jedem von den erwachsenen Söhnen eines verstorbenen Dorfgenossen im Bedürfnisfalle eine Hufe zugewiesen, wenn er sich als Hofbesitzer niederlassen wollte. Als die Dorfmarken nicht mehr ausreichten und die Hufenzahl geschlossen werden muſste, folgten die Söhne dem Vater insgesamt in dessen hinterlassenen Grundbesitz. Andere Verwandte werden nach salischem Recht noch bis in die zweite Hälfte des sechsten Jahrhunderts durch das Heimfallsrecht der Gemeinde ausgeschlossen58.

Über das älteste Erbrecht der Germanen besteht eine Reihe fundamentaler Streitfragen, die sich hauptsächlich darauf beziehen, wie der Inhalt jüngerer Quellen mit den von Tacitus überlieferten Nachrichten zu vereinigen sei. Es ist streitig, wie weit neben der durch die Mutter vermittelten Verwandtschaft die väterlichen, die agnatischen Verwandten ein Erbrecht an der Fahrhabe besaſsen. Es ist streitig, wie sich der Erbenkreis der Hausgenossen zu dem der bloſsen Sippegenossen verhielt. Es ist streitig, wie in Fragen des Erbrechts die Nähe der Verwandtschaft berechnet wurde und zur Geltung kam. Aus methodischen Gründen dürfte es sich empfehlen, von der Erledigung dieser Streitfragen zunächst abzusehen und hier nur zu konstatieren, was uns über das Erbrecht der Germanen von Tacitus berichtet wird. Im Gegensatz zur römischen Sitte hebt er hervor, daſs Testamente den Germanen fremd waren. Jüngere Nachrichten bestätigen für das ältere Recht die allgemeine Unzulässigkeit letztwilliger Verfügungen. Das Erbrecht war den Germanen ein Recht der Blutsverwandtschaft. Die Erben waren geborene, nicht gekorene, soweit nicht die Adoption den Mangel an Leibeserben ersetzen konnte. Als nächste Erben nennt Tacitus die Kinder des Verstorbenen, dann die

v. J. 818—19 c. 6, I 282 gestattet Vergabungen aus der ungeteilten Erbschaft. Der Vergabende muſs mindestens mündig sein. Daſs die Söhne im Hause des Vaters bis zum Tode desselben als pueri criniti gelebt hätten, ist nicht vorauszusetzen. Denn die Wehrhaftmachung muſste im öffentlichen Interesse jedem wehrfähigen Jüngling, der freien und nicht geistlichen Standes war, zuteil werden, sobald er die physische Reife hatte. Wäre die Wehrhaftmachung Emanzipation, so schiede sie den Emanzipierten aus dem väterlichen Hause und würde eine ökonomische Selbständigkeit voraussetzen, mit der sich der Eintritt in ganerbschaftliche Verhältnisse nach des Vaters Tod nicht wohl vereinigen läſst.

58 S. unten § 25.


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§ 12. Das Haus.

Brüder, die Vaterbrüder und die Mutterbrüder59. Daſs Eltern, Schwestern und Schwestersöhne nicht genannt werden, ist bemerkenswert. So selbstverständlich uns die Thatsache erscheint, daſs der Vater von seinen Kindern beerbt wird, so fällt sie doch bedeutungsvoll ins Gewicht gegen die Herrschaft des sogen. Mutterrechtes, welches die vergleichende Rechtsgeschichte als älteste familienrechtliche Phase in der Entwicklung roher Naturvölker nachgewiesen hat60.

Das Mutterrecht kennt keine wahre Ehe, vielmehr bleibt die Frau vollständig an ihre ursprüngliche Familie gebunden. Die Kinder folgen nicht dem Vater, sondern der Familie der Mutter. Das Mutterrecht läſst nur die durch das mütterliche Blut vermittelte Verwandtschaft gelten. Wie die Vaterschaft wird die durch den Vater vermittelte Verwandtschaft im Erbrechte ignoriert, so daſs die Kinder von dem Erbe des Vaters beispielsweise durch die Schwestersöhne ausgeschlossen werden.

Die Germanen hatten zur Zeit, da die Römer sie kennen lernten, jenes rohe Vorstadium der Kultur in ihrem Familien- und Erbrechte bereits überwunden. Der deutlichste Beweis für die Gliederung des Volkes nach agnatischen Verbänden ist jene uralte Stammsage, welche die drei Söhne des Mannus zu Stammvätern der Ingväonen, Istväonen und Herminonen macht. Wie die Ehe auf der eheherrlichen, die Kindschaft auf der väterlichen Gewalt basiert, so ist auch das Erbrecht in erster Linie ein Recht der in der Ehe gezeugten Kinder. Während man noch aus einem Titel der Lex Salica wenigstens in Bezug auf entferntere Verwandte Spuren des Mutterrechtes glaubt herauslesen zu können61, schlieſst Tacitus durch die Erwähnung des patruus das Mutterrecht schlechtweg aus.

Eine merkwürdige Sitte erwähnt Tacitus von der Völkerschaft der Tenkterer, welche durch ihre ausgezeichnete Reiterei berühmt war. Die Pferde empfange nicht wie das übrige der älteste, sondern der kriegstüchtigste Sohn62. Lieſse sich eine Sondernachfolge in die Streitrosse allenfalls als eine älteste Spur des später sogenannten Heergeräte deuten, so würde doch andrerseits ein Vorrecht des Erstgebornen

59 Germ. c. 20: heredes tamen successoresque sui cuique liberi et nullum testamentum. si liberi non sunt, proximus gradus in possessione fratres patrui avunculi.

60 Bachofen, Das Mutterrecht, eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt, 1861. Dargun a. O. Kohler a. O. und Z f. vgl. RW VI 321. Starke Konzessionen macht an das Mutterrecht Heusler, Institutionen II 521.

61 Aus Lex Sal. 59. Mit Unrecht, wie weiter unten dargethan werden soll.

62 Germ. c. 32: Inter familiam et penates et iura successionum equi traduntur; excipit filius non ut cetera maximus natu sed prout ferox bello et melior.


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§ 13. Die Sippe.

bezüglich des übrigen Vermögens in der Entwicklungsgeschichte des germanischen Erbrechtes völlig vereinzelt dastehen. Eine rechtsgeschichtliche Erklärung jener Stelle wird daher davon ausgehen müssen, daſs es sich in ihr nicht um einen Grundsatz des Erbrechtes handelt, sondern um eine Abtretung des Vermögens, welche der Vater bereits bei Lebzeiten vornahm, oder um eine Aufteilung, durch welche die Verwandten sich über den Nachlaſs auseinandersetzten63.

§ 13. Die Sippe.

Konrad Maurer, Über angelsächsische Rechtsverhältnisse, KrÜ I 52 ff.: Das Geschlecht; III 26 ff.: Das Fehde- und Wergeldwesen. Reinhold Schmid im Hermes Bd 32 1829 S 247 ff. und Gesetze der Angelsachsen S 627 ff. Konrad Maurer, Island von seiner ersten Entdeckung bis zum Untergang des Freistaats, 1874, S 322. Vilh. Finsen, Fremstilling af den islandske Familieret efter Grágás, Annaler for Nordisk Oldkyndighed og Historie 1849. 1850. Brunner, Sippe und Wergeld, in der Z2 f. RG III 1 ff. Lamprecht, Wirtschaftsleben I 19 ff. F. Schupfer, La famiglia presso i Langobardi, Archivio giuridico 1868. v. Sybel, Entstehung des deutschen Königtums, 2. Aufl., S 35 ff. Waitz, VG I 67 ff. Gierke, Genossenschaftsrecht I 15. Henry Sumner Maine, Dissertations on early law and custom, 1883.

Die gesellschaftliche und die rechtliche Stellung des einzelnen Volksgenossen hatte in germanischer Zeit ihre Wurzeln in dem Geschlechte, dem er durch seine Geburt angehörte. Der Geschlechtsverband griff so tief in das Volks- und Rechtsleben ein, daſs der verwandtenlose Mann sich wenig vom rechtlosen unterschieden haben mag.

Das Geschlecht heiſst Sippe1 (got. sibja, ahd. sibba, sippja, ags. sib, syb), ein Wort, dessen Nebenbedeutung Friede und Freundschaft ist2. Innerhalb des Geschlechtes herrscht ein besonderer Friede, der unter den Sippegenossen jede Fehde ausschlieſst. Die Zugehörigkeit zur Sippe beruht auf der Blutsverwandtschaft, deren Wirkungen in der ältesten Zeit nur eine thatsächliche Beschränkung erleiden, sofern ihr Nachweis nicht mehr möglich ist. Rechtliche

63 Das Wort traduntur schlieſst den Gedanken an eine Delation der Erbschaft aus. Auch v. Amira, Erbenfolge S 219 bezweifelt, daſs in c. 32 von einer Individualsuccession die Rede sei. Der Erstgeborene habe vielmehr die Sachen an sich genommen (excipit), weil er von den Miterben als der Älteste zum Vertreter des gemeinsamen Rechtes bestellt worden sei.

1 Grimm, RA S 467. Daneben slahta, gislahti, fara, ahta, chunni. Noch jetzt sagt man in Pommern Kind un Künne. Grimm, WB V 2664. Gotisch auch knoþs, althochd. u. alts. knôsal, ags. cnôsl, altnord. æt und kyn. Über nord. sif und sifjar s. Grimm, Mythologie I S 286.

2 Vgl. Dahn, Könige VI2 21.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 6


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§ 13. Die Sippe.

Beschränkungen, welche in fränkischer Zeit auftauchen und die Blutsgemeinschaft nur innerhalb einer bestimmten Zahl von Verwandtschaftsgliedern als wirksam betrachten, müssen der Urzeit fremd gewesen sein. Denn trotz jener Beschränkungen hat die Volksanschauung noch lange daran festgehalten, daſs die Gemeinsamkeit des Blutes sich geltend mache und wenn sie auch noch so gering sei. Ein Rechtssprichwort sagt: Freundesblut wallt und wenn es auch nur ein Tropfen ist. Und auf uralten Aberglauben scheint eine Verwandtschaftsprobe zurückzuführen, über welche eine holländische Rechtsquelle des 15. Jahrhunderts berichtet. Wenn der Leichnam eines Ermordeten oder eines Ertrunkenen nach langer Zeit aufgefunden wird und jemand wissen will, ob er mit dem Toten verwandt sei, so füge er sich eine Schnittwunde bei und lasse das Blut auf den Leichnam niederträufeln. Ist es das Blut eines Verwandten, und sei die Verwandtschaft noch so ferne, so hält es der Leichnam fest und kann es trotz alles Waschens nicht wieder beseitigt werden3.

Mit der Anschauung des Naturvolkes, welches den auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden Beweis der Verwandtschaft bevorzugt, haben die Germanen die durch Weiber vermittelte Blutsgemeinschaft in manchen Beziehungen höher geachtet wie die durch Männer vermittelte. Das Verhältnis zwischen Neffe und Mutterbruder gilt für eben so eng wie das zwischen Sohn und Vater. Bei der Stellung von Geiseln wird die mütterliche Verwandtschaft als stärkere Sicherheit betrachtet4. Dagegen hat das sogenannte Mutterrecht bei den Germanen, wie bereits oben S. 80 betont werden muſste, zur Zeit ihres Eintrittes in die Geschichte nicht mehr bestanden.

Die Verwandten heiſsen Gesippen, Freunde, Holde5, Gätlinge6. Die Westgermanen bezeichnen sie auch als Magen (ahd. mâg, ags. mæ̂g), während gotisch mêgs, altnordisch mâgr auf die Schwägerschaft bezogen wird7. Die Magen zerfallen in Vatermagen und Muttermagen, Ausdrücke, die häufig in der Weise verwendet werden, daſs Vatermagen die nur durch den Vater, Muttermagen die nur durch die

3 Jan Matthijssen, Het Rechtsboek van den Briel, herausgeg. von J. A. Fruin und Pols 1880, S 220.

4 Tacitus, Germania c. 20.

5 Ahd. Glossen II 688, 46: proximi holdun. Friesisch holda, houda, Richthofen, WB S 823.

6 Gotisch gadiliggs, Vetter; altsächs. gadulinc, ahd. katalinc, gatulinc, ags. gædeling, urverwandt mit Gatte u. Gattung. Grimm, WB IV 1 Sp 1493. Haltaus I 582. Ssp Landr. II 31, 1.

7 Grimm, WB VI 1435; RA S 468.


(0101 : 83)

§ 13. Die Sippe.

Mutter vermittelte Verwandtschaft bezeichnet, und daſs die Magschaft im engeren Sinne erst bei den Groſseltern und deren Abstämmlingen beginnt. Die männlichen Verwandten des Mannsstammes werden als Schwert-, Ger- oder Speermagen oder schlechtweg als Schwert, Speer (lancea), alle Verwandten weiblichen Geschlechts und die von solchen abstammenden Männer als Spindel-, Spill-, Kunkelmagen oder schlechtweg als Spille, Spindel, Spinne, Spillsippe, fusus zusammengefaſst8.

Bei den Franken und Friesen findet sich nachmals eine Gliederung der Verwandtschaft in vier Teile, indem sie nach den vier Urgroſselternpaaren in vier Stämme zerfällt, die bei den Niederfranken Vierendeele, bei den Friesen Klüfte heiſsen9.

Innerhalb der Sippe bilden diejenigen, die derselben Hausgenossenschaft angehören oder angehört haben, Eltern, Kinder und Geschwister einen engeren Verband.

Mit Rücksicht auf die Nähe der Verwandtschaft schichtet sich die Magschaft des einzelnen nach Generationen in Gruppen ab, die von den neueren als Linien oder Parentelen bezeichnet werden10. Die einzelne Parentel wird von denjenigen gebildet, die durch den nächsten gemeinschaftlichen Aszendenten verbunden sind. Geht man von dem einzelnen Mitglied der Sippe aus, so gliedert sich im Verhältnis zu ihm die Seitenverwandtschaft in die Abstämmlinge der Eltern, der Groſseltern, der Urgroſseltern u. s. w.

Um die Verwandtschaft zwischen zwei Personen zu bestimmen, suchte man zunächst den gemeinschaftlichen Aszendenten und zählte dann die Generationen ab, durch die sie von ihm abstanden. Indem man sich die Verwandtschaft durch das Bild des menschlichen Körpers mit seinen Gliedern und Gelenken versinnlichte, nannte man die einzelne Generation Knie oder Glied, mlat. genu, geniculum. Das Knie der Eltern ist das erste, das der Groſseltern das zweite und so fort.

8 Rosin, Der Begriff der Schwertmagen, 1877. Schröder, Über die Bezeichnung der Spindelmagen, Z2 f. RG IV 1.

9 Vgl. Z2 f. RG III, Sippe und Wergeld S 21. 24. Weistum aus dem Alten Lande (Regierungsbez. Stade) im Archiv des Vereins f. Gesch. u. Altertum des Herzogtums Bremen usw. Heft 9 S 139 (1881—82): oft sik geböre und recht si den ver kluften dat mangelt to vorderen oder den erven sulches tom besten to holden?

10 Die nähere Begründung der Parentelenordnung kann erst weiter unten gegeben werden. Zunächst sei auf die treffliche Darstellung Heuslers in dessen Institutionen II 586 verwiesen. Daſs die Sippe bei Franken und Friesen nach Parentelen zur Zahlung und zum Empfang des Wergeldes herangezogen wurde, habe ich Z2 f. RG III ausgeführt. Die dort gegebenen Belege lassen sich erheblich vermehren. Bedeutsam ist insbesondere noch eine Stelle der von J. A. Fruin edierten Westfries. Dingtalen S 15, auf die ich noch später zurückkommen werde.

6*


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§ 13. Die Sippe.

Da man die Knie oder Glieder nur auf einer Seite zählte, waren sonach Geschwister im ersten, Geschwisterkinder im zweiten Knie oder Glied mit einander verwandt. Wenn man die Kniezählung erst bei der Magschaft im engeren Sinne, bei der Gabelung der Vater- und Muttermagen begann, so zählte als erstes Knie das der Groſseltern, waren also z. B. Geschwisterkinder im ersten Gliede verwandt11.

Im Wirtschaftsleben, im Heerwesen und im Rechte der Germanen hatte der Verband der Sippe eine weitreichende Bedeutung. Es hat eine Zeit gegeben, da die Sippe eine agrarische Genossenschaft war, indem die aufzuteilenden Stücke der Feldmark den einzelnen Sippen zur gemeinsamen Bewirtschaftung überwiesen wurden. In der nachcäsarischen Zeit erscheint allerdings die räumlich geschlossene Dorfschaft und nicht die Sippe als Eigentümer der Dorfmark, allein von der thatsächlichen Verknüpfung der Sippe mit den Grundbesitzverhältnissen zeigen sich noch in der fränkischen Periode deutliche Spuren. Das alamannische Volksrecht setzt den Fall, daſs zwei Sippen um die Grenzen ihrer Feldmark streiten12. In einem althochdeutschen Gedichte wird der Streit an der Mark als ein Streit mit den Magen gedacht13. In Baiern finden wir Geschlechter als solche (genealogiae) im Besitze von Ländereien, die sie veräuſsern14. Ausdrücke, welche den Sippeverband bezeichnen (genealogia, fara, mægđ), werden in territorialer Anwendung gebraucht, um ein bestimmtes Gebiet oder einen Ort zu bezeichnen15. In Niederdeutschland haben sich

11 Heusler, Institutionen II 592.

12 Lex Alam. Hlo. 87.

13 Muspilli bei Müllenhoff u. Scherer, Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem 8. bis 12. Jahrh., 2. Aufl., S 7 v. 60: Uuâr ist diu marha, dar man mit sînên mâgon piec? diu marha ist farprunnan.

14 Meichelbeck, Hist. Fris. I S 49 v. J. 750 läſst sich Bischof Josef von Freising Ländereien bei Erching von den Geschlechtern der Agilolfinger einerseits, der Fagana andererseits schenken und tradieren. Auf agilolfingischer Seite schenkt Tassilo consentientibus Alfrid cum fratribus suis et participibus eorum atque consortiis. Reliquas autem partes quicquid ad genealogiam quae vocatur Fagana pertinebat, tradiderunt ipsi, id sunt Ragino, Anulo, Wetti, Vurmhart et cuncti participes eorum. Weiter ist von fines utrorumque genealogiarum die Rede. Vgl. Graf Hundt in den Abh. der bayr. Akad. XII 1, 173 f.

15 Genealogia, Collectio Pataviensis 5 Zeumer 459 (Rozière 318): datis in vico et genealogia, quae dicuntur. S. noch die Citate bei Waitz I 83 Anm 3. Bei den Angels. wird mægđ und cyđ für regio gebraucht. Gierke, GR I 61 Anm 1. Sehr oft findet sich in Italien und in Frankreich das Wort fara in örtlicher Anwendung. Für Italien s. die Beispiele bei Schupfer, L’allodio S 45. Im Cod. dipl. Lang. Nr 464 v. J. 915 findet sich eine fara Libani, jetzt fara Olivana oder Ulivana genannt. Nach Diez, Etym. WB bedeutet fara im Lombardischen ein


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§ 13. Die Sippe.

Geschlechtsdörfer hin und wider bis in das 16. Jahrhundert behauptet16.

Die Gruppierung des Heeres nahm Rücksicht auf die Geschlechtsverbände. Die Magen kämpften neben einander, da die Heeresabteilungen, wie uns Tacitus berichtet, aus den familiae et propinquitates zusammengesetzt wurden17. Noch in jüngeren Quellen klingt manches an die militärische Bedeutung der Magschaft an. Der Ausdruck fara bedeutet nicht bloſs die Sippe, sondern auch eine Heeresabteilung18. Der Sippschaften des Heeres gedenkt als der Heeresversammlung der Pactus Alamannorum19. Bedeutsamer ist, daſs nach dem ältesten angelsächsischen Heldengedichte die Magschaft für das Benehmen ihrer Genossen während des Kampfes haftet und nicht bloſs der fliehende Feigling, sondern sein ganzes Geschlecht bestraft wird20, eine Ahndung, welche nur daraus erklärt werden kann, daſs es Zeiten und Verhältnisse gab, in welchen die Magschaft im Heere unter gemeinschaftlicher Führung gemeinschaftlich kämpfte.

Die Sippe hat auſserdem eine Reihe von öffentlich-rechtlichen Funktionen, welche bei entwickelteren Verhältnissen als wesentliche Aufgaben der Staatsgewalt erscheinen. Die Sippe ist es, welche ihren Genossen den Frieden verbürgt, indem sie die an ihnen begangenen Rechts-

kleines Landgut. Für Frankreich weist Valesius, Notitia Galliarum, 1675, S 192 fara als Bezeichnung einer Reihe von Örtlichkeiten nach, so La Fère en Picardie (Fara bei Flodoard), La Fère en Tardenois, Champenoise (fara Campanensis), Fère Briange (fara Briengia), indem er den Namen aus der Ansiedlung von Geschlechtern erklärt.

16 Hanssen, Agrarhist. Abh. I 95.

17 Germania c. 7.

18 Paulus II 9. Rothari 177. Die ahd. Glosse I 219, 6 giebt castrum durch fara kisez. Bestritten ist die Bedeutung der faramanni des burgundischen Volksrechtes 54, 2. 3. Wackernagel bei Binding, Das burg.-rom. Königr. S 354 erklärt sie als consortes, Teilhaber, den Burgundofaro als Burgunder, der consors eines possessor geworden ist. S. noch Binding S 22 Anm 77; Jahn I 65 Anm 10, II 505. Wahrscheinlich sind Geschlechtsgenossen gemeint.

19 Pactus Alam. II 48: litus … in heris generationis dimissus.

20 Beóvulf ed. Heyne, 4. Aufl. 1879, v. 2887 f. Grimm, RA S 731. Scherer über Heynes Beóvulf, in der Z f. d. österr. Gymn. 1869 S 107. Die maſsgebende Stelle lautet: londrihtes môt þære mægburge monna æghwylc îdel hweorfan, syđđan æđelingas feorran gefricgean fleám eówerne. Des Landrechtes soll von der Magschaft jeglicher Mann verlustig gehen, sobald die Edelinge aus der Ferne eure Flucht erfahren. Schon Marquardsen, Haft und Bürgschaft bei den Angels. S 11 Anm hat die Stelle als Nachklang des früheren Zusammenfechtens der Geschlechter erklärt. Der Verlust des „Landrechtes“ ist vielleicht als eine Form der Friedlosigkeit aufzufassen, aus der die Magschaft sich durch Auslieferung des Feiglings herauszieht.


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§ 13. Die Sippe.

verletzungen rächt, das angegriffene Mitglied verteidigt. Noch lange über die germanische Zeit hinaus ist die Sippe im Falle der Tötung eines Geschlechtsgenossen berechtigt und verpflichtet, Vergeltung zu suchen, indem sie entweder zur Fehde schreitet und Blutrache übt oder den Abschluſs eines Sühnevertrags erzwingt21. Wählt sie den Weg der Fehde, so ist derselben nicht bloſs der Totschläger, sondern dessen ganze Sippe ausgesetzt und entspinnt sich ein Krieg zwischen den Magen des Erschlagenen (der toten Hand) und der Sippe des Totschlägers (der lebenden Hand). Der einzelne ist, so lange er Mitglied der Sippe bleibt, nicht befugt, sich der Fehde einseitig zu entziehen, etwa mit dem feindlichen Geschlechte seinen Sonderfrieden zu schlieſsen. Verschmäht sie die Fehde, so kann die Sippe der toten Hand den Abschluſs eines Sühnvertrags von der Zahlung des Wergeldes abhängig machen. Das Wergeld22, Manngeld, Mannbuſse, bei Franken, Friesen und Thüringern auch leudis, bei den Angelsachsen leód, leódgeld, were23 genannt, hat den Charakter des Sühngeldes. Es wird nicht den nächsten Verwandten als den Erben der toten Hand, sondern der Sippe als solcher gezahlt24. Denn nicht der engere Kreis der Erben, sondern der Verband der Sippe entscheidet, ob er Rache üben oder sich die Rache abkaufen lassen wolle25. Darum haben auch nur die Männer und zwar sowohl von der Schwertseite als von der Spindelseite Anteil am Wergelde, während das ältere Recht die Weiber davon ausschlieſst, weil sie nicht Fehde erheben können, oder genauer gesagt, bei dem maſsgebenden Beschlusse der Sippe keine Stimme haben26.

21 Den Tod des Gesippen ungerächt und ungesühnt zu verschmerzen gilt für äuſserste Schande. In der isländischen Njálssaga wählt Njál den Tod, weil er nicht imstande sei, seine erschlagenen Kinder zu rächen.

22 Von wër, der Mann, vir.

23 Wira, der altrussische Ausdruck für Wergeld (Ewers, Das älteste Recht der Russen, 1826, S 213. 219. 316), ist nordgermanischer Herkunft und entspricht dem angelsächsischen wer, were.

24 Tacitus, Germ. c. 21: recipitque satisfactionem universa domus.

25 Die oben S 83 Anm 9 angeführte Stelle entscheidet die Frage, ob das Wergeld den vier Klüften oder den Erben gebühre, dahin: Devile de ver klufte macht und mate hebben dem deder dat levent to gevende, so hebben se oc macht dat sulvige to vorterende oder wor se dat laten willen. Wergeld und Erbschaft werden in jüngeren niederfränkischen Quellen streng unterschieden, und ausdrücklich wird den Gläubigern des Toten das Recht abgesprochen in ähnlicher Weise an das Wergeld zu greifen, wie sie an die Erbschaft greifen können, weil das Wergeld nicht Erbe sei. Z2 f. RG III 3.

26 Liutprand c. 13 schlieſst die Töchter aus, quia filiae … eo quod femineo sexu esse prouantur, non possunt faidam ipsam levare. Jüngere Quellen unterscheiden zwischen der eigentlichen Geschlechtsbuſse und der sog. Erbsühne und


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§ 13. Die Sippe.

Die Art der Verteilung des Wergeldes war ursprünglich interne Angelegenheit des Geschlechtes, so daſs sie sich im Einzelfalle verschieden gestaltete. Doch muſs sich schon früh ein bestimmter herkömmlicher Verteilungsmaſsstab ausgebildet haben. Denn bei den Salfranken, bei den Friesen, Sachsen, Angelsachsen und Nordgermanen finden wir Jahrhunderte hindurch feste Grundsätze über die Verteilung des Manngeldes, welche soweit übereinstimmen, daſs sie auf eine ursprünglich gemeinsame Grundlage zurückweisen. Allenthalben zerfällt hier das Wergeld in mindestens zwei Teile, deren einer als Magsühne, Magbuſse, Maggeld oder Magzahl unter die „gemeinen Magen“ verteilt wird, während der andere ausschlieſslich an gewisse nächste Verwandte der toten Hand fällt. So stehen sich bei den Nordgermanen Vetternbuſse (ättarbot oder nipgiald) und Erbenbuſse (arfvabot), bei den Friesen westlich der Weser die Mentele oder Meitele (Gemeinzahl, Magzahl) und das „rechte Geld“, bei den Nordfriesen und Dietmarschen die Tale und die Mörderbuſse (boynebote, bane) gegenüber.

Wie einerseits die Sippe der toten Hand das Wergeld bezieht, so haftet andrerseits die Sippe der lebenden Hand für die Aufbringung des Wergeldes. Die Art der Aufbringung ist in ältester Zeit interne Angelegenheit des Geschlechtes, welches als solches für die Zahlung des Wergeldes haftet. In den Quellen der Folgezeit treten uns bestimmte Grundsätze über den Umfang entgegen, in welchem die einzelnen Magen zur Zahlung des Wergeldes beitragen müssen. Sie entsprechen im allgemeinen den Grundsätzen über die Verteilung des Wergeldes. Die Magen der lebenden Hand zahlen nämlich ungefähr die Quote, die sie von der Magsühne empfangen würden, wenn ihre Sippe nicht Wergeld zu geben, sondern Wergeld zu nehmen hätte. Den Betrag der Erbsühne hat der Totschläger selbst, etwa unter Beihilfe seiner nächsten Verwandten, der Hausgenossen, aufzubringen.

versagen entweder den Weibern jene wie diese oder geben ihnen doch nur einen (häufig bedingten) Anteil an der Erbenbuſse. In Blok, Leidsche Rechtsbronnen, 1884, Nr 243 S 218 prozessieren die Tochter und der Schwestersohn des Erschlagenen um die Erbsühne. Daſs sie keinen Anspruch auf die Magsühne habe, giebt jene zu, sie wird aber auch mit dem Anspruch auf die Erbsühne abgewiesen, weil nach dem Rechte von Rijnlant und Leiden „geen vrouwenpersonen in zoenen van dootslagen mit recht en gelden, en geven noch en nemen“. Nach den Bordesholmer Amtsgebräuchen (Seestern-Pauly, 1824, S 116) gehen Witwe und Tochter des Entleibten neben dem Sohne desselben leer aus, „uhrsachlich den dies werk desz geschlecht oder den stamme angehet und die so gebohren werden, folgen nach des vatters und nicht der mutter geschlecht . . und erstrecket sich nicht zu rechnen die vätterschaft uf die frauensbilde, die den daher nicht können oder mögen dazugezogen werden“.


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§ 13. Die Sippe.

Wergeld wird nicht bloſs durch Totschlag, sondern auch in anderen Fällen verwirkt27. Selbst bei Buſsen im eigentlichen Sinne scheint einst eine Haftung der Magen bestanden zu haben. Jüngere Quellen kennen sie als allgemeine Regel28 oder bei Buſsen für Körperverletzungen. Nicht unwahrscheinlich ist es, daſs in ältester Zeit die Fälle der Magenhaftung sich mit den Unthaten deckten, bei welchen die Fehde zulässig war.

Selbst im Rechtsgange steht die Sippe ihren Genossen helfend zur Seite. In Begleitung der Magen erscheinen die Parteien vor Gericht. Bei der Totschlagsklage erheben nach jüngeren niederfränkischen Quellen vier Magen des Toten, die von den vier Vierteln der Sippe gekoren sind, als Vertreter der Sippe den Waffenruf, das rechtsförmliche Klagegeschrei, mit welchem das Verfahren um Totschlag vor Gericht eingeleitet wird. Wenn an die Prozeſspartei die Notwendigkeit herantritt, für ein von ihr abgelegtes Versprechen Bürgschaft zu leisten, so sind es ihre Sippegenossen, die es verbürgen. Noch bezeichnender ist die Stellung der Sippe zum Eide. Hat eine Prozeſspartei einen Eid zu leisten, so stehen ihr von altersher die Männer ihrer Sippe als Eideshelfer zur Seite, indem sie die Wahrheit des von jener abgelegten Eides beschwören. Die enge Gemeinschaft der Lebensbeziehungen lieſs bei den Sippegenossen die genaue Kenntnis der Thatsachen und Verhältnisse voraussetzen, auf welche sich der Eid der Eideshelfer stützen sollte. Künne (Geschlecht) und Kundschaft sind sprachlich nahe verwandt29. Der Fremde, der nicht zur Künne gehörige Mann ist unkundig; Kunde nur bei der Sippe zu finden30. Der mit der Eideshilfe der Geschlechtsgenossen geschworene Eid ist ein solidarischer Eid. Die Strafe der Gottheiten, bei welchen geschworen wird, soll durch den Meineid nicht bloſs auf das Haupt der Prozeſspartei, sondern auch auf die Häupter der schwörenden Sippegenossen herabgerufen werden31. So lange man felsenfest daran

27 Vgl. unten § 21.

28 So friesische Quellen, ausgenommen den Fall des Diebstahls. v. Amira, Erbenfolge S 154 f.

29 Grimm, WB V 2635 f. Kuntschaft kommt geradezu in der Bedeutung gens vor.

30 Eine ahd. Glosse, Steinmeyer II 618, 9, giebt peregrinas mit unchundvn. Dazu Leges Edwardi Confessoris (Textus Rogeri de Hoveden) c. 21: si quis hospitatur privatum vel extraneum (quod anglice dicitur cuth other uncuth) … Künde findet sich mhd. in der Bedeutung von Künne: Grimm, WB V 2664. Ags. cyđđe heiſst zugleich Kunde und Verwandtschaft.

31 Vgl. Kohler, Z f. vgl. RW V 375. Im Stadtrecht von Gortyn auf Kreta II 40 schwören die Partei und die Eideshelfer, indem jeder einzelne den Fluch der


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§ 13. Die Sippe.

glaubte, daſs die Verwünschungsformel des Eides dem Meineidigen sofortiges Verderben bringe, muſste die Glaubwürdigkeit des Geschlechtseides, der die nächsten Angehörigen in den Fluch der Götter verstrickt32, in der Volksmeinung höher stehen wie die des Eides mit ungesippten Helfern. Die Eideshilfe ist eine Rechtspflicht der Sippegenossen. Wie sie für die That des Genossen einstehen, indem sie die Fehde tragen und für Wergeld und Buſsen haften, so setzen sie sich auch der göttlichen Strafe aus, falls der Genosse einen Meineid schwört33.

Der Schutz, den die Sippe gewährt, äuſsert sich in dem Mundium, welches sie über schutzbedürftige Mitglieder ausübt34. Die Vormundschaft über Unmündige und Weiber stand im ältesten Rechte noch nicht dem nächsten Magen der Schwertseite, sondern der Sippe als solcher zu. Die älteste Vormundschaft ist die Gesamtmundschaft der Sippe. Als Gesamtvormund bestellt sie, wenn es erforderlich scheint, eines ihrer Mitglieder zur Verwaltung des Mündesgutes, welche unter ihrer Aufsicht geführt wird. Veräuſserung von Mündelgut setzt einen Beschluſs der Magschaft voraus. Am deutlichsten hat das angelsächsische Recht dieses ursprüngliche Verhältnis bewahrt35. Nach einem westsächsischen Gesetze König Ines (688—727) soll das vaterlose Kind von der Mutter ernährt werden. Die Magen sollen den Hauptsitz halten, bis das Kind gejährt ist, und der Mutter bis dahin zur Ernährung des Kindes Alimente verabreichen, sechs Schillinge, eine Kuh im Sommer, einen Ochsen im Winter36. Die Vormundschaft der Sippe setzt ein kentisches Gesetz des siebenten Jahrhunderts voraus, wenn es bestimmt, daſs das verwaiste Kind der Mutter folgen und die Vatermagen einen Vormund stellen sollen37, der sein Gut wahre, bis es zehn Winter alt ist38. Auch im nordischen, namentlich im norwegischen und im dänischen Rechte tritt der Anteil der Sippe

Götter auf sich herabruft. Bücheler und Zitelmann, Das Recht von Gortyn, 1885, S 20.

32 Dieses Moment erklärt die auffallende Erscheinung, daſs das burgundische Recht, Lex Gundobada 8, 1, die Eideshilfe der Frau und eventuell der Mutter verlangt, während sonst in germanischen Rechten schon mit Rücksicht auf die Möglichkeit der Eidesschelte nur Männer als Eideshelfer fungieren.

33 Auf die Streitfragen über Natur und Charakter der Eideshilfe kann erst unten bei Darstellung des Rechtsganges näher eingegangen werden.

34 Der Schutz, welchen die Magschaft allen, auch den selbmündigen Genossen, schuldet, wird in Edmund II 1 § 1 mund genannt.

35 K. Maurer, KrÜ I 54 Anm 2. v. Amira, Erbenfolge S 83 f.

36 Ine c. 38.

37 Berigea wörtlich Bürge.

38 Hlothar und Eadric c. 6.


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§ 13. Die Sippe.

an der Vormundschaft noch kräftig hervor39. Daſs der Einzelvormund in Norwegen und Island Gutsverwaltungsmann, Verwalter, fjárhallsmađr, fjárhald, veizlumađr heiſst, deutet klar genug auf seine Unterordnung unter das Mundium der Sippe hin. In den meisten Rechten des fränkischen Reiches hat sich aus der Sitte, den nächsten Magen des Mündels als Verwalter der Mundschaft zu bestellen, der Rechtssatz entwickelt, daſs der nächste männliche Verwandte kraft Geburtsrechtes zum Vormund, foramundo, muntporo, berufen sei. So ist an die Stelle des von der Sippe gekorenen Mundschaftsverwalters der geborene Vormund getreten, während die ehemalige Gesamtmundschaft der Sippe zur Obervormundschaft einschrumpfte. Tritt damit die Stellung der Sippe mehr und mehr zurück, so weisen doch noch zahlreiche vereinzelte Rechtssätze auf ihre ursprüngliche Gesamtmundschaft zurück. Wir finden in einer jüngeren Rechtsquelle, daſs die Magschaft eine Mehrzahl von Mombern (Momber zusammengezogen aus muntporo) und einen darunter zum Vormomber bestellt40. Aus der Gesamtmundschaft der Sippe erklärt sich auch die bei der Struktur der germanischen Rechte höchst auffallende Erscheinung, daſs manche Rechte die vormundschaftliche Verwaltung der Mutter oder einer sonstigen weiblichen Verwandten des Mündels zuweisen41.

Gemeinschaftliche Angelegenheit der Sippe ist die Verheiratung von Mitgliedern der Sippe. Die Eheschlieſsung findet, soweit sie durch Frauenkauf erfolgt42, in Gegenwart und mit Zustimmung der beiderseitigen Verwandten statt43. Nach dem angelsächsischen Ver-

39 Siehe Rive, Vormundschaft I 31 ff. 51. 62 Anm 23. 24, wo freilich nur die disjecta membra der Obervormundschaft der Sippe sichtbar werden, weil dem Verfasser das Mundium des Geschlechtsverbandes als geschichtlicher Ausgangspunkt der familienrechtlichen Vormundschaft im e. S. unbekannt geblieben ist und ihm deshalb das ganze Rechtsinstitut in eine Reihe zusammenhangloser und daher unverständlicher Einrichtungen auseinanderfiel.

40 Magnin, Overzigt van de Besturen … in Drenthe III 1 S 213. Nach dem Drenter Rechte setzen die Gemeinde, die Magen oder das Gericht zwei Momber von der Vaterseite, zwei von der Mutterseite und einen Vormomber. Der Vormomber hat die unmittelbare Verwaltung der Vormundschaft und muſs den vier Mombern Rechnung legen. Die ursprüngliche Stellung des Vormunds zur Mundschaft der Sippe dürfte der des Vormombers zu den Mombern analog zu denken sein.

41 Lex Wisigothorum IV 3, 3. Lex Burg. 59. Spuren im bair. Recht s. bei Rive I 195 Anm 7. Ferner im isländischen, schwedischen und dänischen Rechte, Rive I 30. 31. 61 f. 65. In zahlreichen Quellen des späteren Mittelalters Stobbe, Deutsches PrR IV 435 Anm 10. 11.

42 Bei der Raubehe sind natürlich nur die Sippegenossen des Mannes beteiligt.

43 Tacitus c. 18: intersunt parentes et propinqui. Lex Salica Extravag. A. 1, Hessels col. 420: si quis filiam alienam ad coniugium quaesierit praesentibus suis


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§ 13. Die Sippe.

lobungsritus sind es die Magen der Braut in ihrer Gesamtheit, welche die vom Bräutigam angebotene Wette und die Bürgschaft annehmen, während sie ihrerseits die Braut zu rechtem Weibe wetten. Die Magschaft giebt ihre Erklärungen durch Vorsprecher ab; einer der Magen leitet die Verhandlungen des ganzen Aktes44. In Schweden muſs nach ostgotischem Rechte der Bräutigam nicht bloſs dem Verlober der Braut, sondern auch den anderen Blutsfreunden derselben Geschenke (vingæf) geben45. Wenn wir aus diesen Zeugnissen zurückschlieſsen, so stellt es sich als höchst wahrscheinlich dar, daſs die Eheschlieſsung durch Frauenkauf ursprünglich ein zwischen der Sippe des Bräutigams und der Sippe der Braut abgeschlossenes Rechtsgeschäft war. Auf den Willen der ersteren kam es an, weil die Braut durch die Ehe in deren Rechtssphäre eintrat, auf den der letzteren, weil sie im allgemeinen aus deren Rechtssphäre ausschied.

Wo die Ehre der Gesamtheit in Frage stand, hatte die Sippe eine Strafgewalt gegen ihre Mitglieder. Wenn eine Frauensperson sich verging, galt es für eine Pflicht des Geschlechtes, sie zu töten oder sonstwie die ihm widerfahrene Schande zu rächen46. Selbst über die Ehre der Frau, die durch die Ehe in die Gewalt des Mannes gekommen ist, wachen ihre eigenen Blutsfreunde. Wird sie vom Mann des Ehebruches oder eines schweren Verbrechens bezichtigt, so

et puellae parentibus. In den Formeln wird die Gegenwart oder der Konsens der beiderseitigen Verwandten nicht selten hervorgehoben. Roz. 228 (Lind. 7): apud pares vel parentibus nostris utrisque partibus conplacuit … 234 (Sang. 18): cum consensu utraque ex parte parentum nostrorum accepi neptem tuam in coniugium … 235 (Aug. B. 24): conventu parentorum nostrorum ex utraque parte. 236 (Aug. B. 25): consensu amicorum nostrorum. 219 (Tur. App. 2): per consensu vel voluntate parentum vel amicorum nostrorum. 220 (Tur. 14): cum consensu parentum vel amicorum nostrorum. 225 (Extr. I 11): ex consensu et voluntate virorum nobilium parentum quondam nostrorum. Es ist daher ein Zufall, wenn Roz. 221 (Bit. 15 a) und 222 (And. 1 c) nur der Konsens der Verwandten der Frau, 231 nur der der Verwandten des Mannes hervorgehoben wird. In Roz. 239 (Sang. 16) verheiratet der Vater seine Tochter cum consensu proximorum amicorumque suorum. Noch nach dem Stadtrechte von Zwolle (Dozy 1867) S 180 ist heimliche Trauung diejenige, daer oerre beyder maghe niet by en sin.

44 Schmid, Gesetze der Angels. Anh. 6: be wîfmannes beweddunge. Vgl. Habicht, Die altd. Verlobung S 8.

45 v. Amira, Schwedisches Obligationenrecht S 524.

46 Rothari 189: potestatem habeant parentes in eam dare vindictam. Lex Wisig. III 4, 5. Bei Gregor von Tours, Hist. Fr. VI 36 verbrennen die Verwandten eine Frau ad ulciscendam humilitatem generis sui. Eine Strafpflicht statuieren Rothari a. O. und Lex Burg. 35, 3.


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§ 13. Die Sippe.

ist es Sache ihrer Sippe, sie durch Eid oder Zweikampf zu reinigen47. Die Schuldige aber ist nicht bloſs der Rache des Ehemanns und seiner Verwandten, sondern auch ihrer eigenen Blutsfreunde ausgesetzt48.

Den Pflichten, welche der Sippeverband auferlegte, insbesondere der Teilnahme an der Fehde und der Magenhaftung konnte der einzelne sich nicht entziehen, so lange er innerhalb der Sippe verblieb. Doch war es zulässig, sich durch Austritt aus der Sippe, durch Entsippung von diesen Pflichten zu befreien. So wenigstens schon nach dem altsalischen Volksrechte49, welches für die Entsippung eine rechtsförmliche gerichtliche Handlung vorschreibt, die einen altertümlichen Charakter hat. Der Ausscheidende zerbricht nämlich über seinem Haupte vier Erlenstäbe, wirft sie von sich und erklärt, daſs er sich lossage von der Eideshilfe50, von der Erbschaft und von jeder Gemeinschaft mit der Sippe. Mit den Pflichten werden auch die Rechte der Sippe aufgegeben. Wenn einer seiner früheren Geschlechtsgenossen stirbt, hat der Entsippte keinen Anspruch auf Erbe und Wergeld.

Wohl ebenso alt, wenn auch erst in jüngeren Quellen bezeugt, ist das Recht der Sippe, einen Genossen, für dessen Handlungen sie nicht haften will, aus ihrem Kreise auszuscheiden, sich von ihm loszusagen. Ein angelsächsisches Gesetz setzt die Befugnis der Magschaft voraus, sich von einem Totschläger loszusagen (forsacan). Damit entzieht sie sich der Fehde und der Wergeldhaftung, darf aber andrerseits dem Ausgeschlossenen weder Nahrung noch Obdach gewähren51. Quellen des 15. Jahrhunderts, welche der Landschaft Drente angehören, kennen eine gerichtliche Handlung, opsechen, Aufsagung genannt, welche an drei auf einander folgenden Gerichtstagen von den gemeinen Magen oder von den Magen der Vaterseite oder von denen der Mutterseite vorgenommen wird, um die Gemeinschaft mit einem Sippegenossen aufzuheben52. Hennegauer Handfesten des

47 Rothari 202. 203. Grimoald 7. Lex Thuringorum 15. Gregor von Tours, Hist. Fr. V 32: aut idoneam redde filiam tuam aut certe moriatur, ne stuprum hoc generi nostro notam infligat.

48 Wilda, Strafrecht S 811. 823. Bei Gregor von Tours, Hist. Fr. IX 33 S 388 sagt König Guntram: parens mea haec est; si quicquam mali exercuit in domum viri sui, ego ulciscar.

49 Lex Salica 60.

50 And. Ans. Siegel, Gerichtsverf. S 184 und Cosack, Eidhelfer S 24. Allein der Wortlaut von Codex 3. 5. 6 ff. spricht gegen die von ihnen verfochtene Ansicht, auch wenn Codex 1. 2. 4 mit ihr vereinbar sein sollten.

51 Edm. II 1 § 2. Schmid, Gesetze der Angels. S 177.

52 Feith, Ordelboek van den Etstoel van Drenthe, 1870 in den Verhande-


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§ 13. Die Sippe.

12. Jahrhunderts machen es der Magschaft eines flüchtigen Totschlägers zur Pflicht, sich eidlich von ihm loszusagen (abiurare) und sich dann von den Magen des Toten Urfehde schwören53 zu lassen. Der Rechtszwang zur abiuratio läſst vermuten, daſs die Magen sie von altersher freiwillig vornehmen konnten. Schon ein fränkisches Königsgesetz des sechsten Jahrhunderts setzt voraus, daſs die Magschaft die Sache eines flüchtigen Verbrechers nicht zu der ihrigen macht, sondern sich seiner bemächtigt, um ihn zur gerichtlichen Verantwortung zu stellen54. Ein angelsächsisches Gesetz des Königs Knut gebietet, daſs der Verbrecher, der die buſslose That des offenen Mordes begangen, den Magen der toten Hand ausgeliefert werde. Das Gebot ist wohl in erster Linie an die Verwandten des Mörders gerichtet55.

Auch die Staatsgewalt kann das Band zwischen der Sippe und einem Mitgliede derselben zerschneiden. So kräftig die Sippe im altdeutschen Rechtsleben entwickelt ist, so umfassend ihre öffentlichrechtlichen Funktionen sind, so steht doch über den einzelnen Geschlechtern die Gesamtheit der Volksgenossen. Ihr Recht ist es, den Missethäter aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft auszuschlieſsen, ihn friedlos zu legen. Die Friedlosigkeit hebt aber auch die Gemeinschaft des Geächteten mit seiner Sippe auf. Die Sippegenossen dürfen ihn nicht nur nicht schützen, sondern sie müssen ihn von sich stoſsen. Wie er aufgehört hat, Volksgenosse zu sein, darf er auch nicht mehr als Geschlechtsgenosse behandelt werden56.

Das Gegenstück der Entsippung, die Aufnahme eines Fremden in den Geschlechtsverband läſst sich zwar bei den Westgermanen nirgends mehr, wohl aber bei den Nordgermanen nachweisen. Sie findet sich hier unter dem Namen ætleiđing, Geschlechtsleite, und zwar in zweifacher Anwendung. Im schwedischen Rechte dient sie dazu, die volle Freilassung, im norwegischen die Legitimation des

lingen der Genootschap te Groningen pro excolendo iure patrio, VII b 115 v. J. 1477, 117 v. J. 1478, 128 v. J. 1481, 132 v. J. 1482. Vgl. Seerp Gratama, Een Bijdrage tot de rechtsgeschiedenis van Drenthe, 1883, S 303.

53 Z2 f. RG III: Sippe und Wergeld, S 43 Anm 1.

54 Ed. Chilperici c. 10, Cap. I 10: si certe fuerit malus homo qui male in pago faciat … et per silvas vadit et in praesentia nec agens nec parentes ipsum adducere possunt …

55 Knut II 56. Vgl. K. Maurer, KrÜ I 58 Anm 5.

56 S. unten § 22. Meines Erachtens ein triftiges Argument gegen die Auffassung v. Sybels, daſs das germanische Gemeinwesen sich nicht über das Stadium des Geschlechterstaates hinausgehoben habe.


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§ 13. Die Sippe.

unechten, von einer unfreien Mutter geborenen Kindes zu vermitteln57.

Gleichfalls nur aus dem Norden wird uns über das Institut der Blutsbrüderschaft berichtet, welche zwischen zwei oder mehreren nicht verwandten Personen männlichen Geschlechts begründet werden kann. Die Eingehung erfolgt durch einen Formalakt, bei welchem die Vermischung des beiderseits geweckten Blutes und der Eid, daſs sie einer des anderen Tod wie Brüder rächen wollen, die Hauptrolle spielen. Zwischen den Blutsbrüdern besteht Rachepflicht und Unterstützungspflicht. Häufig ist eine Gütergemeinschaft mit der Blutsbrüderschaft verbunden58.

Die Stellung, welche der Sippe im Staate zugewiesen war, entspricht dem jugendlichen Charakter der germanischen Staatsgewalt, die noch nicht so weit entwickelt war, um die Aufgaben der Sippe an sich zu ziehen. Im Leben der Völker kann ein Übergangszustand eintreten, in welchem der Geschlechtsverband nicht mehr imstande ist, seine Funktionen zu erfüllen, während andrerseits der Staat noch nicht genug erstarkt ist, um die öffentlich-rechtlichen Funktionen des Geschlechtes auf seine Schultern zu nehmen. In solchen Übergangsverhältnissen hilft man sich wohl dadurch aus, daſs in bestehende Geschlechter nicht blutsverwandte Personen eingeordnet oder daſs Personen, die keiner örtlichen Sippe angehören, nach Art eines Geschlechtsverbandes gewissermaſsen als künstliche Sippen gruppiert werden59. Bei den Germanen ist eine derartige Entwicklung im allgemeinen nicht eingetreten. Die natürlichen Geschlechtsverbände reichten aus, bis teils das Gemeinwesen sie aus dem Gebiete des öffentlichen Rechtes zu verdrängen vermochte, teils persönliche Schutzverhältnisse entstanden waren, welche einen Ersatz für den Schutz der Sippe gewährten. Nur in einzelnen Gegenden, wo letztere nicht zu voller Ausbildung gelangten, finden sich später Geschlechtsverbände, die nicht mehr nur die Blutsverwandtschaft zur Grundlage haben, wie dies bei den Slachten und Klüften der Dietmarschen der Fall war60.

57 K. Maurer, Die unächte Geburt nach altnordischem Rechte S 74 ff., Sep.-Abdr. aus den Sitzungsberichten der Münchener Akademie 1883 Heft 1.

58 J. Grimm, RA S 118 f. Pappenheim, Die altdänischen Schutzgilden, 1885, S 18. Kohler in der Z f. vgl. RW V 434 ff.

59 Vgl. Waitz, VG I 85 f.

60 Dahlmann in seiner Ausgabe des Neocorus, Chronik des Landes Dithmarschen, 1827 2 Bde, I 595. 596. Dahlmann, Gesch. von Dännemark III 272. Nitzsch, Die Gesch. d. Ditmarsischen Geschlechterverfassung, J für die Landeskunde der Herzogthümer Schleswig-Holstein u. Lauenburg III 83. Eichhorn I 84.


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§ 14. Die Stände.

Vereinzelte Funktionen der Sippe haben später namentlich auf dem Boden des städtischen Lebens freiwillige Genossenschaften, die Gilden, übernommen61.

§ 14. Die Stände.

Grimm, RA S 265. Walter, DRG § 384 ff. Waitz, VG I 149 ff. Gaupp, Ansiedelungen S 96 ff. Konrad Maurer, Über angels. Rechtsverhältnisse, KrÜ I 405, II 30. 388. Munch-Clauſsen, Die nordisch-germ. Völker S 140. Hüllmann, Gesch. des Ursprungs der Stände in Deutschland, 1830. Roth, Feudalität und Unterthanverband, 1863, S 280 ff. Thonissen, L’organisation judiciaire … de la loi salique, 1882. Guérard, Polyptique de l’abbé Irminon … avec des prolégomènes pour servir à l’histoire de la condition des personnes et des terres I, 1844. Potgieſser, De statu servorum, 1736. Jastrow, Zur strafrechtl. Stellung der Sklaven bei Deutschen u. Angelsachsen, 1878 in Gierkes Unters. II. Brandt, Forelæsninger I 65. Gjessing, Trældom i Norge, Ann. f. Nord. Oldkynd. 1862. Konrad Maurer, Die Freigelassenen nach altnorwegischem Rechte, Sitzungsber. der Münchener Akad. 1878 S 21 ff. A. Stock, Die Freilassungen im Zeitalter der Volksrechte, 1881. Fournier, Essai sur les formes et les effets de l’affranchissement dans le droit gallo-franc, 1885. Schupfer, Aldi, Liti e Romani, Encicl. giur. ital. 1887. Boos, Die Liten und Aldionen, 1874. v. Savigny, Beitrag zur RG des Adels im neueren Europa, Vermischte Schriften IV 1 ff. Konrad Maurer, Über das Wesen des ältesten Adels der deutschen Stämme, 1846.

Das Ständewesen wurde durch die Gegensätze der Rechtsfähigkeit und der Rechtlosigkeit, der Freiheit und der Unfreiheit bestimmt. Rechtlosigkeit und Unfreiheit decken sich nicht. Nur wer in Knechtschaft lebt ist zugleich unfrei und rechtlos. Andrerseits giebt es aber einen Stand, welcher zwar der Freiheit darbt, aber die Rechtsfähigkeit genieſst, den Stand der Liten. Die freie Bevölkerung bildet rechtlich nur einen Stand, den der Freien; jedoch lassen sich in ihr auf Grund thatsächlicher Momente zwei Bevölkerungsklassen, die vornehmere der Adeligen und die minder vornehme der Freien schlechtweg oder Gemeinfreien unterscheiden. Der Stand der Freien, Freihälse, Frilinge1, im Gegensatz zum Unfreien einerseits, zum Edelfreien andrerseits auch Kärle, Kerle2 genannt, bildete die breite Masse des Volkes.

61 Wilda, Das Gildenwesen im Mittelalter, 1831. Hartwig, Untersuchungen über die ersten Anfänge des Gildewesens, Forsch. I 133. Pappenheim a. O. Gierke, Genossenschaftsrecht I 222.

1 Frî, ags. freó; frîhals, ags. freóls, nord. friâls = liber. Grimm, RA S 282. Noch bei Neocorus I 465 frie helse. Got. freihals, ahd. frîhalsi, fries. frihals, frihelse (Richthofen, WB S 765) die Freiheit. — Frîling ist für Sachsen durch Nithard, für die Friesen durch die fries. Rechtsquellen bezeugt. Richthofen, WB S 766.

2 Ahd. charal (Karl), nord. karl (im Rîgsmâl Grimm a. O.), nd. kerl, ags. ceorl. „Der Name kam wohl ursprünglich dem freien Manne zu, wie ein Titel


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§ 14. Die Stände.

Aus ihnen bestanden jene zahlreichen Heere, an welchen schlieſslich die Schärfe der römischen Waffen sich stumpf schlug. Dagegen kann die Zahl der Knechte und Liten nicht groſs gewesen sein. Wie schon innerhalb der agrarischen Verhältnisse der germanischen Zeit kein Raum bleibt für eine ausgedehnte Verwertung unfreier Arbeitskräfte, so bietet der Mangel an solchen den eigentlichen Schlüssel für das Verständnis der Entwicklung, welche in dem Wirtschaftsleben der fränkischen Zeit durch die Ausbildung zahlreicher Leiheverhältnisse eingetreten ist.

Der Knecht3 wird nicht als Person, sondern als eine im Eigentum des Herrn stehende Sache angesehen. Noch in den Volksrechten wird er gelegentlich als Vermögensobjekt mit den Haustieren zusammengestellt4. Wie das Pferd oder das Rind kann der Knecht seinem Herrn gestohlen werden5. Wird er durch einen Dritten getötet, so wird er nicht durch Zahlung eines Wergeldes, sondern durch den Ersatz des Sachwertes vergolten6. Wird er verletzt, so hat er keinen Anspruch auf Buſse, wohl aber der Herr einen Anspruch auf Entschädigung. Der Herr kann den Knecht ungestraft töten und nach Belieben züchtigen. Er kann ihm ungemessene Dienste auferlegen. Der Knecht ist nicht fähig Vermögen zu haben und zu erwerben; er erwirbt nur seinem Herrn. Wie überhaupt keinen Vertrag kann er auch keine Ehe schlieſsen; selbst die mit Zustimmung des Herrn ein-

gegenüber dem Leibeigenen; dem aufsteigenden Adel gegenüber ward er aber erst zur Bezeichnung der Gemeinfreien, der freien Bauern, als Standesname, dann aber zu Bauer im späteren Sinne.“ Grimm, WB V 571. Da das Wort auch für maritus und senex vorkommt, ist vielleicht in der Stellung des Hausherrn zu Frau, Kindern und Knechten ein einheitlicher Ausgangspunkt für die verschiedenen älteren Bedeutungen des Wortes zu finden.

3 Got. skalks, ahd. scalc, Schalk, ferner got. þius, ahd. dëo, tëo, in der malberg. Glosse theo, ags. þeóv. Die Magd diu, thiu, diorna, thiorna. Nordisch þræll Knecht, ambat Magd. Zu þræll ahd. drëgil, drigil, Diener. Grimm, RA S 302. 303 und Nachtrag; Grimm, Gesch. d. DSpr S 283 (404).

4 Z. B. Lex Fris. Add. 7: De rebus fugitivis. Si servus aut ancilla aut equus aut bos aut quodlibet animal fugiens dominum suum ab alio fuerit receptum.

5 Lex Sal. 10: si quis servo aut caballo vel jumentum furaverit. Ine 53: Wenn man einen gestohlenen Mann in Beschlag nimmt bei einem anderen. Das salische Recht hat für den am Knechte begangenen Diebstahl die technische Bezeichnung theotexaca.

6 Lex Fris. 4, 1: si quis servum alterius occiderit, componat eum iuxta quod a domino eius fuerit aestimatus; 1, 11: iuxta quod fuerit adpretiatus et dominus eius ipsius pretii eum fuisse sacramento suo iuraverit. Wenn jemand, sagt die norweg. Gulaþíngslög 182, eines andern Knecht erschlägt, so soll man ihn ersetzen, wie man ihn nackt schätzt.


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§ 14. Die Stände.

gegangene Geschlechtsverbindung des Knechtes kann von jenem beliebig aufgelöst werden. Von vorneherein auſserhalb der Rechtsgemeinschaft stehend kann der Knecht nicht friedlos werden; sonst möchte er, sagt eine schwedische Rechtsquelle7, gern den Frieden brechen, auf daſs er möchte friedlos sein. Er kann überhaupt keine nach Volksrecht strafbare Handlung begehen; für den Schaden, den er Dritten gegenüber anrichtet, haftet der Herr. Im Gegensatz zu den schroffen Grundsätzen des Rechts war die thatsächliche Stellung der Knechte eine verhältnismäſsig günstige. Nicht selten im Hause des Herrn auferzogen, als Hausgesinde oder zur Bewirtschaftung abhängiger Höfe verwendet, wurden sie, wie Tacitus im Hinblick auf die römische Sklaverei betont, im allgemeinen milde behandelt8.

Die ältesten Entstehungsgründe der Knechtschaft waren die Kriegsgefangenschaft und die gewaltsame kriegerische Unterjochung. Die Knechtschaft der Eltern vererbte auf die Kinder. Der freie Mann konnte sich selbst und, wie bereits oben bemerkt worden ist, seine Frau und seine Kinder in die Knechtschaft verkaufen. Auch die Überschuldung, namentlich das Unvermögen die etwa verwirkte Buſse zu zahlen, führte zur Verknechtung.

Der Zustand der Knechtschaft kann durch Freilassung9 aufgehoben werden. Der Knecht steigt aber durch die Freilassung nicht in die gemeine Freiheit empor, sondern er wird nur in eine beschränkte Rechtsfähigkeit, in das Verhältnis einer rechtlich geschützten Hörigkeit eingeführt. Liberti non multum super servos sunt, sagt schon Tacitus10. Nur bei den Völkerschaften mit strafferer Königsgewalt vermögen die Freigelassenen erheblichere Bedeutung zu gewinnen. Bei den übrigen erscheine es als ein Zeichen der Volksfreiheit, daſs der Freigelassene Ungenosse des Freien ist10. Die

7 v. Amira, Obligationenrecht S 392.

8 Tacitus schildert zwar in Germ. c. 25 die Knechte schlechtweg als unfreie Kolonen. Allein in c. 20 setzt er ein unfreies Hausgesinde voraus, indem er die Kinder der Herrn und der Knechte inter eadem pecora, in eadem humo aufwachsen läſst. Und wenn vom Freigelassenen c. 25 gesagt wird: raro aliquod momentum in domo, wird er wohl nicht erst durch die Freilassung in das Hauswesen des Herrn aufgenommen worden sein.

9 Der Freigelassene heiſst ahd. hantlaz, hantfrî, frîlaz, got. fralets, ags. lŷsing, altn. leysíngr (ags. lŷsan, altn. leysa lösen, freimachen) und frjálsgafi. Leysíngr ist im älteren norwegischen Rechte der Freigelassene höherer Ordnung, frjálsgafi der Freigelassene geringeren Grades. K. Maurer, Freigel. S 31.

10 Germania c. 25: raro aliquod momentum in domo numquam in civitate, exceptis dumtaxat iis gentibus quae regnantur. ibi enim et super ingenuos et super nobiles ascendunt; apud ceteros impares libertini libertatis argumentum sunt.

10 Germania c. 25: raro aliquod momentum in domo numquam in civitate, exceptis dumtaxat iis gentibus quae regnantur. ibi enim et super ingenuos et super nobiles ascendunt; apud ceteros impares libertini libertatis argumentum sunt.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 7


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§ 14. Die Stände.

jüngeren Quellen liefern den Beweis, daſs Tacitus hier mit wenigen Strichen ein scharfes und richtiges Bild von der Lage der Freigelassenen gezeichnet hat.

Die südgermanischen Rechte unterscheiden später zwei Hauptarten privatrechtlicher Freilassung, eine Freilassung zu minderem und eine Freilassung zu höherem Rechte; jene versagt, diese gewährt dem Freigelassenen das charakteristische Merkmal der Freiheit, die Freizügigkeit11.

Trotz der Freilassung zu minderem Rechte wird der Freigelassene noch als zum Hausstande seines Herrn gehörig betrachtet12, woraus sich eine grundsätzliche Haftung des letzteren für die Handlungen des ersteren ergiebt. Der Freigelassene lebt zwar häufig nicht im Hause des Herrn, sondern auf einem abhängigen Hofe, ist aber verpflichtet, durch Arbeit und Abgaben der Wirtschaft seines Herrn zu dienen. Er ist an die Scholle gebunden. Wird er flüchtig, so kann er gleich einem flüchtigen Knechte verfolgt und wieder eingebracht werden13. Wergeld und Nachlaſs des Freigelassenen fallen ursprünglich stets und ungeteilt14, später wenigstens unter gewissen Voraussetzungen oder doch teilweise an den Herrn. Die Formen der Freilassung zu minderem Recht kennzeichnen sich durch das negative Moment, daſs die symbolische Handlung und die mündliche Erklärung unterbleibt, welche die Gewährung der Freizügigkeit zum Ausdruck bringt15.

11 Für das norwegische Recht hat K. Maurer a. O. nachgewiesen, daſs gleichfalls zwei Klassen von Freigelassenen zu unterscheiden seien, von welchen die geringere die volle Freizügigkeit entbehrte.

12 Lex Burg. 57: Burgundionis libertus, qui domino suo solidos XII non dederit, ut habeat licentiam sicut est consuetudinis quo voluerit discedendi … necesse est, ut in domini familia censeatur. Über das norwegische Recht vgl. Fr. Brandt, Forelæsn. I 72 f.; K. Maurer a. O. S 38.

13 Arg. Liutpr. 142. 143.

14 Das gilt selbst von höher gestellten Klassen der Freigelassenen. So heiſst es in Wihträd 8 vom Volkfreien: freólsgefa âge his erfe ænde wergeld. Wergeld und Erbrecht fallen unbedingt an den Fiskus nach Form. imp. 38 Zeumer S 315; Cap. Aquisgr. c. 9, I 117. Siehe Zeumer, Über die Beerbung der Freigelassenen durch den Fiskus nach fränkischem Recht, Forschungen XXIII 189 ff. Ein Erbrecht der Kinder räumen auf Grund gewisser Freilassungsarten ein das ribuarische Recht (Lex Rib. 57, 4; 58, 4; 61, 1 bei Denarialen, tabularii und homines romani) und das langobardische Recht (Roth. 225, vgl. Liu. 77) bei Volkfreien. Nach norwegischem Rechte fehlt den Kindern der Freigelassenen niederer Ordnung das Erbrecht. K. Maurer, Freigelassene S 38. 85.

15 Bei der langobardischen Freilassung zu höherem Rechte wird der Knecht an einen Kreuzweg geführt und erklärt der Freilasser: du magst von diesen vier Wegen wandeln, welchen du willst. Bei der Freilassung zum Aldius unterbleibt


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§ 14. Die Stände.

Die Rechtsfähigkeit, welche die Freilassung zu minderem Rechte gewährt, äuſsert sich in der rechtlichen Fixierung der Dienstpflicht. Allerdings schuldet der Freigelassene dem Freilasser servitium16, obedientia17, allein seine Dienste sind nicht ungemessen wie die des Knechtes, sondern gemessen17. Mit der Beschränkung der Dienste hängt seine Vermögensfähigkeit zusammen; er ist in der Lage für sich selbst zu arbeiten und den Verdienst zu behalten, wodurch ihm die Möglichkeit eröffnet wird, sich von seinem Herrn ein gröſseres Maſs von Freiheit zu erkaufen. Während der Knecht nur einen Sachwert hat, ist der Freigelassene durch ein Wergeld geschützt. Auch kann er mit Zustimmung des Herrn eine volksrechtlich anerkannte Ehe schlieſsen. Bei den Westgermanen bilden die Freigelassenen niederer Ordnung keinen besonderen Stand, sondern gehören samt ihren Abkömmlingen dem Stande der Liten oder Aldien an18, von welchem unten die Rede sein wird.

Die privatrechtliche Freilassung höherer Ordnung löst den Freigelassenen los vom Hause seines Herrn und verleiht ihm die Freizügigkeit. Bei Langobarden und Angelsachsen heiſst ein solcher Freigelassener volkfrei19. Aber auch ihm fehlt die volle Rechtsfähigkeit des Freigebornen. Denn die Machtsphäre des Freilassers findet eine Schranke in der auf den Sippeverbänden beruhenden Organisation der Gesellschaft. Der Freilasser kann dem Knechte das nicht bieten, was dem Freien durch die Geburt zuteil wird, eine freigeborne Sippe. Wegen Mangels freier Geschlechtsgenossen steht der Freigelassene als ein ungeschlachter Mann unter den Freigebornen. Der fehlende Schutz der Sippe muſs durch einen Schutzherrn ersetzt werden. Als solcher fungiert der Freilasser, entweder der frühere Herr des Knechtes oder ein Dritter, dem der Herr den Knecht tradierte, auf daſs er freigelassen werde. Der Freigelassene ist auf die Vertretung des Schutzherrn angewiesen, denn nur sie verbürgt ihm die Fortdauer seiner

dies. Roth. 224. Der burgundische libertus muſs sich die Freizügigkeit durch ein besonderes Lösegeld erkaufen. S. oben S 98 Anm 12. In Norwegen erlangt der Freigelassene die Freizügigkeit, die Verehelichungsbefugnis, das Recht über sein Vermögen zu verfügen und ein beschränktes Vererbungsrecht erst dann, wenn er das Freilassungsbier, frelsisöl abgehalten hat, bei welchem er dem Freilasser sechs Unzen als leysingsaurar zahlen muſs. Maurer a. O. S 28. 85.

16 Rib. 58, 1.

17 Grimoald 1.

17 Grimoald 1.

18 Belege für das Aufgehen der Freigelassenen in den Stand der Liten zählt Walter auf, RG § 411.

19 Fulcfree Roth. 216. 224. 225. 257; fulcfreal oder fulfreal in jüngeren Texten und bei Liu. 9, 23. 55; folcfrŷ in Wihträd 8; vgl. Knut II 45, 3.

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Freiheit. Nahm ein Dritter ihn als Knecht in Anspruch, so war er nicht in der Lage, seine Freiheit selbst zu verteidigen, sondern es muſste sein Schutzherr für ihn eintreten20.

Um die Abhängigkeit des Freigelassenen vollständig zu zerreiſsen bedarf es eines öffentlich-rechtlichen Aktes21, bei welchem neben dem Freilasser noch andere Mächte wirksam werden, welche die rechtliche Tragweite der Freilassung über die der Machtsphäre des Freilassers gezogenen Schranken erweitern. Nach älterem schwedischen Rechte wird die Freilassung zu vollem Rechte dadurch vermittelt, daſs der Freigelassene vor der Landesgemeinde oder im Thing oder vor der Kirchengemeinde in ein freies Geschlecht aufgenommen wird (ætleþing, Geschlechtsleite). Der Akt der Geschlechtsleite ist auch dem altdänischen Rechte bekannt22. Auf Island bedarf es zur Freilassung einer Rechtshandlung, die leiđa í lög genannt wird und darin besteht, daſs der Häuptling (der Gode) den Freigelassenen in die Rechtsgemeinschaft der Volksgenossen aufnimmt23. Bei den Langobarden vermag eine Freilassung durch die Hand des Königs24, bei den Baiern eine solche durch die Hand des Herzogs die volle Freiheit zu gewähren25. Nach fränkischem Recht hat diese Wirkung eine Freilassung vor dem König, der darauf hin den Freigelassenen für vollfrei erklärt26. Eine Freilassung, welche in öffentlicher Versammlung durch Wehrhaftmachung geschah, bezeugt das älteste anglonormannische Recht und eine solche scheint auch die langobardische manumissio per gairethinx ursprünglich gewesen zu sein27.

20 Das salische Recht verlangt für den Freiheitsbeweis die Eidhilfe von Vaterund von Muttermagen. Der Freigelassene hat weder die einen noch die anderen. Das langobardische Recht macht bei der Freilassung zum amund das Eintreten des Herrn dadurch entbehrlich, daſs der Freizulassende dreimal tradiert wird und damit künstlich drei Gewährsmänner der Freiheit geschaffen werden. Vgl. Pappenheim, Launegild und Garethinx S 37 Anm 28.

21 Schröder, RG I 38.

22 Andr. Sunesen c. 73, vgl. 51. Kolderup-Rosenvinge § 41.

23 Pappenheim a. O. S 41. Auch das norwegische frelsisöl ist vielleicht aus einer öffentlich-rechtlichen Freilassungsform hervorgegangen. Es scheint an Stelle eines in heidnischer Zeit dargebrachten Opfers getreten zu sein, welches die Aufnahme des Freigelassenen in die Opfergemeinschaft und damit in die Volksgenossenschaft bedeutete. Der vom König freigelassene Knecht gilt nach norwegischem Rechte für vollkommen frei, ohne daſs es auf die Haltung des Freilassungsbiers ankommt. Gulaþíngsl. § 61.

24 Rothari 224; Liu. 51. 52.

25 Tassil. decr. Niuh. c. 8: LL III 465.

26 S. unten § 31.

27 Schröder, Garethinx, Z2 f. RG VII 55 f. Das Moment der Öffentlichkeit


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§ 14. Die Stände.

Das ältere schwedische und das isländische Recht kannten im Grunde genommen nur die öffentlich-rechtliche Freilassung. In Schweden hat nämlich die Freilassung ohne Aufnahme in ein freies Geschlecht bloſs thatsächliche Wirkung. Der Freilasser kann vor der ætleþing die Freilassung beliebig rückgängig machen28. Er haftet für den Freigelassenen und dieser hat bis dahin nur Sklavenbuſse29. Nach isländischem Rechte30 besitzt der Freigelassene, ehe er in die Rechtsgemeinschaft aufgenommen ist, weder eines freien Mannes Recht noch eines Unfreien31. Er befindet sich in einem juristischen Vacuum, denn er hat die Stellung eines Knechtes verloren ohne die des Freien zu gewinnen.

Die Aufnahme von Freigelassenen in die Volksgemeinschaft scheint in die germanische Zeit hinaufzureichen, obwohl Tacitus nur eine Freilassung zu minderem Rechte bezeugt.

Eine Mittelstellung zwischen Freien und Knechten nahmen bei den Westgermanen die Liten oder Aldien ein, die man deshalb auch Halbfreie nennt. Die Bezeichnung Liten ist den niederdeutschen Stämmen der Franken, Friesen, Sachsen und Angelsachsen32 eigentümlich. Am häufigsten finden sich die Formen leto, litu, let33, læt34,

an sich vermag den Effekt der vollen Freilassung nicht herbeizuführen. Das alamannische Recht kennt eine Freilassung im Heer, die nur zum litus macht. Nach schwedischem Rechte war auch die öffentliche Freilassung ohne Geschlechtsleite widerruflich. v. Amira, Obligationenrecht I 541.

28 Denn der Freigelassene kann nur durch die ætleþing den Freiheitsbeweis führen. v. Amira a. O. S 541, vgl. S 264. 268. 314.

29 Östgötal. Ärfþa b. 20.

30 Grágás, Cod. reg. § 112; Cod. Arnamagnaeanus § 161.

31 Der Herr kann zwar auf sein Recht verzichten, macht aber damit den Unfreien noch nicht zur Person, sondern zur herrenlosen Sache. Mit dem Rechte des Unfreien hat er den Schutz verloren, den ihm bisher der Herr gewährte, während er des selbständigen Rechtsschutzes bis zur Aufnahme in die Rechtsgenossenschaft entbehrt. K. Maurer in Bartschs Germania XV 7.

32 Die Lex Angliorum et Werinorum hoc est Thuringorum nennt die Liten nicht. Doch ist uns das Vorkommen der Liten in Thüringen aus späterer Zeit urkundlich bezeugt. Schröder, Z2 f. RG VII 21.

33 Siehe Hessels, Lex Sal. c. 631 s. v. leto; Richthofen, Fries. WB S 895.

34 In Äthelbirht 26, der einzigen sicheren ags. Fundstelle. Nach Richthofen a. O. sind noch die Worte ne læđes ne landes in Schmid, Gesetze der Ags. Anh. 11 hierher zu ziehen. Auch Lappenberg, Gesch. von Engl. I 576 nimmt læđes für læt. Dem würde die alliterierende Formel om land ner om letar in den friesischen Rechtsquellen Rh. S 894 entsprechen. Schmid bezeichnet læđes im Register S 621 für unerklärt, übersetzt aber S 409 Leid, was gar nicht in den Zusammenhang paſst.


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lat35, latinisiert litus, laetus, letus. Aber auch lidus, ledus kommt vor36. Eine althochdeutsche Glosse bietet die Form laz37; jüngere Denkmäler sagen lazzi38 oder lassi39. Bei den Oberdeutschen und bei den Langobarden war das Wort nicht heimisch40. Letztere und die Baiern verwenden dafür den Ausdruck aldio, altio, aldius, der wieder den übrigen Stämmen fremd ist. Die Ostgermanen kennen weder den Liten noch den Aldio. Der Ursprung der beiden Wörter ist dunkel und streitig41.

Liten und Aldien bildeten einen erblichen Stand, dessen Stellung durch das Volksrecht geschützt war. Sie waren an die Scholle gebunden, hatten ihrem Herrn rechtlich fixierte Dienste und Abgaben zu leisten, besaſsen die Fähigkeit Vermögen zu erwerben und Verträge zu schlieſsen42, konnten durch Freilassung in die volle Freiheit aufsteigen und sich aus ihrem Vermögen die Freiheit erkaufen43. Zur Verehelichung bedurften sie der Einwilligung des Herrn44. Sie hatten das Fehderecht45 und ein Wergeld, welches mindestens zum Teil an den Herren fiel. Ein volksrechtlich anerkanntes Erbrecht scheinen sie ursprünglich nicht besessen zu haben46. Am strengsten ist die Abhängigkeit der Halbfreien später im langobardischen Rechte

35 Im Sachsenspiegel und in den bei Waitz V 203 angeführten Stellen.

36 Hessels a. O. Lex Chamavorum c. 5, 44. 45. Waitz a. O. Anm 3.

37 Zu Lex Rib. 62, 1: LL V 277. Lazi in der Urk. Ludwigs des Deutschen Wilmans, KU I 143.

38 Bei Nithard IV 2, Mon. Germ. SS II 668.

39 In der vita Lebuini MG SS II 361.

40 Der litus und die lesa des Pactus Alam. sind, weil auf fränkische Einflüsse zurückführend, kein Gegenbeweis. S. unten § 41.

41 Lëtus erklärt Müllenhoff bei Waitz, Altes Recht S 288 als manens, mansionarius, indem er ein verlorenes Verbum litan mit der Bedeutung manere voraussetzt. Vgl. Brunner, Freil. durch Schatzwurf S 68 Anm 3. Aldio leitet Grimm u. a. von altinôn, morari ab, Bluhme denkt LL IV 672 an Zusammenhang mit halten. Vielleicht liegt ein Kompositum von ahd. deo, teo, got. þius vor.

42 Lex Sal. 50.

43 Lex Fris. 11, 2.

44 Arg. Liu. 139; Lex Sax. c. 65. Vgl. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 295 f. Anm.

45 Lex Fris. 2, 5. 8.

46 Für das fries. Recht folgert den Mangel des Erbrechts v. Amira, Erbenfolge S 143 aus dem Anspruch des Herrn auf die Erbenbuſse. Lex Chamav. c. 14 ist wohl auch auf den Liten zu beziehen. Noch das Hofrecht der Stiftsgüter von Essen im Salland v. J. 1270 verfügt, daſs die Söhne des Liten den mansus ihres Vaters vom Grundherrn erwerben müssen, und daſs der Nachlaſs des Liten, wenn er unbeweibt stirbt, vollständig, andernfalls zur Hälfte vom Schultheiſs der Herrschaft eingezogen wird. Verslagen en Mededeelingen der Utrechter Vereinigung zur Ausgabe der Bronnen van het oude vaderl. recht 1885 I 20.


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§ 14. Die Stände.

gestaltet, welches das ursprüngliche Verhältnis am längsten und reinsten bewahrt zu haben scheint. Der langobardische Aldio konnte ohne Konsens des Herrn nichts veräuſsern. Der Herr haftete für seine Vergehen und vertrat ihn vor Gericht47.

Man streitet, ob der Lite frei oder unfrei gewesen sei. Im Grunde genommen läuft diese Kontroverse auf einen Wortstreit hinaus, der sich erledigt, wenn man sich über die rechtlichen Merkmale der Freiheit geeinigt hat. Erblickt man das Merkmal der Unfreiheit in dem Mangel der Freizügigkeit, so ist der Lite als unfrei zu betrachten48. Sieht man das Wesen der Freiheit in der Rechtsfähigkeit, so ist der Lite natürlich ein Freier, aber nicht bloſs der Lite, sondern ebenso jeder Leibeigene jüngeren Rechts, so daſs das Wort „frei“ als Standesbezeichnung seine rechtsgeschichtliche Brauchbarkeit einbüſst und für den Freien, der nicht an die Scholle gebunden ist, eine besondere Benennung erklügelt werden müſste.

Die Entstehung des Litenstandes wird aus freiwilliger Unterwerfung eines überwundenen Volkes oder Volksteils erklärt. Übereinstimmende Berichte jüngerer Zeit führen den Ursprung der sächsischen Liten auf die Besiegung der Thüringer zurück49. Das Litentum ist erblich. Der Freie kann, wie in den Stand der Knechtschaft, so auch in den Stand der Liten eintreten, indem er sich freiwillig in denselben ergiebt50. Der Knecht kann durch Freilassung niederer Ordnung zur Stellung des Liten emporsteigen, unterscheidet sich aber durch Mangel litischer Verwandtschaft von dem zum Litengeschlecht „letslahte“ geborenen Liten.

Tacitus kannte den Stand der Liten als solchen nicht. Er nennt nur die liberti. Soweit die Liten nicht Freigelassene waren, mögen sie ihm mit den servi zusammengeflossen sein und seine Auffassung

47 Ähnlich wie Tacitus von den liberti konnte noch ein Kommentator der Lombarda (Ariprand 2, 34) von den Aldien sagen: hi pro servis habentur fere, quod nihil suum habent, dominus vero omnia habet et viventibus et morientibus eis. Über die Aldien s. Pertile, St. III 26 ff. und Schupfer a. O. — Boos, Liten und Aldionen ist mit Vorsicht zu benutzen.

48 Dagegen Waitz, VG I 155: „Ein Freigelassener kann nie ein Unfreier sein, und freigelassen war auch derjenige, der bloſs zum litus oder aldio gemacht war.“ Ebensogut könnte man sagen: ein Freier braucht nicht erst freigelassen zu werden. Freigelassen werden konnte auch der Lite oder Aldio. Nicht das Wort, der Begriff entscheidet.

49 Die Belegstellen bei Waitz I 157.

50 Lex Fris. 11, 1: si liber homo spontanea voluntate vel forte necessitate coactus nobili seu libero seu etiam lito in personam et in servitium liti se subdiderit …


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§ 14. Die Stände.

der germanischen servi beeinfluſst haben. Daſs aber das Institut der Liten und Aldien ein uraltes war und jedenfalls in die germanische Zeit zurückreicht, beweist nicht nur ihr Vorkommen in den deutschen Stammesrechten der fränkischen Periode, sondern insbesondere die seit dem dritten Jahrhundert nachweisbare Verwendung litischer Truppenkörper im römischen Kriegsdienst, wovon bereits oben Seite 35 gehandelt worden ist. Überrheinischen, hauptsächlich fränkischen Ursprungs erhielten diese zum Kriegsdienst und zum Landbau verpflichteten und der Freizügigkeit darbenden Germanenhaufen den Namen, welcher in der Heimat eine zwar nicht in Knechtschaft aber auch nicht in Freiheit lebende, eine botmäſsige und dienstpflichtige Bevölkerung bezeichnete51.

Unter den Freien ragen als eine höhere Klasse derselben die Adeligen hervor. Die römischen Schriftsteller bezeichnen sie als nobiles, geben aber über das Wesen des germanischen Adels nur dürftige Auskunft. In einer viel besprochenen Stelle sagt Tacitus, daſs die Germanen bei der Wahl der Könige auf die adelige Abstammung, bei der Wahl der Herzoge auf die persönliche Tüchtigkeit zu sehen pflegen52. Was sonst noch von den nobiles berichtet wird, läuft im wesentlichen darauf hinaus, daſs adelige Geburt höheres Ansehen und herkömmlichen Einfluſs gewährte, daſs vorzugsweise die adelige Jugend sich kriegerischen Abenteuern widmete, daſs die Stellung adeliger Geiseln eine gröſsere Bürgschaft der Treue gewährte und daſs der Adelige ob nobilitatem manchmal mehrere Frauen hatte. Als sehr zahlreich kann der Adel bei den Germanen nicht gedacht werden. Den Adel der Cherusker haben nach dem Tode Armins innere Zwistigkeiten nahezu vollständig ausgerottet, so daſs das Volk sich veranlaſst sah, den Italicus als einzigen Sprossen der stirps regia aus Italien zu holen und zum König zu erheben53.

Nach der Völkerwanderung tritt uns bei den meisten deutschen Stämmen der Adel54 als ein Geburtsstand entgegen, der vor den

51 Giraud, Essai sur l’hist. du droit français I 186 f. Die römischen Quellen schreiben laeti und leti. Laetus haben auch alte Texte der lex Salica, z. B. Cod. 1 in 35, 5. Die Beweisbrücke für den Zusammenhang der römischen laeti und der fränkischen liti liefert die Vergleichung der Konstitution des Severus von 465 bei Bluhme, LL III 624 mit dem burgundischen Papian tit. 46, wo die leti jener Konstitution durch den litus ersetzt werden.

52 Germ. c. 7: reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt.

53 Tacitus, Annalen XI 16.

54 Ahd. adal bedeutet Geschlecht, edles Geschlecht. In einer flandrischen Rechtsquelle von 1268, nämlich in der Keure für Sleidinghe und Desseldone § 35,


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§ 14. Die Stände.

Freien durch ein höheres Wergeld ausgezeichnet ist. Für diesen Geburtsadel überliefert uns das Volksrecht der Angeln und Warnen den deutschen Ausdruck Adaling55. Ein Bericht über die alten Sachsen unterscheidet bei ihnen aedhilingi, frilingi und lazzi56. Ebenso gliedert sich der Stamm der Friesen nach jüngeren Quellen in ethelinga, frilinga, letslachta57. Den æđeling kennen auch die Angelsachsen, doch wenden ihre Gesetze und die übrigen Prosadenkmäler das Wort nicht auf den Adel schlechtweg, sondern nur auf die männlichen Mitglieder des Königsgeschlechtes an58. Bei den Langobarden erscheinen die Adeligen als primi, nobiles, bei den Alamannen als primi oder meliorissimi. Auch fehlt es nicht an Spuren, daſs ihnen der Ausdruck Adeling, Edeling geläufig war59. Das Volksrecht der Baiern zählt neben dem Herzogsgeschlechte der Agilolfinger die Geschlechter der Huosi, Drozza, Fagăna, Hahilinga und Anniona auf, die als quasi primi post Agilolfingos durch das zweifache Wergeld des freien Mannes sich auszeichnen. Bei den Franken ist der Adel zwar für das Königsgeschlecht der Merowinger bezeugt60, aber auſser ihm ein alter

Warnkönig, Flandr. RG II 1 Nr 34 S 62, findet sich das Wort Adeling in der Bedeutung von Geschlechtsgenosse, Mag schlechtweg: Es ooc eenich adelinc, die dat eerve … wilt coepen … syn die drie Sondaghe leden, een vremde mach dat eerve coepen. Daſs adelinc hier so viel wie propinquus, bestätigt zum Überfluſs die Vergleichung mit dem lateinischen Texte der Keure des Landes Waes § 31 Warnkönig a. O. II 2 S 182, c. 31.

55 Lex Angl. et Werin. I 1: LL V 119. Dazu die Anmerkung v. Richthofens und Schröder, Z2 f. RG VII 20.

56 Nithard IV 2 MG SS II 668. Der Heliand hat ađali, ađalkunni, ađalknôsal um das edle Geschlecht, ađali auch um die Gesamtheit des Adels zu bezeichnen.

57 v. Richthofen, Fries. WB S 720. 896.

58 Leges Edw. Confess. c. 35 § 1. Quia vero heredem putabat eum facere, nominavit eum æđeling, quod nos dicimus domicellum; sed nos de pluribus, quia filios baronum vocamus domicellos, Angli autem nullum praeter filios regum vocant. Siehe Schmid, Gesetze der Ags. S 527, der für die Beschränkung der Bezeichnung æđeling auf die Männer des Königsgeschlechtes eine Reihe von überzeugenden Belegstellen anführt. In den Denkmälern der ags. Poesie, so insbesondere im Beóvulf wird æđeling im weiteren Sinne zur Bezeichnung des Geburtsadels überhaupt gebraucht. Scherer in der Z f. österr. Gymn. 1869 S 108.

59 Liu. 62 nennt das Wergeld des primus, Liu. 89 die im Betrage entsprechende meta des nobilis. Adelingi heiſsen die Langobardenkönige bis auf Waltari im Chronicon Gothanum LL V 644. Eine italienische Urkunde von 1280, Schupfer, Wiener Sitzungsber. XXXV 240, nennt edelingi. Zusammensetzungen mit adal bieten langobardische Eigennamen wie Adelbert, Adelchis, Adelcho, Adalwald. Bezüglich der Alamannen s. Pactus Alam. II 39, III 27 und die ahd. Glossen bei Graff I 141 ff.

60 Greg. Tur. Hist. Fr. II 9: ibique iuxta pagus vel civitates regis crinitos super


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§ 14. Die Stände.

Geburtsadel nicht vorhanden. Ziemlich dürftig sind die Nachrichten über den Adel der gotisch-vandalischen Stämme. Hervorgehoben wird der Adel ihrer Königsgeschlechter, der ostgotischen Amaler, der westgotischen Balthen61, der vandalischen Astingen. Als Adelige sind die bei den Burgundern und wohl auch die bei den Westgoten genannten optimates zu betrachten62. Das Wort Athal ist uns in gotischen und burgundischen Personennamen überliefert63.

In den altsächsischen Sprachdenkmälern begegnen uns, vorzugsweise zur Bezeichnung des Adels gebraucht, die Ausdrücke ërl, ërlskepi64. Dem altsächsischen ërl entspricht der angelsächsische eorl und der nordische iarl. Das Althochdeutsche hat das Wort nicht bewahrt65. Ebenso fehlt es im Gotischen. Vielleicht darf aber der Volksname der Heruler daraus erklärt werden66. Die angelsächsischen Quellen brauchen das Wort in verschiedenem Sinne. In der kentischen Gesetzgebung bezeichnen eorl und eorlcund den Geburtsstand des Adels. Mit ceorl und ceorlisc verbunden drücken eorl und eorlisc den allgemeinen Gegensatz des höheren und niederen Standes aus. Endlich werden auch die Statthalter gröſserer Landschaften und die höheren Heerführer Eorle genannt67. Die Jarle stellen sich als der mit Herrscherrecht ausgestattete Adel des Nordens dar; sie erscheinen als die Angehörigen edler Geschlechter, welche mit königlicher Gewalt, aber bereits einem Oberkönig unterworfen, einzelne Landschaften beherrschen68. Wie in der nordischen Sage der Jarl als Vater des Ađal bezeichnet wird69, so wird die Tochter des Eorls in einem angelsächsischen Rätsel æđelu genannt70. An einem engen geschicht-

se creavisse de prima, et ut ita dicam, nobiliore suorum familia. Ottfried von Weiſsenburg, Krist I v. 13 spricht den König Ludwig als edil franko, ediling an.

61 Jordanis c. 5. 29; Cassiodor, Var. 9, 1.

62 Dahn, Könige VI 23 f. 88 f.

63 Förstemann, Namenbuch I 137; Wackernagel bei Binding S 383.

64 Im Heliand passim.

65 Vgl. Grimm, WB III 894.

66 Grimm, Gesch. der deutschen Sprache S 470 auf Grund der Schreibung Ἔϱουλοι Αἴϱουλοι bei Ammian, Prokop und Zosimus. Dazu käme das Eolum des angels. Wandererliedes, welches Grimm, Gesch. der deutschen Sprache S 598 in Eorlum verbessert. Die Glosse Wright-Wülcker I 155, 17 giebt dux mit heorl.

67 Schmid, Gesetze der Angels. S 568.

68 Aus Konrad Maurer, KrÜ II 428.

69 Grimm, RA S 266.

70 Von Cynevulf, Grein, Bibliothek der ags. Poesie II 402 v. 5:

[Spaltenumbruch] Ic eom æđelinges eaxelgestealla fyrdrinces gefara, freán mînum leóf, [Spaltenumbruch] Ich bin eines Edelings Achselgenosse, Eines Helden Gefährte, meinem Herren lieb,


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§ 14. Die Stände.

lichen Zusammenhange zwischen Adel und Erlschaft kann nach alledem nicht gezweifelt werden.

Faſst man die vereinzelten Anhaltspunkte zusammen, welche die zerstreuten Nachrichten über den Adel für seine älteste Bedeutung gewähren, so hat unter den vielen darüber geäuſserten Ansichten71 diejenige die gröſste Wahrscheinlichkeit für sich, welche die Adeligen der Urzeit als die Mitglieder der thatsächlich herrschenden Geschlechter betrachtet, nämlich der Geschlechter, aus welchen man die Könige, die Fürsten, die Priester zu nehmen pflegte. Die Abstammung dieser Familien galt für vornehmer, unmittelbar an die Götter wurde sie angeknüpft.

Bestimmte erbliche Vorrechte, wie sie das Wesen des wahren Standes ausmachen, lassen sich für den Adel der germanischen Zeit nicht nachweisen. Insbesondere muſs es dahingestellt bleiben, ob schon damals das höhere Wergeld des Adels, wie es nach der Völkerwanderung bezeugt ist, rechtlich fixiert war. Im Einzelfall mochte das Sühngeld, durch das die adelige Sippe sich die Rache abkaufen lieſs, in Anbetracht ihrer Übermacht immerhin den normalen Wergeldsatz des freien Mannes überstiegen haben, ohne daſs es rechtlich höher festgesetzt war. Eine wesentliche Voraussetzung der Königswürde und des Fürstentums hat die adelige Abstammung, so schwer sie dabei ins Gewicht fiel, nicht gebildet, da die Wahl des Volkes giltig war, auch wenn sie einen Nichtadeligen traf. So erhoben z. B. die Ostgoten den Witiges zum König, obzwar er nicht adelig war;

[Spaltenumbruch] cyninges geselda; cvên mec hvîlum hvîtloccedu hond on legeđ eorles dohtor, þeáh hió æđelu sî. [Spaltenumbruch] Geselle eines Königs, nicht selten legt auch Eine hellgelockte Frau ihre Hand an mich, Eines Edelings (Eorls) Tochter, wenn sie gleich adelig ist.

Die Übersetzung nach Grein, Dichtungen der Angels. II 242. Das Rätsel bedeutet vermutlich den Jagdfalken, den Habicht. Dietrich in Z f. DA XI 483.

71 Die Adeligen werden als die principes oder aus dem ausschlieſslichen Recht auf Fürstentum oder Beamtentum, als ein Ritterstand, aus erblichem Priestertum, aus dem Vorrecht ein Gefolge zu halten, aus der Schutzherrschaft über andere Klassen der Bevölkerung oder aus gröſserem Grundbesitz erklärt. Die Litteratur bei Waitz, VG I 169 ff. Manche leugnen den Adel oder beschränken ihn auf die Völkerschaften mit Königtum. Waitz sucht die Grundlagen des Adels in vorhistorischer Zeit. In den Anfängen staatlicher Entwicklung habe sich der Einfluſs bestimmter Familien geltend gemacht, unter deren Führung das Volk vielleicht einst in die neue Heimat einzog. Dann muſste schon in der Zeit des Tacitus das Wesen des Adels in den traditionell überlieferten Stammbäumen depossedierter oder mediatisierter Häuptlingsfamilien beruhen und wäre er nicht sowohl ein erst in der Ausbildung als vielmehr ein im Absterben begriffenes Rechtsinstitut.


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§ 14. Die Stände.

ja sogar einem Fremden, dem Oströmer Belisar boten sie die Krone an. Doch stellen sich diese und ähnliche Fälle nur als Ausnahmen von der regelmäſsigen Ordnung dar, nach welcher sich die politische Herrschaft als eine thatsächlich erbliche in den Händen des Adels befand72.

Als ein Stand im eigentlichen Sinne können sonach die nobiles der taciteischen Epoche nicht mit Sicherheit bezeichnet werden. Erst in der Zeit nach den groſsen Wanderungen tritt uns bei den meisten deutschen Stämmen die ständische Abschlieſsung des Adels als vollendet entgegen, indem sie in dem höheren Wergeld ihren untrüglichen Ausdruck findet. Wo sich ein Königtum als Einherrschaft über die ganze civitas ausbildete, blieben die dem Königsgeschlechte nicht angehörigen Adelsfamilien entweder im Besitz eines abhängigen Unterkönigtums oder sie lebten als mediatisierter Adel fort, getragen durch herkömmliches Ansehen, hervorragend durch höheres Wergeld. Als solche mediatisierte Sippen werden mit Recht die fünf Adelsgeschlechter des bairischen Volksrechtes angesehen. Bei den Franken führte die Entwicklung der königlichen Einherrschaft zur Beseitigung des alten Geschlechtsadels.

So kennzeichnet sich das altgermanische Ständewesen durch das Fehlen kastenartiger Abschlieſsung. Für die Bildung eines Adelsstandes sind in dem Adel der Urzeit nur erst die Ansätze vorhanden. Wahrer Stände sind nur zwei vorhanden, die Freien und die Liten. Allein die Kluft, die sie trennt, ist keine unübersteigliche. Die Freilassung und die Aufnahme in die Volksgenossenschaft vermag dem Liten die Rechte des Freien zu gewähren. Die Knechtschaft ist, weil Rechtsunfähigkeit, nicht sowohl als ein Stand, denn als ein Zustand der Standeslosigkeit aufzufassen. Aber auch dem Knechte eröffnet die Freilassung die Möglichkeit in die Reihe der volksrechtlich anerkannten Stände einzutreten.

72 Jordanis sagt c. 33 in bezeichnender Weise von dem ostgotischen Königsgeschlechte: quis de Amalo dubitaret, si vacasset elegere? Die deutschen Könige waren vor Abfassung des Sachsenspiegels ausnahmelos aus dem Kreise der Fürsten gewählt worden. Dennoch stellt der Sachsenspiegel Landr. III 54 § 3 für die Giltigkeit der Königswahl nur die Voraussetzung auf, daſs der König frei und echt geboren sei.


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§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.

v. Amira, Über Zweck und Mittel der germ. Rechtsgeschichte, 1876. Gierke, Jugend und Altern des Rechts, Deutsche Rundschau 1879. J. Grimm, Poesie im Recht, Z f. gesch. RW II 25 ff. Gierke, Der Humor im deutschen Rechte, 1871. Gengler, Germanische Rechtsdenkmäler, Einl. § 6. K. Lehmann, Der Königsfriede der Nordgermanen, 1886. Bernhöft, Über Zweck und Mittel der vergleichenden Rechtswissenschaft, in dessen Z f. vgl. RW I.

Das Recht gilt als eine ewige Ordnung des Friedens. Aus der allgemeinen Rechtsüberzeugung als unbewuſster Gesamtwille des Volkes hervorgehend, wird es auf göttlichen Ursprung zurückgeführt, als Überlieferung der Götter betrachtet1. Eng mit Religion und Sitte verwachsen, muſs es in der Urzeit einen ausgeprägt sakralen Charakter besessen haben, den aber bei den Westgermanen das Christentum so früh und so gründlich beseitigte, daſs wir nur bei vereinzelten Einrichtungen, wie bei der Gerichtshegung, bei gewissen Förmlichkeiten des Rechtsganges, bei Eiden und Gottesurteilen und im Strafrecht auf einstigen Zusammenhang zwischen Recht und Glauben zurückschlieſsen können.

Als Bezeichnungen der Friedens- und Rechtsordnung, des Rechtes im objektiven Sinne überliefern uns die germanischen Sprachen die uralten Ausdrücke lag, êwa und vitoth. Die Wurzel lag ist uns in der Bedeutung von lex bei den niederdeutschen2 und skandinavischen Stämmen bezeugt, während das Hochdeutsche den Ausdruck nur in der Zusammensetzung urlac, fatum, decretum überliefert. Den Nordgermanen fremd, aber allen Westgermanen gemeinsam ist die Wurzel unseres Wortes Ehe, gotisch aivs, dem lateinischen aevum entsprechend, welche im Sinne von lex althochdeutsch als êwa (fem.), friesisch als â, ê, angelsächsisch als æ und â, altsächsisch als êo (masc.) erscheint3.

1 Nach einer friesischen Sage war es ein Gott, welcher den Rechtsprechern des Volkes das friesische Recht verkündete. v. Richthofen, Untersuchungen zur fries. Rechtsgeschichte II 457 ff.

2 Im Altsächsischen, im Friesischen, im Niederländischen (Z2 f. RG IV 237), im Angelsächsischen, im Nordischen. Englisch law. Graff, Sprachschatz II 96; v. Richthofen, Fries. WB S 883; Schmid, Gesetze der Ags. S 621. Schiller und Lübben II 608. Jordanis berichtet c. 11 von den Goten, daſs sie ihre Gesetze bellagines nennen (Dicineus eos … propriis legibus vivere fecit, quas usque nunc conscriptas belagines nuncupant). Es besteht der Zweifel, ob die Nachricht nicht auf die Geten zu beziehen sei. J. Grimm, Gesch. der deutschen Spr. I 453 führt das Wort auf got. bilagjan (vgl. 2. Timoth. 1, 6) zurück und konjekturiert ein gotisches bilageineis, Satzungen.

3 Grimm, WB III 39. Grein, Angels. Sprachschatz I 11. 63.


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§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.

Für Gesetz, Norm begegnet uns im Althochdeutschen wizôd, wizzut4, gotisch vitoth, altsächsisch witod, witut5. Von diesen Ausdrücken hat die neuhochdeutsche Sprache nur das Wort Ehe in der sehr verengten Bedeutung von matrimonium und in einigen veraltenden Zusammensetzungen bewahrt. Das Wort Recht, rectum, althd. und alts. rëht, fries. riucht, altnord. réttr (masc.), im Gotischen nicht vertreten6, scheint verhältnismäſsig jüngeren Ursprungs zu sein und bezeichnet zunächst die durch die Rechtsordnung den einzelnen zugewiesene Stellung, den Rechtsanspruch und die Rechtspflicht, im weiteren Sinne die Rechtsordnung überhaupt.

Das Recht wird in ältester Zeit als ungeschriebenes Gewohnheitsrecht durch unmittelbare Anwendung der Rechtssätze im Rechtsleben entwickelt und fortgebildet. Es braucht nicht durch allgemeines Rechtsgebot gesetzt, sondern nur im Einzelfalle aus dem gleichartigen Rechtsbewuſstsein der Volksgenossen gefunden zu werden. Es ist Volksrecht, seine Ausbildung und Anwendung ist nicht etwa ausgewählten berufsmäſsigen Organen überlassen, sondern geschieht durch die Gerichtsversammlungen, in welchen die freien und wehrhaften Männer des Volkes sich an der öffentlichen Rechtsprechung beteiligen. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, daſs einzelne Gerichtsgenossen wegen hervorragender Rechtskenntnis besonderes Ansehen genieſsen, als gesuchte Rechtsprecher (êosagari) um Rechtsgutachten befragt werden und vor Gericht bestimmenden Einfluſs auf die Urteilfindung gewinnen. Da die Rechtskenntnis Gemeingut des Volkes war, wie Glaube und Sprache, so bestand in der germanischen Zeit weder das Bedürfnis schriftlicher Fixierung des geltenden Rechts, noch das Bedürfnis besonderer Einrichtungen, welche im Wege mündlicher Rechtsbelehrung die traditionelle Überlieferung des Rechtes von Generation auf Generation verbürgt hätten. War das Recht im einzelnen Falle zweifelhaft, so half man sich wohl schon in ältester Zeit durch Aufnahme eines Weistums, das heiſst durch einen Wahrspruch, welchen zu diesem Zwecke ausgewählte ältere und erfahrene Männer auf amtliche Anfrage hin über das geltende Recht abgaben. Dagegen ist es

4 In der Kapitularienübersetzung, Boretius, Cap. I 381: eam legem habeat = then vuizzut … haue; qui eadem lege vivant = thie theru selueru vuizzidi leuen; legitimam traditionem = vuizzethahtia sala. Vgl. noch Graff I 1112.

5 Heyne, Altniederd. Denkmäler, Glossar unter uuitut, uuitutdragere (legislator). Über friesisch witat, Hostie v. Richthofen, WB S 1154. (Niederländisch wet bedeutet Recht, Gesetz und ist nur mittelbar verwandt.)

6 v. Richthofen, Fries. WB S 994. v. Amira, Obligationenrecht S 55 ff. Grimm, WB VIII 364.


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§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.

eine bedeutend jüngere Erscheinung der deutschen Rechtsentwicklung, daſs in kleineren bäuerlichen Gerichtsgemeinden von Zeit zu Zeit ein umfassendes Weistum über das geltende Gewohnheitsrecht regelmäſsig abgefragt wird, auf daſs es nicht der Vergessenheit anheimfalle, sondern lebendig bleibe in dem Bewuſstsein der Gerichtsgenossen. Ebensowenig reicht die nordische Einrichtung der lagsaga in hohes Altertum hinauf7, welche darin bestand, daſs ein öffentlicher Beamter, der Gesetzsprecher, zu bestimmten Zeiten regelmäſsige Rechtsvorträge zur allgemeinen Rechtsbelehrung abzuhalten hatte.

Der durchaus jugendliche Charakter unseres älteren Rechtes äuſsert sich in der Vermeidung logischer Abstraktionen8 und in der naiv sinnlichen Auffassung, welche die Rechtsgedanken zu plastisch anschaulichem, manchmal poetischem, manchmal humoristischem Ausdruck bringt. Uralt ist die Sitte, Rechtssätze in allitterierende Formeln und in kurze Rechtssprichwörter zu fassen. Die westgermanischen Rechte des Mittelalters überraschen durch die Fülle mannigfaltiger Formen und durch eine vielgestaltige Rechtssymbolik. Solcher Reichtum fehlt im Norden, der in dieser Beziehung stets nüchterner geblieben ist. Aber auch die westgermanischen Rechte scheinen sich in ältester Zeit mit wenigen aber klaren und einfachen Formen begnügt und die spätere Mannigfaltigkeit der Rechtssymbole erst im Laufe fortschreitender Entwicklung erzeugt zu haben.

Ein hervorstechendes Merkmal des älteren germanischen Rechtes ist die unbeugsame Strenge, mit der es die einzelne Persönlichkeit den herrschenden Lebensverhältnissen, den einzelnen Rechtsfall den Anschauungen der Gesamtheit unterwirft. Der individualistische Charakter, den man nicht selten unserem ältesten Rechte beilegen will, fehlt ihm ganz und gar. Mehr denn in jüngerer Zeit ist das Individuum an den Willen und an die Gebräuche der einzelnen Verbände gefesselt, in welchen es sich bewegt, der Sippe, der wirtschaftlichen und der politischen Verbände, beziehungsweise des Verbandes der Gefolgschaft. Nicht die Freiheit und Ungebundenheit des einzelnen charakterisiert den ältesten Zustand unseres Rechtes. Das

7 Ein späteres Erzeugnis praktischer Bedürfnisse nennt das nordische Gesetzsprecheramt K. Lehmann, Z2 f. RG VI 199.

8 Ein Beispiel für viele! Die Lex Salica bestraft in Titel 41, 2, 4 den Totschlag als Mord, wenn der Totschläger den Leichnam in einen Brunnen oder ins Wasser wirft, oder mit Zweigen oder anderen Hüllen verdeckt. Es ist eine besondere Nachtragssatzung, Cap. 2 c. 5 nötig geworden, um auch denjenigen Fall als Mord zu qualifizieren, in welchem der Totschläger, um die Spur der That zu beseitigen, den Leichnam verbrannt hat.


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§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.

geträumte Ideal germanischer Urwaldsfreiheit traf nur für diejenigen zu, die als Friedlose, Elende aus dem Kreise der Volksgenossen ausgeschieden waren. Weil das Volksrecht unmittelbar und ungebrochen aus den Überzeugungen der Gesamtheit hervorgeht, mit gleichartigen Lebensverhältnissen, gleichartigen Bedürfnissen und gleichartigen Gesinnungen aller Volksgenossen rechnet, verhält es sich hart und spröde gegen den einzelnen Rechtsfall. Es ist nur für generelle Typen von Thatbeständen zugeschnitten und bietet keinen Spielraum für die Beurteilung des individuellen Falles. Nur der gemeine Sprachgebrauch, nicht der Sinn, den der einzelne mit seinen Worten verbindet, entscheidet über den Inhalt der im Rechtsverkehr und vor Gericht abgegebenen Erklärungen. Der äuſsere Erfolg der That, nicht die innere Gesinnung des Thäters bestimmte die rechtliche Natur und die Folge des Verbrechens. Nicht die freie Prüfung der einzelnen Beweismomente, sondern die Auffassung der Gesamtheit über die Glaubwürdigkeit formeller Beweishandlungen bildete die Grundlage des Beweisrechtes. Nicht die Freiheit des einzelnen, sondern die Gleichheit der freien Rechtsgenossen ist dem ältesten germanischen Rechte eigentümlich; sie konnte aber nur durch den gegen das Individuum geübten Zwang aufrecht erhalten werden, den dieses freilich nicht oder doch kaum als Härte und Gebundenheit empfand, weil es als Glied der Gesamtheit im Banne ihrer Anschauungen lebte.

Die verhältnismäſsig dürftige Kenntnis der urzeitlichen Rechtszustände, zu welcher die Forschung bisher sich durchgerungen hat, schöpfte sie in erster Linie aus den Nachrichten der antiken Schriftsteller9. Unter ihnen ragen die Mitteilungen Cäsars hervor, dem seine Kriege mit den Germanen die Gelegenheit gaben, eine persönliche Anschauung ihrer Verhältnisse zu erlangen, und die gegen Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus entstandene Darstellung, welche Tacitus in seiner insgemein als Germania bezeichneten Schrift den Anfängen unseres Volkstums gewidmet hat. Ein Vertreter der Richtung, welche die politischen, wirtschaftlichen und sittlichen Schäden des römischen Reichs auf den Verlust der altrömischen Tugenden zurückführt, will Tacitus der römischen Entartung das Spiegelbild eines frischen und unverdorbenen Volkstums gegenüberhalten, indem

9 In Verbindung mit einer Ausgabe der Germania hat Müllenhoff, Germania antiqua, die auf die Germanen bezüglichen Stellen aus Strabo, Pomponius Mela, Plinius, Ptolomaeus, Julius Capitolinus und anderen römischen und griechischen Schriftstellern zusammengestellt.


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§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.

er dabei die germanischen Zustände stellenweise mit den hergebrachten Pinselstrichen ausmalt, welche in der römischen Litteratur für idealisierende Schilderung von Naturvölkern typisch geworden waren 10. Er ist gut unterrichtet, übertreibt und entstellt nicht, verrät aber doch die Absicht durch Betonung der Gegensätze zu wirken und beleuchtet die germanischen Zustände durch ein künstliches Zwielicht, welches den Blick auf die Schattenseiten des römischen Lebens zu lenken sucht. Die Auslegung der Germania setzt daher stets das Verständnis und die Vergleichung der römischen Einrichtungen und Zustände voraus, welche durch die Darstellung der germanischen eine mehr oder minder deutlich ausgesprochene Kritik erfahren. Der groſsartige Standpunkt, den Tacitus den Germanen gegenüber einnahm, war nur möglich zu einer Zeit, da das Römertum sich noch der vollen Überlegenheit seiner Waffen, seiner Kultur und seines Nationalgefühles bewuſst war. Er ist von der sinkenden römischen Geschichtschreibung früh genug aufgegeben worden 11.

Feste und wertvolle Ergebnisse gewinnt die Forschung für unser ältestes Recht, indem sie die in den Rechtsquellen der folgenden Perioden bezeugten Rechtseinrichtungen der verschiedenen germanischen Stämme kritisch mit einander vergleicht. Zeigt sich, daſs ein Rechtsinstitut bei den verschiedenen Stämmen, die seit ihrer Trennung eine selbständige Rechtsentwicklung durchgemacht haben, in gleicher Weise vorkommt, so läſst sich unter Verhältnissen, die eine gegenseitige jüngere Entlehnung oder eine unabhängige gleichartige Neubildung ausschlieſsen, mit gutem Grunde annehmen, daſs es in der Zeit vor der Trennung gemeinsames Besitztum gewesen war. Je früher die Trennung, je geringer im übrigen die Verwandtschaft des Rechtes, desto höher das Alter, in welches die Gemeinsamkeit hinaufreicht. Für die germanische Rechtsgeschichte kommt daher insbesondere die Vergleichung der skandinavischen Rechte, des angelsächsischen und des langobardischen Rechts mit den deutschen Stammesrechten des fränkischen Reiches in Betracht. Wesentliche Dienste leistet bei methodischer Verwertung die Geschichte unserer Sprache in ihrer Anwendung auf die Rechtsterminologie. Die Wörter

10 Köpke, Die Geten bei Horaz. Zur Quellenkritik des Tacitus. Nachtrag in dessen Anfänge des Königthums bei den Gothen S 208 ff.

11 Aus der groſsen Zahl von Kommentaren und kommentierten Ausgaben sind hervorzuheben F. Rühs, Ausführliche Erläuterung der zehn ersten Kapitel, 1821; A. Baumstark, Ausführliche Erläuterung des allgemeinen Teiles der Germania des Tacitus 1875, des besonderen völkerschaftlichen Teiles 1880 und die Ausgabe von Schweizer-Sidler, 3. Aufl. 1879.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 8


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§ 16. Die politischen Verbände.

sind die Geburtsscheine der Begriffe, die sie bezeichnen. Läſst sich feststellen, daſs ein gewisser Rechtsausdruck verschiedenen germanischen Sprachen gemeinsam war, so liefert diese Thatsache einen beachtenswerten Fingerzeig für das Alter der dadurch bezeichneten Rechtseinrichtung.

Einzelne dunkle Punkte vermag auch die Wissenschaft der vergleichenden Rechtsgeschichte aufzuhellen, sofern sie die sicher überlieferten Nachrichten über die ältesten Rechtszustände anderer, insbesondere arischer Völker kritisch verwertet.

§ 16. Die politischen Verbände.

J. Weiske, Die Grundlagen der früheren Verfassung Teutschlands, 1836. v. Bethmann-Hollweg, Die Germanen vor der Völkerwanderung, 1850. Landau, Die Territorien in Bezug auf ihre Bildung und Entwicklung, 1854. Gemeiner, Die Verfassung der Centenen, 1855. Thudichum, Der altdeutsche Staat, 1862; derselbe, Gau- und Markverfassung, 1860. Baumstark, Urdeutsche Staatsalterthümer, 1873. Erhardt, Älteste germ. Staatenbildung, 1879. W. Sickel, Der deutsche Freistaat, 1879; derselbe, Zur germ. Verfassungsgesch., Mitteil. des österr. Instituts, Ergänzungsband I 7. Waitz, Verfassungsgesch. I 201 ff. Kemble, The Saxons in England, 2 Bde 1849. K. Maurer, KrÜ I 73 ff. Stubbs, Constitutional History of England I. Munch (Clauſsen), Die nordisch-germ. Völker S 126.

Die Römer bezeichneten die staatsrechtliche Einheit, die sie bei den Germanen vorfanden, als civitas. Unter den Neueren ist dafür der Ausdruck Völkerschaft üblich geworden. Die Germanen waren in eine groſse Zahl solcher civitates gespalten. Namentlich ist bei den westlichen und mittleren Völkerschaften eine weitgehende politische Zersplitterung wahrzunehmen, wogegen die politischen Verbände des Ostens als umfangreicher erscheinen. Bei gleichartigen Verfassungszuständen war es mit gleichem Kraftaufwande möglich den politischen Zusammenhang unter halbnomadischen Volksmassen auf weitere Strecken hin aufrecht zu erhalten, als unter fest angesiedelten Volksteilen, bei welchen eine länger dauernde räumliche Isolierung den Drang zu staatsrechtlicher Absonderung erzeugte. Dazu kam, daſs die römische Staatskunst es lange Zeit hindurch verstanden hat, in der Nähe der Reichsgrenzen die gefahrvolle Bildung gröſserer germanischer Staatsverbände zu verhindern.

Die civitas ist „eine einzelne politisch selbständige und abgeschlossene Volksgemeinde“ 1. Ist das Volk nicht auf der Wanderung, so nimmt die civitas eine räumlich abgegrenzte Landschaft ein, nach

1 Müllenhoff, Abhandl. der Berliner Akademie 1862 S 529.


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§ 16. Die politischen Verbände.

der sie mitunter wohl auch benannt wird 2. Um die Grenze zu sichern, wird ein breiter Gürtel des Grenzlandes wüstgelegt und damit durch den Staat anderer Benutzung entzogen 3.

Eine Unterabteilung der civitas ist der Gau 4, pagus. Das Wort setzt ein räumlich abgeschlossenes Gebiet, also einen landschaftlichen, nicht bloſs persönlichen Verband voraus. Von den Sueben erzählt uns Cäsar, daſs bei ihnen jeder Gau tausend Wehrmänner zum Heere gestellt habe 5. Es ist nicht unwahrscheinlich, daſs der Gau aus der Niederlassung einer Tausendschaft hervorgegangen ist, aber schon frühzeitig territoriale Bedeutung erlangt hat 6. Für das Verhältnis des Gaues zur civitas verdient es Beachtung, daſs die Römer die Begriffe civitas und pagus zuerst an den keltischen Verfassungszuständen entwickelt und in der hier gewonnenen technischen Anwendung auf die Germanen übertragen haben, eine Thatsache, die uns berechtigt, von dem Charakter der keltischen Einteilung auf den der germanischen zurückzuschlieſsen 7. Mit der keltischen Eingliederung des pagus in die civitas ist eine so ausgedehnte Selbständigkeit vereinbar, daſs der Gau sogar Sonderkriege unternehmen kann, wie denn z. B. von den vier Gauen der helvetischen civitas der Gau der Tiguriner auf eigene Faust sich an dem Kimbernkriege beteiligt 8. Nicht anders war es bei den Germanen. Als sich die Cherusker unter Armin erhoben, vermochte der cheruskische Gau, an dessen Spitze Armins Oheim Inguiomer stand, seine Neutralität zu bewahren 9. Die civitas für

2 Müllenhoff a. O. S 521.

3 Caesar, De bello Gall. IV 3 von den Sueben. Pomponius Mela III 3: bella cum finitimis gerunt; causas eorum ex libidine arcessunt, neque inperitandi prolatandique quae possident … sed ut circa ipsos quae iacent vasta sint. In ähnlicher Weise haben die Römer zur Sicherung der Provinz Niedergermanien das Land am rechten Ufer des Unterrheins öd gelegt. Mommsen, Röm. G. V 111 ff. Noch in karolingischer Zeit sicherten die fränkischen Grenzgrafen die spanische Grenze gegen die Araber durch Wüstlegung des Landes. Urk. Ludwigs I. v. J. 815, Cap. Nr 132, I 261, laut welcher spanische Flüchtlinge sich niederlieſsen in ea portione Hispaniae, quae a nostris marchionibus in solitudinem redacta fuit.

4 Got. gavi, ahd. gawi, gewi, gowi, alts. und fries. gâ, gô. Grimm, WB IV 1 S 1518. „Die erreichbar älteste Bedeutung ist Landgebiet.“ A. O. S 1520.

5 De bell. Gall. IV 1: Hi centum pagos habere dicuntur, ex quibus quotannis singula millia armatorum bellandi causa ex finibus educunt.

6 Vgl. W. Sickel, Zur germ. VG, a. O. S 19; Munch (Clauſsen) S 130. S. unten § 19.

7 Mommsen, Schweizer Nachstudien, Hermes XVI 487. Hirschfeld Gallische Studien, Wiener Sitzungsber. CIII 303.

8 Caesar, De bell. Gall. I 12.

9 Dahn, Urgeschichte I 88.

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§ 16. Die politischen Verbände.

einen bloſsen Staatenbund, den Gau für den germanischen Einheitsstaat 10 zu erklären, geht zu weit 11. Doch mochten kleinere civitates nicht weiter in Gaue zerfallen und konnte es vorkommen, daſs einzelne Gaue zu selbständigen civitates emporwuchsen und in den Übergangsphasen solcher Entwicklungen die civitas den Charakter des Bundesstaats besaſs, wie andrerseits die Verschmelzung mehrerer Völkerschaften zu einem gröſseren Einheitsstaat durch ein bundesstaatliches Verhältnis vermittelt werden konnte.

Die Bewohner des Gaues, die Gauleute, sind in eine Anzahl kleinerer persönlicher Verbände, Hundertschaften, Hunderte 12, eingeteilt, welche in erster Linie den Zwecken des Heerwesens, in zweiter den Zwecken der Rechtspflege zu dienen bestimmt waren. Daſs die Hundertschaft ursprünglich ein reiner Zahlbegriff war, der auf die Gliederung des Heeres zurückging, wird allgemein angenommen. Die herrschende Meinung sieht aber in der Hundertschaft bereits zur Zeit des Cäsar und des Tacitus einen räumlichen Begriff, einen Hundertschaftsbezirk. Der Name habe schon damals nur noch historische Bedeutung gehabt als Reminiscenz an die vorgeschichtliche Zeit, in der bei der ersten Besiedelung des Landes ein Heerhaufe von hundert Mann das ihm zugewiesene Gebiet besetzt habe 13.

Den altgermanischen Hundertschaftsbezirk glaubt man aus dem späteren Vorkommen räumlicher Hundertschaften bei verschiedenen germanischen Stämmen erschlieſsen zu müssen. Genau besehen be-

10 So Dahn a. O.; Arnold, Urzeit S 327. 328.

11 Kam es doch auch während des dreiſsigjährigen Krieges vor, daſs einzelne Reichskreise Bündnisse mit einem der kriegführenden Teile abschlossen. Pütter, Handb. der teutschen Reichshistorie II 638. 641. 676.

12 Nach Grimm, WB IV 2 S 1923 wurde das Wort Hundert, altnord. hundrad, ags. u. fries. hundred, alts. hunderôd, ursprünglich auf die Einteilung des Volkes in Reihen von Hundert angewendet, und scheint hunderôd auf ein Verbum hunderôn zurückzuführen mit der Bedeutung in Gruppen von hundert gliedern.

13 Faſst man die Hundertschaft als Unterabteilung des pagus, so setzt man sich in Widerspruch mit der Thatsache, daſs die römischen Schriftsteller ein Zwischenglied zwischen pagus und vicus nicht kennen. Wer dagegen, um den Hundertschaftsbezirk zu retten, ihn mit dem pagus identifiziert, muſs die Nachrichten Cäsars, die auf einen gröſseren Umfang der germanischen Gaue hindeuten, als unglaubwürdig verwerfen, die Analogie der keltischen Gaueinteilung fallen lassen und die centeni des Tacitus in Germ. c. 6 und c. 12 für Miſsverständnisse erklären. Da nach Germ. c. 6 jeder einzelne Gau je hundert Mann zu der aus Reitern und Fuſsgängern gemischten Sondertruppe stellte, so muſs die Zahl der sonstigen Heermänner des Gaues so erheblich gewesen sein, daſs die Bezeichnung Hundertschaft für den Gau schon damals schlechterdings nicht mehr gepaſst hätte. Vgl. über die Kontroverse W. Sickel, Freistaat S 90 f.; Waitz, VG I 222 f.


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§ 16. Die politischen Verbände.

ruht aber dieser Rückschluſs auf sehr unsicherer Grundlage. Der Hundertschaftsbezirk findet sich später in landschaftlicher Bedeutung als centena bei den Franken, als huntari bei den Schwaben, als hundred bei den Angelsachsen und als herađ 14 oder auch hundari bei den Nordgermanen. Allein bei den Angelsachsen taucht die Hundred als Landbezirk nicht vor der zweiten Hälfte des zehnten Jahrh. auf 15. Die Herad fehlt in dieser Bedeutung auf Island und in Teilen Norwegens 16. Und die alamannische centena ist zwar allerdings schon für den Anfang des achten Jahrhunderts sicher bezeugt 17, verrät aber insofern einen jüngeren, kaum über die fränkische Unterwerfung hinaufreichenden Ursprung, als die meisten Hundertschaftsnamen aus einem Personennamen gebildet sind, augenscheinlich dem Namen des Hundertschaftsvorstehers, unter welchem die Benennung der Hundertschaft zu dauernder Geltung gelangte 18. Bei den übrigen Stämmen, insbesondere bei den Baiern 19, Friesen 20, Sachsen 21, Langobarden 22 und Westgoten 23, ist ein Hundertschaftsbezirk nicht nachzuweisen.

14 Von altnord. herr, Heer abgeleitet. In der Skalda heiſst es: Heer ist Hundert. Waitz I 214. Grimm, RA S 207. In einem Nachtrag zu RA S 533 verweist Grimm auf Saxo Grammaticus rec. Müller I 216: Erico sub sponsalium fide sororem et centurionatum (rex) dedit. Centurionatus stehe hier für herađ. Vgl. Beóvulf v. 2196, wo Hygelâc dem Beóvulf sieben Tausendschaften giebt.

15 Sie findet sich zuerst unter König Edgar (959—975). Beda, die älteren Urkunden erwähnen sie nicht. Bei den Festlandsachsen fehlt der Hundertschaftsbezirk. Nach Reinhold Schmid, Ges. der Ags. S 614 spricht manches gegen die Annahme, daſs die Hundertschaft gleich bei der ersten Besetzung des Landes eine territoriale Einteilung desselben geworden sei. Adams, Essays in anglosaxon law S 19 meint, daſs die Hundertschaft des 10. Jahrh. aus der Shire des 7. Jahrh. entstanden, der Staat der älteren Zeit zur Shire geworden sei. Für die Ursprünglichkeit der angelsächsischen Hundertschaftsbezirke haben sich Konrad Maurer und Stubbs mit Rücksicht auf die kontinentalen Verhältnisse ausgesprochen.

16 Über die Bedeutung von herad auf Island siehe K. Lehmann, Königsfriede S 266—271, über Norwegen Brandt, Forel. II 163.

17 Lex Alam. Hlo. 36, 1.

18 Goldineshuntare, Hattinhuntare, Munteriheshuntare, Ruadolteshuntre, Waldramnishundari. Seltener ist die Bezeichnung nach Flüssen wie in Eitrahuntal (nach dem Flüſschen Eitrach). Vgl. Grimm, RA S 532; Thudichum, Gau- u. Markverfassung S 21; Waitz, VG II 1 S 402.

19 Waitz, VG I 217. Das Fehlen der örtlichen Centene bei den Baiern spricht dafür, daſs sie bei den Schwaben erst durch fränkischen Einfluſs eingedrungen ist.

20 v. Richthofen in Mon. Germ. LL V 88 Anm 20. Die villa Cammingehundari in Mühlbacher, Regesten Nr 966 v. J. 839 ist nicht ein Beweis für, sondern gegen die friesische Hundertschaft. v. Richthofen a. O.

21 v. Richthofen a. O.

22 Vgl. v. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 344 Anm 29.

23 Dahn, Könige VI 340.


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§ 16. Die politischen Verbände.

Weit gröſsere Verbreitung als der Hundertschaftsbezirk hat der Name des Hundertschaftsvorstehers. Er findet sich als centenarius oder hunno bei den Franken und Alamannen 24, als hundredes ealdor oder hundredes man bei den Angelsachsen 25, als Hundertschaftskönig (herađskonungr) und Hundertschaftshäuptling (hæraþs höfþinge) in Norwegen und Schweden 26. Ihn kennen aber auch solche Stämme, welchen die territoriale Hundertschaft fremd blieb, so die Baiern 27 und Westgoten 28 als centenarius, die Langobarden als centinus, centurio, centenarius 29. Der altsächsische Heliand nennt einen Hunno 30.

Bei dieser Sachlage ist es durchaus wahrscheinlich, daſs die Hundertschaft in germanischer Zeit nicht ein geographischer Begriff, sondern ein persönlicher Verband war, dem allenthalben ein Hundertschaftshäuptling vorstand, und daſs sie erst in der folgenden Periode bei einigen Stämmen landschaftliche Bedeutung erlangte, während bei anderen diese Entwicklung nicht eintrat 31.

Die Hundertschaft ist ursprünglich als eine Abteilung von hundert Heermännern zu denken. Solange sie ihre praktische Bedeutung behielt, konnte eine Lokalisierung, ein Verwachsen der Hundertschaft mit Grund und Boden nicht eintreten, weil die Einteilung mit Rücksicht auf ihre militärischen Zwecke von Zeit zu Zeit erneuert werden muſste. Man wird dabei nicht genau hundert oder hundertzwanzig Mann (ein Groſshundert) abgezählt haben, weil es bei der Bildung der Heeresabteilungen darauf ankam, die Geschlechtsverbände nicht

24 Lex Salica 44, 1; 46, 1. 4; 60, 1. Lex Alam. 28, 4; 36, 1. 5. Hunno für centurio in Notkers Psalmenübersetzung, in alamannischen Glossen und in einer bei Waitz I 218 Anm 2 citierten Einsiedler Urkunde von 1217.

25 Edgar IV 8. 10, I 2. 4. 5.

26 In Norwegen auch hersir. Lehmann, Königsfriede S 168.

27 Meichelbeck, Hist. Fris. I Nr 89 v. J. 764—784. Meich. Nr 404 v. J. 820 erwähnt einen Centenar aus Tassilos III. Zeit, der wiederum Centenar ist. Lex Baiuw. II 5; Syn. Aschhaim. c. 11; LL III 458 (centuriones). Daſs der altbairische Centenar nicht ein Gerichtsbeamter ist, ergiebt die Vergleichung von Lex Bai. II 14 mit Lex Alam. 36. Bairische Glossen bei Graff IV 976 haben hunnilih für tribunalis.

28 Lex Wisig. IX 2, 1. Er ist Heerführer über Hundert. Ulfilas hat für centurio hundafaþs.

29 Ratchis 1. Cap. missorum I 67, c. 4. Öfter in langobardischen Urkunden: Pabst, Forschungen II 500; Schupfer, Istituz. pol. long. S 328.

30 Heliand, herausg. von Sievers, Vers 2093 für centurio.

31 Konrad Maurer, KrÜ I 79 nimmt an, daſs die Hundertschaft schon zur Zeit des Tacitus territorialer Bezirk war, daſs aber in den Stürmen der Völkerwanderung die persönliche Bedeutung der Abteilung neuerdings auflebte und diese bei erneuter Niederlassung des Volkes wiederum räumliche Bedeutung gewann.


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§ 17. Königtum und Fürstentum.

zu zerreiſsen 32. Da Heer und Volk im germanischen Staate begrifflich zusammenfielen, wurde die Gliederung in Hundertschaften auch während des Friedens beibehalten und als Grundlage für die Regelung des Gerichtsdienstes verwertet. Wie Tacitus berichtet, standen je hundert Männer aus dem Volke dem Fürsten bei der Ausübung der Rechtspflege zur Seite 33. Diese Hundert sind nicht ein Ausschuſs der sämtlichen Gauleute, nicht die Dingmänner einer räumlich abgegrenzten Hundertschaft, sondern die Heerverbände, welche der Fürst, wenn er zum Zweck der Rechtspflege den Gau bereist, der Reihe nach zum Ding aufbietet. Die Hundertschaft ist nach alledem für die Zeit des Tacitus als Heer- und Dingverband aufzufassen, dessen Vorsteher vielleicht schon damals bei einigen Stämmen Hunno hieſs. Als Dingverband bildete die Hundertschaft nicht einen räumlich abgeschlossenen Gerichtsbezirk, sondern nur einen persönlichen Verband. Als persönliche Dingverbände begegnen uns noch im älteren isländischen Rechte die Godorde, wogegen ihm territoriale Gerichtssprengel fehlen 34.

Nicht politische, sondern nur wirtschaftliche Verbände waren die Markgenossenschaften, die Dorfschaften und Bauerschaften.

§ 17. Königtum und Fürstentum.

Siehe die Litteratur zu § 16 und v. Sybel, Entstehung des deutschen Königthums, 2. Aufl. 1881. Köpke, Anfänge des Königthums bei den Gothen, 1859. Dahn, Könige der Germanen, 6 Bde. 1861—1885. Waitz, VG I 236 ff. 294 ff. Munch S 165. Wittmann, Das altgerm. Königthum, 1854. W. Voſs, Republik und Königthum im alten Germanien, 1885. Waitz, Über die principes in der Germania des Tacitus, Forschungen II 387. Phillips, Über Erb- und Wahlrecht mit bes. Beziehung auf das Königthum der germ. Völker, 1824. H. Schulze, Thronfolge und Familienrecht der ältesten germ. Königsgeschlechter, in Z f. RG VII 323. W. Scherer im Anzeiger f. deutsches Alterthum IV 100 und in der Z f. d. österr. Gymn. 1869 S 89 ff.

Die Schriftsteller des Altertums unterscheiden bei den Germanen zwischen reges und principes. Das durchschlagende Merkmal des

32 S. oben Seite 85.

33 Germ. c. 12: centeni singuli ex plebe comites consilium simul et auctoritas adsunt. Die centeni in c. 6 sind Sondertruppe des Gaues. Erhardt a. O. S 36 f. und unten § 19.

34 Konrad Maurer, Island, 1874, S 55. 106. 156. K. Lehmann, Königsfriede der Nordgermanen S 272. Ein Kapitular für Sachsen zeigt, daſs die Gauleute in Abteilungen von je hundert zu gewissen Leistungen herangezogen wurden. Cap. de partibus Sax. c. 15, I 69: ad unamquamque ecclesiam curte et duos mansos terrae pagenses ad ecclesiam recurrentes condonant et inter centum viginti homines (das sächsische Groſshundert) nobiles et ingenuis similiter et litos servum et ancillam eidem ecclesiae tribuant.


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§ 17. Königtum und Fürstentum.

germanischen rex im römischen Sinne ist die ungeteilte Herrschaft, die Einherrschaft über die gesamte civitas. Den Völkerschaften mit Prinzipatsverfassung fehlt im Frieden ein gemeinsames Oberhaupt, die Führung der civitas steht einer Mehrzahl von principes zu. Diese grundsätzliche Unterscheidung scheinen aber die Germanen nicht gekannt, vielmehr die Stellung der Herrschenden als eine im wesentlichen gleichartige aufgefaſst zu haben, mochten sie nun im römischen Sinne reges oder principes gewesen sein 1.

Auf die älteste gemeingermanische Bezeichnung des Volksherrschers weist uns nach aller Wahrscheinlichkeit das gotische Wort thiudans hin 2, welches in Ulfilas’ Bibelübersetzung für βασιλεύς gebraucht wird 3. Herrscher, Herr ist auch der altsächsische thiodan, der nordische thjóđann, der angelsächsische theóden. Bei den Baiern 4 und Franken ist uns deotan, theudan 5 wenigstens als Eigenname überliefert. In dem ältesten Volksrechte der salischen Franken begegnet uns zu den Worten ante regem die Glosse ante theoda, welche auf einen Nominativ theod, dominus zurückzuführen scheint 6. Das Wort König, ahd. chuning, angs. cyning, altn. konungr 7, im Gotischen nicht vertreten, bezeichnete nicht bloſs den Herrscher, sondern auch das Mitglied des herrschenden Geschlechtes, z. B. den nichtregierenden Königssohn 8. Litauer und Slawen, die das Wort entlehnten, be-

1 Seit Ammianus Marcellinus macht sich auch bei den römischen Schriftstellern die germanische Auffassung geltend. Ammian kennt bei den Burgundern neben dem Oberpriester des Staates mehrere reges und unterscheidet bei den Quaden und Alamannen reges, regales, reguli, subreguli. Regales sind die königlichen Prinzen, reguli die Unterkönige. Ein spätestens dem 6. Jahrhundert angehörender Grammatiker, der sog. Grammaticus de differentiis, sagt: inter regem et regalem hoc interest, quod regius puer est regalis, „rex“ qui regit regnum. Z2 f. RG V 228. Fahlbeck, La royauté et le droit royal francs, der in einem Exkurs S 293 ff. den Sprachgebrauch Ammians in ziemlich gewaltsamer Weise behandelt, hält die regales für die Taciteischen principes. Schröder, RG I 21 sieht in ihnen erblich gewordene Gaufürsten.

2 Eine Bemerkung des verewigten Müllenhoff. S. Vilmar, Deutsche altertümer im Hêliand, 1845, S 50.

3 Über den Gebrauch von þiudans bei Ulfilas Dahn, Könige VI 7.

4 Meichelbeck, Hist. Fris. I Nr 70 von 780, Nr 93 von 780—784, Nr 568 von 811—834.

5 Förstemann, Altd. Namenbuch I: Personennamen, 1856, S. 1163.

6 Lex Sal. 46; Kern bei Hessels, Lex Sal. col. 534 § 227. Vergl. Graff, Sprachschatz V 125. 128 unter Werodiota.

7 Grimm, RA S 229, WB V 1691. Hildebrand vermutet a. O. ein altgermanisches kuni, das selbst schon König hieſs, so daſs kuni als Masculinum den Geschlechtsherrn, als Neutrum das Geschlecht bedeutet habe.

8 Wie regalis bei Ammian.


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§ 17. Königtum und Fürstentum.

nannten damit auch den Priester. Nach dem Umfang der Volkskomplexe, über welche sich die Gewalt des Königs erstreckt, unterscheidet das Altnordische den thjóđkonungr, den fylkiskonungr und den hérađskonungr.

Das dem lateinischen rex wörtlich entsprechende reiks ist weniger wie thiudans; es wird bei Ulfilas als Übersetzung von ἄϱχων für den Gewalthaber, die Obrigkeit schlechtweg gebraucht 9. Dagegen verwendet eine schwedische Runeninschrift die Zusammensetzung thiaurikr (rex populi, dem Personennamen Theoderich, Dietrich entsprechend) für den Groſskönig, welchem daselbst 20 Häuptlinge als konukar (Könige) gegenüberstehen 10.

König ist sprachlich verwandt mit ahd. chunni (n.) Künne, gens, tribus, natio 11, und bedeutet das Haupt des Geschlechts, den primus in stirpe. Thiudans ist aus thiuda (fem.), Volk gebildet. Ebenso verhält sich truhtin, der Herr 12, zu truht (fem.), Volk, Schar, und der nordische Fürstentitel fylkir zu fylki, Volk. Noch näher rücken bei den Angelsachsen leód (masc.), princeps, und leód 13 (fem.), gens, populus, an einander 14. So läſst schon die Wortbildung die ursprüngliche Einheit ersehen, welche das Volk und den ihm entsprossenen Herrscher umfaſst, und bringt sie die ursprüngliche Gegensatzlosigkeit von Volksrecht und Herrscherrecht zu sinnvollem Ausdruck, ohne dabei zwischen Einherrschaft und Vielherrschaft zu unterscheiden. Der sprachlichen Verwandtschaft der Ausdrücke, welche das Volkshaupt einerseits, das Volk andrerseits bezeichnen, entspricht die Erscheinung, daſs einzelne Völkerschaften mit dem Namen ihres Königsgeschlechtes genannt werden 15 und daſs gelegentlich der Name des Volkes als Eigenname seines Königs erscheint 16.

9 Grimm, RA a. O. Dahn a. O. S 9.

10 Bugge, Tolkning af Runeinskriften på Rökstenen, in Antiquarisk Tidskrift för Sverige V 40. 56. 91. 141.

11 Grimm, WB V 1691. 2664. Schmid, Gesetze d. Angels. S 551 über cynn. Thiadekunni alts. für Volksstamm bei Heyne, Kl. altniederd. Denkmäler, 2. Aufl., S 147.

12 Alts. druhtin, ags. dryhten, fries. drochten. Diefenbach, Vergl. WB II 641; Grimm, WB II 1438.

13 Mit leód ist leuda in L. Baiuw. IX 3 zusammenzustellen: cum XII sacramentalibus iuret de leuda sua (mit Eidhelfern seiner Sippe).

14 Grein, Sprachsch. II 171. Ebenso nahe würden sich das von Kern (siehe oben Anm 6) vorausgesetzte theod, dominus und theod, populus, das von Hildebrand (siehe oben Anm 7) vermutete kuni, Geschlechtsherr und got. kuni, Geschlecht berühren.

15 Über Merowingi als Bezeichnung der Salfranken siehe oben S 43. Astingen heiſst ein Stamm der Vandalen und das vandalische Königsgeschlecht. Mit dem

16 [zu S 121] Ostrogotha, König der Goten in Jordanis c. 16. 17.


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§ 17. Königtum und Fürstentum.

Die Leitung und Führung der civitas stand ursprünglich allenthalben bei herrschenden Geschlechtern vornehmster Abkunft, deren Stammbaum man an die Götter anzuknüpfen pflegte. Hinsichtlich der reges besteht in dieser Beziehung kein Zweifel. Das Königtum ist erblich, die Erblichkeit aber eine solche, daſs sie die Wahl des Volkes nicht ausschlieſst. Das Volk wählt den König aus dem herrschenden Geschlechte 17. Die Wahl entscheidet unter den verschiedenen Mitgliedern der königlichen Sippe und dient, da eine feste Erbfolgeordnung fehlt, als Ersatz derselben. Sie erscheint formell als ein Urtheil des versammelten Volkes, daſs dem Gewählten die Herrschaft gebühre. War das alte Königsgeschlecht erloschen oder lag sonst ein Anlaſs vor, die Wahl zu accentuieren, so wurde der Gewählte auf den Schild erhoben, um dem Volke gezeigt zu werden 18. Die Völkerschaft konnte sich auch mehrere Abkömmlinge oder Verwandte des verstorbenen Königs zu Führern setzen, sei es damit diese gemeinschaftlich regierten oder daſs sie sich nach dem Willen des Volkes räumlich in die Herrschaft teilten. Ein Rechtssatz, daſs die Wahl, welche das vorhandene Königsgeschlecht überspringt, ungiltig sei, hat nicht bestanden. Doch nur im Drange der Not ging man davon ab. Nur wenn die königliche Sippe keinen tauglichen Mann enthielt, wählte man, ohne sich an die Erblichkeit zu binden 19. Bezüglich der principes lauten die Nachrichten etwas anders. Von ihnen sagt Tacitus ausdrücklich, daſs sie durch die Landesgemeinde gewählt worden seien 20. Allein die Zeugnisse, die uns über die Herkunft von principes erhalten sind, lassen sie durchgängig als Mitglieder edler Geschlechter erscheinen 21. Bei den Cheruskern finden wir an der Spitze der einzelnen Gaue principes, deren gegenseitige Verwandtschaft entweder ausdrücklich bezeugt ist oder aus der Ähnlichkeit der

Namen langobardischer Stämme will v. Sybel, Entstehung des deutschen Königthums S 214 f. die langobardischen Königsgeschlechter der Gugingen und Lethingen in Verbindung bringen.

17 Tacitus, Germ. c. 7: reges ex nobilitate sumunt. Siehe die Stellen, welche Waitz, VG I 320 über die Mitwirkung des Volkes bei der Erhebung der Könige zusammengestellt hat. Über Schweden v. Amira, Schwed. Obligationenrecht S 18; Lehmann, Königsfriede S 8; über Norwegen a. O. S 168. 175. Über Wahl und Erbrecht im Beóvulf Scherer, Z f. d. österr. Gymn. 1869 S 95 ff.

18 Grimm, RA S 234. In einem Nachtrage verweist er u. a. noch auf Heliand (Sievers Vers 2883): that sie ine gihôbin te herosten, gicurin ine te cuninge.

19 S. oben S. 107.

20 Germ. c. 12. 22.

21 Erhardt, Staatenbildung S 58 f.


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§ 17. Königtum und Fürstentum.

Namen erschlossen werden darf. Aber trotz der Mehrheit der principes nennt Tacitus 22 das herrschende Geschlecht der Cherusker eine stirps regia, wie denn auch sonst die Prinzipatsgewalt manchmal als eine königliche bezeichnet wird 23. Bei der eigentümlichen Verbindung von Erbrecht und Wahlrecht, die ja im Grunde genommen nur eine vereinzelte Äuſserung der zwischen Herrschertum und Volkstum bestehenden Einheit ist, war von vornherein die Möglichkeit zur Ausbildung von Gegensätzen gegeben, bei welchen die Erblichkeit oder das Wahlrecht das Übergewicht erlangen konnte. Zur Zeit des Tacitus muſs bei der Erhebung der principes das Wahlmoment kräftiger hervorgetreten sein. Mehr als bei der Königswahl nahm man Rücksicht auf die persönliche Tüchtigkeit, weniger auf den Adel der Geburt 24. Doch läſst sich darauf ein durchgreifender Gegensatz zwischen Königtum und Fürstentum nicht aufbauen. Am allerwenigsten geht es an, deshalb die altgermanischen Verfassungszustände in eine schematische Einteilung hineinzuzwängen und die einzelnen civitates grundsätzlich in Monarchien und Republiken oder Freistaaten einzuteilen.

Die verfassungsmäſsige Gewalt des rex und des princeps unterscheiden sich weniger durch ihren Inhalt als durch ihren Umfang. König und Fürst sind Heerführer, der König für das ganze Volk, der Fürst für die Gauleute. Könige und Fürsten umgeben sich mit kriegerischen Gefolgsleuten und empfangen von den Volksgenossen Ehrengeschenke, die ihnen freiwillig aber herkömmlich dargebracht werden. Der princeps hat die Stellung des Richters im Gau, der König vermutlich in der Landesgemeinde. Da aber der Gerichtsbann, welcher der richterlichen Gewalt zu Grunde lag, in heidnischer Zeit sakrale Bedeutung hatte, so war damit notwendig zugleich ein priesterlicher Charakter des Herrschertums gegeben. Auch hinsichtlich der Friedensbewahrung läſst sich ein durchgreifender Unterschied für die Urzeit nicht aufstellen. Denn in den Staaten mit Königtum ist der allgemeine Friede mit nichten Königsfriede, sondern ebenso wie anderwärts Volksfriede, ein Friede, der nicht auf dem Gebote des Königs, sondern auf dem Willen des Volkes beruht. Den Beweis liefert die Rechtsgeschichte der nordgermanischen

22 Annales XI 16.

23 Erhardt a. O. S 52 ff.

24 Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 95: Man kann nur sagen, daſs bei dem König (rex) die Geburt, bei den Fürsten (principes) die Wahl das überwiegende Moment bilde.


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§ 17. Königtum und Fürstentum.

Königreiche, in welchen trotz uralten Königtums neben dem Volksfrieden ein besonderer Königsfriede in historischer Zeit nur langsam Boden gewann 25. Von den Königen und von Fürsten wird uns ferner in gleicher Weise berichtet, daſs sie sich durch eine eigentümliche Haartracht auszeichneten. Bei den principes der suebischen Völkerschaften hebt Tacitus den besonderen Haarschmuck hervor 26. Wallendes Haupthaar ist ein Merkmal der fränkischen Könige aus dem Hause der Merowinger. Auch die westgotischen und burgundischen Könige scheinen es getragen zu haben 27. Aus der Haartracht erklärt man den Namen des vandalischen Königsgeschlechtes, der Astingen 28. Auf dieselbe Wurzel führt das Wort hartpuri, hardburi zurück, welches im altsächsischen Heliand für Obrigkeit gebraucht, in althochdeutschen Glossen mit magistratus wiedergegeben wird 29. Wie die Gewalt der Fürsten ist auch die des Königs eine beschränkte. Ihre Schranke bildet der Wille des in der Landesgemeinde versammelten Volkes. Allgemein darf für die Germanen angenommen werden, was später von den Schweden berichtet wird: reges habent, quorum tamen vis pendet in populi sententia 30. Trotzdem konnte eine kraftvolle Persönlichkeit, die den Willen des Volkes zu lenken verstand, sich als Herrscher zur Geltung bringen und wenn der Erfolg ihr treu blieb, die gewonnene Machtfülle auf die Dauer behaupten. Andererseits sind aber in der Geschichte des germanischen Königtums die Fälle nicht selten, in welchen ein König, der dem Willen des Volkes zuwiderhandelte, abgesetzt, verjagt oder erschlagen wurde 31. Die Burgunder pflegten ihre Könige abzusetzen, wenn Kriegsunglück oder Miſswachs eintraten. Von Sachsen und Schweden geht die Sage, daſs erstere ihre Fürsten wegen Kriegsunglück, letztere ihre Könige bei Hungersnot den Göttern opferten 32.

Mit Rücksicht auf den gleichartigen Inhalt der Königs- und

25 Lehmann, Königsfriede.

26 Germ. c. 38.

27 Jahn, Burgundionen I 75 f.

28 Soviel wie capillati. Grimm, Gesch. d. d. Spr. S 314 (448) und Deutsche Mythologie I2 316. 317. 321.

29 Heliand 4217. Ahd. Gl. I 207, 12. In einem handschr. Nachtrage zu RA S 753 verweist J. Grimm auf den Eigennamen Ardaburius. So hieſsen Vater und Sohn des Goten und oströmischen Patriziers Aspar.

30 Adam von Bremen IV 22: Mon. Germ. SS VII 377.

31 Gierke, Genossensch. I 51; Waitz I 322 f.

32 Jahn, Burgundionen I 81 Anm 3; Grimm, RA S 231; K. Maurer, Bekehrung des norwegischen Stammes II 197.


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§ 17. Königtum und Fürstentum.

Fürstengewalt darf der germanische rex als princeps civitatis, der germanische princeps als Kleinkönig oder Gaukönig aufgefaſst werden.

Allein die Thatsache, daſs der König über die ganze Völkerschaft, der Fürst nur über einen Teil derselben herrscht, hat eine Reihe von wichtigen rechtlichen Konsequenzen, durch welche die Verfassung der civitas ein eigenartiges Gepräge erhält, jenachdem seit längerer Zeit ein König oder eine Mehrzahl von principes an ihrer Spitze steht. In letzterem Falle machte sich aus gewissen Anlässen das Bedürfnis nach einheitlicher Leitung geltend und führte zur Ausbildung der Institutionen des Volksherzogtums und des Volkspriestertums. Während der König als solcher Heerführer ist, wurde in den Staaten, welchen im Frieden ein gemeinsames Oberhaupt fehlte, für den Kriegsfall (wohl meistens aus der Reihe der principes) ein Herzog gewählt, dessen Stellung bei Erörterung des Heerwesens besprochen werden soll. Während in den Staaten mit Königtum der König als Oberpriester des Volkes waltete, entstand neben der Vielherrschaft der principes die Würde eines besonderen Oberpriesters, der gewissermaſsen als ein rex sacrificulus die im Namen der ganzen Völkerschaft erforderlichen religiösen Handlungen vorzunehmen hatte 33.

Cäsar hebt es als eine Eigentümlichkeit der Germanen hervor, daſs sie ein besonderes Priestertum nach Art der gallischen Druiden nicht besitzen. Wahrscheinlich waren Priestertum 34 und Regierungsgewalt damals noch ungeschieden. Dagegen kennt Tacitus sowohl neben den Fürsten wie neben den Königen berufsmäſsige Priester, welche die nationalen Heiligtümer behüten, in der Landesgemeinde den Dingfrieden verkündigen und im Heere als Organe der Strafjustiz fungieren. Unter den Priestern sind häufig wohl nur Hilfsbeamte der Regierungsgewalt zu verstehen. Solche priesterliche Gehilfen waren die skandinavischen Goden, ehe sie auf Island eine selbständige und zugleich eine politische Stellung erlangten 35. Dagegen erscheint das

33 Nach Tacitus, Germ. c. 10 ist es der sacerdos civitatis, der in Angelegenheiten der civitas den Willen der Götter durch das Los verkündet. Er begegnet uns bei den Burgundern neben einer Mehrzahl von reges unter dem Namen sinistus, der Älteste, während der König als hendinos (nach Grimm, RA S 229 got. kindins, ἡγεμών) bezeichnet wird. Ulfilas giebt presbyter mit sinista.

34 Scherer im Anzeiger für deutsches Alterthum IV 100 f. und insbesondere Schröder, RG I 24.

35 K. Maurer, Island S 45; Zur Urgeschichte der Godenwürde, in der Z f. deutsche Philologie IV 130. Gudja heiſst auch der gotische Heidenpriester. Coting hat eine althochdeutsche Glosse neben ampahtman für tribunus. Steinmeyer I 88, 16.


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§ 17. Königtum und Fürstentum.

Amt des Priesters, der weder Herrscher noch Hilfsorgan eines Herrschers ist, als eine aus dem Bedürfnis nach einem Vertreter der sakralen Einheit hervorgegangene Ergänzung der politischen Vielherrschaft 36. Wenn innerhalb derselben civitas die Vielherrschaft im Wechsel der Ereignisse durch die Einherrschaft ersetzt wurde, mochte wohl auch der Oberpriester neben dem rex seine alten Funktionen für die gesamte Völkerschaft beibehalten. Doch ist es zu einer dauernden Abspaltung der sakralen Gewalt vom Königtum schwerlich gekommen. Bei den Nordgermanen gehört es zu den wesentlichen Funktionen des Königs, daſs er für das Volk den Göttern Opfer darbringt 37. So vertrieben die Schweden einen christlichen König und wählten einen anderen, damit er für sie das Opfer verrichte. Wo Priestertum und Regierungsgewalt zeitweise auseinanderfielen, finden sie sich schlieſslich wieder zusammen. Auf Island, wo anfänglich jedes weltliche Regiment fehlte, wurden die Tempelinhaber, die Goden, die Träger der neuen Staatsgewalt. Bei den Vandalen scheint das Königsgeschlecht der Astingen aus dem uralten Priestergeschlecht der Naharvalen hervorgegangen zu sein 38. Wenn bei den Westgermanen, wie wir aus Tacitus schlieſsen müssen, das berufsmäſsige Priestertum sich selbständiger gestaltete und weiter um sich griff, so fehlt es doch auch bei ihnen, namentlich bei den Friesen, nicht an Spuren sakraler Funktionen des Königtums 39.

Verschieden gestaltet sich die Stellung der Völkerschaftsversammlung, jenachdem sie einem oder mehreren Inhabern der Regierungsgewalt gegenübersteht. Der König hat einen Anteil an den Buſsen, welche in der Völkerschaftsversammlung ausgesprochen werden, er empfängt nämlich das später sogenannte Friedensgeld, während es in den Staaten mit Vielherrschaft ungeteilt an das Volk fällt 40. Ähnlich

36 Schröder, RG I 25.

37 Lehmann, Zur Frage nach dem Ursprung des Gesetzsprecheramtes, in Z 2 f. RG VI 196 ff.

38 Müllenhoff, Z f. DA X 556 f.

39 Grimm, RA S 243 verweist auf das heilige Ochsengespann, mit welchem die Merowinger fuhren. Bei den Friesen ist es nach der Vita Liudgeri der König Radbod, der die Verletzung des Heiligtums zu ahnden hat, die Götter durch das Los befragt, ob er ihnen die christlichen Glaubensboten opfern solle, und einen derselben töten läſst. v. Richthofen, Untersuchungen S 401. In der Vita Wulframmi wird Radbod angefleht, dem Knaben, der den Göttern geopfert werden soll, das Leben zu schenken. Radbod ist es, der die durch Christi Wunder geretteten Knaben dem heiligen Wulfram überläſst. v. Richthofen a. O. S 450. 451.

40 Tacitus, Germ. c. 12: pars mulctae regi vel civitati … exolvitur. Die Nachricht ist auf die im allgemeinen concilium fällig gewordenen Buſsen zu be-


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§ 17. Königtum und Fürstentum.

wie das Friedensgeld scheint das der Staatsgewalt verfallene Vermögen des Missethäters behandelt worden zu sein, welcher in der Versammlung der Völkerschaft friedlos gelegt worden war. In den Staaten mit Vielherrschaft bilden die principes eine Art von Völkerschaftsrat, indem sie minder wichtige Angelegenheiten der civitas gemeinsam erledigen, diejenigen, die in der Volksgemeinde entschieden werden sollen, vorher gemeinschaftlich beraten.

Unter dem König, der über die ganze civitas herrscht, stehen die Fürsten als Unterkönige an der Spitze der einzelnen Gaue. Wie sie bezeichnet wurden, muſs dahingestellt bleiben. Öffentliche Angelegenheiten mag der König mit den Gauvorständen beraten haben, namentlich solche, die vor die Landesgemeinde gebracht werden sollten.

Cäsar weiſs noch nichts von einem germanischen rex im römischen Sinne des Wortes. Zur Zeit, da Tacitus schrieb, ist der rex vornehmlich bei den östlichen Völkerschaften vertreten. Die Ostgermanen, die Markomannen und Quaden, die Hermunduren haben reges. Allmählich dringt aber die Einherrschaft auch bei den westlichen Völkerschaften vor, so bei den Cheruskern und bei den Brukterern 41. Als dann aus der Verbindung mehrerer Völkerschaften die deutschen Stämme erwuchsen, machte sich durch die Ausbildung des Stammeskönigtums eine ähnliche Entwicklung geltend. Zunächst behielten die einzelnen Völkerschaften und die einzelnen Gaue ihre angestammten Königs- und Fürstengeschlechter. Alamannen und salische Franken haben nachweislich zuerst unter einer Mehrzahl von Königen gestanden, vermutlich auch die Baiern, deren Adelsgeschlechter als depossedierte Königsgeschlechter betrachtet werden dürfen. Schlieſslich haben sich mit Ausnahme der Altsachsen die einzelnen Stämme zur Einheit des Herrschergeschlechtes durchgerungen. Alamannen, Salfranken, Ribuarier und Thüringer besitzen zu Ende des fünften, zu Anfang des sechsten Jahrhunderts ein einheitliches Stammeskönigtum. Ein Jahrhundert später läſst es sich bei den Friesen nachweisen. Die Langobarden standen nach ihrer Stammsage zuerst unter mehreren duces und haben sich dann einen König gesetzt. In England wuchsen die kleinen Königreiche der germanischen Einwanderer allmählich zur staatsrechtlichen Einheit der angelsächsischen Monarchie zusammen.

ziehen. Als Richter innerhalb des Gaues hatte wohl auch der princeps einen Anteil an den Buſsen. Dabei muſs erwogen werden, daſs die Friedensgelder wohl in erster Linie die Kosten zu decken hatten, welche während der Versammlung für Opfer und gemeinsame Gelage aufliefen. Grimm, RA S 648; W. Sickel, Mitt. d. österr. Inst. III 136 f.

41 Waitz, VG I 303.


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§ 18. Die Landesgemeinde.

Dagegen hat sich bei den Sachsen des Festlandes das Gaufürstentum der Urzeit erhalten. Die satrapae, welche der Angelsachse Beda als Häuptlinge der Altsachsen nennt 42, sind staatsrechtlich identisch mit den principes, die uns Tacitus schildert. Bei manchen Stämmen ist das Völkerschaftskönigtum durch das Stammeskönigtum beseitigt worden. So bei den Salfranken. Bei anderen hat sich das Gaufürstentum oder das Völkerschaftskönigtum als Unterkönigtum erhalten. Diesen Charakter haben die reguli und ealdormen der Angelsachsen, die duces der Langobarden. Auch die Jarle und Earle der Nordgermanen und Angelsachsen sind füglich als mediatisierte Häuptlinge zu erklären. Bei der Entwicklung des Groſskönigtums konnte es geschehen, daſs nicht alle Funktionen des Kleinkönigtums auf den Groſskönig übergingen. Immer hat er die Heerführerschaft, welche den Schwerpunkt seiner Stellung bildete, regelmäſsig das Oberpriestertum, nicht immer aber eine oberste Gerichtsbarkeit, die sich dann erst allmählich und auf neuen Grundlagen ausbilden muſs.

§ 18. Die Landesgemeinde.

S. die Litteratur zu § 16 und 17. Sohm, Reichs- und Gerichtsverfassung I 3 ff. Waitz, VG I 338 ff. Zimmermann, Die Volksversamml. der alten Deutschen, bei Brandes, Ber. üb. d. germ. Ges. II, 1863, S 29 ff. Sorber, Comment. de comitiis veterum Germanorum, 1745. 1749. Schröder, Gairethinx, Z 2 f. RG VII 53.

Die Entscheidung der öffentlichen Angelegenheiten beruhte allenthalben auf der Versammlung der freien und wehrhaften Volksgenossen. Tacitus schildert sie uns als concilium und zwar faſst er zunächst das concilium civitatis, die Völkerschaftsversammlung ins Auge, die im folgenden als Landesgemeinde bezeichnet werden mag. Doch passen die meisten Züge, über die er berichtet, auch auf andere germanische Versammlungen, und solche hat es verschiedenartige gegeben. Neben dem concilium civitatis dürfen auch Versammlungen der Gaue vorausgesetzt werden. Zu gemeinsamen Opfern vereinigten sich die religiösen Verbände der Völkerschaftsgruppen. Zur Ausübung der Rechtspflege traten die Hundertschaften zusammen.

Die öffentliche Versammlung bezeichnet das germanische Wort Thing, althd. dinc, kidinc, neuhd. Ding, Gedinge, got. nicht nachweisbar 1. Daneben finden wir bei den Franken mallus 2, bei den Angel-

42 Beda, Hist. eccl. V 10: non enim habent regem iidem antiqui Saxones, sed satrapas plurimos suae genti praepositos.

1 Grimm, WB II 1165, IV 1 2025. v. Richthofen, Fries. WB S 1072. Schmid, Gesetze der Angels. S 669.

2 Müllenhoff bei Waitz, Das alte Recht der sal. Franken S 289 führt


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§ 18. Die Landesgemeinde.

sachsen međel 3 und gemôt 4, bei den Sachsen und Friesen warf oder werf 5, ein Ausdruck, der vermutlich auch den Langobarden und den Baiern geläufig war 6. Den engeren Begriff Volksversammlung liefern Zusammensetzungen wie thiodothing 7, thiotmalli 8, liodthing oder Lotting, liodwarf 9. Die Landesgemeinde tritt zu bestimmten Zeiten, gewöhnlich bei Neumond oder Vollmond zusammen. Man tagt im Freien, auf einer den Göttern geweihten Stätte, denn die Landesgemeinde ist zugleich Opferversammlung. Die Volksgenossen sind verpflichtet zu erscheinen 10 und zwar bewaffnet zu erscheinen, denn die Landesgemeinde ist zugleich Heeresversammlung und dient zur Heerschau. Sie entscheidet über Krieg und Frieden. In ihr werden die Jünglinge wehrhaft gemacht und in das Heer aufgenommen. In ihr finden wohl auch die Freilassungen statt, durch welche der Freizulassende zum vollberechtigten Volksgenossen erhoben werden sollte. Die Landesgemeinde ist Wahlversammlung, sie vollzieht die Wahl und Anerkennung des Königs, sie kürt die Gaufürsten und bestellt den Herzog, wenn ein Krieg unternommen werden soll. Die Landesgemeinde fungiert als Gerichtsversammlung. Vermutlich konnte sie jede Rechtssache mit Umgehung der Hundertschaft an sich ziehen.

mallus nicht wie Grimm, RA S 746 auf mahal, sondern auf got. maþl, ahd. madal, ags. međel, concio, forum zurück. Das niederfränkische heimaell ist Hegemal, gehegtes Ding: Haltaus I 776; siehe noch Grimm, Weistümer VI 692, 4.

3 Hlothar und Eadric 8.

4 Schmid, Gesetze der Angels. S 595.

5 Von werben, ahd. hwërban, hwërfan, alts. hwërbhan, altfries. hwerva. Huart im Heliand 4467. 5547. 2306. Westfälisches Weistum bei Grimm, Weist. III 109: Urteil eingebracht nach Erkenntnis und Befehl des gemeinen Werfs. Warr im Ssp Landr. I 63 § 4. 5, II 12 § 15. Über warf im Friesischen s. v. Richthofen, Fries. WB S 1126; bei den Schweden Waitz, VG I 340 Anm 5.

6 Denn aus der Wurzel warf ist das langobardische Wort cawarfĭda, Liutpr. 77. 133 zu erklären, welches Gerichtsgebrauch bedeutet. Cawarfida ist sprachlich identisch mit bairisch gewerft, gewerf, Schmeller, Bayer. WB II 994: Verhandlung, Unterhandlung, Vertrag. Gewerf steht zu werf, warf wie zu Ding Geding, welches gleichfalls Verhandlung und Vertrag bedeutet.

7 Heliand 4174.

8 Als Ortsname z. B. in Detmold, Kirchdietmold bei Kassel (früher Dyetmelle) erhalten. Vgl. Malevelt, Male bei Brügge, Cout. du Franc de Bruges III 154, I 383 u. öfter.

9 v. Richthofen, Fries. WB S 904. Kühns, Gerichtsverfassung der Mark Brandenburg II 95.

10 S. die treffende Bemerkung Schröders, RG I 16 Anm 4, der mit Recht von der allgemeinen Heerpflicht auf die allgemeine Dingpflicht schlieſst. Auf den Ausdruck felicissimus exercitus noster in Roth. 386 möchte ich weniger Gewicht legen, weil er aus römischer Vorlage stammt. S. unten § 53.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 9


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§ 18. Die Landesgemeinde.

Es muſs aber auch Rechtssachen gegeben haben, die ihr vorbehalten waren, da gewiſs nur durch sie die Friedlosigkeit für das ganze Gebiet der civitas verhängt werden konnte. Sie scheint auch ausschlieſslich über Verbrechen entschieden zu haben, durch die man sich das ganze Volk und seine Götter zum Feinde machte, insbesondere über Verbrechen politisch-militärischer Natur, wie Landesverrat, Übergang zum Feinde und Feigheit.

Die Eröffnung der Versammlung ist ein religiöser Akt 11. Sie erfolgt durch ein Friedensgebot, welches nach Tacitus die Priester verkünden, denen es zugleich obliegt, die Verletzung des Friedens zu ahnden 12. Wer den Vorsitz und die Leitung der Landesgemeinde hatte, wird uns nicht berichtet. In Staaten mit Königtum war es wohl der König. Was die Völkerschaften mit Vielherrschaft betrifft, so mag es dahin gestellt bleiben, ob etwa der Völkerschaftspriester das concilium leitete oder, was wahrscheinlicher ist, der princeps des Gaus, in welchem es tagte. Der König oder einer der Fürsten tragen die Angelegenheiten vor, über welche die Versammlung von Staats wegen Beschluſs fassen soll. Doch ist das Recht der Rede nicht auf jene beschränkt 13. Über die vor die Landesgemeinde gebrachten Anträge entscheidet das versammelte Volk mit gesamtem Munde, indem es seine Miſsbilligung durch Murren, sein Vollwort, seine Zustimmung durch Waffenschlag zu erkennen giebt. Die von Tacitus mehrfach berichtete Sitte des Waffenschlags wird durch übereinstimmende jüngere Nachrichten als eine gemeingermanische in helleres Licht gesetzt 14. Nach ihnen erscheint das Rühren der Speere, bei den Franken auch das Zusammenschlagen der Schilde 15 als eine besonders feierliche Form,

11 Die jüngeren Nachrichten, welche wir über den Formalismus der Eröffnung des Dings besitzen, beziehen sich nur auf Gerichtsversammlungen. Sie sollen daher unten in § 20 bei Darstellung des Gerichtswesens verwertet werden.

12 Germ. c. 11: silentium per sacerdotes, quibus tum et coërcendi ius est, imperatur.

13 Man hat die Beschränkung aus Germ. c. 11 folgern wollen: mox rex vel princeps, prout aetas cuique, prout nobilitas, prout decus bellorum, prout facundia est, audiuntur auctoritate suadendi magis quam iubendi potestate. Allein das Gegenteil folgt schon aus der gerichtlichen Thätigkeit des concilium. Licet apud concilium accusare sagt Tacitus, und man wird nicht behaupten wollen, daſs nur der König oder die Fürsten klagen durften. Sickel, Freistaat S 40 Anm 11.

14 Konrad Maurer, Über das vápnatak der nordischen Rechte, Germania von Bartsch XVI 317 ff. im Anschluſs an S. Grundtvig, Om de Gotiske Folks Våbenéd, in Det kong. danske Videnskabernes Selskabs Forhandlinger 1870. Schröder, Gairethinx, Z 2 f. RG VII 53 und RG I 18.

15 Von der Wahl Chlodovechs durch die ribuarischen Franken erzählt Gregor


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§ 18. Die Landesgemeinde.

in welcher die Volksversammlung Beschlüsse faſst, gefaſste Beschlüsse bestätigt oder eine bindende Zusage erteilt. In Norwegen wurde diese Handlung technisch als vápnatak (armorum tactus) bezeichnet. Nordleute und Dänen haben sie u. a. bei der Gesetzgebung und bei Annahme eines neuen Königs zur Anwendung gebracht. Bei den Langobarden hieſs die rechtsförmliche Zustimmung und Zusage, welche von der Versammlung mittels Speerschlags abgegeben wurde, gairethinx. Per gairethinx nahm das langobardische Volk 643 das von seinem König Rothari erlassene Edikt als sein Volksrecht an 16. Das Wort stammt von gair, Ger, Wurfspeer, und von things, in dieser Zusammensetzung soviel wie Anerkennung oder Zusage 17. Von der Anwendung des vápnatak vor Gericht wird noch bei Darstellung der Gerichtsverfassung die Rede sein.

Die Landesgemeinde ist der eigentliche Lebensnerv der germanischen Verfassung. In ihr beruht der Schwerpunkt der politischen Selbständigkeit der Völkerschaft und findet die Einheit der civitas ihren charakteristischen Ausdruck. Wo sie fehlt liegt entweder ein bundesstaatliches Verhältnis oder bei Gemeinsamkeit des Königsgeschlechtes eine Art von Realunion mehrerer civitates vor. Erhöhte Bedeutung muſste sie in den Staaten mit Vielherrschaft erlangen, da in ihr und durch sie die unter den principes vorhandenen Gegensätze zur verfassungsmäſsigen Ausgleichung kamen. Schwer wird es empfunden und als etwas Auſsergewöhnliches hervorgehoben, wenn einem besiegten Volke die Versammlungsfreiheit verkümmert wird. In ihren Beschwerden über den römischen Druck hoben die Tenkterer zur Zeit des batavischen Krieges besonders hervor, daſs ihre Versammlungen verhindert wurden, daſs die Römer ihnen nur gestatteten unbewaffnet, unter Aufsicht und mit erkaufter Erlaubnis zusammenzukommen 18. Den Markomannen legten die Römer in einem Friedensschlusse auf, daſs sie nur in Gegenwart eines römischen Centurio, nur einmal im Monat und nur an bestimmtem Orte sich versammeln durften 19. Zu den Gewaltmaſsregeln, durch welche nachmals Karl der Groſse die

von Tours, Hist. Fr. II 40, daſs sie plaudentes tam parmis quam vocibus eum clypeo evectum super se regem constituunt.

16 Rothari 386: et per gairethinx secundum ritus gentis nostrae confirmantes.

17 Wie Gedinge, die im Dinge gewonnene Zusage oder Anerkennung. Grimm, WB IV 1 S 2025.

18 Tacitus, Hist. IV 64: ut conloquia congressusque nostros arcerent vel quod contumeliosius est viris ad arma natis inermes ac prope nudi sub custode et pretio coiremus.

19 Dio 72, 1.

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§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.

unterworfenen Sachsen im Zaume hielt, gehörte das Verbot allgemeiner öffentlicher Versammlungen 20.

Aus der Bedeutung der Landesgemeinde erklärt sich das verhältnismäſsig lockere Gefüge der germanischen Verfassung, erklärt sich die Leichtigkeit, mit der sich die Teilung von civitates, die Bildung neuer Gesamtstaaten vollzog. Hatten mehrere Staaten ein Bündnis abgeschlossen, so war bei längerer Dauer des Bundes das Bedürfnis einer gemeinsamen Heeresversammlung und mit ihr das Organ des aus dem Bunde herauswachsenden Staates gegeben. Wuchs die Volkszahl an, dehnte die Völkerschaft ihr Gebiet aus, so wurde es bei vorgeschrittener Seſshaftigkeit allzuschwierig oder unmöglich, eine einzige Landesversammlung regelmäſsig zu besuchen und fiel die civitas in mehrere Teilstaaten auseinander.

Im Gegensatz zu den Kulturstaaten des Altertums, die auf städtischer Grundlage erwachsen, von einer Stadt aus, als ihrem Mittelpunkte, verwaltet wurden, erscheinen die germanischen civitates recht eigentlich als Volksstaaten, die nicht von einem örtlichen Zentrum aus zusammengehalten werden. Das Bewuſstsein gemeinsamer Abstammung und gemeinsamen Volkstums blieb in ihnen so lebendig, daſs die Völkerschaft sich gewissermaſsen als ein erweitertes Geschlecht, die Volksgenossen sich als Landmagen gelten durften. Bei den gallischen Kelten ist die der germanischen verwandte Volksverfassung durch das städtische Verwaltungsprinzip des römischen Reiches zersetzt und zerstört worden. Dagegen schlug die politische Entwicklung der germanischen Völker Bahnen ein, auf welchen sie vor einem ähnlichen Schicksale bewahrt worden sind.

§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.

v. Peucker, Das deutsche Kriegswesen der Urzeiten, 3 Teile 1860—1864. F. W. Barthold, Geschichte der Kriegsverfassung und des Kriegswesens der Deutschen, 2 Teile 1855. Velschow, De Danorum institutis militaribus, 1831. Arnold, Deutsche Urzeit S 251 ff. — Eichhorn, RG I 72 ff. Waitz, VG I 371 ff. Schmid, Gesetze der Angels. S 599. Konrad Maurer, KrÜ II 388 ff. Gierke, RG der deutschen Genossenschaft I 93. Brockhaus, De comitatu Germaniae, 1863. Sohm, Deutsche Reichs- u. Gerichtsverf. S 553. W. Scherer, Über Heynes Beóvulf, in der Z f. d. österr. Gymnas. 1869 S 100 f. Kemble, Saxons I 162. Deloche, La Trustis et l’antrustion royal, 1873.

Der germanische Staat beruhte auf dem Grundsatz der gleichen Pflichten und Rechte aller freien und wehrhaften Volksgenossen. Die

20 Cap. de partibus Sax. I 70 c. 34: interdiximus ut omnes Saxones generaliter conventus publicos nec faciant, nisi forte missus noster de verbo nostro eos congregare fecerit.


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§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.

Bedürfnisse des Gemeinwesens muſsten durch die persönlichen Leistungen der Volksleute gedeckt werden, jeder einzelne unmittelbar leisten, was der Staat brauchte. Der Aufgabe des Staates, Volk und Land gegen äuſsere Feinde zu schützen, entsprach die allgemeine Heerpflicht. Das Heer ist das Volk in Waffen. Der Heerdienst ist zugleich ein Recht; nur der waffenfähige Freie ist Heergenosse. Liten und Eigenleute mag der Herr als Troſsknechte mit ins Feld führen; einen Teil des Heeres bilden sie darum nicht. Es erscheint als eine durch ungewöhnliche Notlage gebotene Ausnahme, daſs die Langobarden gelegentlich, um die gelichteten Reihen ihres Heeres zu ergänzen, Knechte in das Heer aufnahmen, nachdem sie dieselben vorher durch Wehrhaftmachung freigelassen hatten 1.

Heer- und Kriegswesen bilden den eigentlichen Brennpunkt für das öffentliche Leben der Germanen. Religion, Verfassung und Recht der Germanen sind in wesentlich kriegerischem Geist gestaltet. Ruhmvoller Tod in der Schlacht gilt nach den religiösen Anschauungen des Volkes, das sich seine Götter als Kriegsgötter schuf, für das höchste der auf Erden zu erstrebenden Ziele des Mannes. Die politische Gliederung des Volkes ist ein Abbild der Gliederung des Heeres. Die Obrigkeiten des Volkes sind seine Heerführer. Die Landesversammlung ist Heerversammlung und Ort der Wehrhaftmachung. Die Waffenfähigkeit ist von einschneidender Bedeutung für die Rechtsfähigkeit. Fehde und Zweikampf erscheinen als Institute des Rechtsganges.

Uralt, vermutlich auf arischer Sitte erwachsen ist die Einteilung des Heeres in Tausendschaften und Hundertschaften. Bei den Sueben scheint sich zur Zeit Cäsars die Gliederung des Heeres mit der Gaueinteilung gedeckt zu haben 2. Nachmals finden wir die militärische Tausendschaft nur bei den ostgermanischen Wanderstämmen. Westgoten, Ostgoten, Vandalen kennen das Amt eines Vorstehers der Tausendschaft, millenarius, im Westgotenrechte tiuphadus genannt 3. Bei den Westgermanen hat dagegen die Tausendschaft keinerlei sichere Spuren hinterlassen. Der in der Urzeit vermutlich vorhandene Zusammenhang zwischen Gau und Tausendschaft entschwand, als die innerhalb der Gaugrenzen seſshaft bleibende Bevölkerung sich vermehrt hatte, wogegen die Hundertschaft, wie oben bemerkt worden, erst in der Zeit nach der sogenannten Völkerwanderung sich bei

1 Paulus, Hist. Lang. I 13.

2 De bello gall. I 37, IV 1.

3 Lex Wisigoth. II 1, 26 und öfter. Dahn, Könige VI 337. Waitz, VG I 231 Anm 3.


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§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.

einzelnen Stämmen aus einem persönlichen in einen territorialen Verband umgewandelt hat. An Stelle der Tausendschaft trat, nachdem diese zum Gau geworden, als entsprechender Heerkörper das von seinem princeps geführte und nach Hunderten gegliederte Gauvolk.

Als Schlachtordnung war den Germanen die keilförmige Aufstellung eigentümlich 4. Kämpften mehrere Völkerschaften neben einander, so bildete jede von ihnen einen besonderen Keil, der somit die taktische Einheit der civitas darstellte 5. Die einzelnen Keile hatten ihre eigenen Feldzeichen, als welche vorzugsweise Tierbilder dienten, die während des Friedens in heiligen Hainen aufbewahrt wurden 6. Alamannische Glossen überliefern uns für tribus 7 das uralte Wort chumbirra. Verwandt mit ahd. cumbal, ags. cumbor, Feldzeichen, bedeutet es eigentlich (etwa dem späteren Heerschild entsprechend) die dem Feldzeichen folgende Heeresabteilung, die als tribus gedacht ist 8.

Innerhalb der einzelnen Heeresabteilungen wurde die Ordnung durch die Bande der Verwandtschaft, wie schon oben ausgeführt worden ist, in der Weise bestimmt, daſs die Verwandten neben einander kämpften 9.

Die Kraft der germanischen Heere lag nach dem Urteil des Tacitus hauptsächlich im Fuſsvolk. Besonders wird es als die starke Seite der chattischen Truppen hervorgehoben 10. Doch sind einzelne Völkerschaften, so die Tenkterer, durch ihre Reiterei berühmt. Die Bataver gelten für die besten Reiter im römischen Heere. Allenthalben haben wir uns nach der Darstellung des Tacitus die principes

4 Tacitus, Germania c. 6: Acies per cuneos componitur.

5 Scherer in den Berliner Sitzungsber. 1884 S 572. Die Gruppierung des Heeres nach Völkerschaften bezeugt schon Caesar, De bello gall. I 51. Tacitus, Hist. IV 16: Canninefates, Frisios, Batavos propriis cuneis componit; V 18: Bructerorum cuneus tranatavit. S. oben S 38 Anm 22.

6 Arnold, Urzeit S 282. Tacitus, Germ. c. 7.

7 Bei Notker in Anwendung auf die Stämme Israels.

8 Im Januar 1883 schrieb mir Müllenhoff: „Für ahd. alts. cumbal, ags. cumbol (Zeichen) Heerzeichen findet sich die Nebenform cumbor (Beov. 1022). Vgl. alts. cumbro in trad. Corbej. Dazu gehört auch nach meiner Meinung chumbarra, chumbirra, tribus, cumpurie im Voc. S. Galli.“ Steinmeyer u. Sievers, Ahd. Gl. I 293, 13. 203, 3. Graff IV 405 unter cumpal, chumbirro, cumbro. Schade, Ahd. WB S 520.

9 S. oben S 85.

10 Der Fuſssoldat heiſst ahd. fandeo, fendo, ags. fêđa. Grimm verweist, Gesch. der d. Sprache S 410 (591), auf Beóvulf (Heyne 2364), wo auf den Ruf angespielt wird, den die Franken hinsichtlich des Fuſskampfes (fêđewîg) genossen.


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§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.

und ihre Gefolgsgenossen beritten zu denken. Als eine Besonderheit des germanischen Kriegswesens erschien den Römern die Anwendung einer auserlesenen Sondertruppe, welche als Vorhut des Keiles kämpfte und durch die Verbindung von leicht bewaffnetem Fuſsvolk und Reitern in der Weise hergestellt wurde, daſs jedem Reiter ein behender und gewandter Fuſsgänger beigegeben wurde. Solcher Krieger wählte man je hundert aus der Jugend jedes Gaues aus. Die Zahl habe ihnen auch den Namen gegeben, der zugleich ein Ehrenname war 11.

Im dritten Jahrhundert, sofort bei ihrem ersten Auftreten werden die Alamannen (und Juthungen) als vorzügliche Reiter geschildert. Gegen Ende des vierten Jahrhunderts ist die gotische Reiterei besonders gefürchtet. Die Vandalen haben die Ebenen Pannoniens als ein Reitervolk verlassen. Dagegen zeigt sich bei den westgermanischen Völkerschaften ein auffallender Rückgang in der Anwendung der Kavallerie. Im sechsten Jahrhundert gebricht es den fränkisch -alamannischen Heeren an nennenswerter Reiterei 12, eine Entwicklung, die sich wohl zum Teil aus dem Übergang zu intensiverem Ackerbau erklärt, der das Pferd vor den Pflug spannte und damit unbrauchbar machte für die Ausrüstung einer marschfähigen Kavallerie, während andrerseits auch die Abschaffung der heidnischen Pferdeopfer und das kirchliche Verbot des Genusses von Pferdefleisch ungünstig einwirken mochte auf den militärisch verwendbaren Pferdebestand.

Bei den Völkerschaften, die unter mehreren Fürsten stehen, wird von der Landesgemeinde im Kriegsfalle aus der Reihe der Fürsten ein dux, ahd. herizoho, alts. heritogo, gewählt. Dem Wahlakte folgte die Schilderhebung. Noch Beda († 735) berichtet uns von den Altsachsen, daſs die Fürsten einen aus ihrer Mitte durch das Los zum Herzog bestimmen, dessen Würde nach Beendigung des Krieges erlischt 13.

Nach Cäsar hatten die für den Krieg gewählten Führer das Recht über Leben und Tod 14. Dagegen schreibt Tacitus die Strafgewalt im Heere den Priestern zu, welche die Strafen, Tötung, Fesselung, Schläge, gleichsam auf Geheiſs der Götter verhängten 15,

11 Germ. c. 6. Müllenhoff, Z f. DA X 550. Scherer, Berl. Sitzungsber. 1884 S 572.

12 Nach den Berichten von Prokop u. Agathias. Waitz II 2 S 213 Anm 1. 3.

13 Hist. eccl. V 10.

14 De bello gall. VI 23: cum bellum civitas aut illatum defendit aut infert, magistratus qui ei bello praesint, ut vitae necisque habeant potestatem, deliguntur.

15 Germ. c. 7: ceterum neque animadvertere neque vincire, ne verberare


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§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.

ein Widerspruch, dessen Erklärung auf erhebliche Schwierigkeiten stöſst. Nicht unwahrscheinlich ist es, daſs schon zu Cäsars Zeit die Strafen im Heere unter religiösem Gesichtspunkt vollstreckt wurden und zur Zeit des Tacitus die Eifersucht der principes eine Beschränkung der Herzogsgewalt insofern herbeiführte, als die Priester nicht mehr als bloſse Vollzugsorgane derselben fungierten. Für die praktische Bedeutung der sakralen Strafrechtspflege im Heere läſst sich übrigens mit einiger Berechtigung ein Gesichtspunkt verwerten, welchen uns Volksrechte und Kapitularien an die Hand geben. In fränkischer Zeit sieht sich nämlich die Gesetzgebung veranlaſst, ausdrücklich zu verbieten, daſs Rache oder Fehde geübt werde oder ein Wergeldanspruch erhoben werde gegen denjenigen, der auf Geheiſs des Königs oder des Herzogs eine Todesstrafe vollstreckt habe 16. Die Volksanschauung, gegen welche diese Satzungen ankämpfen, in die germanische Zeit hineinzutragen, unterliegt keinem Bedenken. Ihr trug man Rechnung, indem man die Strafe im Namen der Götter durch Priesterhand vollziehen lieſs, um auf diese Weise die Rache des Bestraften beziehungsweise seiner Sippe auszuschlieſsen.

Spielen der Krieg und alles, was ihn angeht, die hervorragendste Rolle in der Lebensführung jedes freien Germanen, so giebt es doch eine Rechtsinstitution, welche für eine gesteigerte militärische Thätigkeit berechnet war und als die germanische Pflanzschule kriegerischen Heldentums und staatsmännischer Tüchtigkeit betrachtet werden darf. Es ist die Gefolgschaft, ein den Germanen charakteristisches Dienst-

quidem nisi sacerdotibus permissum, non quasi in poenam nec ducis iussu, sed velut deo imperante, quem adesse bellantibus credunt.

16 Lex Baiuw. II 8: si quis hominem per iussionem regis vel duci suo … occiderit, non requiratur ei, nec feidosus sit … sed dux defendat eum et filios eius pro eo. Rothari 2. Vgl. Boretius, Capit. I 217 c. 7: incompositus iaceat (der latro) et neque senior neque propinquus eius pro hoc nullam faidam portet. Cap. v. J. 850 c. 3, MG LL I 406: et si aliquis eius (des erschlagenen Räubers) senior aut propinquus propter hoc vindictam facere conatus fuerit … In Marculf I 32 befiehlt der König, daſs die Beamten, die er mit der strafrechtlichen Fronung verwirkten Vermögens beauftragt hat, nec a iam dicto illo (dem Schuldigen) noch von seinen Genossen, nec ab heredes eorum exinde qualibet calomnia aut repetitione ulla habere poenitus non debeant. Noch das Bamberger Recht hält ein besonderes Friedensgebot des Richters für nötig, um den Kläger, der die Vollstreckung eines Todesurteils erwirkt hat, gegen die Rache der Sippe zu sichern. Zöpfl, Bamberger Recht S 126 und Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 1883, S 166. Holländische Quellen bestimmen, daſs die Verwandten des Verurteilten schwören sollen, nach Vollstreckung des Todesurteils Frieden gegen die verurteilenden Schöffen, den Kläger und seine Verwandten zu halten. Bennecke, Zur Geschichte des deutschen Strafprozesses, 1886, S 126.


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und Treuverhältnis, welches unter den Einrichtungen ihres öffentlichen Lebens in Lied und Sage die farbigsten und dauerndsten Spuren zurückgelassen hat.

Die allgemeine Kriegspflicht, wie sie die civitas von allen freien und wehrhaften Volksgenossen in Anspruch nahm, vermochte dem kriegerischen Drange der germanischen Jugend nicht zu genügen. Schon in der Zeit Cäsars ergab sich das Bedürfnis, die überschäumende militärische Kraft des Volkes durch freiwillig unternommene Heerfahrten in die Fremde abzulenken. Einer der Fürsten erbietet sich in der Landesversammlung als Führer für ein kriegerisches Unternehmen und fordert die thatenlustigsten Männer zu freiwilligem Anschlusse auf. Die Teilnahme an der Heerfahrt wird in der öffentlichen Versammlung versprochen; die Menge giebt die Billigung des gefaſsten Entschlusses kund, woraus auf ein Widerspruchsrecht der Landesgemeinde geschlossen werden darf. Wer trotz des gegebenen Wortes die Heerfahrt versitzt, gilt gleich einem Verräter und Überläufer für ehrlos. Das Verhältnis, welches zwischen dem Führer und den geworbenen Gefährten entsteht, ist nur ein vorübergehendes, es schafft zwischen ihnen keine dauernde persönliche Verbindung. Mit dem Ende der Unternehmung ist das freie Vertragsverhältnis gelöst 17. Ob man es als Gefolgschaft bezeichnen darf, ist ein Wortstreit. Nennt man es so, dann muſs man sich vor Augen halten, daſs es eine Gefolgschaft ohne Hausgenossenschaft zwischen Führer und Gefährten ist.

Einen andern Charakter hat das Gefolgswesen, comitatus, welchem Tacitus in der Germania eine lebensvolle Darstellung widmet. Sie wird bestätigt und ergänzt durch jüngere Quellen, namentlich durch die Denkmäler germanischer Poesie, unter welchen das aus nordischen Sagen entstandene angelsächsische Heldengedicht „Beóvulf“ eine Hauptquelle für das richtige Verständnis des Gefolgswesens ist 18. Das Merkmal der Gefolgschaft bildet die Aufnahme des Gefolgsmannes in die Hausgenossenschaft des Gefolgsherrn. Die Gefolgsleute speisen und zechen und schlafen in der Halle ihres Herrn. Die Frau des Gefolgsherrn soll wohl auch dafür sorgen, daſs ihnen die zer-

17 De bello gall. VI 23: atque ubi quis ex principibus in concilio dixit, se ducem fore, qui sequi velint profiteantur, consurgunt ii qui et causam et hominem probant suumque auxilium pollicentur, atque ab multitudine collaudantur; qui ex his secuti non sunt, in desertorum ac proditorum numero ducuntur, omniumque his rerum postea fides derogatur.

18 Scherer, Z f. d. österr. Gymn. 1869 S. 100 ff., und Köhler, Germanische Altertümer im Beowulf, in Bartschs Germania XIII 142 ff.


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rissenen Gewänder geflickt werden 19. Ein freier Mann kann in die Hausgenossenschaft eines anderen Freien aus verschiedenen Gründen eintreten. Später kommt es vor, daſs Freie, um den Lebensunterhalt oder eine bessere Lebensführung oder um ausreichenden Schutz zu gewinnen, mit Beibehaltung ihrer Freiheit Hausdiener eines anderen werden. Begrifflich ist auch die freie Hausdienerschaft eine Spielart der Gefolgschaft, wie denn auch die Terminologie der Rechtsquellen sie in dieselbe einbegreift. Allein für das Gesellschafts- und Verfassungsleben der germanischen Zeit fiel sie jedenfalls nicht ins Gewicht, da bei den damaligen agrarischen Zuständen und bei der noch ungeschwächten Bedeutung der Geschlechtsverbände kaum ein Bedürfnis vorhanden war, einen Gefolgsdienst jener Art zu suchen. Sehr beliebt war dagegen der Eintritt in militärisch organisierte Gefolgschaften, welche eine höhere kriegerische Ausbildung und eine intensivere kriegerische Beschäftigung gewährten, als sie der Dienst im Volksheere der kampflustigen Jugend zu bieten vermochte. Diese Gefolgschaften militärischer Natur sind es, welche die Germania des Tacitus schildert und welche das germanische Heldenlied verklärt. Nur Könige und Fürsten sind in der Lage, ein nennenswertes Gefolge dieser Art zu halten. Das war ein thatsächlicher Vorzug ihrer Stellung 20, weil nur der Dienst am Hofe, der die Gefolgsgenossen emporhob über die Sphäre des alltäglichen Lebens, der ihnen Kriegsruhm, Ehren und Freuden in Aussicht stellte, jene Anziehungskraft ausüben konnte, deren es bedurfte, um die beste Jugend des Volkes zum Eintritt in ein Dienstverhältnis zu veranlassen. Denn hauptsächlich die Jugend und zwar die adelige Jugend drängte sich in den Gefolgsdienst. Der Jüngling kann schon anläſslich der Wehrhaftmachung, wie sie in der Landesgemeinde stattfindet, in die Gefolgschaft aufgenommen werden. Dann ist es der princeps, der ihn durch Überreichung von Waffen wehrhaft macht. Hochedle Geburt und hervorragende Verdienste des Vaters machen junge Leute bereits

19 K. Maurer, KrÜ II 398 nach Saxo Grammaticus V (I, p. 184): den König Frotho gehen einmal seine Gefolgsleute dringend an, er möge heiraten, damit jemand da sei, der dafür sorge, daſs ihnen ihre alten Kleider geflickt und neue gemacht werden.

20 Kein Vorrecht. Von Rechts wegen konnte jeder freie Mann einen anderen in sein Haus aufnehmen, um sich von ihm vereinbarte, auch kriegerische Dienste leisten zu lassen. War er reich und vornehm genug, so mochte es ihm auch gelingen mehrere Gefolgsleute um sich zu versammeln. Bei den Langobarden, Angelsachsen, Nordgermanen und Franken ist nachmals das Recht, ein Gefolge zu halten, nicht auf den König beschränkt.


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in zarterem Alter der Aufnahme in ein Gefolge teilhaftig21. Für sie ist die Zeit der Gefolgschaft zunächst Lehrzeit, nicht Dienstzeit, das Haus des Gefolgsherrn zunächst Kadettenhaus. Das Verhältnis zwischen dem Gefolgsherrn und den Gefolgsleuten fuſst auf wechselseitiger Treue. In selbstloser Hingabe an Heil und Ruhm des Herrn gipfeln die Pflichten der Gefolgsleute. Sie schwören einen Eid, worin sie versprechen, den Herrn zu schützen und zu verteidigen22. Im Frieden bilden sie die Leibwache des Herrn, werden zu häuslichen Diensten verwendet, die sich mit der Ehre des freien Mannes vertragen; einzelne wurden wohl schon damals mit einem bestimmten Hausamte betraut. Im Kriege kämpfen sie in der unmittelbaren Umgebung des Herrn. Es gilt für schimpflich, sein Schicksal nicht zu teilen, ihn zu überleben, wenn er in der Schlacht gefallen war. Der Herr ist seinerseits verpflichtet, den Gefolgsleuten Schutz23, Unterhalt und Ausrüstung24 zu gewähren und ihnen jene kriegerische Beschäftigung

21 Germ. c. 13: sed arma sumere non ante cuiquam moris quam civitas suffecturum probaverit. tum in ipso concilio vel principum aliquis vel pater vel propinqui scuto frameaque iuvenem ornant. haec apud illos toga, hic primus iuventae honos; ante hoc domus pars videntur, mox rei publicae. insignis nobilitas aut magna patrum merita principis dignationem etiam adolescentulis assignant. ceteris robustioribus ac iam pridem probatis aggregantur, nec rubor inter comites aspici. gradus quin etiam ipse comitatus habet, iudicio eius quem sectantur. Über die zahlreichen Auslegungsversuche, welche dieser Stelle, namentlich den Worten insignis — assignant gewidmet worden sind, s. die Anmerkung bei Waitz, VG I 283. Einen leidlich geschlossenen Gedankengang bietet die Stelle nur, wenn man dignationem principis als Würdigung, Auszeichnung von Seite des Fürsten auffaſst, eine Ansicht, für die sich Waitz entscheidet. Lehnt man diese Auslegung ab wegen der Bedenken, welche die Philologen erheben, so kann die dignatio principis nicht so verstanden werden, daſs die adolescentuli das Amt oder die Würde des princeps, sei es sofort oder für die Zukunft (Ranke, WG III 2 S 279), zuerteilt erhielten, sondern so daſs sie, obwohl sie nicht principes sind, das Ansehn eines princeps genieſsen, principes genannt werden, etwa wie man später den nichtregierenden Sohn des Königs als König bezeichnete.

22 Germ. c. 14: illum (principem) defendere, tueri, sua quoque fortia facta gloriae eius assignare praecipuum sacramentum est. In der angelsächsischen Eidesformel, Schmid, Anhang X 1, schwört der Gefolgsmann, er wolle dem Herrn hold und getreu sein und alles lieben, was er liebt, alles meiden, was er meidet … und niemals mit Willen oder Vorsatz etwas thun, das ihm leid ist, unter der Bedingung, daſs er mich halte, wie ich es verdienen will, … und daſs er alles leiste, wie es unser Vertrag war, als ich mich ihm unterwarf und seinen Willen erkieste.

23 Ratchis 14: de gasindiis quidem nostri ita statuere, ut nullus iudex eos opremere debeant, quoniam nos debemus gasindios nostros defendere.

24 Das angelsächsische Recht kennt ein sog. Heergeräte (heregeatu), welches aus dem Nachlasse des verstorbenen Mannes an dessen Herrn zu bezahlen ist. In Pferden, Waffen und Geld bestehend wird es von Konrad Maurer, KrÜ II 393


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zu verschaffen, deren Erwartung den Eintritt in die Gefolgschaft veranlaſste. Die noch nicht völlig erwachsene Gefolgsjugend stand unter der Familienmunt des Gefolgsherrn. Was die übrigen betrifft, so muſs der Herr mindestens in Angelegenheiten des Dienstes eine Disziplinargewalt über sie besessen haben. Dritten gegenüber haftete der Herr für die Handlungen seiner Gefolgsleute wohl nur insofern, als er eventuell verpflichtet war, sie vor das Volksgericht zu stellen. Der Herr fördert und belohnt die Thaten der Gefolgsleute, indem er ihnen Waffen und Rosse, Gewänder, Ringe und Schätze spendet. Ringspender, Kleinodspender wird er deshalb in der Sprache der Dichtung genannt25. Innerhalb des Kreises der Gefolgsgenossen bestehen Grade und Rangverschiedenheiten, welche das Ermessen des Herrn bestimmt26. Nach angelsächsischem und schwedischem Rechte ist bei Tötung eines Gefolgsmannes auſser dem Wergeld, das an die Verwandten fällt, noch eine besondere Buſse als Mannbuſse beziehungsweise Unehrenbuſse an den Herrn zu entrichten27. Eine solche Buſse scheint auch das langobardische Recht ursprünglich gekannt zu haben28, während es später das Wergeld des königlichen Gefolgsmannes innerhalb gewisser Grenzen in das Ermessen des Königs stellt29. Bei den

mit Recht daraus erklärt, daſs Pferd und Waffen, wie sie der Mann bei Eingehung des Dienstverhältnisses vom Herrn zu erhalten pflegte, mit dem Tode des Mannes dem Herrn heimfallen.

25 Alts. mêthomgibho, ags. mâđumgifa. Ringspender, beágabrytta bei den Angelsachsen. Bôgwinî, Ringfreunde heiſsen die Gefolgsleute in Heliand 2757. Im Rîgsmâl ist es ein Kennzeichen des siegreichen Jarls, daſs er Ringe giebt und Bauge entzweihaut (um sie an die Gefolgsleute zu verteilen). Munch S 170. Die Sitte, den Getreuen Goldspangen zu spenden, übte noch Karl der Groſse. Testament des Dadila von 813 bei Devic u. Vaissete, Hist. de Languedoc II Nr 24 v. J. 813: baucos vero meos aureos quos a domino … Karolo imperatore accepi vel ipse mihi donare iussit … in sacerdotibus ac pauperibus erogare faciat.

26 Germ. c. 13: gradus quin etiam ipse comitatus habet iudicio eius quem sectantur. Liutpr. 62: de gasindiis vero nostris uolumus ut quicumque minimissimus in tali ordine occisus fuerit, pro eo quod nobis deseruire uidetur ducentos solidos fiat compositus. Nach Knut II 71 § 3 ist das Heergeräte (s. Anm 24) des Königsthans ein höheres, gif he tô þâm cyninge furđer cyđđe hæbbe, wenn er mit dem König noch eine nähere Verbindung hat.

27 Über die angelsächsische Mannbuſse Schmid, Gesetze der Angels. S 628; über die schwedische Thokkabuſse Wilda, Strafrecht S 351 Anm 3, 426. Nach Tassilos III. Dingolfinger Dekreten LL III 460 c. 9 soll, wer einen homo principis sibi dilectus getötet hat, ob iniuriam principis ad calumniam nicht bloſs das Wergeld zahlen, sondern auch sein Besitztum verlieren (privetur hereditate sua).

28 Arg. Roth. 374. Vgl. Wilda a. O. S 426.

29 Liutpr. 62. Die in Anm 26 ausgeschriebene Stelle fährt fort: maioris uero secundum qualis persona fuerit, ut nostra consideratione uel successorum nostrorum


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Franken hat nachmals der Herr wegen Tötung seines homo ein Recht der Klage und der Fehde und sind die Gefolgsgenossen des Königs durch ein höheres Wergeld ausgezeichnet30.

Die Fürsten wetteifern, ein möglichst zahlreiches und glänzendes Gefolge zu haben. Ein solches durch längere Zeit zu erhalten, bedarf es kriegerischer Unternehmungen. Wenn daher der Friede im Staate zu lange währt, läſst der Herr die Gefolgsleute an Kriegen auswärtiger Völkerschaften teilnehmen. Darum giebt ein stattliches Gefolge dem Fürsten Ansehen und Einfluſs auch bei benachbarten Völkerschaften, welche, von Feinden bedroht, sich durch Boten und Geschenke um die Hilfe mächtiger Gefolgsherren bewerben.

Der Eintritt in ein Dienstgefolge schadet der vollen Freiheit nicht, führt keine Schmälerung der rechtlichen und gesellschaftlichen Stellung herbei. Das Verhältnis ist kein lebenslängliches. Wie für den erwachsenen Sohn regelmäſsig die Zeit kommt, da er aus dem väterlichen Hause ausscheidet und sich einen eigenen Herd gründet, so pflegt auch der Gefolgsmann, wenn er im Hause des Herrn und im Kreise der Gefolgsgenossen seine Lehr- und Wanderjahre durchgemacht hat, auf die heimatliche Scholle zurückzukehren, zu heiraten und den väterlichen Hof zu übernehmen. War er fürstlichen Geblütes, so folgte er dem etwaigen Rufe des Volkes, an Stelle des verstorbenen Vaters oder Ohms die Würde des Gaufürsten anzutreten. In den Quellen der folgenden Periode findet sich, daſs Gefolgsleute ohne Auflösung des Dienstverhältnisses vom Gefolgsherrn abgeschichtet werden, indem sie anstatt des Unterhaltes im Hause des Herrn von ihm Ländereien empfangen, die sie selbständig bewirtschaften. Seitdem sind zwei Arten von Gefolgsleuten zu unterscheiden: solche, die im Hause des Herrn leben, und solche, die eigene Wirtschaft führen.

Die Bezeichnungen, welche uns die germanischen Sprachen für die Gefolgsleute und das Gefolgswesen darbieten, sind nicht auf die Gefolgschaften militärischer Bedeutung beschränkt, sondern schlieſsen jegliche freie Hausdienerschaft, ja auch unfreie Diener in sich. Allenthalben finden wir den Ausdruck Degen, ahd. degan, alts. thegan,

debeat permanere, quomodo usque ad trecentos solidos ipsa debeat ascendere conpositio.

30 K. Maurer äuſsert Adel S 212 die ansprechende Vermutung, daſs die Buſse, welche für Tötung oder Verletzung eines dem König dienstbaren Mannes bezahlt werden muſste, später dem Beleidigten selbst überlassen wurde, so daſs nunmehr dessen Wergeld und Buſse erhöht scheint.


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ags. þegen31, nord. þegn. Er ist verwandt mit dem griechischen τέκνον und bedeutet den Knaben, den Helden, den Diener32. Die Gefolgschaft, comitatus, bezeichnete das Wort Gesinde, ahd. gasindi, kisintscaf, alts. gisîthi, ags. gesîđđ. Als gasindii, gasindi, gesîđas begegnen uns die Gefolgsleute bei Langobarden, Franken und Angelsachsen. Mit Rücksicht auf die Zugehörigkeit zum Hause, zur Familie des Herrn heiſst der Gefolge bei den Nordgermanen hirþman (Hausmann) oder Hauskerl33. Das Altfränkische hat für die Gefolgschaft den Ausdruck trustis34, Schutz, protectio, tuitio, für die königlichen Gefolgsgenossen das Wort antrustiones, wörtlich protectores, wobei an den Schutz zu denken ist, welchen die Gefolgsleute dem Herrn zu leisten verpflichtet sind35. Andere Bezeichnungen bringen die Gefolgsgenossen unter den Gesichtspunkt der Verwandtschaft. Magen, mâgas heiſsen sie im Beóvulf36. Als Verwandte faſst die Glieder der Gefolgschaft der Ausdruck Gätlinge, gaten, ags. gædelingas zusammen37. Unserem neuhochdeutschen Gefolge entspricht ein althochdeutsches gafolgi, in rechtlicher Anwendung nicht nachweisbar38. Das angelsächsische folgođ ist Gefolge mit der Nebenbedeutung ministerium. Folgari bedeutet im Angelsächsischen den Diener, der im Hause des Herrn wohnt, den Hausgenossen im Gegensatz zum hausfesten oder heerdfesten, d. i. zum angesessenen Manne39. Im altsächsischen Heliand heiſsen die Gefolgsleute winî, Freunde oder Hagustalden40, ein Wort, welches uns in der fränkischen Zeit als austaldi wieder begegnen wird zur Bezeichnung von Gefolgsleuten, die am Hofe des Herrn leben und daselbst ein Hofamt versehen.

31 In England ist aus den þegnas der Stand der Thane hervorgegangen, eine Entwicklung, von der noch unten die Rede sein wird.

32 Scherer, Über Heynes Beóvulf S 101. Grimm, WB II 895.

33 v. Amira, Obligationenrecht S 19. K. Maurer, KrÜ II 400.

34 Gotisch trausti, Trost, altnord. traust, alts. gitrôst, ahd. trôst.

35 Germ. c. 13: (principem) defendere, tueri … praecipuum sacramentum est.

36 Scherer a. O. S 105.

37 Beóvulf 2950. 2618; Rother 1103: die Dieterîches gaten. Hildebrand in Grimms WB IV 1 S 1494. 1497. S. oben S 82 Anm 6.

38 Grimm, WB IV 1 S 2150.

39 Schmid a. O. S 578. K. Maurer, KrÜ II 398. Sectatorem uolgari Ahd. Gl. I 803, 45; secta folkitha, folgida a. O. I 246, 24.

40 Heliand 2548 ff., wo er die hagustaldôs auch erlôs, thegnôs nennt. Vgl. Vers 5040. Grimm, WB IV 2 S 154. Grein, Sprachsch. II 7. Graff, Ahd. Sprachsch. IV 762. Waitz IV 342 Anm 2. Unser Hagestolz, dessen Bedeutung sich wohl am einfachsten daraus erklärt, daſs der Gefolgsmann, so lange er am Hofe des Herrn weilte, unverheiratet bleiben muſste.


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Die Zahl der Gefolgsleute kann, so lange sie im Hause des Herrn lebten, nicht sehr erheblich gewesen sein. Nach der Schlacht bei Straſsburg ergaben sich die comites des Alamannenkönigs Chnodomar, um das Schicksal ihres gefangenen Herrn zu teilen. Es waren ihrer zweihundert41. Mit fünfzehn Gefolgsleuten des Königs Hygelâc zog Beóvulf auf Abenteuer aus. Im elften Jahrhundert hat ein norwegischer König hundert und zwanzig Gefolgsleute, und üble Nachrede und Murren des Volkes zieht sich einer seiner Nachfolger zu, als er diese Zahl verdoppelt42. Schon diese Ziffern beweisen, daſs es auf einer Überschätzung beruhte, wenn man die Wanderungen der Germanen im wesentlichen als Beutezüge abenteuerlustiger Gefolgschaften, die Staatengründungen auf römischer Erde als Thaten von Gefolgsherren dachte, ja sogar den Ursprung mancher deutschen Völkerschaften auf ein groſses Dienstgefolge zurückführte43. In dem wissenschaftlichen Kampfe gegen diese jetzt veraltete und sattsam widerlegte Meinung ist dann eine zu weit gehende Unterschätzung der Gefolgschaft, eine Verkennung ihrer rechtsgeschichtlichen Bedeutung eingetreten. Spielt sie in der germanischen Zeit die Rolle nicht, die man ihr früher zuzuweisen liebte, so hat sie sich doch mit nichten schon damals ausgelebt, sondern ist nach ihrer friedlichen Seite hin als Wiege des germanischen Beamtentums, nach ihrer kriegerischen Seite hin als einer der Keime des Lehnwesens von maſsgebendem Einfluſs geworden auf die Fortbildung der deutschen Verfassungsverhältnisse.

§ 20. Die Gerichtsverfassung.

S. die Litteratur zu § 18 und J. Grimm, Rechtsalterthümer S 745 ff. Zöpfl, Alterthümer des deutschen Reichs u. Rechts I 293, II 441. W. Unger, Altdeutsche GV, 1842. v. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 102. W. Sickel, Mittheil. des österr. Instituts IV 121; Ergänzungsband I 32. Hermann, Über die Entwicklung des altdeutschen Schöffengerichts, 1881 in Gierkes Untersuchungen X. Merkel, Der Judex im bair. Volksrechte, Z f. RG I 131. Beseler, Der Judex im bair. Volksrechte, Z f. RG IX 244. v. Richthofen, Untersuchungen zur fries. RG II 457. Konr. Maurer, Das Alter des Gesetzsprecheramts in Norwegen, 1875 (Festgabe für Arndts). v. Amira, KrV XVIII 170. Rich. Schröder, Gesetz-

41 Ammianus Marcellinus 16, 12: comitesque eius ducenti numero et tres amici iunctissimi flagitium arbitrati post regem vivere vel pro rege non mori, si ita tulerit casus, tradidere se vinciendos.

42 K. Maurer, KrÜ II 417 Anm 2. S. noch Roth, Beneficialwesen S 29 Anm 137.

43 Eichhorn § 16. 17.


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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

sprecheramt u. Priestertum, Z2 f. RG IV 215. K. Lehmann, Zur Frage nach dem Ursprung des Gesetzsprecheramts, Z2 f. RG VI 193; derselbe, Königsfriede der Nordgermanen S 11. 29. 65. 109. 125. 151. 166.

Einer der Grundzüge des germanischen Gerichtswesens ist die Teilnahme der freien Volksgenossen an der Rechtsprechung. Die Gerichtsversammlungen waren öffentlich, sie tagten unter freiem Himmel, gewöhnlich auf einem erhöhten, weithin kenntlichen oder durch sichtbare Bäume ausgezeichneten Orte. Die Gerichsstätte war häufig zugleich Opferstätte1. Die altertümlichsten Ausdrücke, welche die Sprache für den Begriff des Gerichtes bietet, weisen auf die Beteiligung des Volkes hin; sie haben den Wortsinn von Besprechung wie das althochdeutsche und altsächsische mahal, mâl2, das althochdeutsche sprâcha3, oder sie bedeuten die Zusammenkunft4 oder die Versammlung, wie die oben Seite 128 f. genannten Wörter Thing, mallus5, gemôt und warf6. Das Wort Gericht bezeichnete ursprünglich die Rechtsprechung, iudicium, iurisdictio, nicht die Gerichtsversammlung oder die Gerichtsstätte.

Ding und Dingstätte sind dem Schutze der Götter geweiht7. Der Eröffnung der Verhandlungen geht die Heiligung, die Hegung des Dinges voraus. Dieselbe besteht in feierlichen Erklärungen, welche in der Verkündigung des Dingfriedens gipfeln, und ist mit einer räum-

1 Grimm, RA S 793. Siehe unten Anm 7.

2 Muspilli 31: sô der machtîgo khuninc daz mahal kipannit. Muspilli 77: mahalstetî. Ortschaft Mahaleihhi, Mahaleihhinga, jetzt Malching, in Meichelbeck Nr 75. 363. 537. 1081. Mahal im Heliand 2891. Ahd. mahaljan, alts. mahlian heiſst sprechen. Davon Gemahl, vermählen. Grimm, WB VI 1452. Mahlstatt in Schröders Register zu Grimms Weistümern, VII 314.

3 Grimm, RA S 746. Graff, Sprachsch. VI 382. Sprâchâs in den tirolischen Weistümern III 337 Z. 7.

4 Ulfilas hat gaquumþs, Zusammenkunft, für Gericht im Ev. Matthaei 5, 22.

5 Malloberg bedeutet die Gerichtsstätte. Siehe Sohm, Altd. R- u. GV S 66. Gamallus heiſst der Gerichtsgenosse, mallare, admallare klagen.

6 Warfen, soviel wie mallare, einen Warf werfen in den neumünsterschen Kirchspielsgebräuchen, in der holsteinschen Dingformel bei Fuchsius, Introductio in proc. Holsaticum S 223 und in dem niedersächsischen Weistum III 240. In einzelnen friesischen Distrikten ist das Wort warf zur Bezeichnung des ganzen Gerichtsbezirkes verwendet worden. Stellinghewarf, Scoterwarf Richthofen, Unters. II 697. Ebenso Geding in Baiern, Schmeller, Bayer. WB I 519.

7 In der norwegischen Gulaþíngslög findet sich die Bestimmung, daſs alljährlich am Gulaþíng ein Unfreier freigelassen werden solle und ebenso je ein weiterer Unfreier in jedem einzelnen Volklande innerhalb des Dingverbands. Diese Freilassungen sind in christlicher Zeit an die Stelle heidnischer Menschenopfer getreten. K. Maurer, Die Entstehungszeit der älteren Gulaþíngslög S 148; ders., Die Freigelassenen nach norw. Rechte, Münchner Sitzungsber. 1878 S 24.


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lichen Einfriedigung, Hegung des Verhandlungsplatzes etwa mittels Pflock und Seil verbunden. Innerhalb der Dingstätte herrscht ein heiliger Friede, dessen Grenzen durch die Hegung abgemarkt werden8. Den sakralen Charakter der Hegung bezeugt das isländische Wort þinghelgi für Dingfrieden, Dinghegung und Dingstätte9 und der altnordische Ausdruck vêbönd, heilige Bänder, für die um die Dingstätte gezogenen Schnüre10. Bei Tacitus wird von den Hegungsförmlichkeiten nur ein vereinzeltes Stück erwähnt, das Gebot des Stillschweigens, welches nach seiner Darstellung in der Landesgemeinde von Priestern ausgesprochen wird11. Für das Gebot des Schweigens und des Friedens ist uns in nordgermanischen, in fränkischen, friesischen und sächsischen Quellen die in hohes Altertum hinaufreichende Formel „ich gebiete Lust12 und verbiete Unlust“ überliefert13. Nach allen jüngeren Quellen der deutschen Stammesrechte ist es der vorsitzende Richter, der das Ding eröffnet und den Frieden wirkt14.

8 Muspilli 77: verit er ze deru mahalstetî deru dâr gimarchôt ist. Grimm, RA S 809. 851. Aus dem Seile (rêp, râp), welches zur Gerichtshegung diente, ist es zu erklären, daſs der Gerichtsbezirk im angelsächsischen Sussex rape, in Südholland reep genannt wird. Z2 f. RG IV 237. Die Stelle im Chevalier au lyon von Chrestien de Troyes V. 5908: n’i a rien del corjon (cordon) ploier ist auf die Enthegung des Gerichtes durch Aufnahme des Seiles zu deuten.

9 K. Maurer, Island S 167 ff.

10 Grimm, RA S 810.

11 Germ. c. 11: silentium per sacerdotes, quibus tum et coërcendi ius est, imperatur.

12 Alts. hlust; altfries. hlest, ags. hlyst, Gehör, Schweigen. Zu ahd. hlosên, zuhören, bair. losen, lustern (lauschen). Schmeller, Bayer. WB I 1515.

13 „Hljóþs bíþk allar helgar kindir“, Gehör und Schweigen heische ich von allen Menschenkindern im heiligen Frieden: so lautet der erste Vers der Völuspa. Müllenhoff, Alterthumskunde V 5. 86. Der Friedensbann heiligt die Anwesenden. Die Seherin nennt daher ihre Zuhörer helgar kindir. Als jüngere Fundstellen des Hlustgebots füge ich zu den von Grimm, RA S 53, Haltaus col. 1945 angeführten hinzu: Dortrechter Dingtal, J. A. Fruin, Rechten van Dordrecht I 357: ic ghebiede lust ende ic verbiede onlust. Dingtal von Südholland a. O. II 310. Utrechter Stiftslehnrecht, Verslagen en Mededeel. I 248 v. J. 1513: Gewiesen, dat lust geboden ende onlust verboden is als recht is. Ähnlich a. O. S 249. Westfriesische Dingtalen, hg. v. J. A. Fruin, S 8: ick ghebied hier list ende verbied hier onlist. Dingtalen von Waterland, hg. v. J. A. Fruin, S 7 Anm 2: van list te bieden. Item soe wysen die schepenen, dat hy wel lust gebieden mach, gebiet hy lust als recht is. Lust gebieten in Seibertz, Westfäl. UB III 203 v. J. 1500.

14 Unzutreffend ist die von Grimm, RA S 813. 851 Anm aufgenommene Bemerkung L. Maurers, Gerichtsverfahren S 220, daſs sich in Baiern keine Spur von feierlicher Hegung des Gerichtes finde. Wie zahlreiche Weistümer des bairischen Rechtsgebietes darthun, fand auch in Baiern eine feierliche Eröffnung des Gerichtes

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 10


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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

Die Eröffnung des Gerichtes wird aber vermittelt durch die sogenannten Hegungsfragen, das heiſst durch die an die Gerichtsgemeinde oder an ein einzelnes Mitglied derselben gestellten Fragen des Richters, ob es Dinges Zeit und Ort sei, ob das Gericht gehörig gehegt, gespannt oder besetzt sei, ob er den Gerichtsfrieden gebieten solle. Dieser später allgemein verbreitete Gebrauch der Hegungsfragen reicht in hohes Altertum zurück. Schon die Lex Salica setzt ihn voraus, indem sie bei Darstellung der Förmlichkeiten einer gerichtlichen Verhandlung verlangt, daſs der Richter vor Beginn derselben an drei Männer die drei Fragen stellen solle15. Daſs die auf die Hegungsfragen abgegebenen Urteile später Fronurteile genannt werden16, bestätigt ihren ursprünglich sakralen Charakter. Vielleicht ist es nicht zu gewagt, den Ursprung der Hegungsfragen so zu erklären, daſs in der Urzeit der vorsitzende Richter die Frage, ob es Dinges Zeit und Ort sei, an die Priester stellte, welche darüber die Lose zu befragen und den Willen der Götter zu erkunden hatten17, daſs er ebenso durch die Priester konstatieren lieſs, ob die Förmlichkeiten der Einhegung gehörig erfüllt seien, wogegen er den Dingfrieden, wenn wir nicht ein Miſsverständnis des Tacitus voraussetzen wollen, in der Landesgemeinde nicht selbst verkündigte, sondern durch Priestermund im Namen des Gottes, dem das Ding geweiht war, sich und die Anwesenden in heiligen Frieden setzen lieſs, ehe er seines Amtes zu walten begann. Als das Heidenpriestertum schwand, wurden die Fronurteile von Dingleuten abgegeben und sprach der Richter allenthalben selbst auf ein solches Urteil hin das Friedensgebot aus, wie dies schon in germanischer Zeit wenigstens auſserhalb der Landesgemeinde der Fall gewesen sein dürfte.

Als wesentliches Attribut der richterlichen Gewalt erscheint später

statt, obschon der Ausdruck Hegung nicht üblich gewesen sein dürfte. Der Richter gebietet den Gerichtsfrieden und stellt die Hegungsfragen, durch deren Beantwortung er sich den Gerichtsstab zuerkennen, verdingen läſst. Indem er den Stab in die Hand nimmt, ist das Gericht konstituiert. Grimm, Weistümer III 716. 726. Tirol. Weistümer I 9 f., II 372 f., I 55, II 187. 366. Steirische und kärntnische Taidinge S 426. Salzburgische Taidinge im Register unter Friedegebot des Richters und unter Gericht.

15 Lex Sal. 44, 1: et in ipso mallo scutum habere debet (thunginus aut centenarius) et tres homines tres causas demandare (debet). Schon Zöpfl, RG III 328 hat die Stelle mit Recht auf die Hegungsfragen bezogen.

16 Haltaus I 543. Homeyer, Richtsteig Landr. S 435.

17 Germ. c. 10: auspicia sortesque ut qui maxime observant. Dann von den Losen: mox, si publice consuletur sacerdos civitatis … secundum impressam ante notam interpretatur. si prohibuerunt, nulla de eadem re in eundem diem consultatio.


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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

der Bann, das Recht zu gebieten und zu verbieten. Das Wort Bann, ahd. pan, alts. ban, altnord. bann, fries. bon18, scheint in seiner ältesten Anwendung auf das Friedensgebot der Dinghegung zurückzugehen19. Verwandt mit Sanskrit bhan, ertönen, schallen, laut rufen, griechisch φημί, φωνή, lateinisch fari, fama, fanum20, hat es die Grundbedeutung der nachdrücklichen feierlichen Rede21. Vermutlich von der Dinghegung her verband sich mit Bann der Begriff des Friedens. Die ältesten fränkischen Rechtsquellen verwenden das Wort Bann als gleichbedeutend mit verbum, sermo, in Bezug auf den Frieden, welchen das Wort des Königs denjenigen wirkt, die er in seinen besonderen Schutz aufnimmt22. Sermo regis vermag, seit der Volksfriede ein Königsfriede geworden ist, schlechtweg den Frieden zu bezeichnen. Extra sermonem regis ponere, foras sermone regis mittere23 ist soviel wie forisbannire, friedloslegen. Noch in jüngeren Quellen spielt der

18 v. Richthofen, Fries. WB S 958.

19 Grimm, WB I 1115.

20 Fanum dictum a fando, der durch Worte zum Heiligtum geweihte Ort. Auch Bann kann einen bestimmten Bezirk bedeuten. Über die Herleitung von Bann Kluge, Etymol. WB S 17; Kern bei Hessels, Lex Salica col. 538 § 235. Grimm, WB a. O. denkt an Band und binden.

21 Altfranz. ban ist öffentliche Verkündigung. Diez, Etymol. WB4 I 40.

22 Lex Salica 13, 6 in Cod. 4: si vero puella qui trahitur in uerbo regis est furban exinde 2500 den. … culpabilis iudicetur. Das Wort furban ist als Glosse in den Text geraten. Im furban ist die puella, quae in verbo regis est. Furban darf also nicht mit Sohm, R- u. GV S 109 als Bezeichnung der Buſse gedacht werden. Noch in bair. Rechtsquellen des 14. und 15. Jahrh. bezeichnet Fürbann den Frieden, welchen sich der Beklagte erwirkt, der sich von einer Anklage oder einem Verdachte gereinigt hat, und den Frieden, der einem Grundstücke gewirkt wird, um das jemand vergeblich angesprochen worden ist. Oberbair. Ldr. 30. 197; Münchner Stadtr. 67. 155. Haltaus I 548. Über den südholländischen Vorbann als Friedensbann s. Z2 f. RG IV 239. — Die Lex Rib. spricht 35, 3 von der ingenua puella vel mulier, qui in verbo regis est. Der Index der Handschrift A 7 hat dafür: de puellis vel mulieribus, quae in verbo regis bannitae sunt. In Lex Salica 72 (in uerbum regis mittat) und 76, 7 (mulier in uerbo regis missa), Cap. zur Lex Sal. I c. 7, c. 11 § 7 steht verbum für bannum. Auch in Schutzbriefen erscheint sermo für bannum. Der besondere Schutz des Königs setzt den Schützling in höheren Frieden, den der König per bannum ausspricht, indem er Dritten jede Verletzung des Schützlings verbietet. Die königlichen Schutzbriefe enthalten daher regelmäſsig eine besondere Friedensbannklausel. Munt des Königs und Bann des Königs berühren sich enge. Näheres darüber bei Erörterung des fränkischen Königsschutzes. Auch die rätselhafte langobardische Freilassung in pans regis, Rothari 224, dürfte sich als manumissio in bannum regis erklären lassen. Pans für pan wie thinx, things für thing.

23 Lex Sal. 56, 5; 106, 9; vgl. Gregor. Tur. Hist. Fr. IX 27. Über aspellis s. unten S 172.

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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

Bann im Sinne von Friedewirken bei der Übereignung von Grundstücken eine rechtsgeschichtlich bedeutsame Rolle24.

Als der Gott, unter dessen Schutz die vornehmsten Gerichtsverhandlungen standen, ist vermutlich der Tius, Ziu anzusehen, der in dieser Rolle den Beinamen Things geführt haben mag. Auf ihn wird eine dem Mars Thingsus geweihte Altarschrift gedeutet, welche aus dem dritten oder vierten Jahrzehnt des dritten Jahrhunderts stammt und kürzlich im nördlichen England am Hadrianswall aufgefunden worden ist. Es ist der Gott, nach welchem wir den Dienstag (Tag des Tius) bezeichnen, der im Niederländischen als Dingstag (Tag des Dings) erscheint25.

Nach jüngeren Quellen werden in manchen Rechten drei verschiedene Arten von Gerichtsversammlungen unterschieden, das echte Ding, das gebotene Ding, auch Botding, und das Nachding oder Afterding. Echte Dinge sind die nach Volksrecht hergebrachten Gerichtsversammlungen, die an herkömmlicher Dingstätte und zu herkömmlicher Zeit abgehalten werden, ohne daſs der einzelne Dingpflichtige besonders aufgeboten zu werden braucht26. Die für die echten Dinge üblichen Gerichtszeiten lassen teilweise (so z. B. die am Walpurgistage vorkommenden) geschichtlichen Anschluſs an heidnische Festund Opfertage vermuten. Im Gegensatz dazu erscheinen als gebotene Dinge diejenigen, für welche die Dingpflicht erst durch den Bann des Richters begründet wird, der das Ding auslegt. Es ist bei diesen gebotenen Dingen nur zu erscheinen verpflichtet, wer dazu aufgeboten wird. Nachdinge oder Afterdinge sind Gerichtstage, die zur Erledigung der am echten Ding nicht erledigten Angelegenheiten in unmittelbarem Anschluſs an dasselbe oder kurze Zeit danach abgehalten werden27. Ob diese Unterscheidungen gemeingermanisch waren, muſs umsomehr dahingestellt bleiben, als sie sich später nicht in allen Stammesrechten finden.

24 Z2 f. RG IV 238. Fruin in den Versl. en Meded. der kgl. Akad. der Wissensch. zu Amsterdam, Letterk. 2. Serie XII 1883 S 99.

25 Wilhelm Scherer, Mars Thingsus, in den Sitzungsber. der Berl. Akad. 1884 S 571 ff.; Z2 f. RG V 226.

26 Es ist dadurch nicht ausgeschlossen, daſs das echte Ding öffentlich angekündigt, etwa durch Landschrei zusammenberufen wird. Vgl. Schenk zu Schweinsberg, Z d. Ver. f. hess. Geschichte u. Landeskunde NF V 215 ff.

27 Für das Afterding hat eine jüngere Quelle den Ausdruck Fimmelding. Eine Inschrift des Altars von Housesteads nennt neben dem Thingsus die göttlichen Wesen Beda und Fimmilena. Man glaubt die Beda als Vertreterin des Botdings, die Fimmilena als Vertreterin des Afterdings deuten zu können. Z2 f. RG V 216 sprach ich die Vermutung aus, daſs dem Ziu das echte Ding geweiht war.


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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

So weit nicht die Landesgemeinde, vielleicht auch die Gaugemeinde, gerichtliche Funktionen ausübte, konzentrierte sich die Rechtspflege in den Gerichten der Hundertschaften, jener persönlichen Dingverbände, welche der Gaufürst als Richter um sich versammelte. Die Hundertschaften, wohl schon damals wie in fränkischer Zeit die hauptsächlichsten Träger der Rechtspflege, traten vermutlich an herkömmlichen gottgeweihten Malstätten zusammen. Denn wie sich aus Tacitus ergiebt, muſste der princeps zur Abhaltung der Gerichtstage den Gau bereisen, geradeso wie in merowingischer Zeit der fränkische Graf an den verschiedenen Dingstätten der einzelnen Hundertschaften abwechselnd Gericht hielt28.

Ein recht zweifelhafter Punkt des germanischen Gerichtswesens ist das Verhältnis, in welchem der Richter sich neben der Gerichtsgemeinde an der Rechtsprechung beteiligte. Die römischen Schriftsteller geben uns kein abschlieſsendes Bild, wogegen die jüngeren Zeugnisse bei den verschiedenen Stämmen weitgehende Verschiedenheiten aufweisen. Da gilt es denn, im folgenden aus ihnen einen gemeinsamen, mit den Nachrichten des Altertums harmonierenden Ausgangspunkt zu gewinnen.

Für die älteste Zeit darf es als sicher betrachtet werden, daſs sowohl der Richter als auch die Gerichtsgemeinde an dem Zustandekommen des Urteils teilnehmen. Nach Cäsar und Tacitus sind es die principes, welche Recht sprechen, ius dicunt29, iura reddunt30. Aus den Quellen der folgenden Zeitabschnitte ergiebt sich, daſs der Richter zwar mit der Findung des Urteils, mit der Feststellung seines Inhalts nichts zu thun hat, daſs er aber ein dem gefundenen Urteil entsprechendes Rechtsgebot erläſst, daſs er, wie die sächsischen Rechtsbücher sagen, das Urteil ausgiebt31, während die Feststellung des

28 Anderer Ansicht Schröder, RG I 33. Allein die Zustände der fränkischen Zeit beweisen, daſs wandernde Rechtspflege mit hergebrachten Dingstätten vereinbar war.

29 Caesar, De bello gall. 6, 23: principes regionum atque pagorum inter suos ius dicunt, controversiasque minuunt.

30 Tacitus, Germ. c. 12: eliguntur in iisdem conciliis et principes, qui iura per pagos vicosque reddunt, centeni singulis ex plebe comites consilium simul et auctoritas assunt.

31 Es ist das Verdienst Aug. S. Schultzes, Privatrecht u. Prozeſs in ihrer Wechselbeziehung I 97 ff., die Bedeutung dieses Rechtsgebotes energisch betont zu haben. Bestätigende Belege aus fränkischer Zeit weiter unten. Unzutreffend ist es, wenn man die Stellung des Richters auf den Vorsitz über die Leitung der Verhandlung beschränkt, wie dies u. a. bei Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 103 geschieht.


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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

Urteils Sache der Gerichtsgemeinde ist. Eine entscheidende Mitwirkung der letzteren bezeugt schon Tacitus, indem er berichtet, daſs dem princeps bei der Rechtspflege als consilium et auctoritas die Hundertschaft assistirt32.

Für die Findung des Urteils haben nachmals einzelne Stammesrechte besondere und zwar verschiedenartige Organe, welche aber die Mitwirkung der gesamten Gerichtsgemeinde an der Rechtsprechung nicht ausschlieſsen. Bei den Franken wird das Urteil zunächst durch die sog. Rachineburgen (Ratgeber) gefunden, einen höchst wahrscheinlich vom Richter ernannten Ausschuſs der Gerichtsgemeinde. Doch muſs die Zustimmung der übrigen Dingleute, die im Gegensatz zu den sitzenden Rachineburgen den sog. „Umstand“ bilden, das Vollwort des Umstandes hinzutreten, damit das Urteil ausgegeben werden könne.

Bei den Baiern und Schwaben steht dem vorsitzenden Richter ein amtlicher Rechtsprecher oder Rechtweiser zur Seite, lateinisch iudex, in althochdeutschen Glossen êsago, êteilo, urteilo genannt33. In Baiern, wo wir ihn bis in das neunte Jahrhundert verfolgen können, bringt er auf richterlichen Befehl hin den Urteilsvorschlag ein. Ihm folgen dann andere in den bairischen Gerichtsurkunden als die angesehensten der Gerichtsgemeinde namentlich angeführte Urteilfinder, worauf schlieſslich der Umstand sein Vollwort abgiebt34. Der Judex erhält ein Neuntel der Buſse in jeder Sache, in der sein Urteil rechtskräftig geworden ist35. Es sind Männer vornehmster Herkunft, die unter den Trägern dieses Amtes erscheinen36. Dürftigere Nachrichten haben

32 Waitz, VG I 358 Anm 1. Bethmann-Hollweg IV 103. Die Worte des Tacitus über die Mitwirkung der Gerichtsgemeinde fallen umsomehr ins Gewicht, als sie von ihm sichtlich als Ergänzung der ihm vorschwebenden Worte Cäsars oben Anm 29 angebracht worden sind.

33 Ahd. Gl. II 492, 36; I 14, 35. Graff V 416. VI 107. Eosago, êasagari bezeichnet in ahd. Glossen ferner den legislator (auch êatrago) und den Dingmann, curialis schlechtweg, Ahd. Gl. II 246, 18: curialis dicitur a curia, idem est apud Alamannos esago. Vgl. v. Richthofen, Untersuchungen zur fries. RG II 456 f.

34 Meichelbeck, Hist. Frising. I Nr 470 v. J. 822: iussit praedictus missus legem inter eos decrevisse; inprimis Kisalhardus publicus iudex sanxit iuxta legem Baiow. Ebenda Nr 472 v. J. 824: nomina eorum qui hoc ad legem Baioariorum decreverunt: Kysalhart publicus iudex, Liutpald comis, vassi dominici … ad extremum cunctus populus clamavit una voce, hoc legem fuisse. In Hundt, Abh. der bair. Akad. XIII 1 S 12, Nr 14 v. J. 829 ist eine Mehrzahl von iudices thätig.

35 Lex Baiuw. II 15. Dieser Anteil entspricht dem des Grafen bei den Franken, der von dem fredus (dem dritten Teile der ganzen compositio) ein Drittel, also gleichfalls ein Neuntel der Buſse bezog.

36 Die ältesten bairischen iudices werden in einer Urk. von 743, Meichel-


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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

wir über den alamannischen Judex, der in der Lex Alamannorum als Urteiler genannt wird und nicht ein Richter, sondern ein dem bairischen Judex verwandter Rechtsprecher gewesen sein dürfte37.

Auch das friesische Gerichtswesen kennt neben dem Richter und neben der entscheidenden Gerichtsgemeinde einen besonderen Rechtsprecher, iudex, asega38. Er ist nicht wie der bairische iudex bloſs erster, sondern er ist einziger Urteilfinder. Er findet das Urteil, nachdem er vom Richter dazu gebannt worden ist, nimmt Eide ab und hat Anteil an den erkannten Buſsen. Der Urteilsvorschlag des Asega bedarf des Vollworts der Gerichtsgemeinde39. Sein Spruch ist nicht als bloſse Rechtsbelehrung, als Weistum, sondern als Vorschlag des Urteils über den verhandelten Rechtsfall aufzufassen40. Der Asega wird vom Volke vermutlich aus hervorragendem Geschlechte gewählt.

Im altsächsischen Rechte waren es die vicinantes, pagenses, convicini, also die Genossen der Gerichtsgemeinde, welche das Urteil fällten und dafür eine Gebühr erhielten41. Nur thatsächliche, nicht rechtliche, gerichtsverfassungsmäſsige Bedeutung genossen auf den alt-

beck I 44, erwähnt. Sie gehören dem in der Lex Baiuw. genannten Adelsgeschlechte der Fagana an. S. das Personenregister bei Graf Hundt, Abhandl. der Münchener Akademie Hist. Kl. XII 1 unter Ragino und Anulo. Von den iudices der Freisinger Urkunden steigen mehrere (z. B. Salucho, Orendil, Kysalhart) später zur Grafenwürde auf. In den Zeugenreihen wird der iudex bald vor, bald nach dem comes, neben anderen Laien regelmäſsig zuerst genannt.

37 Lex Alam. Hlo. 42. Vgl. 41 mit 36.

38 v. Richthofen, Fries. WB S 609; ders., Untersuchungen zur fries. RG II 457 ff. v. Amira, Göttingische gelehrte Anzeigen vom 22. Aug. 1883 S 1063 ff. Schröder, Z2 f. RG IV 221.

39 Daſs die Urteilsfällung formell Sache der Gerichtsgemeinde, ist zu folgern aus der 4. der 17 fries. Küren: quicunque inuadat possessiones alterius sine auctoritate asega et populi licentia (d. h. ohne gerichtliches Urteil), ferner aus Landr. 12 über Heimsuchung sine plebis uerbo et sine sculteti banno; Landr. 20: tunc stat ille in populi coetu (lyoda warve) et bannito placito; Landr. 24: debet uenire in gratiam coram plebe. Als Dingleute, mit welchen das Gerichtszeugnis erbracht wird, erscheinen in den friesischen Rechtsquellen gelegentlich des Königs orkenen. So heiſsen die Zeugen, die bei dem Treueide aussagen, welchen sie dem König geschworen haben. Vgl. v. Richthofen, WB S 971.

40 Nach v. Richthofen, Untersuchungen II 478. 485 fällt der Asega nicht ein Urteil über den einzelnen Streitfall, sondern belehrt nur die Dingleute durch ein Weistum über das Recht, nach dem sie zu erkennen haben. Dagegen v. Amira a. O., dessen Ausführungen ich mich anschlieſse.

41 Cap. Sax. v. J. 797 c. 4, I 71. Über die wargĭda in der Bedeutung von Urteil s. unten S 217. Das Gesamturteil bezeugt Heliand 5418: tuo uuarth that cuth obhar all, huo thiu thiod habhda duomos adeliđ. Da ward das überall kund, wie das Volk das Urteil erteilt.


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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

sächsischen Dingstätten die im sächsischen Heliand genannten eusagon, Rechtsager, Männer von anerkannter Rechtskunde, welche auf Verlangen Rechtsbelehrung erteilten42. Wohl aber kennen jüngere ostfälische und holsteinische Rechtsquellen die Stellung eines Urteilfinders43, der als ein Analogon des bairischen êsago angesehen werden darf.

Von den Angelsachsen wird zwar behauptet, daſs bei ihnen die Rechtsprechung Sache des vorsitzenden Richters gewesen sei44. Allein diese Annahme läſst sich mit den Urkunden über Gerichtsverhandlungen und mit den angelsächsischen Gesetzen nicht in Einklang bringen. Regelmäſsig wird darin eine urteilende Mehrheit von Dingleuten vorausgesetzt und ist es die Gerichtsversammlung als solche, welche das Urteil fällt, indem sie dem Urteilsvorschlage beitritt, welchen die sapientes, die sogen. witan, gefunden haben45. Daneben finden sich allerdings auch Spuren einer rechtweisenden und recht-

42 Im Heliand 3801 wird Jesus angeredet: Huat, thu bist eusago … allon thiodon uuisis uuares so filo (was! du bist Rechtweiser … allem Volke weisest du Wahres so viel) … Nu uui thi fragon sculun riki thiodan, huilik recht habit thie kesur fan Rumu? … Rad for thinon landmagon uuel. Als die Juden beraten, wie sie Jesum anklagen könnten, uuarth thar eusago an morgentid manag gisamnod. Hel. 5058. Die eusagon erscheinen auch vor Gericht. Hel. 4466: eusagon alla cumana an huarf. Daſs der altsächsische eusago ein Beamter, ein ständiger Urteilfinder nach Art des bairischen iudex, des friesischen asega gewesen sei, läſst sich nicht erweisen.

43 Als solcher fungiert für die Fronurteile nach Ssp I 59 § 2 der Schultheiſs im Gerichte des Grafen, nach Richtsteig Ldr. I 2 der Unterrichter im Gerichte des Oberrichters. Bei den Holsten beantwortet ein Vorsprecher der Dingleute die Hegungsfragen und haben diese für die übrigen Urteile einen sog. Abfinder zum Obmann. Falck, Handb. des schleswig-holsteinschen Privatrechts III 88. Schröder, Z2 f. RG VII 3. 13.

44 Hermann a. O. S 38. 39. 233.

45 Kemble, Cod. dipl. Nr 220: iudicium unanimi consensu constituerunt; Nr 219: da geræchte Uulfred arcebiscop ond alle da wiotan; Nr 256: tunc a sapientibus et prudentibus trutinatum ac dijudicatum est; Nr 323: sed Aethelred et illi omnes adiudicabant; Nr 1237: optimates autem et sapientes pro iustitia invenerunt; Nr. 1019: omnium voce decretum est; Nr 1258: gesohtan da dane ealdorman E. and dæt folc … and geneddan danne biscop … Auf den Anteil des Gerichtsvolkes an der Urteilfällung deutet Knut II 35, 1: dem sippelosen Fremden soll man kein schlimmeres Urteil sprechen als dem Genossen. In Schmid, Anhang XIII entscheidet das Urteil der ältesten Männer, die zur Burg gehören. Nach Aethelred 3, 13 soll das Urteil Bestand haben, wenn die Thane einig sind. Leges Henrici I. c. 5 § 6: vincat sententia plurimorum; c. 31 § 2: sententia meliorum. Von dem Hundertschaftsgerichte, welchem der Gerefa als Richter vorsitzt, ist es zweifellos, daſs nicht dieser, sondern die Gerichtsgemeinde das Urteil sprach. Der hundredes dôm in Edgar I § 3, dessen Schelte der Hundertschaft gebüſst wird,


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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

findenden Thätigkeit der richterlichen Beamten46 und scheint der Richter des Hundertschaftsgerichtes in dem Gaugerichte (Shiregemot) als erster Urteilfinder fungiert zu haben, ohne aber jede Teilnahme der Gerichtsgemeinde an der Urteilfällung auszuschlieſsen47.

Den Langobarden ist die germanische Unterscheidung zwischen Richter und Urteilfinder unbekannt. Das Urteil wird bei ihnen, soweit die langobardischen Quellen zurückreichen, von einem Einzelrichter oder von mehreren vorsitzenden Richtern gefällt, wogegen die Gerichtsgemeinde, wo sie überhaupt erwähnt wird, auf eine passive Assistenz beschränkt ist48. Daſs aber die Langobarden ursprünglich ein Gesamturteil der Gerichtsgemeinde gekannt haben müssen, folgt aus der dem nordischen vápnatak entsprechenden Anwendung des gairethinx. Unerheblich, weil bereits romanisiert, sind für die Betrachtung der altgermanischen Verhältnisse die burgundische und die westgotische Gerichtsverfassung.

Das ältere nordische Gerichtswesen beruht ursprünglich auf der unter dem Vorsitz des Richters urteilenden Dingversammlung49. Eigentümlich ist dem Norden — von Dänemark abgesehen — das Amt des Gesetzsprechers, der verpflichtet ist, von Zeit zu Zeit über das geltende Recht öffentliche Vorträge zu halten. Auſserdem ist er an der Rechtsprechung beteiligt und hat insofern einige Ähnlichkeit mit

kann nicht das Urteil eines Einzelrichters sein. Auch sonst hat die Hundertschaft Anteil an den Buſsen. Knut II 15 § 2; Edgar I § 2.

46 Edgar III 5: Und es sei da (im Shiregemot) der Bischof der Shire und der Ealdorman und jeder von ihnen weise göttliche und weltliche Rechte.

47 Kemble Nr 755. 898. Daſs der Gerefa als Urteilfinder (wie ich vermute im Shiregemot) fungierte, erklärt die Vorschrift in Edward I pr., worin der König allen Gerefen gebietet, so gerechte Urteile zu sprechen, als sie irgend können und wie es in dem Urteilsbuche steht. Die Stellung des Gerefa im Shiregemot wäre sonach eine ähnliche gewesen, wie die des Schultheiſsen im Grafengericht des Sachsenspiegels. Rechtfindende Thätigkeit der Gerichtsbeamten bekundet auch der etwa 1000 entstandene Aufsatz vom gerechten Richter, den Liebermann, Z2 f. RG V 207 abgedruckt hat.

48 Ficker, Forsch. zur Reichs- u. Rechtsgesch. Italiens III 178 ff. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 356 ff. Die astantes, circumstantes werden neben den iudices nicht selten erwähnt. Regesto di Farfa Nr 22. 25. 34. 45. 46. 135. 154. 197. Aus Nr 45: (dux) deputavit iudices … hoc est Cl. et A. sculdahis, D. notarium, G. H. sculdahis, Ad. sculdahis et alios astantes, läſst sich entnehmen, daſs die astantes als Bestandteil des Gerichts betrachtet wurden.

49 Bei den Norwegern urteilt bis ins 13. Jahrh. die Gerichtsgemeinde im herađsþíng und im fylkisþíng. Für das lögþíng wird die lögrètta, ein Ausschuſs (nach Analogie der fränk. Rachineburgen) ernannt, neben welchem aber die übrige Gerichtsgemeinde formell noch am Spruche teilnimmt.


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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

dem friesisch-bairischen Rechtsprecher. Doch weist seine Stellung in dieser Beziehung in den nordischen Rechten erhebliche Verschiedenheiten auf, die sich wohl als verschiedene Phasen in der geschichtlichen Entwicklung des Amtes erklären lassen. Auf dem ältesten Standpunkte dürfte der isländische Gesetzsprecher (lögsögumađr) stehen, der darauf beschränkt blieb, den Gerichten auf Verlangen das Recht zu weisen und den Leuten, die ihn darum angingen, über schwierige Rechtsfragen Auskunft zu geben. Dagegen ist der norwegische lögmađr aus einer begutachtenden Hilfsperson zum Urteilfinder ausgewachsen. Eine ähnliche Entwicklung scheint der schwedische laghmaþer durchgemacht zu haben, ehe er die Stellung eines urteilenden Einzelrichters erlangte, neben welchem das Volk keinen Anteil mehr an der Rechtsprechung besaſs. Im dänischen Rechte findet sich keine Spur des Gesetzsprechers.

Kehren wir von diesem Überblick über die jüngere Gerichtsverfassung zu den von Cäsar und Tacitus überlieferten Nachrichten zurück, so zeigt sich, daſs dem Urteilsvorschlag das consilium, welches der richtende princeps in der Hundertschaft findet, dem Vollworte der Gerichtsgemeinde die auctoritas, dem Rechtsgebote des Richters das ius dicere, reddere entspricht. Richter und Gerichtsgemeinde stehen nicht von vorneherein in scharfem Gegensatz, sondern beide wirken zusammen, damit ein Urteil zustande komme. Der Richter hatte das Recht, aus der Gerichtsgemeinde heraus ein Urteil zu erfragen. Er konnte die Urteilsfrage an eine Mehrheit von Dingleuten stellen, er konnte auch nach Belieben einen der anwesenden Dingmänner zum Urteilsvorschlag auffordern, wie dies später in Deutschland am Königsgerichte und überall der Fall ist, wo nicht die Einrichtung des Schöffentums oder das Amt eines ersten oder einzigen Urteilfinders besteht50. Die Urteilsfrage war ursprünglich wohl nur ein Recht, nicht eine Pflicht des Richters und das von der Gerichtsgemeinde bevollwortete Urteil sicherlich auch dann giltig, wenn der Urteilsvorschlag vom Richter selbst ausgegangen war. Von dieser Grundlage aus sind dann einzelne Stämme zu bestimmterer Verteilung der Urteilfinderfunktionen gelangt. Bei den Franken ernannte der Richter vor oder bei Eröffnung des Dings einen urteilenden Ausschuſs der Gerichtsgemeinde, die Rachineburgen, aus welchen unter Karl dem Groſsen ein ständiges Urteilfinderkollegium, das Schöffentum, hervorging. Anderwärts führte das thatsächliche Übergewicht, welches Ansehen, Erfahrung und Rechtskunde gewährten, zu dem Ergebnis, daſs der Richter den Urteilfinder

50 Zöpfl, Deutsche RG III 356.


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§ 20. Die Gerichtsverfassung.

nicht mehr ad hoc bestimmte, sondern der Urteilsvorschlag Sache eines ständigen Urteilfinders wurde, so bei den Oberdeutschen und Friesen, während der nordische Rechtsprecher zunächst nur über zweifelhafte Rechtsfragen Rechtsbelehrung zu geben hatte51. Der urteilfindende Richter, wie er uns bei den Langobarden und spurenhaft bei den Angelsachsen begegnet, mag in einer Befugnis des germanischen Richters, von der Urteilsfrage abzusehen, seinen Ausgangspunkt haben.

Der bunten Mannigfaltigkeit gegenüber, in welcher das Gerichtswesen sich bei den verschiedenen Stämmen ausgestaltete, ist als unverrückter Drehpunkt der Bewegung die Thatsache festzuhalten, daſs das germanische Urteil ein Urteil der Gerichtsgemeinde und alles was dem Vollwort der Gerichtsgemeinde vorausging, im Rechtssinne nur Urteilsvorschlag war. Als altertümlichste Form des Gesamturteils tritt uns später die Sitte des Waffenschlags und der Waffengreifung entgegen, die wir schon bei den Beschlüssen der von Tacitus geschilderten Landesgemeinde haben kennen gelernt. Im Rechte von Schonen kommt das vápnatak bei der Friedloslegung vor. In Norwegen wurde es auch bei zivilrechtlichen Urteilen angewendet und als Formalakt, durch den die Gerichtsgemeinde gewisse Rechtsgeschäfte, u. a. Übereignungen von Grundstücken, bekräftigte52. Die nordenglischen Hundertschaften, welche stark mit skandinavischer Bevölkerung durchsetzt waren, führen den Namen wæ̂pentâk, vermutlich von der Form, in welcher die Gerichtsgemeinde ursprünglich ihr Vollwort abgab53. Auch den Schweden war einstens ein mit Speerschaft abgegebenes Urteil bekannt54. In Holstein muſsten bis Ausgang des 17. Jahr-

51 Ein Überrest des germanischen Gerichtswesens hat sich, wie schon Grimm, RA S 750 bemerkt, in unseren Pfänderspielen erhalten. Der Richter, d. h. der Spielgenosse, der die verwirkten Pfänder zur Auslösung ausruft, stellt an einen beliebigen Gespielen die Urteilsfrage: Was soll dies Pfand in meiner Hand? Der zusagende Urteilsvorschlag findet die Billigung der Gesamtheit. Wer sich durch besonders artige Einfälle auszeichnet, gewinnt wohl die Rolle eines ständigen Urteilfinders. Die Hingabe des Pfandes (wadium, Wette) erscheint rechtlich als das Versprechen, das Pfand durch Erfüllung des Urteils auszulösen.

52 K. Maurer, Germania XVI 320 f. Grimm, RA S 770. 864. K. Lehmann, Z2 f. RG V 93 ff. Schröder, Z2 f. RG VII 59.

53 Die Leges Edwardi Confess. geben c. 30 eine andere Erklärung, die uns ebensowenig irre führen darf, wie die daselbst versuchte Herleitung des Wortes aus dem Angelsächsischen.

54 Die schwedischen Rechte kennen einen Vertragsschluſs mit fastar, confirmantes, confirmatores genannt. Der Formel mæþ fastum ist die Formel mæþ skapt (mit Speerschaft) gleichbedeutend. Die fastar sind Vertreter der Dingversammlung,


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§ 21. Fehde und Buſse.

hunderts die Dingmänner mit Speeren vor Gericht erscheinen55, wo sie den Speerschaft anfaſsten und den Speer nach aufwärts kehrten, wenn sie zum Urteil gebannt worden waren56.

§ 21. Fehde und Buſse.

Wilda, Stratrecht der Germanen, 1842. G. v. Wächter, Beiträge zur deutschen Geschichte, insbesondere zur Geschichte des deutschen Strafrechts, 1845, S 42 ff. 247 ff.; derselbe, Beilagen zu Vorlesungen über das deutsche Strafrecht, 1881; Beil. 22: Das germanische Fehderecht und die Compositionen. Köstlin, Das germanische Strafrecht, in der Z f. DR XIV 367 und aufgenommen in dessen Geschichte des deutschen Strafrechts, 1859. Geib, Lehrbuch des deutschen Strafrechts I, 1861, S 151 ff. Konrad Maurer, Über angelsächsische Rechtsverhältnisse: 4. Das Fehde- und Wergeldswesen, KrÜ III 26 ff. Rogge, Über das Gerichtswesen der Germanen, 1820. Siegel, Gesch. d. deutschen Gerichtsverfahrens, 1857. Dahn, Fehdegang u. Rechtsgang der Germanen, Bausteine 2. Reihe, 1880, S 76 ff. Frauenstädt, Blutrache und Todtschlagssühne im deutschen Mittelalter, 1881. Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 1883, S 131 ff. Pasquale del Giudice, La vendetta nel diritto langobardo, 1876. v. Woringen, Beiträge zur Geschichte des deutschen Strafrechts, erster Beitrag: Erläuterungen über das Compositionenwesen, 1836. Thonissen, L’organisation judiciaire, le droit pénale … de la loi salique, 1881. Osenbrüggen, Das Strafrecht der Langobarden, 1863. Brandt, Forelæsninger II 1—156. v. Amira, Das altnorwegische Vollstreckungsverfahren, 1874.

Die Entwicklung des weltlichen Strafrechts hat bei den Germanen ihren Ausgangspunkt in dem Gedanken, daſs wer den Frieden bricht, sich selbst aus dem Frieden setzt, oder wie ein Gesetz Kaiser Friedrichs I. vom Jahre 1158 sich ausdrückt, daſs wer den Frieden nicht hält, des Friedens seinerseits nicht genieſsen soll1.

welche ein den Rechtsakt bekräftigendes Urteil abgeben, indem sie einen Speerschaft anfassen. v. Amira, Altschwed. Obligationenrecht S 269 ff.

55 Im „Holsten Ding und Recht“ von 1649 (Seestern-Pauly, Die Neumünsterschen Kirchspielsgebräuche, 1824, S 8) findet sich das Hegungsurteil: hyr schall yder dingsmann syn speer op synen kluen dal un syn angesicht vör dit hegede recht strecket hebben. Kluen sind die Speerschäfte.

56 In Joh. Fuchsii Introductio in processum Holsaticum, Kiel 1696, S 223 wird, nachdem die Dingleute zum Urteil gebannt worden, auf die entsprechende Hegungsfrage des Richters die Antwort erteilt: düsse frame Holsten … se hebben ehre klüven angefatet, se hebben ehre spere upwarts gekehret, se hebben ehre andlat thom rechten gekehret. Ähnlich lautet die Formel bei Seestern-Pauly S 13. Noch im 19. Jahrh. stand im Bordesholmer Dinggericht der Obmann der Urteiler (Abfinder) dem Dingvogt mit einer Lanze oder einem Speer gegenüber. SeesternPauly a. O. S 41. Falck a. O. III 41. Zöpfl, Altertümer II 442.

1 Qui pacem iurare et tenere noluerit, et lege pacis non fruatur. Curia Roncaliae, MG LL II 112.


(0175 : 157)

§ 21. Fehde und Buſse.

Der Friedensbruch ist entweder ein solcher, welcher den Thäter und die Seinen nur der Feindschaft des Verletzten und seiner Sippe preisgiebt, oder aber ein solcher, der ihm die Gesamtheit der Volksgenossen zum Feinde macht. Im erstgedachten Falle tritt nur eine beschränkte Aufhebung des Friedens ein. Der Friede ist nur gegenüber dem Verletzten und dessen Sippe verwirkt, so daſs es diesen gestattet ist, im Wege der Selbsthilfe Rache zu üben, ohne dadurch ihrerseits einen Friedensbruch zu begehen.

Das Verhältnis, welches durch die Unthat zwischen dem Beleidigten und seinem Gegner entsteht, heiſst Fehde, latinisiert faida, ahd. fêhida, gifêhida, fries. faithe, feithe, ags. fæ̂hd2. Fehde bedeutet nicht etwa den Kampf der feindlichen Parteien, sondern die unter ihnen bestehende Feindschaft, inimicitia3, und führt sprachlich auf das Verbum fêhan, hassen zurück. Wer der Fehde ausgesetzt ist, wird als faidosus, fehitus, ahd. fêh, gifêh, ags. fâh, fâg, altfries. fach bezeichnet4. Die Fehde ist die durch die Rechtsordnung anerkannte Feindschaft. Diese Anerkennung äuſsert sich darin, daſs die in rechtmäſsiger Fehde verübte Rachethat nicht als Missethat, sondern als buſslose und straflose That behandelt wird5. Wer durch erlaubte Rache sein Leben verliert, ist ebenso wie jeder, an dem eine rechtlich zulässige Tötung vollzogen wurde, ein nicht zu vergeltender Mann. Unvergolten liege er6, sagen von einem solchen die Angelsachsen, iaceat forbatutus7,

2 Der nordischen Rechtssprache ist das Wort Fehde fremd.

3 Roth. 74: faida quod est inimicitia; Roth. 45, 162. Inimicitias sive feithe in der sechsten der 17 friesischen Küren. v. Richthofen, Friesische RQ S 24.

4 v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 252.

5 Das Recht von Namur nennt den Totschlag beau fait, wenn er in rechtmäſsiger Fehde verübt worden, im Gegensatz zum vilain fait, dem mit öffentlicher Strafe bedrohten Totschlag. Z2 f. RG III 72.

6 Aegylde orgilde, ungylde Edw. u. Guthr. c. 6 § 7; Aelfr. I § 5; Aethelred II 3 § 4, VI 38. Knut II 48 § 3, II 62.

7 Lex Rib. 77. Decretio Childeb. II. v. J. 596 c. 4, I 16. Form. Turon. 30; Carta Senon. 29. Dazu die Bemerkungen Zeumers, Formulae S 192 Anm 1. In der Formel Cart. Senon. 17: facio in frodanno et ferbatudo ist das frodanno als forfactus, firtân zu erklären. Ahd. firtuon, alts. farduan heiſst verurteilen. Grimm, RA S 624. In Rib. 77 schwört derjenige, der den Dieb oder den Ehebrecher in erlaubter Weise erschlug, quod eum de vita forfactum interfecisset. Ferbatutus hängt vielleicht mit baten, bessern, büſsen zusammen. Siehe Grimm, WB I 1158. 1722, II 572. Schiller und Lübben I 160. Ferbatutus wäre sonach einer, der nicht noch erst gebüſst, vergolten zu werden braucht, weil er sich die Buſse auf seine eigene That aufzurechnen hat, durch sie schon als gebüſst zu betrachten ist. Vgl. Lex Baiuw. 8, 1: pro ipsam compositionem quod debuit solvere marito eius, in suo scelere iaceat sine vindicta. Liutpr. 136: ipse homo qui ibi mortuos est,


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§ 21. Fehde und Buſse.

absque compositione8 die Franken. Ugildr, ogildr heiſst er im Norden9.

Die Missethat als solche setzt aus dem Frieden, begründet die rechtmäſsige Feindschaft des Verletzten. Der Thäter darf daher, wenn er auf handhafter That betroffen wird, sofort getötet werden. Auch die Tötung aus Notwehr fällt ursprünglich unter diesen Gesichtspunkt10.

Die Fehde ist ein Recht des Verletzten und seiner Sippe, sie ist das Recht, die Genugthuung im Wege der Selbsthilfe zu suchen. Die Genugthuung, welche die Fehde sucht, ist Rache, die älteste in den Naturtrieben des Menschen begründete Reaktion gegen das Unrecht. Die Rache kann sofort in dem Momente geübt werden, in welchem das Recht der Fehde entstand. Das geschieht z. B., wenn der Thäter auf handhafter That ertappt und erschlagen wird. Der Gesichtspunkt der Fehde tritt da hinter dem der Rache thatsächlich zurück. Selbstverständlich ist auch eine Fehde denkbar, in der es dem Beleidigten nicht gelingt, Rache zu nehmen. Andrerseits kann aber auch Rache und zwar erlaubte Rache genommen werden, ohne daſs ihr ein Fehderecht im eigentlichen Sinne zu Grunde liegt. Wenn jemand eine Missethat beging, die ihm die volle Friedlosigkeit zuzog, so konnte er wie von jedem Volksgenossen, auch vom unmittelbar Beleidigten buſslos getötet werden. Das war dann ein Akt erlaubter Rache, aber nicht Ausübung eines Fehderechtes.

Die Unthaten, aus welchen eine rechtmäſsige Fehde entstehen kann, haben keinen rechtlichen Einfluſs auf die Stellung des Missethäters zu seiner Sippe. Sie heben seine Zugehörigkeit zur Sippe nicht auf. Schlieſst ihn die Sippe nicht freiwillig aus, so ist sie verpflichtet, den angegriffenen Genossen zu schützen. Da andrerseits bei dem lebhaften Gefühle enger Zusammengehörigkeit der Sippegenossen die Verletzung des einzelnen als Verletzung seiner Sippe erscheint, so stellt sich die altgermanische Fehde als Geschlechterfehde dar, als ein Krieg zwischen zwei feindlichen Sippen, dessen Ausgang die Gesamtheit der unbeteiligten Volksgenossen mit verschränkten Armen

.. repotit sibi duas partes pretii de conpositionem suam .. Vgl. auch die Episode aus der Njálssaga bei Wilda, Strafrecht S 173, 2, wo Gunnar dem Njál, der die Buſse für den Tod Sigmunds anbietet, erwidert, dieser sei schon lange gebüſst gewesen.

8 Cap. legibus add. 818—19 c. 1, I 281.

9 Wilda, Strafrecht S 281. v. Amira, Vollstreckungsverfahren S 10; Altschwed. Obligationenrecht S 142.

10 Arg. Form. Turon. 30 Zeumer S 152.


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§ 21. Fehde und Buſse.

abwartet11. Nicht bloſs der Missethäter, sondern auch seine Blutsverwandten waren der Fehde der beleidigten Sippe von Rechtswegen ausgesetzt12. Ja, bei Ausübung der Blutrache kam es sogar vor, daſs der Missethäter weniger als dessen Sippe bedroht war. So pflegten in Norwegen die Magen des Erschlagenen nicht an dem Totschläger selbst, sondern um die feindliche Sippe recht empfindlich zu treffen an dem besten Manne derselben Rache zu nehmen, auch wenn er an der That nicht die mindeste Schuld trug13. Von den holsteinischen Bauernfehden des vierzehnten Jahrhunderts wird uns erzählt, daſs wenn einem sein Vater, sein Bruder oder Vetter erschlagen worden, er zur Vergeltung nicht den Totschläger, sondern dessen Vater, beziehungsweise Bruder oder Vetter zu erschlagen suchte14.

Eine Aufkündigung des Friedens, ein Ansagen der Fehde war nicht erforderlich15. Die Unthat als solche verwandelte den Frieden in Feindschaft. Wenn die Rache den Thäter nicht schon auf der That oder auf der Flucht von der That ereilte, so wurde die Fehde von den versammelten Blutsfreunden beraten, beschlossen und vorbereitet16. In jüngeren Quellen findet sich wohl, daſs der nächste Verwandte des Erschlagenen die einzelnen Stämme der Sippe rechtsförmlich zur Rache auffordert, indem er ihnen den gefundenen Leich-

11 In einem Urteile von 1439 sagen die Schöffen von Namur: Wenn die Magen des Erschlagenen ihn rächen wollen und können, so möge es ihnen wohl bekommen; denn darein hätten sie, die Schöffen, sich nicht zu mengen und wollten sie auch darüber nichts gesagt haben. Z2 f. RG III 73 f.

12 Lex Sax. c. 18: der vom Liten begangene Totschlag kann an ihm et aliis septem consanguineis gerächt werden; c. 19: ille ac filii eius soli sint faidosi. Aethelred 8, 23: er reinige sich mit seinen Magen, welche die Fehde mittragen oder büſsen müssen. Noch in einem Urteil des Etstuhls von Drente (Verhandel. pro excolendo iure patrio VII 2 Suppl. S 48 Nr 157) wird mit klaren Worten der Grundsatz ausgesprochen, daſs man die Magen des Totschlägers befehden dürfe, aber nicht seines Weibes Magen.

13 Frostuþíngslög Inledn. § 8. v. Amira, Das altnorwegische Vollstreckungsverfahren S 37.

14 Frauenstädt, Blutrache und Todtschlagssühne S 13.

15 Gegen Siegel, Gerichtsverf. S 17, der aus den Absagebriefen des Mittelalters den Schluſs zieht, daſs schon in germanischer Zeit die Fehde angekündigt werden muſste, siehe v. Wächter, Beilagen S 80 f. Auch bei der Totschlagsfehde des Mittelalters fand eine Aufkündigung des Friedens nicht statt. Frauenstädt a. O. S 36.

16 Die Lex Alam. unterscheidet bei der Rache mit Hausfriedensbruch in Hlo. 45 zwei Fälle. Entweder verfolgen die Genossen des Erschlagenen den flüchtigen Thäter bis in sein Haus und töten ihn. Oder sie unterlassen die sofortige Verfolgung, bleiben bei ihrem Toten, beschicken die Nachbarschaft, um die ganze Sippe zu sammeln, und nehmen erst dann die Waffen auf, um die Rache zu vollziehen.


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§ 21. Fehde und Buſse.

nam überliefert. Wie ein Volk sich zum Kriege rüstet, so organisiert sich die zur Rache entschlossene Sippe, indem sie etwa einen aus ihrer Mitte zum Führer und Leiter der Fehde erwählt. Fränkische Rechtsquellen des fünfzehnten Jahrhunderts haben sogar feste Rechtssätze über die Frage, welchem Magen die Hauptmannschaft der Fehde gebühre17, wie nahe man mit dem Toten verwandt sein müsse, um als „Anleiter“ der Rache bestellt werden zu können18. In hohes Altertum reicht die vermutlich auf heidnischen Glaubenslehren beruhende Sitte zurück, die Leiche des erschlagenen Blutsfreundes nicht zu beerdigen, ehe der Totschlag gerächt ist. Von den Friesen des dreizehnten Jahrhunderts wird berichtet, daſs sie den Leichnam im Hause aufzuhängen pflegten, bis Vergeltung geübt war19.

Die in erlaubter Rache vollzogene Tötung muſste öffentlich verkündigt oder als solche allgemein ersichtlich gemacht werden20. Wurde die Rachethat verheimlicht, so galt sie für eine rechtswidrige That. Die Franken steckten das Haupt des erschlagenen Feindes auf einen Pfahl, hingen den Leichnam an einen Galgen oder stellten ihn öffentlich auf einer Bahre aus21. Auf altem Brauch scheint auch die in niederländischen Quellen überlieferte Vorschrift zu fuſsen, daſs der Rächer dem Opfer seiner Rache die Waffe, mit der die Tötung geschah, und eine kleine Münze auf die Brust legte22.

Der beleidigten Sippe stand es frei, den Weg der Fehde zu verschmähen und von dem Missethäter das verwirkte Sühngeld auf ge-

17 Nach dem Rechte von Namur konnte die chivetainetet de la guerre im Streitfalle durch gerichtliches Urteil zuerkannt werden. Z2 f. RG III 73.

18 In den Dingtalen von Delft (hg. von Fruin, Abdruck aus den N. Bijdr. voor Rechtsgel. en Wetgeving 1878 S 45) fragt der Kläger um ein Urteil, wie nahe der verwandt sein müsse, der Rache üben will. Das Urteil lautet, daſs ein erstes Glied (ein Verwandter der fünften Parentel) wohl Rache thun darf, daſs aber ein Andergeschwisterkind oder ein näherer Mag „Anleiter“ sein solle. Vgl. noch die Dordrechter Dingtaal bei Fruin, Oudste Rechten der stad Dordrecht I 369.

19 Frauenstädt S 10 f. und Anm 3. Eine andere Art der Aufbewahrung kennt das niederländische Recht: Brieler Rechtsbuch 184; Rheingauer Landr. 56.

20 Decreta Tassil. Niuh. c. 3, LL III 464: sed tamen ea tria genera homicidiorum (erlaubter Tötungen) debito signo vicinis suis et his qui adsistunt, insignet. Über die Totschlagsverkündigung des Nordens (víglysing) v. Amira, Vollstreckungsverfahren S 13 f.

21 Lex Sal. 41, 8 Zus. 2 bei Behrend setzt eine Buſse, wenn jemand das Haupt eines Menschen, welches dessen Feinde in palum miserunt, ohne deren Willen herabnimmt. Die Rächer konnten dadurch in den Verdacht der rechtswidrigen Tötung kommen. Thonissen S 110. — Lex Sal. 41, 8 Zus. 1 bei Behrend, Hessels col. 258—260. Gregor. Tur. Hist. Fr. IX 19. Lex Rib. 77.

22 Z2 f. RG III 54 Anm 3. Dingtalen von Delft S 46.


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§ 21. Fehde und Buſse.

richtlichem Wege einzuklagen. Ebenso konnte die Fehde durch eine auſsergerichtliche Sühne vermieden oder wieder beigelegt werden. Doch war in solchem Falle die Vereinbarung des Sühngeldes nicht an die herkömmlichen Taxen des Volksrechtes gebunden. Ist das gesetzliche oder vereinbarte Sühngeld gezahlt oder dessen Zahlung in rechtsverbindlicher Weise sichergestellt worden, so findet die Feindschaft in einem feierlichen Sühnvertrage ihr Ende. Die beleidigte Sippe verzichtet in förmlicher Weise auf fernere Verfolgung der gesühnten Unthat23. Ihre Vertreter leisten der gegnerischen Sippe einen Friedenseid24, sie schwören, indem sie die Fehde für aufgehoben erklären, Urfehde, ags. unfæ̂hđe25. Die Versöhnung fand wohl auch schon in germanischer Zeit in einer Umarmung oder in einem Friedenskuſs ihren Ausdruck26. Nicht leicht entschloſs sich die beleidigte Sippe zum Sühnevertrag. Unter Umständen galt es geradezu für schimpflich, sich die Rache um Geld oder Geldeswert abkaufen zu lassen. War der beleidigte Teil zur Aussöhnung bereit, so suchte er nach Möglichkeit auch den Schein zu vermeiden, als ob Furcht vor dem Gegner der Beweggrund sei27. Im Norden machte daher die verletzte Partei den Abschluſs des Sühnvertrags abhängig von einem Eide des Thäters, durch den dieser versicherte, daſs er, wenn ihm die gleiche Unbill widerfahren wäre, sich mit der gleichen Summe des Sühngeldes begnügen würde28. Dieser dem Versöhnungseid vorausgehende Eid hieſs Gleichheitseid (jafnađareiđr). Zwar nicht

23 Marculf II 18: ut pro ipsa causa solidus tantus in pagalia mihi dare debueras … et nos ipsa causa per fistuco contra te visus sum werpisse.

24 Rothari 143. Gregor. Tur. Hist. Fr. VII 47. Cap. Theod. c. 5, I 122. Cap. legg. add. 818—19 c. 13, I 284. Über den friesischen fretheth, ferded v. Richthofen, WB S 759. Über die altnordischen Versöhnungseide v. Amira, Vollstreckungsverfahren S 57 f.; Wilda, Strafr. S 229; K. Maurer, Bekehrung des norwegischen Stammes II 229. 430.

25 Ahd. urvêhe, urvêhede, urfêht. Schade S 1060. Haltaus c. 2000. Grimm, RA S 907. Ine 28: … and þa mâgas him swerian âđas unfæ̂hđa. Orveide in Ssp Landr. I 8, 3. Die Partikel ur hat in Urfehde privative Bedeutung. Das Wort bedeutet das Aufhören der Feindschaft, dann den Sühneid.

26 Friesische und fränkische Belegstellen in Z2 f. RG III 16. Über den angelsächsischen Halsfang (Umarmung) ebendaselbst. Ein italienisches Beispiel eines osculum pacis giebt Muratori, Scriptores XII col. 1164. Für den Friedenskuſs im dänischen Rechte s. Kolderup-Rosenvinge, Grundr. der dänischen RG, übersetzt von Homeyer, S 134.

27 Dahn, Fehdegang, Bausteine 2. Reihe S 88.

28 v. Amira, Vollstreckungsverf. S 64 f. Kolderup-Rosenvinge a. O. Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz S 178 Anm 5. Pappenheim, Die altdänischen Schutzgilden, 1885, S 29.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 11


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§ 21. Fehde und Buſse.

das Wort, aber die Sache findet sich auch in einer niederdeutschen Rechtsquelle29.

Das Recht der Fehde zum Zwecke der Rache war zweifellos im Falle des Totschlags begründet30. Über den darüber hinausgehenden Umfang des Fehderechts sind wir nur auf Rückschlüsse aus den Quellen der folgenden Periode und auf Vermutungen angewiesen. Wir finden später ein Recht der Rache und Fehde anerkannt bei gröblichen Verletzungen der Ehre eines weiblichen Familienmitgliedes, bei Ehebruch, Unzucht und Frauenraub31. Auch wegen Verwundungen erlauben einzelne Rechte den Fehdegang32. Da der Zug der geschichtlichen Entwicklung nicht eine Ausdehnung, sondern eine allmähliche Einschränkung der Fehde wahrnehmen läſst, so ist es wahrscheinlich, daſs in germanischer Zeit die Fehde im allgemeinen um Blut und um Ehre gestattet war. Aber auch über diese weitgezogenen Schranken führt uns eine beachtenswerte Erscheinung des friesischen Volksrechtes hinaus. Demselben ist nämlich in fränkischer Zeit die Fehde einzige Vergeltungsform für Unthaten, bei denen die Logik des geltenden Rechts einen Anspruch auf Buſse oder sonstige Sühne versagen muſs33. In der Zeit, da das Buſsensystem noch in den Anfängen seiner Entwicklung stand, mag es eine Reihe von Fällen

29 Nach Normanns wendisch-rugianischem Landgebrauch tit. 24 muss der Übelthäter mit seinen Magen schwören: dat se so vele wolden nehmen, went en wedderfahren ware. Vgl. Tit. 84.

30 Tacitus, Germ. c. 21.

31 Siegel, Gerichtsverfahren S 9. Thonissen S 117 ff. Über das Racherecht gegen den Ehebrecher bei handhafter That v. Richthofen zur Lex Saxonum S 283; Wilda S 812; Rosenthal, Rechtsfolgen des Ehebruchs S 43 ff. 71 ff.

32 Arg. Roth. c. 74. Ältestes livländisches Ritterrecht Art. 59: lemet edder wundet ein den andern, dar is nen recht up gesettet; men legere en (bezahle ihn, Schiller und Lübben, Mnd. WB II 652, 3) edder drege sine veide. Wendisch-rugianischer Landgebrauch tit. 84. Niederländische Handfesten des 14. und 15. Jahrh. lassen die Magen des Thäters für die durch leemte verwirkte Buſse haften. Mieris, Groot Charterboek III 331. 484. 637. 642. IV 38 u. öfter. Diese Haftung der Magen erklärt sich am einfachsten daraus, daſs sie einst der Fehde ausgesetzt waren. Der Norden kennt ein Racherecht nicht bloſs bei Verwundungen, sondern sogar bei Schlägen und bei gewissen Beschimpfungen. Wilda S 160 ff.

33 Lex Fris. 2, 2. Das Wergeld kann nur einmal eingeklagt werden. Vermag die Sippe des Erschlagenen die Sühne des Totschlags bei dem Totschläger selbst zu erlangen, so ist gegen den Anstifter keine Klage auf Wergeld, sondern nur die Fehde zulässig; von der Fehde mag er sich durch auſsergerichtliche Sühne befreien. „Sed tantum inimicitias propinquorum hominis occisi patiatur, donec quomodo potuerit eorum amicitiam adipiscatur.“ Derselbe Grundsatz wurde in Lex Fris. 2, 11 auf den Anstifter des Diebstahls ausgedehnt. Siegel, Geschichte des deutschen Gerichtsverf. S 12 f. v. Richthofen, Zur Lex Saxonum S 246 f.


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§ 21. Fehde und Buſse.

gegeben haben, in welchen für eine begangene Rechtsverletzung Genugthuung nur auf dem Wege der Fehde oder der auſsergerichtlichen Sühne zu erlangen war.

Das Recht der Fehde stand nur dem Verletzten und seiner Sippe zu. Von der Wahl der beleidigten Sippe hing es ab, ob der Missethäter mit seinen Geschlechtsgenossen der Fehde ausgesetzt sei, „die Fehde, die Feindschaft tragen“ oder die durch das Recht festgesetzte compositio zahlen solle34. Dagegen hat es mit nichten im Belieben des Missethäters gestanden, ob er die Feindschaft der beleidigten Sippe dulden oder die Unthat durch Buſszahlung sühnen wolle35. Weigerte er sich das Sühngeld zu entrichten, so konnte der beleidigte Teil es gerichtlich einklagen. Dann trat ihm die Gesamtheit helfend zur Seite, indem ein gerichtliches Urteil dem Beklagten auferlegte, sich zur Zahlung des Sühngeldes zu verpflichten36. Unterlieſs es der Thäter, das gerichtliche Urteil zu erfüllen, so verfiel er der allgemeinen Friedlosigkeit. Es stand ihm sonach allerdings eine Wahl offen, aber nicht die Wahl zwischen Buſse und Fehde37, sondern die

34 Lex Sax. c. 18: Compositionem solvat vel faidam portet, eine Stelle, aus der man mit Unrecht ein Fehderecht des Missethäters hat ableiten wollen. Faidam portet bedeutet hier so viel wie faidosus sit. v. Richthofen in LL V 56 Anm 42. Statt faidam portare findet sich sonst inimicitias portare. Lex Fris. 2, 2. Deutsche Quellen haben Fehde tragen (oben Anm 32), Feindschaft tragen. Vos Reinaerde ed. Martin Vers 7295: ic acht cleine al dijn maghen, ic sel die vete wel draghen.

35 Für ein Fehderecht des Übelthäters hat sich Rogge, Gerichtswesen S 2 ff. 21 ff. ausgesprochen. Dagegen u. a. Eichhorn I 80 f.; v. Woringen, Beiträge S 35 ff.; v. Wächter, Beiträge S 43. 249, Beilagen 80. Wilda, Geib und Waitz wollen auch von einem eigentlichen Fehderecht des Verletzten nichts wissen.

36 Die Möglichkeit gerichtlicher Einklagung des Wergeldes schlieſst ein sog. Fehderecht des Missethäters aus. Sie kann aus Tac. Germ. c. 12 pars mulctae … propinquis … exolvitur gefolgert werden, weil darunter kaum etwas anderes wie das Wergeld zu verstehen ist. Übrigens verbürgen die Wergeldklage Carta Senon. 51; Form. Sal. Bign. 8, 9; Form. Sal. Lindenbr. 19 (Zeumer S 280), wo durch gerichtliches Urteil auf Geldsühne erkannt wird. In Form. Lindenbr. 19 verspricht der befriedigte Kläger dem Beklagten Gewährschaft für den Fall, daſs aliquis ipso de hoc homicidio remallare voluerit. Aethelred II 6 § 1 verbietet die Verfolgung älterer Totschläge und anderer Friedensbrüche, indem er bestimmt, daſs niemand sie rächen oder dafür Buſse fordern solle: and nân man þæt ne wræce ne bôte ne bidde, eine Vorschrift, die voraussetzt, daſs an sich der Verletzte das Recht hatte die Buſse einzuklagen.

37 Daſs er dieses Wahlrecht nicht besaſs, ergiebt u. a. Rothari 74. Der langobardische König setzt höhere Buſsen auf Verwundungen: ut faida … post accepta conpositione postponatur et amplius non requiratur nec dolus teneatur sed sit sibi causa finita amicitia manentem. Hatte der Thäter die Wahl, ob er

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§ 21. Fehde und Buſse.

Wahl zwischen Buſse und allgemeiner Friedlosigkeit. Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen griff nur soweit platz, als die Rechtsordnung, wie dies bei den Friesen konstatiert ist, für Spezialfälle noch Lücken ihres Buſssystems aufwies und sonach eine gerichtliche Einklagung einer rechtlich fixierten Buſse unmöglich war.

In allen Fällen, in welchen die verletzte Partei die Fehde üben oder das Sühngeld einklagen konnte, war der Betrag des letzteren rechtlich fixiert. Das Sühngeld heiſst Buſse, gotisch bota, ags. und altnord. bôt, altsächsisch buota, althd. puoz, puoza38, lateinisch compositio oder mulcta. Im weiteren Sinne schlieſst sie auch das Wergeld in sich, das ja auch unter dem Namen Mannbuſse erscheint39. Doch werden im Mittelalter das Wergeld einerseits, die Buſsen im engeren Sinne andrerseits unterschieden. Wergeld und Buſsen wurden nicht in Metallgeld, sondern in Viehhäuptern und Viehwerten bezahlt. Nach Tacitus lautete das Urteil, durch das eine Buſse zuerkannt wurde, auf eine bestimmte Zahl von Viehhäuptern40. Tacitus nennt als Rechnungseinheit in erster Linie das Pferd. Doch scheint nach Anhaltspunkten, welche jüngere Quellen liefern, die Kuh der am meisten verbreitete Wertmesser für die Buſstaxen geworden zu sein41. Später begegnen uns durchweg zwei Reihen von Buſszahlen, nämlich Zahlen, die durch Teilung des Wergeldes entstanden sind, und solche, die auf eine bestimmte kleinere Grundzahl als Simplum zurückführen.

Neben dem Sühngeld, welches der verletzten Partei zuerkannt wurde, war in der Regel auch ein bestimmter Betrag an die öffentliche Gewalt oder an das Gemeinwesen zu entrichten, das Friedensgeld, in den lateinisch geschriebenen Quellen fretus, fredus, freda, gelegentlich auch pax oder poena pacis42 genannt, althd. fridu oder frida, fries. fretho. Bei den Angelsachsen begegnet uns dafür wîte, Strafgeld, bei den Dänen Englands lahslit (wörtlich legis violatio). Der fredus steht später nach manchen Rechten innerhalb, nach anderen

zahlen oder die Fehde tragen wolle, so muſste Rothari die compositio erniedrigen um die Fehde zu beschränken.

38 Grimm, WB II 570.

39 S. oben S 86.

40 Germ. c. 12: equorum pecorumque numero convicti mulctantur. Vgl. c. 21: tuitur … homicidium certo armentorum ac pecorum numero.

41 In der Runeninschrift des Forsaringes wird ein zweigiltiger (zwei Kühe werter) Ochse erwähnt. K. Maurer, KrV XX 146. v. Amira, Obligationenrecht S 444. Über das isländische Kuhgeld Wilda, Strafrecht S 331 f. und über das Viehgeld im allgemeinen Inama-Sternegg, Wirtschaftsgesch. I 181.

42 v. Richthofen, Fries. WB S 761.


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§ 21. Fehde und Buſse.

auſserhalb der compositio. Bei den Franken, Langobarden und Nordgermanen bildet das Friedensgeld eine Quote der gesamten compositio. Bei den Oberdeutschen, bei den Sachsen, Friesen und Angelsachsen wird es dagegen als fixer Betrag neben der Buſse angesetzt 43. Von diesen beiden Systemen ist das erstere als das ältere zu betrachten. Denn als pars mulctae bezeichnet Tacitus den an den König oder an die civitas fallenden Teil der compositio. Nur wenn der Verletzte auf compositio geklagt hatte, wurde ein Friedensgeld fällig und zwar ursprünglich als Preis für das Eingreifen der öffentlichen Gewalt in die Wiederherstellung des Friedens. Kam es zu einer auſsergerichtlichen Sühne, so brauchte ein Friedensgeld nicht bezahlt zu werden.

Buſse und Friedensgeld erscheinen nicht nur bei Unthaten, welche der verletzten Partei das Recht der Fehde gewähren. Vielmehr ist in den Quellen der fränkischen Zeit der Verletzte in der Regel auf den Buſsanspruch beschränkt und hat bloſs ausnahmsweise die Wahl zwischen Buſse und Fehde. Ursprünglich galt, wie oben bemerkt worden ist, das Fehderecht in gröſserem Umfang und manche Übelthaten, die nach den Volksrechten der folgenden Periode nur einen Buſsanspruch begründen, konnten in älterer Zeit auch auf dem Wege der Fehde verfolgt werden. Einen Fingerzeig giebt in dieser Beziehung die Thatsache, daſs der Anteil, welchen die verletzte Partei von der gesamten Buſse erhält, bei den Franken in einzelnen Fällen als faidus 44, daſs ein Teil der an die Partei fallenden Summe bei den Langobarden gelegentlich als faida bezeichnet wird 45. Dagegen muſs es aber auch schon in germanischer Zeit ein Herrschaftsgebiet der compositio gegeben haben, in welchem das Recht des Verletzten Fehde zu erheben von vornherein ausgeschlossen war. In gewissen Fällen, nämlich bei Thatbeständen, bei denen das Volksrecht das Vorhandensein böser Absicht ein für allemal ausschloſs, fiel der Anspruch der öffentlichen Gewalt auf das Friedensgeld hinweg und war nur dem Verletzten Buſse zu zahlen 46. Man kann, wie dies manche Neuere thun, die Rechtsverletzungen, die nur einen Anspruch auf compositio und kein Recht der Fehde begründeten, den

43 Sohm, Reichs- und Gerichtsverf. S 108 Anm 17.

44 Sohm a. O. S 107 Anm 16.

45 Liu. 127: ideo faida et anagrip menime conponere deuit. Vgl. Osenbrüggen a. O. S 8.

46 Die schwedischen Rechte nennen die Fälle, in welchen die Buſse ungeteilt an die verletzte Partei fällt, ensakir, Einsachen des Beschädigten. v. Amira, Obligationenrecht S 370.


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

eigentlichen Friedensbrüchen als Rechtsbrüche gegenüberstellen 47. Die Zahlung der Buſsen verbürgte die dem widerspenstigen Schuldner drohende Friedlosigkeit.

§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

S. die Litteratur zu § 21, insbes. Wilda, Strafr. der Germanen; v. Amira, Das altnorwegische Vollstreckungsverfahren; ferner derselbe, Zweck und Mittel der germ. RG S 57 f.; K. Maurer, KrV XVI 83; v. Richthofen, Zur Lex Saxonum, 1868, § 16: die Todesstrafen des sächs. Rechts; Thonissen, Mém. sur les peines capitales dans la législation mérovingienne, 1877.

Die Friedlosigkeit schlieſst den freien Volksgenossen von der Friedens- und Rechtsgemeinschaft aus. Den Ausgeschlossenen schirmt der allgemeine Friede nicht, er ist „friedlos“. Die Rechtsordnung ist für ihn nicht vorhanden, er ist exlex, angelsächsisch ûtlah, mittelniederdeutsch uutlagh, nordisch útlagr. Wie die Fehde die Feindschaft einer zur Rache berechtigten Sippe, bedeutet die Friedlosigkeit die Feindschaft allen Volkes 1. Der Mangel des Friedens und Rechtsschutzes stellt die negative, die Feindschaft der Gesamtheit die positive Seite der Friedlosigkeit dar.

Der Friedlose kann nicht bloſs, sondern er soll, weil er Feind des Volkes, von jedermann verfolgt werden. Wird er getötet, so liegt er buſslos. Wer ihn tötet, handelt im Interesse und im Namen der Gesamtheit, deren Willen er vollstreckt 2. In Staatswesen, in welchen einerseits das Gemeingefühl eine Abschwächung erfahren hatte, andrerseits aber die Strafe der Friedlosigkeit zu ausgedehnter Anwendung kam, sah man sich veranlaſst, von Staats wegen einen Preis auf den Kopf jedes Friedlosen zu setzen 3. Weil der Friedlose die Gesamtheit zum Feinde hat, ist es jedermann bei Strafe verboten, ihm Unterstützung zu gewähren, ihm Obdach oder Unterhalt zu geben, ihn zu speisen, zu hausen und zu hofen 4. Dieses Verbot gilt auch für die Bluts-

47 Vgl. v. Wächter, Beil. 79; Wilda S 268; K. Maurer, KrÜ III 30.

1 Der Friedlose heiſst daher in friesischen Rechtsquellen fath (faidosus) and frethelas. v. Richthofen, RQ S 186, 25. 188, 8. 190, 8. In dem angelsächsischen Gesetze, Edmund II 1 § 3 Feind des Königs und seiner Freunde, gefâh wiđ þone cyning and wiđ ealle his frŷnd.

2 v. Amira, Vollstreckungsverfahren S 40.

3 So auf Island. Wilda, Strafrecht S 282 f. Bei den Angels. K. Maurer, KrÜ III 38 Anm 2.

4 Lex Sal. 56: et quicumque eum aut paverit aut hospitalem dederit, etiam si uxor sua proxima, sol. 15 culp. iudicetur. Lex Sal. 55, 2. Cap. 1 zur Lex Sal. c. 5 (Hessels Tit. 70). Cap. 2 zur Lex Sal. c. 8 (Hessels Tit. 106). Lex Rib. 87.


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

verwandten und für das Eheweib des Friedlosen. Die Friedlosigkeit schneidet sowohl das rechtliche Band der Sippe 5 als auch das der Ehe entzwei. Der Friedlose hat die Blutsfreundschaft verwirkt. Die Frau wird rechtlich als Witwe, die Kinder werden rechtlich als Waisen angesehen.

Der Friedlose darf nicht im Kreise der Volksgenossen leben, „habitare inter homines“. Um dem Tode zu entgehen muſs er fliehen, wenn man ihn fliehen läſst. Drum ist die Heimat des Friedlosen der Wald. Waldgänger heiſst er im Norden 6. Homo qui per silvas vadit wird der schädliche Mann, der den Frieden verwirkt hat, in einem Gesetze des Frankenkönigs Chilperich genannt 7. Und noch in einem Landfrieden Friedrichs I. von 1187 klingt die uralte Auffassung durch, daſs der Wald der Zufluchtsort des Ächters sei 8.

Eine gemeinsame Bezeichnung des Friedlosen war warc, warg, wörtlich so viel wie der Würger, der Wolf 9. Wargus heiſst der Friedlose im ältesten salischen Volksrecht. Vearg nennen die Angelsachsen den zum Galgen oder zur Acht verurteilten Missethäter 10. Als warc erscheint der Teufel in dem althochdeutschen Gedichte vom

Rothari 5. Ine c. 30: der Keorl, der einen Flüchtigen (fliêma) beherbergt, gelte ihn mit seiner eigenen Were. Bracton III 2 c. 13 § 1. Frostuþíngslög 4, 41. Die Dingtalen von Delft in N. Bijdr. v. R. en W. 1878, S 44 des Sep.-Abdr., haben die allitterierende Formel: dat desen … woesten balling nyemant en huyse noch en hove, noch en meet (speise), noch en mael, noch en stout (stütze), noch en sterke by der hoechsten boete. Bei Orlers, Beschryving van Leyden, 1641, S 40 findet sich die verwandte Formel: dat niemant desen … ballinck en meet noch en mael, en put noch en pael, en scheep noch en streeck, en huyse noch en hove by der hochsten booten. Auf die widerrechtliche Unterstützung des Friedlosen setzen manche Rechte die Friedlosigkeit, so Roth. 5, die Frostuþíngslög a. O., Bracton III 2 c. 13 § 1.

5 Darum heiſst es in den Friedloslegungsformeln wohl auch: Ich nehme ihn seinen Freunden und gebe ihn seinen Feinden. Bunzlauer Formular bei Frauenstädt, Blutrache S 249. Der Friedlose wird nach Bracton a. O. auch frendlesman genannt, et sic videtur, quod forisfacit amicos.

6 K. Maurer, KrV XVI 85. v. Amira, Zweck und Mittel der germanischen RG S 48.

7 Ed. Chilp. c. 10, Cap. I 10.

8 Const. contra incendiarios von 1187, LL II 185. Hat sich der Brandstifter in die Burg seines Herrn, Vassallen oder Magen geflüchtet, so braucht dieser ihn nicht auszuliefern, sed iuvabit eum e castro in silvam vel alias, ubi securus sibi videatur.

9 Grimm, RA S 733. v. Amira, Zweck und Mittel S 46.

10 Im altsächs. Heliand heiſst der Galgen waragtreo, Verbrecherbaum. Als vearhtræf, Haus der Verdammten, wird in der angelsächs. Poesie die Hölle bezeichnet. Grein, Sprachschatz II 675.


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

Weltuntergang 11 und warag ist dem Verfasser des Heliand der Verräter Judas 12, da er sich entleibt. Im Altnordischen bedeutet vargr einerseits den Wolf, andrerseits den Friedlosen. Eine angelsächsische Quelle sagt von dem Friedlosen, er trage ein Wolfshaupt. Die Rechtssprache will damit zum Ausdruck bringen, daſs der Friedlose wolfsfrei sei, wie der Wolf als allgemeiner Feind von jedermann erschlagen werden könne und solle 13.

Die Friedlosigkeit ergreift nicht bloſs die Person, sondern auch das Vermögen. Hab und Gut des Friedlosen werden nicht etwa seinen Erben ledig, sondern verfallen von Rechtswegen dem König oder dem Gemeinwesen oder werden nach bestimmtem Verhältnis zwischen beiden verteilt 14. Auch der Verletzte, der die Friedloslegung erwirkte, erhält einen Anteil oder wird aus dem eingezogenen Vermögen des Friedlosen befriedigt. Mit Rücksicht auf die Wirkung, welche die Friedloslegung ausübt, sprechen jüngere Quellen von einer

11 Muspilli 39.

12 Heliand ed. Sievers Vers 5168.

13 Das Wort, welches den Friedlosen bezeichnet, bedeutet andererseits auch den gewerbmäſsigen Räuber. Nach einem Briefe des Apollinaris Sidonius (ed. Baret 1879) VI 3 von 471 wurden die latrunculi vargorum nomine benannt. Auch das langob. scamara (Roth. 5, Sich. et Joa. pactio von 836, Einleitung) gilt zunächst dem Friedlosen, in abgeleiteter Bedeutung dem Räuber, wie denn auch das italienische bandito soviel wie bannitus, Ächter ist. Über scamara s. Grimm, RA S 635, Gesch. der deutschen Sprache S 483 (695); Wilda S 465; Graff VI 497; Meyer, Sprache u. Sprachdenkmäler der Langob. S 303; Schmeller, Bayer. WB II 418.

14 Lex Sal. 56: et omnes res suas (regis) erunt (al. in fisco aut cui fiscus dare voluerit). Cap. 1 zur Lex Sal. c. 5: omnes res suas fiscus adquirat et illa aspellis faciat. Cap. 2 zur Lex Sal. c. 8. MG Dipl. M. 8: si quis . . contra hoc . . decretum . . agere voluerit . . quantamcunque possessionem habere videtur, legibus amittat et insuper exul et profugus a potestate totius regni nostri fugiens recedat. Nach einer friesischen Rechtsquelle Rh. RQ S 413, 6 soll der Schultheiſs des Friedlosen Gut besetzen to heerna hand ende to lioda wilker (zu des Herren Hand und des Volkes Willkür). Nach dem angels. Gesetze, Edmund II 1 § 3 verliert der Friedlose alles was er hat. Das norwegische und das dänische Recht sprechen das Ächtergut dem König zu. v. Amira, Vollstreckungsverf. § 4; Wilda S 288. Auf Island nimmt der Kläger den Ersatz zum voraus, den Rest teilt er mit den Dingmännern. Nach schwedischem Recht tritt eine Teilung des Ächtergutes zwischen dem König, der Hundertschaft und dem Kläger ein. v. Amira, Altschwedisches Obligationenrecht S 142. Das deutsche Reichsrecht unterscheidet zwischen Habe und Eigen. Jene wird endgiltig eingezogen. Den Grundbesitz können die Erben binnen Jahr und Tag unter gewissen Voraussetzungen aus der königlichen Gewalt herausziehen. Ssp Landr. I 38 § 2 und die von Homeyer zu dieser Stelle angeführte Litteratur.


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

Friedloslegung nicht bloſs der Person, sondern auch des Gutes 15. Die Friedlosigkeit tritt begrifflich schon durch die Unthat ein, auf die sie gesetzt ist. Allein dieser Grundsatz konnte nur im Falle der handhaften That zur unbeschränkten Durchführung gelangen, da andernfalls durch ein gerichtliches Verfahren konstatiert werden muſste, daſs die Voraussetzungen der Friedlosigkeit vorlagen. Das Tötungsrecht ist aus dem Gesichtspunkte der Friedlosigkeit für den Fall der handhaften That nachmals bei manchen Verbrechen gegeben, die sonst nur durch Buſszahlung gesühnt zu werden brauchten. Bei nicht handhafter That bedurfte es, um die vollen Wirkungen der Friedlosigkeit herbeizuführen, des Rechtsaktes der förmlichen Friedloslegung. Sie ist Verhängung und feierliche Verkündigung der Friedlosigkeit und erfolgte in der Landes- oder Gerichtsgemeinde, später durch den König. Die Friedloslegungsformeln, die aus jüngerer Zeit überliefert sind, enthalten regelmäſsig das Verbot, dem Friedlosen Obdach und Nahrung zu gewähren.

Das sächsische, das friesische, das fränkische Recht und nordische Zeugnisse kennen als Bestandteil der Friedloslegung ein in hohes Altertum hinaufreichendes Verfahren, welches zusammenwirkend mit dem Verbote des Hausens und Hofens den Friedlosen zwingt, die Gemeinschaft der Menschen zu fliehen und „das Andenken desselben aus der Gemeinde vertilgt“ 16. Der Friedlosgelegte wird nämlich verfolgt mit Brand und Bruch, mit Feuer und Brand, mit Feuer und Flamme, indem die Genossen der Gerichtsgemeinde sich zusammenscharen, um dem Missethäter Haus und Hof niederzubrennen oder niederzureiſsen. Ein fränkisches Kapitular für Sachsen von 797 bezeugt das Brandrecht als eine althergebrachte Einrichtung 17. Jüngere niederdeutsche Quellen erwähnen Bruch und Brand entweder als rechtlichen Bestandteil der Friedloslegung oder als selbständige Strafe 18.

15 v. Richthofen, Fries. RQ S 396, 36: so soll der Asega ihn friedlos legen und all sein Gut. Ähnlich S 417, 30. S. die Stellen bei Haltaus col. 522. Frostuþíngslög 4, 27; 5, 28: der ist friedlos (útlagr) und alles was er hat. Er fahre friedlos und jeder Pfennig seines Gutes (Hákonarbók 38). v. Amira, Vollstreckungsverfahren S 106 f.

16 Wilda, Strafrecht S 293.

17 Cap. I 72 c. 8: … condicto commune placito simul ipsi pagenses veniant; et si unanimiter consenserint, pro districtione illius causa incendatur; tunc de ipso placito commune consilio facto secundum eorum ewa fiat peractum.

18 v. Richthofen, Fries. RQ S 413, 36: nu deelt di aesgha dat nu hi toe brand ende toe breck deen is ende ferdloes leyd is. S. noch v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 306 Nr 2. Über das flandrische Brandrecht, droit d’arsin Warnkönig, Flandr. RG III 322. Cout. de Normandie, ed. Tardif 1881, I c. 37 (de


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

In holländischen Stadtrechten ist aus dem Niederbrennen der Were eine symbolische Handlung des Formalismus der Friedloslegung geworden, welche woestinge, Wüstung 19 genannt wird und darin besteht, daſs der Richter, während er die Formel der Friedloslegung spricht, dreimal eine brennende Fackel schwingt 20.

Ausgedehnten Gebrauch machen von der Friedlosigkeit die nordgermanischen Rechte zu einer Zeit, da sie bei den Westgermanen bereits in enge Grenzen eingeschränkt ist. Und zwar kennt das altnordische Recht zwei Hauptarten der Friedlosigkeit, eine strengere und eine mildere. Jene tritt bei sogen. úbótamál, bei buſslosen Thaten, diese bei minder schweren Übelthaten, bei den sog. útlegđarmál 21 ein. Die mildere Friedlosigkeit ist eine bedingte, denn sie giebt dem Friedlosen das Recht, sich durch Buſszahlung aus der Friedlosigkeit herauszuziehen, während ihm bei der strengeren Friedlosigkeit dieser Anspruch versagt ist. Letztere scheint das ältere Rechtsinstitut zu sein 22. Die mildere Friedlosigkeit mag als ein Erzeugnis

fugitivis): et domus eius comburatur, si in villa fuerit. Das in einer Burg oder Stadt gelegene Haus wird zunächst abgebrochen, dann auſserhalb verbrannt. Über das nordische Recht Wilda S 293. Dingtaal von Südholland Fruin, Dordrecht II 298: also N. alhier tuutlagens t’slants gheleit is mit allen recht, datmen an die weer rechten sal als men schuldich is te rechten mit breken ende mit brande. Orlers, Beschr. van Leyden S 39: Auf die Frage des Richters, wie er gegen den abwesenden Mörder weiter verfahren solle, antworten die Schöffen: met breckende ende met brandt ende ballinck te leggen. — S. noch Grimm, RA S 729; Geib, Strafr. S 234; die Litteratur bei Homeyer zu Ssp III 1, III 68 und Hasenöhrl, Österr. Landr. S 163.

19 Zu ahd. wuostan, alts. awôstjan vastare, verwüsten.

20 Anschaulich beschrieben in Mathijssens Rechtsbuch van den Briel ed. Fruin u. Pols S 187: Wenn der Richter mit Schöffen und Kläger vor den Stein (den Ort der Friedloslegung) kommt, so findet er daselbst Feuer und Stroh. Nach Weisung ergreift er dann ein vierbaken (eine mit Stroh umwundene und angezündete Stange oder ein brennendes Holzstück) und schwingt es dreimal über dem Haupte mit den Worten: hier woest ic ende legh ballingh (bannitum) tslans … NN. Nach Hugo Grotius, Inleyd. 3 c. 32 wird der Missethäter woestballingh gelegt met vier ende met brant. In wenig befriedigender Weise erklärt Nordewier, Regtsoudheden S 324, das woesten als in die Wüste treiben.

21 Utlegđ bedeutete ursprünglich die Friedlosigkeit überhaupt, wurde aber später technische Bezeichnung für die mildere Friedlosigkeit. K. Maurer, KrV XVI 85.

22 v. Amira, Vollstreckungsverfahren, betrachtet die bedingte Friedlosigkeit, die útlegđ im technischen Sinne, als Ausgangspunkt des altnordischen Strafrechtes, eine Auffassung, der sich Schröder, RG I 72. 75 angeschlossen hat. Dagegen ist nach K. Maurer, KrV XVI 106, die mildere Friedlosigkeit eine jüngere Bildung und hatte die älteste Zeit, abgesehen von den Strafen sakralen Charakters, nur Buſsen und die strenge Acht verfügbar, welch letztere auch dann zur An-


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

jüngerer Rechtsbildung teils einer Abschwächung der unbedingten Friedlosigkeit, teils einer bewuſsten Reaktion gegen die Ausdehnung der Blutrache ihre Ausdehnung verdanken 23. Während in den Buſsfällen der westgermanischen Rechte das Urteil stets auf das Versprechen der Buſszahlung lautet und die Friedlosigkeit erst verhängt wird, wenn der Schuldige die Erfüllung des Urteils hartnäckig verweigert, spricht im Norden das Urteil bei den útlegđarmál zunächst die Friedlosigkeit aus, gestattet aber dem Verurteilten, durch das Anerbieten der Buſszahlung den Frieden zu gewinnen. Diese resolutiv bedingte Friedlosigkeit steht auch auf Unthaten, welche wie der einfache Totschlag bei den Westgermanen ein Fehderecht des beleidigten Geschlechtes gegen den Missethäter und seine Sippe begründen. Die Friedlosigkeit des Totschlägers entzieht ihm von Rechtswegen den Beistand seiner Magen und schlieſst eine Befehdung derselben aus. Die Stelle des westgermanischen Fehderechts vertritt im Norden ein Recht der Rache, welches unter dem Gesichtspunkte der Friedlosigkeit bei handhafter That und innerhalb gewisser Beschränkungen in notorischen Fällen schon vor der Ächtung des Thäters gegen die Person desselben geübt werden darf. Die westgermanischen Rechte stehen, soweit sie die Geschlechterfehde als solche gestatten, auf dem älteren Standpunkte der historischen Entwicklung 24.

Weit beschränkter als in den nordischen Quellen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts ist das Herrschaftsgebiet der Friedlosigkeit in den deutschen Volksrechten der fränkischen Zeit. Sie tritt regelmäſsig als Folge des Ungehorsamsverfahrens ein, wenn der Missethäter die rechtmäſsige Sühne der Unthat verweigert. Andrerseits sind aber doch noch Spuren einer Friedlosigkeit vorhanden, welche als Folge der Unthat an sich gesetzt ist. Die angelsächsische Rechtssprache überliefert uns für solche Unthaten den Ausdruck ûtlages weorc 25. Nach dem Volksrechte der salischen Franken soll derjenige, der einen bestatteten Leichnam beraubt, friedlos, wargus sein, bis er

wendung kam, wenn die gerichtlich zuerkannte Buſse nicht bezahlt wurde. Für das höhere Alter der strengen Friedlosigkeit ist Karl Lehmann, Königsfriede S 189 ff. eingetreten. „Neben einem System schwerer Friedensbrüche kannte das ältere Recht jedenfalls bereits ein System leichterer Missethaten, welche Buſse an den Verletzten und Strafgeld an die öffentliche Gewalt nach sich zogen.“ A. O. S 191.

23 Selbst fiskalische Gesichtspunkte mögen ihr nicht fremd gewesen sein.

24 Auch der Norden muſs das westgermanische Fehderecht einstens gekannt haben. Sonst würde sich die Haftung der Magen für das verwirkte Wergeld kaum erklären lassen.

25 Knut II 13.


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

die Verwandten des Toten versöhnt hat und diese für ihn bitten, daſs es ihm gestattet werde inter homines accedere 26. Friedlos, aspellis 27 wird bei den Saliern auch eine Freie, die sich mit ihrem Knechte ehelich verbindet; doch ist in solchem Falle von einer Wiedergewinnung des Friedens nicht die Rede. Am nächsten steht den skandinavischen Rechten in der umfassenden Anwendung der Friedlosigkeit das altlangobardische Recht. Es verpönt eine nicht unerhebliche Anzahl von Unthaten mit der stereotypen Wendung: animae suae (oder mortis, sanguinis) incurrat periculum und zwar entweder unbedingt oder so, daſs der Thäter durch Zahlung einer Buſse sich die Sicherheit seines Lebens erkaufen kann 28.

Die hervorragende Rolle, welche die Friedlosigkeit einst bei allen Germanen gespielt haben muſs, schimmert durch die Ausdrücke hindurch, welche uns die alte Sprache für den Begriff verurteilen überliefert. Das Gotische hat das Verbum gavargjan für verdammen 29 und das Substantivum vargitha 30, Urteil, Verdammnis. Varg ist aber, wie oben ausgeführt worden, der Friedlose. Dem gotischen vargitha entspricht das in einem sächsischen Kapitular bezeugte altsächsische Wort wargida, condemnatio 31 und der Ausdruck vergđu, værgđu der angelsächsischen Poesie: Fluch, Verdammnis, Strafe 32. Die Verben

26 L. Sal. 55, 2. Die Sühne ist nicht ein Recht des Thäters, der Fall steht daher mit der útlegđarmal des norwegischen Rechtes nicht auf gleicher Linie. Anderer Ansicht Schröder, RG I 75.

27 Lex Sal. Hessels Tit. 70 (Cap. I c. 5). Aspellis von spel, parabola. Vgl. vorspellen für vorsprechen im Mittelniederländischen. Das Wort aspellis ist sonach als extra sermonem (regis posita) zu erklären, s. oben S 147. Eine eigentliche Friedlosigkeit des Weibes ist den germanischen Rechten im allgemeinen unbekannt. Nach nordischen Rechten wird das Weib nicht friedlos gelegt. Das anglonormannische Recht überliefert in Bracton III 2 c. 11 den Satz: foemina utlagari non potest. Denselben Sinn scheint es zu haben, wenn der sog. Ariprand, Lombardacommentare I 25 sagt: mulier plane fegangi esse non potest. Sit fegangi, fegangit sagt die langobardische Rechtssprache (Roth. 253. 291. 372, Grim. 9, Li. 147) von dem auf handhafter That ertappten Diebe und von der dem Gläubiger verfallenen Pfandsache (Cod. dipl. Lang. col. 128, 69 von 796). Eine befriedigende sprachliche Erklärung des Wortes ist bisher nicht gefunden worden. Der Zusammenhang, in dem es gebraucht wird, scheint auf Friedlosigkeit hinzuweisen. Wahrscheinlich ist das Wort aus fêh-gangi verderbt, und steht fêh feindlich im Sinne von friedlos. Siehe Osenbrüggen, Strafr. der Langobarden S 121.

28 Osenbrüggen a. O. S 28.

29 2. Kor. 7, 3; Röm. 8, 3. Gavargjan dauþau, zum Tod verurteilen Marc. 10, 33.

30 2. Kor. 3, 9; Gal. 5, 10; Röm. 8, 1. 13, 2.

31 Capit. Saxon. von 797 c. 4, I 71.

32 Grein, Sprachschatz der ags. Dichter II 662. Ags. vergian, vergan heiſst maledicere und damnare.


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

got. afdomjan, ahd. farwâzan, alts. forwâtan 33 werden einerseits für verurteilen, andrerseits für verfluchen gebraucht 34.

Die Friedlosigkeit schlieſst in ältester Zeit die Tötung und die Verbannung, die Strafknechtschaft, die Vermögenseinziehung und den Hausbrand in sich, die sich später als selbständige Strafen von ihr abgespalten haben. In engem geschichtlichen Zusammenhange steht die Friedlosigkeit mit den Todesstrafen. Man darf die Friedloslegung geradezu als das Todesurteil einer Rechtsgenossenschaft bezeichnen 35, welche die Verfolgung und Tötung des Verbrechers nicht bestimmten Polizeiorganen, etwa beamteten Schergen, sondern sämtlichen Rechtsgenossen überläſst. Nach den nordischen Rechten sollte das Todesurteil, welches die Friedloslegung enthielt, erst binnen einer gewissen Frist wirksam werden. In der Regel gönnte man dem Verurteilten die Zeit zur Flucht. Er sollte erst getötet werden dürfen, wenn das Gericht beendigt war, welches die Friedlosigkeit ausgesprochen hatte. Offenbar sollte die Situation des Angeklagten nicht dadurch verschlimmert werden, daſs er sich freiwillig vor Gericht stellte. Andernfalls hätte man auf das Fernbleiben des Schuldigen eine Prämie gesetzt. Wurde die Frist zur Flucht versagt 36 oder wurde der Missethäter auf handhafter That ertappt, so setzte sich die Friedlosigkeit thatsächlich sofort in die Todesstrafe um. Gegen den flüchtigen Verbrecher war — wenn wir uns in ein Gemeinwesen ohne Polizei hineindenken — ein Todesurteil nur in der Form der Friedloslegung wirksam, weil erst durch diese der einzelne Volksgenosse die Erlaubnis erhielt, den Missethäter zu verfolgen, sich seiner zu bemächtigen, ihn zu töten. Eine Beschränkung der allgemeinen Tötungsbefugnis, wie sie mit der Friedlosigkeit ursprünglich regelmäſsig gegeben war, hebt an sich den Begriff der Friedlosigkeit nicht auf. Jüngere Quellen kennen eine Friedlosigkeit, die sich nur in dem allgemeinen Rechte der Festnahme des Verurteilten äuſsert 37 oder die Tötung dem Verletzten

33 Farwâzanî, altniederd. farwâtanussî = anathema, exsecratio. Verdoemen ende verwaten in Reinaert 853. Ebenda 2734: met enen verwatenen ballinghe. Die althochd. Glosse Steinmeyer u. Sievers I 275, 38 übersetzt condemnabitur mit fartribaner wirdit.

34 Fluchen ist nach Grimm, WB III 1829 seiner Grundbedeutung nach so viel wie verstoſsen, nach Kluge, WB S 85 beklagen.

35 Mit dem Vorbehalte, daſs die Vollstreckung der Friedlosigkeit kein wahres Rechtsverfahren ist. Vgl. unten S 183, Anm 21.

36 So nach norwegischem Rechte wegen des im Ding verübten Totschlags. Wilda, Strafr. S 285.

37 Diesen Charakter hat die Verfestung des Ssp und der verwandten Rechtsquellen. Sie ist Friedloslegung, denn sie nimmt innerhalb des Bezirks des ver-


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

oder dem Richter und seinen Organen oder jenem und diesen vorbehält 38.

Vereinzelte Rechtsgrundsätze, welche die Quellen der fränkischen Zeit für die Todesstrafe aufstellen, weisen darauf hin, daſs sie aus der Friedlosigkeit ihren Ursprung genommen habe. Wie die Friedlosigkeit kann die Todesstrafe gegen Geldzahlung erlassen werden. Verbrechen, die sonst durch compositio gesühnt werden dürfen, werden im Fall der handhaften That mit dem Tode bestraft 39. Wie mit der Friedloslegung ist auch mit dem Todesurteil nach fränkischem Rechte die Konfiskation des Vermögens verbunden 40. Laut einer jüngeren, aber durchaus glaubwürdigen Nachricht muſste nach fränkischem Rechte der Aberkennung des Lebens die utlagatio vorausgehen 41. Wo später von Todesstrafen die Rede ist, werden sie nicht selten unter Ausdrücken erwähnt, welche sie als Vollstreckung der Friedlosigkeit erscheinen lassen 42. Auf engen Zusammenhang zwischen

festenden Gerichtes den gemeinen Frieden und hat die Bedeutung eines provisorischen Todesurteils. Planck, Gerichtsverf. II 299. 300.

38 Brieler Rechtsbuch, ed. Fruin S 188. Jüt. Low II 22. Frostuþíngsl. III 9.

39 Mit Recht bemerkt K. Maurer, KrÜ III 56 Anm 5, daſs dieses Vorkommnis sich unter der Voraussetzung einer Ableitung der Todesstrafe aus früherer Friedlosigkeit, aber auch nur unter dieser Voraussetzung leicht erklärt. S. noch K. Maurer, KrV XVI 90.

40 Cap. Sal. I c. 6 (Hessels Tit. 71): morte damnentur et res ipsorum fiscus adquirat. Cap. Aquisgr. v. J. 809, I 148: de illis hominibus, qui propter eorum culpas ad mortem diiudicati fuerint et postea vita eis fuerit concessa .. c. 1: nullam potest facere repetitionem, quia omnes res suae secundum iudicium Francorum in publico fuerunt vocatae. Lex Rib. 69: de vita conponat et omnes res suas fisco censeantur. Dagegen (eine Neuerung im Verhältnis zum älteren Rechte) Rib. 79: omnes res suas heredes possedeant.

41 Wenn es im Ssp Landr. III 54 § 4 heiſst, der Franke könne sein Leben nicht verwirken, er werde denn auf handhafter That gefangen oder es sei ihm sein fränkisch Recht „verdelet“, so wird damit eben nur betont, daſs die Verhängung der Todesstrafe die Friedlosigkeit voraussetzt, welche im Fall der handhaften That ipso iure eintritt, sonst aber ausdrücklich ausgesprochen werden muſs.

42 Gawargjan dauþau heiſst bei den Goten zum Tod verurteilen. Waragtreo der Galgen. S. oben Anm 10. Ags. vearg, der zum Galgen und der zur Acht verurteilte Missethäter. Von dem Frauenräuber sagt die Decretio Childeberti c. 4, I 16: vitae periculum feriatur. Jedermann verfolge ihn als einen Feind Gottes. Der Graf des Gaues, in welchem die That begangen wurde, töte ihn und er liege buſslos. Erreicht der Entführer mit der freiwillig Entführten das Asyl einer Kirche, so sollen beide exiliert, also die Friedlosigkeit durch Verbannung, nicht durch Tötung vollstreckt werden. Marculf II 16: unde (wegen Frauenraub) vitae periculum incurrere debui; sed intervenientes sacerdotes vel bonis hominibus vitam obtenui. Vgl. noch Lindenbrog Form. 16. 20 Zeumer S 277. 281.


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

Friedlosigkeit und Todesstrafe weist es auch hin, wenn die Satzungen, die letztere androhen, es unterlassen eine bestimmte Todesart auszusprechen 43, wenn das Urteil schlechtweg auf Tod ohne Angabe der Todesart lautet und wenn es Sache der Exekutivgewalt, des Königs oder des Richters oder wenn es nach jüngeren Quellen Befugnis des jüngsten Schöffen oder gar des Henkers ist, die Todesart zu bestimmen 44.

Wohl noch innerhalb des Systems der Friedlosigkeit entfaltete sich bei den Germanen ein sakrales Strafrecht, welches schändliche und sündhafte Thaten zur Versöhnung der Götter mit dem Opfertode bestrafte. Tacitus berichtet in unzweideutiger Weise, daſs die Germanen neben den Buſsen, durch welche leichtere Vergehen gesühnt wurden, die Todesstrafe kannten. Verräter und Überläufer seien aufgehängt, Feiglinge und durch unnatürliche Laster Befleckte in Schlamm und Moor lebendig begraben worden 45. Aus jüngeren sächsischen und friesischen Quellen können wir zurückschlieſsen, daſs u. a. auch die Verletzung der Heiligtümer 46 und schädliche Zauberei 47 als todeswürdige Verbrechen, erstere durch Ertränken, letztere durch Verbrennen bestraft wurden. Altsachsen und Angelsachsen und ebenso die Nordgermanen wendeten die Todesstrafe in gröſserem Umfange an, letztere 48 vielleicht als Strafe für alle Verbrechen, die sie als Neidingswerke (níđingsverk), d. h. als Schurkenwerke zusammenfaſsten. Die Todesstrafen der germanischen Zeit waren sakraler Natur 49. Bei den Nordgermanen ist uns der Charakter der Todesstrafe als eines den Göttern dargebrachten Menschenopfers sicher bezeugt. Beispielsweise wurde Mördern am Opfersteine der Rücken gebrochen, wurden Verbrecher in einen Opfersumpf gestürzt. Den Opfertod kannte auch

43 Wilda, Strafrecht S 499.

44 Siegel, RG S 405.

45 Germ. c. 12: licet apud concilium accusare quoque et discrimen capitis intendere. distinctio poenarum ex delicto. proditores et transfugas arboribus suspendunt, ignavos et imbelles et corpore infames caeno ac palude iniecta insuper crate mergunt. diversitas supplicii illuc respicit, tamquam scelera ostendi oporteat dum puniuntur, flagitia abscondi.

46 v. Richthofen, Zur Lex Saxonum S 229 ff.

47 Aus Cap. de part. Sax. c. 6 I 68 geht hervor, daſs die Sachsen Zauberer und Hexen verbrannten. Vgl. Rothari 376 und Lex Sal. 64, 3.

48 K. Maurer, KrV XVI 86.

49 v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 207 f.; Untersuchungen II 453 f. Waitz, VG I 424 Anm 4. Wilda, Strafr. S 155. K. Maurer, Bekehrung des norweg. Stammes II 196. 218; KrV XVI 86. v. Amira, Zweck u. Mittel S 58 f. Schröder, RG S 71.


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§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.

das friesische Recht 50, ja ein merkwürdiger Rechtssatz einer zu Anfang des neunten Jahrhunderts entstandenen Rechtsaufzeichnung der chamavischen Franken läſst vermuten, daſs auch die Franken einstens den rückfälligen Dieb den Göttern zu opfern pflegten 51. Es ist eine für die Geschichte des germanischen Strafrechtes hochwichtige Frage, ob wir die Menschenopfer unter den Gesichtspunkt eines Systems öffentlicher Strafen zu bringen haben oder ob sie sich in den Rahmen der Friedlosigkeit einfügen lassen, etwa in der Weise, daſs dem Verbrecher, sofern nicht handhafte That vorlag, zunächst der Friede, die Mannheiligkeit abgesprochen wurde, während die Vollstreckung der Friedlosigkeit aus religiösen Gründen den Priestern vorbehalten war. Wie sonst die Feindschaft oder der Zweck, den Friedlosen unschädlich zu machen, die Tötung des Verbrechers veranlaſste, so stand etwa bei sündhaften Thaten die Vollstreckung der Friedlosigkeit unter dem religiösen Gesichtspunkt, daſs der Verbrecher dem Zorne der Götter als Opfer verfallen sei. Man mag davon absehen, daſs nicht bloſs Verbrecher, sondern auch Gefangene und Sklaven zu Menschenopfern verwendet wurden, und der Opfertod hier nicht den Charakter der Strafe haben konnte. Bedeutsam ist aber, daſs wenigstens bei den Westgermanen dem Opferakte die Anwendung eines Ordals vorausging, welches nicht zu Beweiszwecken diente, sondern den Willen der Götter erkunden sollte, ob ihnen der bereits überführte Verbrecher oder der gefangene Feind als Opfer genehm sei 52. Fielen die Lose

50 Lex Fris. add. 11. S. unten § 45.

51 Lex Cham. c. 48. S. unten Anm 52.

52 Zur Befragung der Götter finden wir in dieser Hinsicht das Los- und das Feuerordal bezeugt. Bei Caesar, De bello gall. I 53 erzählt Valerius Procillus, der in Ariovists Hände gefallen war, se praesente de se ter sortibus consultum dicebat, utrum igni statim necaretur an in aliud tempus reservaretur. Von den sächsischen Seeräubern, welche die gallischen Küsten plünderten, berichtet ein Brief des Apollinaris Sidonius, sie hätten von den Gefangenen den zehnten Mann, den das Los bestimmte, den Göttern geopfert. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 204. Über das Schicksal Willebrords und seiner Genossen, die auf Helgoland das Heiligtum verletzt hatten, befragte König Redbad dreimal das Los, et nunquam damnatorum sors super servum Dei cadere potuit. v. Richthofen, Untersuch. II 401. Von Willehad, der die Götter der Friesen gelästert hatte, sagt dessen vita: secundum morem gentilium missa est sors super eo vivere an mori debuisset. Mon. Germ. SS II 380. 381. v. Richthofen, Untersuch. II 376. Noch die Lex Cham. kennt c. 48 eine Anwendung des Feuerordals, die nicht dem Beweisverfahren dient. Si fur de septem latrociniis comprobatus fuerit, exiet ad iudicium. Si ibi incenderit, tradant eum ad mortem. Wenn er sich nicht verbrennt, tunc liceat suo seniori . . pro eo emendare ac de morte liberare. Der Dieb ist bereits überführt. Das Ordal soll nur entscheiden, ob die That mit dem Tode oder durch Buſszahlung zu sühnen sei.


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§ 23. Der Rechtsgang.

zu Gunsten des Verbrechers oder überstand er unversehrt das Feueroder Wasserordal, so äuſserte sich die Friedlosigkeit in anderer Form; man mochte den Verbrecher in die Knechtschaft verkaufen oder das Land fliehen oder aber den Frieden durch Zahlung des Wergeldes gewinnen lassen. War das Ergebnis des Ordals ein ungünstiges, so stellte sich die Tötung als Erfüllung des göttlichen Willens dar und konnte sonach nicht die unmittelbare Vollziehung eines auf Todesstrafe lautenden Urteils sein. Als Todesstrafe im Sinne eines Systems öffentlicher Strafen, als eigentliches Rechtsverfahren wird man daher den Opfertod kaum bezeichnen, sondern darin nur den Ansatz zur Entwicklung eines wahren Strafrechts erblicken können.

Mit der Christianisierung der deutschen Stämme war der Fortbildung des sakralen Strafrechtes die Grundlage entzogen. Wie später im Norden der Opfertod durch andere Strafen ersetzt wurde, so trat auch bei den meisten deutschen Stämmen, als die Ideen des Christentums zur Herrschaft gelangten, eine weitgehende Beschränkung der Todesstrafe ein. In Gallien hatte die Kirche schon in vorfränkischer Zeit sich bestrebt, die Anwendung der Todesstrafen des römischen Rechtes durch die Praxis der Sühnverträge zu ersetzen 53. Das älteste Volksrecht der salischen Franken macht von der Androhung des Todes nur in sehr wenigen Fällen Gebrauch 54. Vermutlich hatte man, weil die Erinnerung an die Menschenopfer des Heidentums noch zu lebendig war, die Todesstrafen durch Wergelder und hohe Buſsen ersetzt.

§ 23. Der Rechtsgang.

Rogge, Über das Gerichtswesen der Germanen, 1820. G. Lud. Maurer, Geschichte des altgerm. und namentlich altbair. Gerichtsverfahrens, 1824. H. Siegel, Geschichte des deutschen Gerichtsverfahrens, 1857. v. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs des gemeinen Rechts IV, 1868. Sohm, Der Proceſs der Lex Salica, 1867. Behrend, Zum Proceſs der Lex Salica, (Festgaben für Heffter) 1873. Konrad Maurer, Das Beweisverfahren nach deutschen Rechten, KrÜ V 180. 332. Heinrich Brunner, Entstehung der Schwurgerichte, 1872. v. Amira, Über salfränkische Eideshilfe, Germania 1875, XX 53. R. Loening, Der Reinigungseid bei Ungerichtsklagen, 1880. Konrad Cosack, Die Eidhelfer des Beklagten nach ältestem deutschem Recht, 1885. Majer, Geschichte der Ordalien, 1795. Wilda, Ordalien, in Ersch und Grubers Encyklopädie, Sekt. III Bd IV S 453 ff. Konrad Maurer, Das Gottesurteil im altnordischen Rechte, Germania XIX 139 ff. Homeyer, Über das germ. Losen,

53 Esmein, Mélanges d’histoire du droit, 1886, S 361 f.

54 Lex Sal. 50, 4. 51 gegen den Grafen, 13, 7 gegen litus und puer regis, 40, 5 gegen den Unfreien. Siehe Thonissen, Organisation, 1. Aufl. 1881, S 163 ff.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 12


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§ 23. Der Rechtsgang.

Monatsber. der Berliner Akad. 1853 S 747. Dahn, Studien zur Geschichte der germ. Gottesurtheile, Bausteine II, 1880. W. Unger, Der gerichtliche Zweikampf, 1847. Ebbe Hertzberg, Grundtrækkene i den ældste Norske Proces, 1874. Karl Lehmann, Der Königsfriede der Nordgermanen, 1886, S 13. 111.

Der Begriff des Rechtsganges ist weiter als der des Gerichtsverfahrens. Er schlieſst jede in rechtmäſsiger Form sich bethätigende Geltendmachung verletzter Rechte in sich, auch diejenige, welche den Weg erlaubter Selbsthilfe beschreitet. Soweit letztere sich als rechtmäſsige Fehde äuſsert, ist sie schon oben § 21 zur Sprache gekommen.

Für den Rechtsgang der germanischen Zeit fehlt es uns an allen gleichzeitigen Nachrichten; doch gestattet die kritische Vergleichung der Prozeſsinstitute, welche uns jüngere Quellen vor Augen führen, auf gewisse Grundlagen zurückzuschlieſsen, die den verschiedenen deutschen Stämmen im Rechtsgange von altersher gemeinsam waren.

Zu diesen Grundlagen zählen die Öffentlichkeit und die Mündlichkeit des Verfahrens, das Walten der Verhandlungsmaxime und die strenge Herrschaft der Form. Vermöge der Verhandlungsmaxime war das Ermessen des Gerichts in die denkbar engsten Grenzen gebannt und bildete die selbständige Parteihandlung den eigentlichen Schwerpunkt des Rechtsganges. Dieser bewegt sich zum groſsen Teile auſserhalb des Gerichts, so daſs das Verfahren vor Gericht nur ein einzelnes Stadium des Rechtsganges ausmacht; ja es giebt Formen des Rechtsganges, welche sich unter Umständen durchaus auſsergerichtlich abwickeln, der gerichtlichen Ingerenz völlig entbehren können. Enge verschwistert mit der unbeschränkten Durchführung des Verhandlungsprinzips war die rechtsförmliche Gestaltung des Verfahrens. Jeder Rechtsgang bedarf einer Zwangsgewalt, welche eine bestimmte Ordnung des Verfahrens verbürgt. Wo wie im germanischen Prozeſsrechte das Gericht der dazu erforderlichen Machtfülle entbehrte, muſste der Zwang der Form das Verfahren in festem Geleise halten. Die selbständigen Parteihandlungen waren als Formalakte ausgestaltet, sie muſsten, um prozessualisch wirksam zu werden, gewissen Formvorschriften genügen. Für das gesprochene Wort galt, da es an einem Organe zur freien Auslegung der Parteierklärungen fehlte, der Grundsatz der strikten Buchstabeninterpretation. Der altdeutsche Rechtsgang zeichnete sich durch einen einfachen aber groſsartigen Formalismus aus. Er stellte sich zugleich als ein Verfahren strengen Rechtes dar, da Formverstöſse und fehlerhafte Erklärungen unheilbar waren, in ihren nachteiligen Wirkungen nicht wieder gut gemacht werden konnten. Nichts ist daher unrichtiger als die Ansicht, daſs in


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§ 23. Der Rechtsgang.

ältester Zeit die Rechtshändel mit billiger Berücksichtigung des einzelnen Falles in gemütvoll patriarchalischer Weise entschieden worden seien.

Das gerichtliche Verfahren bezweckt, soweit es sich um sühnbare Rechtsverletzungen handelt, an Stelle des Streites einen Vertrag, eine Sühne der Parteien zu setzen. Durch das Urteil des Gerichts wird den Parteien auferlegt, einen Sühnevertrag abzuschlieſsen, indem es den Inhalt desselben näher bestimmt. Das Urteil wird daher selbst als Sühne, sôna, suona 1, der iudex als Sühner, sôneo, sônari, iudicare als sônjan, gasônjan 2 bezeichnet. Vorbild der gerichtlichen Sühne dürfte die auſsergerichtliche Sühne gewesen sein. In Fällen, in welchen eine solche nicht zustande kam, machte die von dem Verletzten angerufene Gesamtheit einen Sühnezwang geltend. Wer sich weigerte, die durch das Urteil auferlegte Sühne einzugehen, wurde aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen und damit zum Feinde des Gemeinwesens erklärt.

Die Einleitung des Verfahrens ist Sache des Verletzten. Sie geschieht regelmäſsig durch auſsergerichtliche Ladung, welche als rechtsförmliche Parteihandlung vom Kläger in Gegenwart von Zeugen in der Wohnung des Beklagten vollzogen wird. Die fränkischen Quellen überliefern uns dafür die technische Bezeichnung mannire (manôn), mannitio (Mahnung).

Vor Gericht bringt der Kläger seine Klage unter Anrufung der heidnischen Götter 3 in rechtlich hergebrachten Formen vor. Althochdeutsche Glossen haben für klagen die Ausdrücke mahalan, stowan, sachan, harên, zîhan, klagôn 4. Die Klage heiſst mâlî, mahalizze, stowunga, sachunga, chlagunga, anasprâcha, ziht, ags. tiht. Während er die Klagformel spricht, hält der Kläger einen Stab in der Hand, eine Förmlichkeit, nach welcher klagen auch bestaben (bistabôn 5) und stabsagen (stapsakên 6) genannt wird. Auf die Klage

1 Schade, Ahd. WB s. v. sôna. Graff, Ahd. Sprsch. VI 242. Sôna wird in zahlreichen daselbst verzeichneten Glossen mit iudicium, sententia zusammengestellt. Praeiudicium heiſst furisôna. Tribunal suonstuol. Suonatac ist dies iudicii (tuomtac) Grimm, RA S 749. Vgl. suona, suonari in Muspilli 6. 74. 78 u. ö.

2 Graff a. O. VI 243. 244.

3 Siegel, Gerichtsverfahren S 118 f. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 26 Anm 6.

4 Grimm, RA S 854 f.

5 Graff VI 612. Für Klage accusatio findet sich die Glosse ruagstab, für controversia widarstab. Graff a. O.

6 Decreta Tassil. Niuh. 6. Nach der aus dem 12. Jahrh. stammenden Ordalienformel bei Zeumer, Form. S 628, welche dem Wasserordal eine formelhafte Wieder-

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§ 23. Der Rechtsgang.

hin ist es der Kläger selbst, der den Beklagten in feierlicher Weise auffordert, die Antwort abzugeben. Die fränkischen Volksrechte haben für diese Aufforderung die technische Bezeichnung tanganare 7. Wenn der Beklagte sich verteidigt, so muſs seine Antwort, ahd. werî 8, antsegida, ags. andsæc, die Klage in ihrem vollen Inhalte Wort für Wort negieren, da nach dem Grundsatze der Buchstabeninterpretation das nicht Negierte für zugestanden erachtet wird.

Das gerichtliche Erkenntnis, gemeingermanisch Dom 9, westgermanisch Urteil 10 genannt, wird nach den deutschen Stammesrechten vor dem Beweisverfahren gefällt. Macht die Verteidigung des Beklagten ein solches notwendig, so bildet die Beweisfrage einen Bestandteil des durch das Urteil auferlegten Sühnevertrags. Hat z. B. der Beklagte zu beweisen, so gebietet ihm das Urteil zu geloben, daſs er den auferlegten Beweis leisten oder den Anspruch des Klägers erfüllen werde 11.

Die Eigenart des germanischen Beweisrechtes erklärt sich aus der Thatsache, daſs der Beweis in vorhistorischer Zeit der freien Vereinbarung der Parteien unterlag und daſs der Beweisvertrag aus der auſsergerichtlichen Beilegung der Rechtshändel in den gerichtlichen Rechtsgang herübergenommen wurde. Auf den freien Vertrag als die ursprüngliche Grundlage des Beweisrechtes weist die Eigentümlichkeit des ältesten salischen Rechtsganges zurück, daſs es im Belieben der Parteien stand, ein anderes als das von Rechtswegen erforderliche Beweismittel zu paktieren, an Stelle eines Gottesurteils einen Parteieid

holung von Klage und Antwort vorausgehen läſst, halten Kläger und Beklagter jeder einen Stab in der Hand, qui dicitur sunnestab (Wahrheitsstab?).

7 Die Abstammung des Wortes ist dunkel, dagegen sicher, daſs es drängen, treiben bedeutet. Das altfranzösische tangoner heiſst reizen, in jemand dringen. Tobler verweist mich auf folgende Belegstellen: Mir. de S. Eloi 94a: de tant con plus le vit paisible … de tant plus tangonnait (reizte er) le saint homme. Rom. d’Alixandre 160: Menüement tressaut (das Roſs), quant (der Reiter) un poi le tangonne. Gautier de Coinsy 634, 156: Et si parent tant le semonent, tant l’arguent, tant le tangonent (sich zu verheiraten).

8 Ahd. Gl. II 359, 14 (alamannisch): intentio et depulsio uerba rhetorica sunt id est accusatio et defensio sive impulsio et depulsio, barbarice mâlî unde uuérî.

9 Got. doms, altn. dômr, ags. und fries. dôm, ahd. tuom, tôm Satzung, Urteil, Gericht. Got. domjan, ahd. tuoman, ags. dêman, fries. dema, altn. dœma iudicare.

10 Urteili, alts. urdêli, fries. ordêl, ags. ordâl ist spezifisch westgermanisch. Zimmer, Ostgerm. und Westgerm., 1876, S 67 und Z f. DA XIX 461 ff.

11 Lex Sal. 56: si nec de compositione nec ineo nec de ulla legem fidem facere voluerit. Lex Al. Hlo. 36, 3: et wadium suum donet … ut in constituto die aut legitime iuret aut si culpaviles est componat.


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§ 23. Der Rechtsgang.

zu wählen 12. Aus einem auſsergerichtlichen Beweisgedinge erklärt sich der Ursprung des Beweises durch Geschäftszeugen. Bei Abschluſs eines Rechtsgeschäftes oder bei Vornahme eines sonstigen Rechtsaktes konnte sofort die Form vereinbart werden, in welcher der Beweis des Rechtsgeschäftes oder des Rechtsaktes zu erbringen sei, wenn sie hinterher bestritten würden. Die Kontrahenten zogen bei dem Abschluſs des Geschäftes Zeugen zu, indem sie verabredeten, daſs der Eid dieser Zeugen eventuell den Abschluſs und den Inhalt des Rechtsgeschäftes feststellen solle.

Da die Thätigkeit des Gerichtes sich darauf beschränkt, einen Sühnevertrag der Parteien zustande zu bringen, wird von dem gesamten Beweisverfahren nur der Abschluſs des Beweisvertrags — als ein Bestandteil des Sühnevertrags — in das Verfahren vor Gericht hineingezogen. Die Erfüllung des Beweisvertrags ist eine auſsergerichtliche Angelegenheit der paktierenden Parteien, mit welcher das Gericht als solches sich nicht weiter befaſst. Demgemäſs wird das Verhandlungsprinzip in seiner vollen Konsequenz auf das Beweisverfahren ausgedehnt. Der Beweis, welchen die Partei auf Grund des Urteils angelobt, wird von ihr nicht dem Gerichte, sondern dem Prozeſsgegner geliefert. Das Beweisverfahren ist der richterlichen Prüfung entzogen; die Stelle derselben vertritt gemäſs dem Walten der Verhandlungsmaxime die Herrschaft der Form im Beweisverfahren. Die Glaubwürdigkeit der Beweismittel beruht nicht wie nach dem modernen Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf der subjektiven Überzeugung des Gerichts, sondern auf dem Glauben, welchen die allgemeine Volksüberzeugung bestimmten beweisrechtlichen Handlungen beilegt. Die germanischen Beweismittel sind formaler Natur. Der aus der Volksüberzeugung hervorgehende Gesamtwille bestimmt ein für allemal die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Beweis für erbracht gelten könne. Eben darin beruht aber das juristische Wesen der Form, daſs die Gesamtheit ihren Willen und ihre Anschauungen über den Willen und die Anschauungen der Individuen stellt 13.

12 Lex Sal. 53.

13 Schwurgerichte S 48. Die Ausführungen Richard Loenings, Der Reinigungseid S 45 f. sind, soweit ich sie für zutreffend halten kann, im wesentlichen eine Umschreibung dessen, was ich a. O. und Verhandlungen des deutschen Juristentags IX 335 bemerkt habe. Daſs das germanische Beweisrecht formeller Natur sei, muſs ich nach wie vor behaupten. Freilich erklärt das Recht die Beweismittel nicht wegen ihrer Form an sich für beweiskräftig; allein dadurch, daſs es gewisse Handlungen in ihrer äuſseren Erscheinung als Beweismittel anerkennt, macht es sie zur


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§ 23. Der Rechtsgang.

Die im germanischen Rechtsgange anerkannten Beweisformen sind der Eid und das Gottesurteil. Beide beruhen auf religiöser Grundlage, nämlich auf dem Glauben, daſs den Göttern die Vergangenheit bekannt sei. Der Eid ist eine feierliche Beteuerung, welche für den Fall der Unwahrheit die göttliche Vergeltung auf den Schwörenden herabruft. Er wird als Parteieid oder als Zeugeneid geschworen. Der Parteieid ist entweder Eineid oder Eid mit Helfern. Im letzteren Falle, der die Regel bildet, schwört die Partei mit einer bestimmten Zahl von Mitschwörenden, consacramentales, coniuratores 14, welche ursprünglich aus dem Kreise ihrer Verwandten ausgewählt werden 15. Die Auswahl ist entweder ausschlieſslich Sache des Schwörenden oder es wird wenigstens ein Teil der Eideshelfer von dem Prozeſsgegner des Schwörenden aus den Sippegenossen des letzteren ausgewählt. Der Eid der Eideshelfer schlieſst sich an den Eid der Partei an und lautet dahin, daſs der von ihr geschworene Eid ein wahrer Eid, daſs er rein und unmein sei. Was die Eideshelfer veranlaſst, die Wahrheit des Parteieides zu beschwören, ob persönliche Wahrnehmung oder das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit des Schwörenden, haben sie mit ihrem eigenen Gewissen und ihrer eigenen Logik abzumachen 16. Nach auſsen hin bleiben die Gründe ihrer Überzeugung latent.

Die Gottesurteile oder Ordalien 17, ein allgemein indogermanisches Rechtsinstitut, setzen, soweit sie als Beweismittel zur Anwendung gelangen, voraus, daſs die Götter ihr Wissen um die Vergangenheit bei gewissen Handlungen offenbaren, und bestehen in der Befragung der Elemente des Feuers oder des Wassers, in der Befragung des Loses

Form. Es ist daher durchaus kein Fehlschluſs von einem formellen Charakter des germanischen Beweisrechtes zu sprechen.

14 Als deutsche Ausdrücke für Eideshelfer sind uns überliefert aidon Roth. 359, geidon (von gaeidjo) Gl. in Cap. I 91; hamedii a. O. und MG Dipl. Merow. 45, Nr 49. Die ältesten angelsächsischen Gesetze nennen den Eideshelfer æ̂wda, æ̂wdaman.

15 S. oben S 88. Das Erfordernis der Verwandtschaft ist neuerdings von K. Cosack, Die Eidhelfer des Beklagten, bestritten worden. Auf die Lage der Quellen soll erst bei Darstellung des Rechtsgangs der fränkischen Zeit eingegangen werden. Vorläufig sei nur konstatiert, daſs die Auswahl der Eideshelfer durch den Gegner des Schwörenden unbegreiflich bleibt, wenn er nicht auf die Verwandten desselben beschränkt war, da es sonst in seiner Macht gelegen hätte, durch die von ihm getroffene Auswahl den Beweis von vorneherein unmöglich zu machen.

16 Daſs der Eidhelfereid vom Standpunkte des älteren Rechtes nicht als ein bloſser Kredulitätseid aufzufassen sei, hat Cosack a. O. mit guten Gründen dargethan.

17 Ordal ist die angelsächsische Form für Urteil und wird von den Neueren zur Bezeichnung des Gottesurteils gebraucht.


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§ 23. Der Rechtsgang.

und in der Befragung des Kriegsgottes, als welche sich der Zweikampf darstellt, der im Rechtsgange nicht als eine prozessualisch geregelte Fehde, sondern als Beweismittel und zwar als Gottesurteil aufzufassen ist 18. Das Ordal dient übrigens im ältesten Rechte nicht bloſs als Beweismittel, sondern es wird auch angewendet, um den Willen der Götter zu erkunden, ob ihnen der bereits überführte Verbrecher oder der gefangene Feind als Opfer genehm sei 19.

Wie das Beweisverfahren war in ältester Zeit auch das Befriedigungsverfahren ein auſsergerichtliches. Eine wahre Exekution, eine gerichtliche Zwangsvollstreckung war dem altgermanischen Rechtsgange fremd. Wenn der Verurteilte die Befriedigung des Klägers in dem Sühnevertrage versprochen hatte, so konnte der Gläubiger unter Erfüllung gewisser Förmlichkeiten zur auſsergerichtlichen Pfändung des Schuldners schreiten und sich durch Pfandnahme befriedigen. Widerstand gegen die rechtmäſsige Pfändung war strafbar, buſslos dagegen die Verletzung, welche, um seinen Widerstand zu brechen, dem Schuldner zugefügt wurde. Nordische Rechte geben unter bestimmten Voraussetzungen wegen Nichterfüllung des Urteils eine Klage auf Friedloslegung des säumigen Schuldners 20. Die Friedloslegung trifft auch nach westgermanischen Rechten den Beklagten, der sich weigert, die Erfüllung des Urteils zu geloben, den durch das Urteil auferlegten Sühnevertrag abzuschlieſsen. Wird das Gut des Friedlosen gefront und zum Teile dem Kläger zugewendet, so liegt doch darin keine Exekution; denn das Verfahren gegen den Friedlosen ist, weil gegen einen Ungenossen gerichtet, kein Rechtsverfahren 21.

Besondere Grundsätze müssen für das Verfahren wegen todes-

18 Bethmann-Hollweg verzeichnet Civilprozeſs IV 25 Anm 2 einige Belege, daſs der Gedanke des Ordals von den Germanen auf Kampf und Krieg überhaupt ausgedehnt worden ist.

19 S. oben S 176.

20 Erst verhältnismäſsig spät ist dem Gerichtsverfahren von auſsen her eine wahre Zwangsvollstreckung angegliedert worden. Die Pfändung der Lex Salica steht noch auſserhalb des eigentlichen Gerichtsverfahrens und ist auf die Fahrhabe des Schuldners beschränkt. In Schweden war bis zum Ausgang des 12. Jahrh. der haftende Schuldner nur der auſsergerichtlichen Pfandnahme und der Friedlosigkeit ausgesetzt. v. Amira, Obligationenrecht S 109. 161. Ebenso stand es im altdänischen Rechte, Lehmann a. O. S 113. Auch das isländische Recht kannte keine direkte Exekution von Urteilen, die auf Geld und Gut lauteten, sondern gab dem Gläubiger wegen Nichterfüllung des Urteils eine Klage um dómrof, d. h. wegen Miſsachtung des Urteils, die auf Acht oder Landesverweisung gerichtet war. Konr. Maurer, Island S 195.

21 v. Amira, Obligationenrecht S 109.


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§ 23. Der Rechtsgang.

würdiger Verbrechen und für Klagen auf Friedloslegung des Gegners gegolten haben. Eigenartig gestaltete sich das Verfahren bei handhafter That, insofern dem Beklagten, den der Kläger gebunden und geknebelt vor Gericht brachte, das Recht der prozessualischen Gegenwehr versagt blieb, vielmehr dem Kläger gestattet wurde, mit seinen Eideshelfern die Schuld des Beklagten sofort zu beweisen. Ferner können wir aus den Quellen der folgenden Periode auf eine eigentümliche Gestaltung der später sogenannten Anefangsklage, der prozessualischen Verfolgung abhanden gekommener Fahrhabe zurückschlieſsen. Doch wird die zusammenhängende Erörterung dieser Prozeſsinstitution besser der Darstellung des Rechtsganges der fränkischen Zeit vorbehalten. Eine Sonderstellung hat endlich das Betreibungsverfahren wegen Vertragsschulden eingenommen. Hatte jemand durch Schuldvertrag in rechtsförmlicher Weise eine Leistung versprochen, so bedurfte es nicht erst eines gerichtlichen Urteils, welches dem Schuldner auferlegt hätte, die schuldige Leistung anzugeloben. Stand der Abschluſs des Schuldvertrags auſser Zweifel, so war es überflüssig, ein Urteil herbeizuführen, welches nur auf eine Erneuerung des alten Schuldversprechens hätte lauten können. Der Gläubiger war vielmehr auf Grund des auſsergerichtlich abgeschlossenen Schuldvertrags in derselben Lage, als hätte ihm der Schuldner auf Grund eines Urteils vor Gericht ein Erfüllungsversprechen gegeben. Wie letzteren Falles das Befriedigungsverfahren in ältester Zeit ein auſsergerichtliches war, so konnte der Gläubiger die Vertragsschuld durch einen völlig auſsergerichtlichen Rechtsgang betreiben, indem er den Schuldner in rechtsförmlicher Weise zur Zahlung aufforderte und sich nach mehrmaliger vergeblicher Mahnung durch Pfandnahme aus dem Vermögen des Schuldners befriedigte. Bestritt der Schuldner die eingeforderte Schuld, so muſste die Sache allerdings auf den Weg des gerichtlichen Verfahrens geleitet werden, denn dann bedurfte es eines gerichtlichen Urteils, welches auf Beweis beziehungsweise auf das Angelöbnis der Schuld erkannte.


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Zweites Buch. Die fränkische Zeit.


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Erster Abschnitt. Die allgemeine Rechtsgeschichte.

I. § 24. Das fränkische Reich.

Mascou, Gesch. der Teutschen II2, 1750. Löbell, Gregor von Tours und seine Zeit, 2. Aufl. mit Zusätzen von Bernhardt 1869. Arnold, Deutsche Gesch. II, fränkische Zeit, 1881. Nitzsch, Gesch. des deutschen Volks I, 1883. v. Ranke, Weltgeschichte IV. V. VI. Digot, Histoire du royaume d’Austrasie, 4 Bde 1863. Waitz, Deutsche Verfassungsgesch. II3, 1882, III2, 1883, IV2, 1885. W. Dönniges, Das deutsche Staatsrecht u. die deutsche Reichsverfassung, 1842. R. Sohm, Fränkische Reichs- u. Gerichtsverfassung, 1871. Edgar Loening, Das Kirchenrecht im Reiche der Merowinger, 1878. Gustav Richter, Annalen des fränk. Reichs im Zeitalter der Merowinger, 1873; im Zeitalter der Karolinger, 1. Heft bis 814, 1885. Jahrbücher des fränkischen Reiches: Bonnell, Anfänge des karol. Hauses, 1866; Breysig, Die Zeit Karl Martells, 1869; H. Hahn, 741—752, 1863; Oelsner, König Pippin, 1871; S. Abel, 768—788, 1866; B. Simson, 789—814, 1883; derselbe, Ludwig der Fromme, 2 Bde 1874. 1876.

Die Zwitterstaaten, welche die Ostgermanen auf römischer Erde bildeten, haben sich nach kurzer Blütezeit ausgelebt. Goten, Vandalen und Burgunder waren durch die Flut der Völkerwanderung am weitesten von der früheren Heimat abgetrieben worden. In den neuen Wohnsitzen waren sie auſserstande sich durch das Zuströmen frischer volksverwandter Kräfte zu ergänzen und verkümmerten sie an der römischen Kultur, mit der sie sich zu früh und zu rasch gesättigt hatten. Die Neugestaltung der abendländischen Welt, welche die ostgermanischen Reiche nur vorbereiten, nicht durchführen konnten, ist von dem Stamme der Franken vollbracht worden. Die Eroberung Galliens, welches das Kernland des weströmischen Reiches gewesen war, führte sie in das Erbe der christlich-römischen Bildung ein. Nach Sprache und Anlage etwa in der Mitte stehend zwischen Oberund Niederdeutschen waren sie berufen, die sämtlichen deutschen


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§ 24. Das fränkische Reich.

Stämme des Kontinents unter ihrer Herrschaft zu vereinigen und ihnen das Christentum sowie die selbständig verarbeiteten Überreste der antiken Kultur zu vermitteln. Deutsches Blut und deutsches Recht in die Reichsgebiete romanischer Zunge tragend haben sie diese mit neuen Lebensbedingungen erfüllt und so ein Staatswesen geschaffen, welches in der gleichmäſsigen Zusammensetzung aus germanischen und romanischen Bevölkerungsmassen sein hervorragendes Merkmal, in der gegenseitigen Berührung, Durchdringung und Abstoſsung derselben den wesentlichen Inhalt seiner Geschichte hat.

Die Reichsgründung ging von dem salischen Zweige der Franken aus. Nach der Besetzung Toxandriens 1, des Landes südlich und westlich der unteren Maas, dehnten die Salier, die unter römischer Oberhoheit und in der Schule des römischen Kriegsdienstes ihre hervorragende politische und militärische Begabung auszubilden verstanden, ihre Wohnsitze nach Süden aus, dem Lauf der Schelde folgend, welche sie vermutlich schon zu Anfang des fünften Jahrhunderts überschritten. Unter ihrem Könige Chlogio eroberten sie das römische Cambrai und erwarben sie um die Mitte des fünften Jahrhunderts das Land bis zur Somme. Die Ausbreitung des Stammes ging bis um diese Zeit Hand in Hand mit der fortschreitenden Besiedlung der besetzten Gebiete. Das Bedürfnis neuer Wohnsitze hatte ihn vorwärts gedrängt.

Dagegen gingen die Eroberungen, durch welche König Chlodovech (481—511) die eigentliche Gründung der fränkischen Monarchie vollzog, nicht mehr aus dem Wandertrieb des Volkes sondern aus der Initiative des Königtums hervor 2. Chlodovech war seinem Vater Childerich, der als Föderat den Römern in Gallien Kriegsdienste geleistet hatte, in das salische Teilkönigtum gefolgt, das in Tournay seinen Sitz hatte. Mit seinem Geschlechtsvetter König Ragnachar verbündet besiegte Chlodovech 486 den römischen Machthaber Syagrius, der als Sohn des letzten römischen Statthalters Egidius nach der Erhebung Odovakers ein Stück von Gallien in selbständiger Herrschaft behauptet hatte. Die Frucht des Sieges war zunächst die Erwerbung des Gebietes bis zur Seine; etwas später wurde auch das Land zwischen Seine und Loire unterworfen. Im Jahre 496 unterlagen die Alamannen den fränkischen Waffen, unterwarfen sich und muſsten, wie es scheint, ihre nördlichen und westlichen Gaue vollständig ab-

1 S. oben S 43.

2 Sohm, Reichs- und Gerichtsverfassung S 35: „Die sämtlichen übrigen germanischen Reiche sind durch ein eroberndes Volk, das fränkische Reich ist durch einen erobernden König gegründet worden.“


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treten, während ein Bruchteil des Stammes im ostgotischen Reiche Schutz und Aufnahme suchte und fand. Indem Chlodovech sich mit etlichen Tausend seines Volkes zum Christentum bekehrte und zwar nicht zum Arianismus der Westgoten und Burgunder, sondern zum Katholizismus der römischen Provinzialen, zog er die wichtigste und leistungsfähigste Organisation des Romanentums, die lateinische Kirche, in das Interesse seiner Politik und machte er den gallischen Klerus, der ihn als Boten Gottes begrüſste, zum gefügigen Werkzeuge seiner Pläne. Als Vorkämpfer des Katholizismus griff Chlodovech das Reich der Westgoten an, welchen er 507—510 das Land zwischen Loire und Garonne entriſs 3. Aus einem Schreiben, das er in der Zeit des westgotischen Krieges an die Bischöfe Galliens richtete, geht hervor, daſs während desselben die katholischen Kirchen und Kleriker des feindlichen Gebietes im Frieden und im Schutze des Frankenkönigs standen 4. Zu Beginn seiner Laufbahn war Chlodovech nur König über einen Teil der salischen Franken; indem er die blutsverwandten Mitkönige ausrottete und sich von den Ribuariern nach Beseitigung ihres Königsgeschlechtes zum König erheben lieſs, erlangte er die Alleinherrschaft über den gesamten Stamm der Franken 5.

Nach dem Tode Chlodovechs teilten sich seine vier Söhne in das Reich, um die Eroberungspolitik ihres Vaters gemeinschaftlich fortzusetzen. Diese hatte an der Machtsphäre des Ostgotenkönigs Theoderich ihre Schranke gefunden, welche hinwegfiel, als das ostgotische Reich unter den Nachfolgern Theoderichs seine auswärtige Machtstellung einbüſste. Nunmehr vermochten die Franken Thüringen zu unterwerfen (531) und dem burgundischen Reiche (532) ein Ende zu machen. Der ostgotisch byzantinische Krieg trug ihnen die Provence und die Herrschaft über die Reste der Alamannen ein. Um die Mitte des sechsten Jahrhunderts stehen auch die Baiern in Abhängigkeit vom fränkischen Reiche.

So ging das Wachstum der Franken mit einer merkwürdigen Gesetzmäſsigkeit nach zwei verschiedenen Richtungen vor sich. Wie jeder Schwingung des Pendels eine entgegengesetzte entspricht, so

3 Das spätere Septimanien blieb damals durch die Intervention Theoderichs des Groſsen dem westgotischen Reiche erhalten.

4 In pace nostra (regis). Capit. ed. Boretius I 1.

5 Die Chatten müssen sich schon vor diesem Ereignis dem Reiche Sigiberts angeschlossen haben; denn Sigibert ging von Köln über den Rhein in die Buchonia, also in chattisches Gebiet, wo sein Sohn ihn töten lieſs. Unter den Franken, welche nach Sigiberts Tod Chlodovech zum König erhoben, waren also auch die Chatten inbegriffen. Waitz, VG II 53.


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§ 24. Das fränkische Reich.

findet bei der Ausbreitung des fränkischen Reiches jede Einverleibung romanischer Provinzen ihr Widerspiel in einem Zuwachs deutscher Volkskräfte, eine Erscheinung, die sich nachmals unter Karl dem Groſsen wiederholte, als im Süden das Langobardenreich, im Norden der Stamm der Sachsen unterworfen, im Westen die spanische, im Osten die avarische Mark errichtet wurden.

Auf die Zeit der kraftvollen Konstituierung des Reiches folgten die inneren Wirren und Thronstreitigkeiten unter den Söhnen und Enkeln Chlothars I. Der häusliche Zwist streute die Saat für das Emporwuchern einer trotzigen und selbstsüchtigen Aristokratie, er vertiefte den bei den Reichsteilungen beachteten Gegensatz zwischen Neustrien, dem überwiegend romanischen Neufranken, und dem fast ausschlieſslich deutschen Austrasien, er bahnte die Entwicklung an, durch welche die Hausmeier, ursprünglich königliche Hofbeamte, als Führer der Groſsen entscheidenden Einfluſs auf die Reichsverwaltung gewannen. Nach dem Tode Dagoberts I. (639), der letzten wirklichen Herrschergestalt des merowingischen Hauses, führte die Schwäche des Königtums allenthalben zur Ausbildung territorialer Sondergewalten. Das Reich schien dem Untergange nahe zu sein. Da gelang es einer jener Sondergewalten, dem austrasischen Herzogsgeschlechte der Arnulfinger, die Hausmeierwürde über das gesamte Reich zu erwerben. Im Namen des Königtums, das sie vertraten, wuſsten sie den Widerstand der territorialen Mächte zu brechen, die von den Arabern bedrohte Existenz des Reiches zu retten, die Grenzen durch Erwerbung Septimaniens und durch die Unterwerfung der West- und Mittelfriesen zu erweitern und im Innern wieder eine starke Staatsgewalt herzustellen. Als diese Aufgabe vollbracht war, beseitigte der letzte Hausmeier, Pippin, der Sohn Karl Martells, das merowingische Schattenkönigtum, indem er sich im November 751 von den Franken zum König erheben lieſs.

Der Übergang der königlichen Gewalt auf das Haus der Arnulfinger, welches nach seinem glänzendsten Vertreter auch das der Karolinger genannt wird, bezeichnet den wichtigsten Wendepunkt der fränkischen Geschichte. Zwischen der merowingischen und der karolingischen Epoche besteht ein tiefer innerer Gegensatz, der nicht übersehen aber freilich auch nicht, wie dies mitunter geschieht, überschätzt werden darf. Hatten die schwachen Merowinger die Provinzen zu einer Selbständigkeit gelangen lassen, welche den Bestand des Reichs in Frage stellte, so verfolgten die Karolinger das Ziel, die regionalen Gegensätze auszugleichen und die Regierung möglichst zu zentralisieren. Die Staatsgewalt dehnte ihre Aufgaben auf bisher unberührte Lebens-


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§ 24. Das fränkische Reich.

gebiete aus und begann ein Reichsrecht von unbeschränkter territorialer Geltung zu schaffen. Von kirchlichen Gesichtspunkten erfüllt, nahmen Verwaltung und Gesetzgebung einen Zug der Bevormundung an, welcher der merowingischen Zeit völlig fremd war. Während die merowingische Toleranz den ostrheinischen Stämmen gestattet hatte in heidnischem Glauben und heidnischer Sitte zu beharren, wurden sie unter den Karolingern von Staats wegen zum Christentum übergeführt und in die kirchlichen und gesellschaftlichen Ordnungen des Westens hineingezogen. Seit das Christentum als politische Grundlage der Reichseinheit verwertet und gefördert wurde, veränderte sich das Verhältnis des Staates zur Kirche. Diese wurde zur Mitwirkung an den unmittelbaren Staatsaufgaben berufen, nachdem sie durch eine Reform den Charakter der fränkischen Landeskirche eingebüſst hatte.

Das Geschlecht der Merowinger hatte einst in dem heidnischen Mythus seines göttlichen Ursprungs eine religiöse Stütze seines Herrscherrechtes besessen. Eine solche verschaffte sich auch Pippin, indem er zu seinem Staatsstreiche die Zustimmung des römischen Bischofs einholte. Kirchliche Weihe und Salbung sollten den Mangel der Legitimität ersetzen. Die neue Dynastie und das Papsttum traten sofort in engste Beziehung. Pippin zog auf Bitten des Papstes nach Italien gegen den Langobardenkönig Aistulf, welcher Rom bedrohte, entriſs ihm die Eroberungen, die er in den vom Papste beanspruchten, nominell noch zum oströmischen Reiche gehörigen Teilen Italiens gemacht hatte, und überwies sie dem Gemeinwesen des heiligen Petrus.

Auf den Höhepunkt seiner Macht erhob sich das fränkische Reich unter Karl dem Groſsen (768—814). Als die Langobarden unter König Desiderius die Feindseligkeiten gegen das päpstliche Gebiet erneuerten, unterwarf er sie und machte sich selbst zum König des Langobardenreiches. Seit dem 5. Juni 774 urkundet er als rex Francorum et Langobardorum, ein Titel, der die Sonderstellung des Langobardenreichs zum Ausdruck brachte, welches der fränkischen Monarchie nicht so enge wie die übrigen Provinzen angegliedert wurde. In dreiſsigjährigem Kampfe zwang er die Sachsen unter die Herrschaft der Franken und des Christentums, der nun auch die Ostfriesen unterworfen wurden. Die Unbotmäſsigkeit des Baiernherzogs Tassilos III. bot den Anlaſs, das letzte der in merowingischer Zeit selbständig gewordenen Herzogtümer zu beseitigen und Baiern dem Reiche wieder völlig einzuverleiben. In glücklichen Kriegen gegen Avaren und Araber gelang es, die Reichsgrenzen im Osten und gegen Südwesten vorzuschieben.


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§ 24. Das fränkische Reich.

Die Weltstellung, welche Karl hierdurch errungen hatte, die Schutzherrschaft, die er in Sachen der römischen Kirche ausübte, fanden ihren zeitgemäſsen Ausdruck in der Erneuerung des abendländischen Kaisertums. Zu Weihnachten 800 wurde Karl in Rom unter Akklamation des Volkes von Papst Leo zum Kaiser gekrönt und als solcher adoriert. Die Idee des neuen Kaisertums wurzelte in der Erinnerung an das römische Weltreich, welches ja in die Anfänge aller germanischen Staatsbildungen hineinragte, hatte aber auſserdem einen wesentlich kirchlichen Zusatz, indem der Kaiser als Beschützer der katholischen Christenheit die kirchliche Einheit des Abendlandes zur staatsrechtlichen Verkörperung bringen sollte, auf daſs der Universalkirche die Universalmonarchie entspreche.

Diesen Tendenzen zum Trotz wurde die Kaiseridee der Todeskeim des fränkischen Reiches. Der Gedanke der Universalmonarchie setzte die Unteilbarkeit der Regierungsgewalt voraus. Allein ihr widersprach die herkömmliche Thronfolgeordnung, nach welcher die Reichsverwaltung unter mehrere Geschlechtsfolger geteilt wurde. Mit Aussicht auf Erfolg konnte dieses Herkommen nur dann durchbrochen werden, wenn in den Völkern und Stämmen des fränkischen Reiches ein lebendiges Gefühl der Zusammengehörigkeit, ein ausgeprägtes Einheitsbewuſstsein vorhanden gewesen wäre. Aber daran fehlte es, wenn man absieht von den Kreisen der höheren fränkischen Geistlichkeit, welche die Reichseinheit in kirchlichem Interesse verfocht, und von dem Adel jenes Stammes, der die Gründung des Reiches bewerkstelligt hatte. Gerade das gesteigerte Tempo, in welchem nach der Kaiserkrönung Karls regiert und zentralisiert wurde, scheint in der Bevölkerung jene entgegengesetzte Unterströmung erzeugt zu haben, welche durch den unter Ludwig I. eintretenden Zwiespalt an die Oberfläche drang. Als dieser 817 auf einem Aachener Reichstage Anordnungen über die Thronfolge traf, ernannte er Lothar, seinen ältesten Sohn, zum Nachfolger in das Gesamtreich, zum Mitregenten und zum Kaiser, beeinträchtigte dagegen die durch das Herkommen begründeten Ansprüche seiner jüngeren Söhne, von welchen Pippin nur Aquitanien, Ludwig nur Baiern, und zwar in der Stellung von Unterkönigen Lothars erhalten sollten. Nach der Geburt eines vierten Sohnes, der den Namen Karl erhielt, suchte Ludwig I. das Teilungsgesetz von 817 zu modifizieren. Da auch Pippin und der jüngere Ludwig es als eine Schmälerung ihrer Rechte ansahen, so entstanden Zwistigkeiten, durch welche das Reich tief zerrüttet, das Ansehen der Krone arg erschüttert wurde. Ehe sie beigelegt waren, starb Ludwig I. Lothar, dem sich die Söhne Pippins († 838) anschlossen, wurde von


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§ 24. Das fränkische Reich.

seinen verbündeten Brüdern Ludwig und Karl in der Schlacht von Fontenoy (841) besiegt. Dieses Ereignis bedeutete die Niederlage der von Lothar verfochtenen Idee der Reichseinheit. In dem 843 abgeschlossenen Teilungsvertrage von Verdun erhielt Ludwig die ostrheinischen Gebiete nebst den Gauen von Mainz, Worms und Speier, Lothar den mittleren Teil des fränkischen Reiches, nämlich Italien, die Provence, Burgund, Elsaſs und das später nach ihm benannte Lothringen 6 mit Friesland, Karl der Kahle die westlichen Striche bis an das Meer 7.

Die inneren Gährungen haben die Widerstandskraft des Reiches gelähmt. Es vermag sich der Normannen und der Sarazenen nicht mehr zu erwehren. Nur gegen die Slawen behaupten sich die Ostfranken mit Erfolg. Die Normannengefahr führte 885 zur Vereinigung des gesamten Reiches unter Karl III., dem jüngsten Sohne Ludwigs des Deutschen. Allein seine unkönigliche Haltung in den Kämpfen gegen die Normannen und seine durch einen Schlagfluſs gesteigerte Regierungsunfähigkeit bewog die ostfränkischen Stämme, im November 887 seinen Neffen Arnulf zum König zu erheben 8. Karl III. sah sich gezwungen die Regierung niederzulegen und starb am 13. Januar 888. Sein Sturz war das Signal für die längst vorbereitete Auflösung der fränkischen Monarchie, welche nunmehr in fünf selbständige Reiche auseinanderfiel, da auſser dem ostfränkischen auch ein westfränkisches, ein italienisches, ein hochburgundisches und ein niederburgundisches Königreich entstand. Nachmals sind zwar Italien und Burgund mit dem deutschen Reiche wieder vereinigt worden. Allein die Trennung zwischen Ostfrancien und Westfrancien, auf deren Verbindung das Wesen des fränkischen Reiches beruhte, ist eine dauernde geblieben. So hat das fränkische Reich die Entstehung nationaler Staaten vermittelt, aber nicht ohne zugleich gewisse Grundlagen des Rechtes und der Kultur zu schaffen, welche während des Mittelalters und teilweise noch heute ein Gemeingut des westlichen und mittleren Europa sind.

6 Der Name Lothringen wird bei Regino und in anderen Quellen auf Lothar I. zurückgeführt. Sein Sohn Lothar II. erhielt 855 von dem Reiche des Vaters den nördlichen Teil, an welchem die Bezeichnung Lothringen (Lotharii regnum) haften blieb. Waitz, VG V 158. Mühlbacher, Regesten S 413.

7 Über die Teilungsgrenzen s. Mühlbacher, Regesten S 412.

8 Arnulfs Kanzlei rechnete dessen Regierungsjahre nicht nach einem bestimmten Epochetag, sondern pflegte sie zugleich mit dem annus incarnationis umzusetzen. Mühlbacher, Urkunden Karls III., Wiener Sitzungsberichte XCII 343.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 13


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II. § 25. Die wirtschaftlichen Zustände um die Zeit der Reichsgründung.

S. die Litteratur zu § 10 und Waitz, Über die altdeutsche Hufe, Abhandl. der Göttinger Gesellsch. der Wissensch. VI 179 ff., 1854; derselbe, Verfassungsgesch. II 1 S 277 ff. Paul Roth, Gesch. des Beneficialwesens, 1850. Gierke, Erbrecht und Vicinenrecht im Edikt Chilperichs, Z f. RG XII 430. Rich. Schröder, Die Ausbreitung der salischen Franken, zugleich ein Beitrag zur Gesch. der deutschen Feldgemeinschaft, Forschungen XIX 144; derselbe, Die Franken und ihr Recht, Z2 f. RG II 49 ff. F. Roth, Über den bürgerlichen Zustand Galliens vor der Zeit der fränkischen Eroberung, 1827. Dahn, Gesellschaft und Staat in den german. Reichen der Völkerwanderung, Hist. Taschenbuch, 5. Folge III 207. Perréciot, De l’état civil des personnes et de la condition des terres dans les Gaules, 1845. F. Schupfer, Degli ordini sociali e del possesso fondiario appo i Langobardi, 1861. M. Thévenin, Les Communia, in den Mélanges Renier, Paris 1886, S 121 ff.

Die Eroberung Galliens führte die Franken in eine Welt scharfer wirtschaftlicher Gegensätze. Eine Einwirkung der gallischen Zustände auf das Wirtschaftsleben der deutschen Stämme konnte auf die Dauer nicht ausbleiben, machte sich aber nur langsam und allmählich fühlbar, selbst bei den Salfranken, die ihr zunächst ausgesetzt waren.

In den Gebieten, welche die Salier besiedelten, herrschten schon in spätrömischer Zeit wirtschaftliche Verhältnisse, welche von den germanischen minder weit abstanden, als die des übrigen Galliens. Anders wie die ostgermanischen Stämme verschmähten es die Franken, sich mit den Provinzialen auf eine systematische Landteilung einzulassen. In der Zeit vor Chlodovech, also in den Strichen bis zur Somme nahmen sie des Landes so viel als sie brauchten. Die hier ansässige römische Bevölkerung wurde durch die Ereignisse, unter welchen die Eroberung vor sich ging, arg gelichtet, wie das Zurückdrängen des Christentums aus diesen Gegenden ersehen läſst, welche vom sechsten bis ins achte Jahrhundert als ein ergiebiges Feld der Heidenbekehrung erscheinen 1. In den Gebieten, die Chlodovech und dessen Nachfolger eroberten, wurde der Grundbesitz der Provinzialen nicht angetastet. Dem Bedürfnis der Salier nach neuen Wohnsitzen war schon durch die Erwerbungen bis zur Somme reichlich Genüge geschehen, da nach Ausweis der späteren Sprachgrenzen ihre kompakten Ansiedelungen nicht ganz bis zu dieser Fluſslinie vordrangen 2.

Nach wie vor bewegt sich das Wirtschaftsleben der deutschen Stämme ausschlieſslich oder doch fast ausschlieſslich auf dem Boden

1 Roth, BW S 65 f.

2 Waitz, VG II 1 S 30. Schröder, Franken S 50 f.


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§ 25. Die wirtsch. Zust. um d. Zeit d. Reichsgr.

der Naturalwirtschaft. Handel und Wandel halten sich innerhalb sehr bescheidener Grenzen. Der landwirtschaftliche Betrieb hat sich dagegen bedeutsam gehoben. Nicht mehr die Weidewirtschaft, sondern der Ackerbau steht im Mittelpunkte des Erwerbslebens. Mehr und mehr wendet sich die Thätigkeit des freien Mannes der Bestellung des Bodens zu, welchen man intensiver als vordem auszunutzen versteht. Schon das Volksrecht der salischen Franken läſst uns ersehen, wie neben dem Getreidebau Wiesenkultur, Gartenbau und Weinbau betrieben wurde.

Die Aufteilung des Ackerlandes war um die Zeit der Reichsgründung so weit vorgeschritten, daſs das Sondereigentum an demselben wohl als die Regel betrachtet werden darf. Wo die Dorfverfassung bestand, war damit an die Stelle der strengen Feldgemeinschaft die von den Nationalökonomen sogenannte laxe Feldgemeinschaft, der Flurzwang getreten, welcher den Wirtschaftsbetrieb des einzelnen, insbesondere die Zeit der Bestellung und der Ernte mit Rücksicht auf die Gemengelage der Sonderäcker den Beschlüssen der Gesamtheit unterwarf. Die Sonderäcker sind nicht eingehegt 3 und dienen nach vollendeter Ernte bis zur neuen Aussaat als Feldweide (Stoppel- und Brachweide) 4. An Grund und Boden bestand zunächst nur ein beschränktes Erbrecht. Er vererbte auf die Söhne des verstorbenen Besitzers. Waren aber solche nicht vorhanden, so fiel das Land bei den Salfranken der Gesamtheit der Dorfgenossen anheim. Erst ein Edikt des Königs Chilperich (561—584) hat dieses Heimfallsrecht der Gemeinde so weit beseitigt, daſs in Ermangelung von Söhnen den Töchtern, eventuell den Brüdern und Schwestern ein Erbrecht eingeräumt wurde 5. Auch die freie Veräuſserlichkeit der Hufe hat sich erst allmählich Bahn gebrochen. Sie vertrug sich nicht mit einem Heimfallsrecht der Gemeinde, welches durch Veräuſserungen beeinträchtigt worden wäre. Bei den Salfranken konnte überdies der Grunderwerb eines Ausmärkers binnen Jahresfrist nach seiner Ansiedelung durch den rechtsförmlichen Widerspruch eines einzigen

3 So und nicht aus strenger Feldgemeinschaft dürfte Cap. I zur Lex Sal. c. 9, Behrend u. Boretius S 91, Hessels Tit. 74 zu erklären sein.

4 Nasse, Über die mittelalterliche Feldgemeinschaft und die Einhegungen . . in England, 1869, S 13. 37. Im langobardischen Edikt, Rothari 358, heiſst die Feldweide fornaccar, fonsaccri, alter (früherer) Acker?

5 Cap. I 8, c. 3. Gierke, Z f. RG XII 430. Einzelne, namentlich alamannische Weistümer kennen ein Erbrecht des nächsten Nachbars, wenn es an sonstigen befähigten Erben des letzten Besitzers gebricht. Siehe Schröder, Register zu den Weistümern VII 241 unter Erbrecht der Hofgenossen oder der Nachbarn.

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§ 25. Die wirtschaftlichen Zustände

Dorfgenossen rückgängig gemacht werden 6. Wo diese Beschränkungen nicht existierten oder beseitigt worden waren, fand die Verfügungsfreiheit eine Schranke entweder an dem Wartrechte gewisser Erben oder der Erben schlechtweg 7 oder doch wenigstens an den Rechten von Miterben, mit welchen man, wie dies häufig geschah, in Erbengemeinschaft lebte 8.

Seit der Aussonderung des Ackerlandes bestand die gemeine Mark 9 hauptsächlich aus der ewigen Weide 10 und aus dem Wald-

6 Lex Sal. 45. Sohm, Proceſs der Lex Sal. S 14. Schröder, Ausbreitung S 146 f.; derselbe, Franken S 55 f. Lamprecht, Wirtschaftsleben I 1 S 49. Neuestens versuchte Fustel de Coulanges, Etude sur le titre de migrantibus, 1886, zu begründen, daſs Lex Sal. 45 auf die widerrechtliche Besitznahme eines fremden Grundstückes zu beziehen sei: eine Auffassung, die das Verständnis des Titels nicht fördert. — Nach jüngeren Quellen hat im Veräuſserungsfalle entweder die Gemeinde als solche (Grimm, Weistümer I 133 f.) oder der Nachbar ein Einstandsrecht. Schröder, Register zu den Weistümern VII 329 unter Näherrecht.

7 Davon wird noch in der Geschichte des Privatrechts dieser Periode die Rede sein.

8 Eine solche ungeteilte Erbschaft setzt der Heroldsche Text der Lex Salica, Hessels 59, 6, Cod. 10 col. 385 voraus, wo der Fall besprochen wird, daſs post longum tempus unter den Enkeln oder Urenkeln ein Streit de alode terrae entsteht, der dann durch Teilung nach Köpfen und nicht nach Stämmen erledigt werden soll. Auf die ungeteilte Erbschaft bezieht sich Cap. leg. Sal. add. v. J. 819, I 292, c. 3: Wenn eine Freie sich mit einem Knechte verbunden hat et cum parentibus suis res paternas vel maternas non divisit, dann fällt ihr Anteil an die Ganerben, nicht an den Herrn des Knechtes. Urk. Pardessus, Dipl. II 376 Nr 559: facultates nostras indivisas remanserunt. Vergabungen aus der ungeteilten Ganerbschaft wurden erst durch das Aachener Kapitular 818—19, I 282, c. 6 für zulässig erklärt. Lex Al. Hloth. 91: si quis fratres post mortem patris eorum aliquanti fuerint, dividant porcionem patris eorum; dum haec non fuerit factum, nullus rem suam dissipare faciat, usque dum aequaviliter parciant. Über das langobardische Recht s. oben S 78 Anm 57 und MG LL I 504, c. 1.

9 Das Wort marcha bezeichnet zunächst die Grenze, aber auch wie der Ausdruck terminus ein bestimmtes Gebiet. Communis terminus wird Graff II 849 mit gameinmerchi übersetzt. Vgl. Waitz, VG II 1 S 389. 397. Fustelde Coulanges hat Recherches S 319 ff. das Dasein der gemeinen Mark für die fränkische Zeit vollständig verneint. Allein die Quellen sprechen von saltus communis, silva communis, pascua communia, commarcani in einem Zusammenhange, der nur die Beziehung zur gemeinen Mark offen läſst. S. unten Anm 13. 15.

10 Die versio Langobardica für pascua communia ist fiwaida, figwaida = Viehweide. Registrum Farfense III Nr 300: communes pascuas hoc est fiwaidas. Schupfer, Allodio S 26 f. On gemaenre laese, auf gemeiner Weide: Edgar IV 8. 9, Schmid, Gesetze der Angels. S 197 und Anhang III 12. Usum lignorum vel materiae, pascuarium in communi marcha, sicut mihi et progenitoribus meis competit: Form. Sang. misc. 18, Zeumer S 388.


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um die Zeit der Reichsgründung.

lande 11. Doch kam es auch jetzt noch vor, daſs vereinzelte Stücke der Mark den Markgenossen im Wechsel zu vorübergehender Sondernutzung zugewiesen wurden 12. Das Recht der Rodung scheint während der ganzen Dauer dieser Periode frei geblieben zu sein. Wohl mochte die Markgenossenschaft durch gemeinsamen Beschluſs die Ausrodung des Waldes verbieten; allein dazu war ein Anlaſs nicht vorhanden, so lange des Waldbodens in Hülle und Fülle vorhanden war. Im übrigen sind die Nutzungsrechte der Mitmärker (commarcani, pagenses, consortes, calasnei 13) nach dem Besitz einer Vollhufe bemessen 14. Sie stellen sich, seit das Ackerland die Hauptquelle des Erwerbs geworden, als Zubehör zum Sondereigentum des einzelnen dar und können mit diesem veräuſsert werden 15.

Der normale Anteil, welchen der einzelne innerhalb der Dorfmark an Grund und Boden besitzt, heiſst sors, pars, portio, deutsch Los, hluz 16; seit der Mitte des siebenten Jahrhunderts begegnet dafür

11 Die Lex Sal. läſst in Tit. 27, 18 (19) den Gemeinwald erkennen. Waitz, Altes Recht der sal. Franken S 125. Schröder, Ausbreitung S 145 Anm 8. Wartmann, S. Gall. UB II Nr 426: omnem utilitatem i. e. in pascuis, in aedificationibus, in lignis caedendis et in omnibus rebus, quibus homo in communi saltu uti potest.

12 Troya, Cod. dipl. III Nr 481 v. J. 730, Pisa. Die Söhne des Alchis verkaufen dem M. sorte de terra quem avire visi sumus de fiwadia in loco A. sa(pientibus et consentientibus?) aliis coliverti (= consortes) nostri … prope terra stavili … In tale vero tenure promettemus nos qui supra vendituri, ut si qualive tempore forsitans ipsa terrola portionem nostra in integro publicum requesierit et ad devisionem revinerit, cuicumque in alio homine et novis in alio locum ad vicem sorte redditam fuerit, si volueris tu Mauricius ipsa terra, nos tivi sine aliqua mora ipsa terra reddamus. Auf diese interessante Stelle hat Schupfer a. O. aufmerksam gemacht. Spuren periodischer Aufteilung des gemeinen Weidelandes findet Nasse a. O. S 17 in Kemble, Cod. dipl. Nr 633. 1169.

13 In der Lex Baiuw. XXII 11 heiſst der Markgenosse calasneo: … nisi eius conmarcanus fuerit, quem calasneo dicimus. Meichelbeck Nr 532 v. J. 828: quicquid in eis proprii habere visus sum in silvis, in pratis, in campis, in agris, in pascuis, in vineis, in aquarum decursibus, in omnibus calasnis et in terminis, sicut antecessores mei habuerunt … et mancipias … Calasnis steht hier als Ersatz für communiis in den verwandten Formeln: Sal. Lindenbrog. 1. 2. 3. 4. 13. 14. 16. 18; Emm. II 16. Vgl. Schmeller, Bayer. WB, 2. Aufl., I 1427, der auf tschech. les Busch, lesina Waldung; Grimm, RA S 498, der auf angels. laesu verweist. Calasna wäre sonach als gemeine Mark, commarchia aufzufassen.

14 Lacomblet, UB f. d. Gesch. d. Niederrheins I Nr 7: illam hovam integram … et scara (Anteil) in silva iuxta formam hovae plenae. Vgl. a. O. Nr 20: cum pastu plenissimo iuxta modulum curtilis ipsius.

15 Communia bedeutet in Formeln und Urkunden die gemeine Mark und das Recht des Markgenossen, legitima communia das letztere. Siehe Thévenin, Communia S 125 ff.; Zeumer, Form. 726 Anm 1.

16 Waitz, VG II 1 S 289.


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§ 25. Die wirtschaftlichen Zustände

in den fränkischen Quellen das Wort mansus 17, welches deutsch mit Hufe wiedergegeben wird 18. Die Gröſse der Hufe ist in den einzelnen Gegenden des fränkischen Reiches eine durchaus verschiedene, eine Verschiedenheit, welche in der ursprünglichen Feldgemeinschaft ihre Erklärung findet, weil eben nur innerhalb der einzelnen Mark das Ausmaſs der Hufe ein gleiches zu sein brauchte 19.

So hat sich trotz des Sondereigentums am Ackerlande innerhalb der deutschen Stammlande bei der Masse der freien Bevölkerung eine gewisse Gleichförmigkeit der Besitzverhältnisse über die Zeit der Reichsgründung hinaus erhalten. Wie einerseits der Groſsgrundbesitzer ist andrerseits der Besitzlose eine Ausnahme. Noch rechnet das Gerichtsverfahren mit der Thatsache, daſs der freie Volksgenosse ein angesessener Mann sei, indem es schlechtweg verlangt, daſs die Vorladung in dem Hause des Beklagten geschehe. Erst jüngere Quellen setzen eine besitzlose freie Bevölkerung voraus, die ihr Erscheinen vor Gericht durch Bürgen sicherstellen muſs 20. Daſs die Hufe das Durchschnittsmaſs des Grundbesitzes geblieben ist, zeigt die merkwürdige Übereinstimmung, welche zwischen dem Werte der Hufe und dem Wergelde des freien Mannes obwaltet und bei Veräuſserungen 21, sowie bei der Regelung der Heerfahrtpflicht zu Grunde

17 Über die ältesten sicheren Fundstellen handelt Zeumer im NA XI 331. Die ursprüngliche Bedeutung von mansus ist Hof, nämlich Wohnung und Wohnplatz (mansio). Waitz, Hufe S 188. Auch in Form. Andegav. 25 ist manso so viel wie mansio, da sonst an dieser Stelle die casa genannt sein müſste.

18 Auch das Wort hôba, huoba, alts. hôva, obwohl es sprachlich von Hof zu scheiden ist, scheint ursprünglich die curtis bezeichnet zu haben. Denn das langobardische Wort hoberos, operus, uberos, huberos, Rothari 278. 373. 380, so viel wie curtis ruptura (C. Meyer, Sprache der Langobarden S 292), ist doch wohl von hoba nicht von hof herzuleiten. Vgl. hubestat für hovastat bei Waitz, Hufe S 191 f.

19 Über die verschiedenartige Gröſse des mansus s. Guérard, Polyptyque de l’abbé Irminon I 608. Hanssen, Agrarhist. Abhandl. II 181 f. In Urkunden aus deutschen Gegenden werden Hufen von 30 bis 40 Joch verhältnismäſsig oft erwähnt. Landau S 36; Waitz, Hufe S 202 f. Dagegen setzen einen mansus von mindestens 12 Joch voraus Cap. Pap. v. J. 832 c. 1 LL I 360 mit Bezugnahme auf eine Vorschrift Ludwigs des Frommen; Hinkmar, Opera I 716 und der Lombarde Papias: mansus dictus a manendo quod integrum fit duodecim iugeribus.

20 Noch nach Ssp Landr. II 5 § 1 ist von der Bürgenstellung bei peinlicher Klage befreit, wer Eigen im Werte seines Wergeldes besitzt. Homeyer, Heimat S 46.

21 In der alamannischen Urk. Wartmann Nr 400 v. J. 846 tradiert jemand unam hobam compositionis meae. Bei Landschenkungen wird nicht selten der Preis des vorbehaltenen Rückkaufs nach Wergeldern bemessen. Wartmann Nr 142 v. J. 796: liceat eis (parentibus redemere) cum uno weraceldo; Nr 143 v. J. 797: et


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um die Zeit der Reichsgründung.

gelegt wird 22. Ebenso lassen die Bestimmungen der Volksrechte, welche eine bestimmte Stückzahl der einzelnen Viehgattungen als Herde bezeichnen, auf einen gleichmäſsigen Bestand der Bauergüter schlieſsen 23.

Ein durchaus anderes Bild bieten uns die wirtschaftlichen Zustände Galliens zur Zeit der Eroberung dar 24. Ein freier und wohlhabender Mittelstand fehlt. Reichtum und Armut stehen sich unvermittelt gegenüber. Der Grundbesitz ist hauptsächlich in den Händen des Staates, der Kirche und einer nicht sehr zahlreichen aber mächtigen Grundaristokratie. Die Zahl der kleinen freien Grundbesitzer war im vierten und fünften Jahrhundert stark gelichtet worden; aus Not und um dem wachsenden Steuerdrucke zu entgehen, hatten damals viele kleine Leute ihr Besitztum den Reichen und Mächtigen aufgetragen, um ihren Schutz zu erlangen 25. Die groſsen Güter wurden hauptsächlich von Kolonen und Sklaven bebaut. Doch gab es auch Pacht- und Leiheverhältnisse, und zwar solche, welche von freien Leuten eingegangen wurden. Einen Teil ihrer Ländereien hatten die gallischen Kirchen namentlich in der Umgebung der Städte zu Erbpacht ausgethan. Es waren dies vermutlich alte städtische Gemeindegüter und Tempelgüter, welche die Kirche in spätrömischer Zeit an sich gezogen

si redemere voluero … liceat mihi hoc facere cum 160 sol. (das alam. Freienwergeld); Nr 375 v. J. 838: Egino (der Bruder des Schenkers) cum dimidio weregeldo redimendi licentiam habeat .. Thiotpert … cum uno weregeldo redimat. Nr 135 v. J. 793: der Schenker kann das Gut zurückkaufen um 80 sol. (das halbe alam. Wergeld), der Sohn des Schenkers cum uno weregeldo. Rückkauf „cum eius weregeldo“ in Nr 228 v. J. 817, cum duobus weregeldis Nr 385 v. J. 842, cum weregeldos tres Nr 108 v. J. 786. In Zeuſs, Traditiones Wiz. Nr 17 v. J. 739 kann die Verkaufsurkunde und damit das Grundstück mit 200 sol. (Wergeld des Franken oder des alamannischen medianus) zurückgekauft werden. In der bairischen Urk. Meichelbeck, Hist. Fris. Nr 303 wird eine Wergeldschuld durch Tradition eines Grundstücks bezahlt. Einen ähnlichen Fall bietet Hundt, Abh. der bair. Akad. XIII 1 S 14, Nr 25 v. J. 846. Siehe Waitz, VG II 1 S 278 Anm und über die angelsächsischen Verhältnisse Kemble, Saxons I 156.

22 In dem Kapitular v. J. 807, I 134 ist die Vermögenseinheit, die den persönlichen Heerdienst bestimmt, einerseits der Wert von drei Hufen, andererseits der Betrag von 600 solidi (sechsmal fünf Pfund). Das giebt pro Hufe 200 solidi, das fränkische Wergeld. In dem italienischen Kapitular von 866, MG LL I 504 erscheint das Wergeldsimplum als Maſs der Heerpflicht.

23 Lamprecht, Wirtschaftsleben I 11. 12: „Massengüter sind daneben ausgeschlossen, kleinere Besitzungen möglich.“

24 F. Roth, Bürgerlicher Zustand. Kaufmann, Deutsche Gesch. II 28 ff. Dahn, Könige der Germanen VI 91 ff.

25 Salvian, De gubernatione Dei V 8, MG SS antiquissimi I 1 S 62.


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§ 25. Die wirtschaftlichen Zustände

hatte. Die Erbpachtverhältnisse, wie sie sich seit dem Ausgange des vierten Jahrhunderts an jenen Gütern gebildet hatten, blieben trotz des Besitzwechsels bestehen und lassen sich in den Gebieten von Angers und Tours bis in das siebente und achte Jahrhundert verfolgen. Der Erbpächter zahlte einen Zins und konnte das Erbpachtgut (terra conducta) beliebig veräuſsern 26. Vereinzelt findet sich in fränkischer Zeit noch die römische Teilpacht, colonia partiaria 27, bei welcher ein Teil der Früchte als Pachtzins bezahlt wurde, doch hat sie in Gallien kaum die Rolle gespielt wie in Italien, wo sie innerhalb der sogenannten libellarischen Pachtverhältnisse fortlebte 28. Die Emphyteuse, eine Erbpacht, welche im Orient bei dem zur Anpflanzung verpachteten Ödlande entstanden war, ist zu römischer Zeit in Gallien, wie im Occident überhaupt, nicht üblich geworden.

In die vorfränkische Periode Galliens reichen die Anfänge einer vielgestaltigen, hauptsächlich durch die Kirche entwickelten Leiheform, der sogenannten precaria zurück, welche freilich erst im fränkischen Reiche erheblichen Einfluſs auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse gewann 29. Ihren Ausgangspunkt bildet eine Umgestaltung des altrömischen Prekariums, die einer Auflösung seines juristischen Begriffes gleichkam. Das Prekarium des reinen römischen Rechtes war eine Leihe auf Herrengunst, gewährte dem Beliehenen, dem Prekaristen weder ein dingliches noch ein obligatorisches Recht und konnte vom Herrn jederzeit widerrufen werden. Schon das dritte Jahrhundert kannte die Sitte, daſs der Prekarist schriftlich, „per epistolam“ um Überlassung des Landes zu bitten pflegte 30. Ein solches vom Beliehenen ausgestelltes Schriftstück ist das Kennzeichen der jüngeren Prekarie, welche uns zu Beginn des sechsten Jahrhunderts für Burgund sicher bezeugt ist. Doch nahm die epistola den Charakter einer Urkunde an, sie enthält nicht mehr die schriftliche Bitte des Prekaristen um Verleihung des Gutes, sondern eine Erklärung des Beliehenen, durch die er bekennt, daſs ihm das Gut auf seine Bitte unter gewissen Bedingungen verliehen worden sei. Die Urkunde

26 Brunner, Die Erbpacht der Formelsammlungen von Angers und Tours und die spätrömische Verpachtung der Gemeindegüter, Z2 f. RG V 69. Esmein, Mélanges d’histoire du droit, 1886, S 393 ff.

27 Form. Andeg. 30.

28 Pertile, Storia del diritto italiano IV 286.

29 Loening, Kirchenrecht S 703 ff.

30 Denn Paulus fühlte sich Sententiae V 6, 9 (hg. von Krüger) veranlaſst zu sagen: precario possidere videtur non tantum, qui per epistulam vel qualibet alia ratione hoc sibi concedi postulavit.


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um die Zeit der Reichsgründung.

heiſst precaturia 31, meist precaria 32, gelegentlich auch securitas 33, weil sie dem Verleiher zum Beweismittel dient, daſs der Inhaber des Grundstücks es von jenem zur Leihe erhalten habe. Precaria wird zu Anfang des sechsten Jahrhunderts auch das Rechtsgeschäft der Verleihung 34, nachmals auch das Leiheverhältnis und das Leihegut genannt. Schon nach altrömischem Rechte konnte ein Prekarium auf bestimmte Zeit gegeben werden 35. Doch wurde der Verleiher durch solchen Termin nicht rechtlich gebunden 36. Aber nicht leicht mochte es vorkommen, zumal bei der Not an Landbauern, welche in spätrömischer Zeit herrschte 37, daſs der Eigentümer sein Widerrufsrecht vor Ablauf der Zeit geltend machte. So konnte sich eine vulgarrechtliche Gewohnheit bilden, welche dem Prekaristen während der bestimmten Zeit ein Recht der Nutzung gewährte und ihn darin schützte. Seitdem gab es im Grunde genommen zwei Arten von Prekarien, ein widerrufliches und ein Prekarium auf Zeit. Das letztere wurde zur Regel 38. Sein Rahmen war weit genug, um Pachtverhält-

31 So in den Akten des Konzils von Epao v. J. 517 (Loening a. O. S 289), in den von Waitz II 1 S 292 Anm 1 angeführten Stellen und in der Epitome Guelferbytana zu Paulus V 7, 9. Precatus im Testament des Bischofs Bertram von Le Mans v. J. 616, Pardessus, Dipl. I 210.

32 Form. Wisigoth. Nr 36. 37.

33 Form. Andegav. 7.

34 Lex Rom. Burg. 35,2: si vero post possessionem dierum aut mensium praecaria fuerit subsecuta, ut ille iterum rem videatur possidere, qui vindedit, documenti professio firmitatem praecariae possessionis obteneat. Die Erklärung, welche Barkow von dieser Stelle giebt (Lex Rom. Burg. S 99), halte ich zum Teil für verfehlt. Nach Abschluſs des Kaufvertrags hatte eine corporalis traditio stattgefunden und der Käufer das Grundstück durch etliche Tage oder Monate besessen. Erhält dann der Verkäufer das Gut zu Prekarium, so muſs er sich vom Käufer sein Recht urkundlich sichern lassen, wenn er darin geschützt sein will. Als Emphyteusis darf die precaria hier nicht aufgefaſst werden. — Precaria heiſst die Leihe ferner in der von Loening a. O. S 710 Anm 3 angeführten Stelle Flodoards Hist. Rem. II 1, MG SS XIII 447, welche wahrscheinlich aus einer Urkunde vom Anfang des 6. Jahrh. geschöpft ist: quam partem villae ipse quoque presul Teudechildi … usufructuario per precariam salvo ecclesiae iure concessit.

35 S. l. 4 § 4, l. 5 Dig. 43, 26.

36 Windscheid, Pandekten § 376.

37 Arg. l. 3 § 6 Dig. 49, 14.

38 Es ist bezeichnend, daſs die westgotische Interpretation zu Paulus V 7, 8 die Zeitbestimmung in den Begriff des Prekariums aufnahm. „Si quando alicuius precibus exorati aliquid cuicunque possidendum ad tempus praestitum fuerit et ad primam admonitionem hoc ipsum reddere noluerit, datur adversus eum interdictum et actio iusta proponitur.“ Die Stelle konnte kaum anders verstanden werden, als daſs der Prekarist die Sache erst nach Ablauf der bedungenen Zeit auf


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§ 25. Die wirtsch. Zust. um d. Zeit d. Reichgr.

nisse oder doch einzelne Merkmale des Pachtvertrags in sich aufzunehmen. Wie im römischen Reiche die Zeitpacht nicht nur der öffentlichen 39, sondern auch der Privatgüter 40 gewöhnlich auf ein Lustrum, d. h. auf fünf Jahre abgeschlossen wurde, so pflegte auch die befristete Prekarie auf diesen Zeitraum verliehen zu werden, denn nachmals begegnet uns der Rechtssatz, daſs die kirchliche Prekarie alle fünf Jahre erneuert werden müsse 41. Der Beliehene zahlte einen Zins 42 oder Zehent 43; unterlieſs er die Zahlung, so verwirkte er sein Recht, wie einst der Zeitpächter des römischen Gemeindelandes 44. Mit dem Pachtvertrage hat die unwiderrufliche Prekarie auch gemein, daſs der Verleiher seinerseits eine Urkunde ausstellte, welche das Recht des Beliehenen sicherte 45. Sie begegnet später als precaria 46, öfter als praestaria, epistola praestaturia 47 oder commendatitia 48.

Verlangen zurückgeben müsse. Man sehe, was die Lex Curiensis daraus gemacht hat, welche den Passus auf die dem Beliehenen günstigste Prekarie, die precaria oblata bezieht.

39 Loening a. O. S 714. Esmein, Les baux de cinq ans du droit romain, in dessen Mélanges d’histoire du droit, 1886, S 219.

40 S. l. 9 § 1, l. 13 § 11, l. 24 § 2. 4 Dig. 19, 2; l. 68 § 5 Dig. 47, 2; l. 4 § 1 Dig. 12, 1; l. 49 Dig. 18, 1; l. 25 § 4 Dig. 24, 3; l. 16 Dig. 34, 3; l. 89 Dig. 45, 1.

41 S. unten S 210. Die Anwendung einer epistola precaria auf die Zeitpacht bezeugt auch das langobardische Recht. Roth. 227: Si quis … terram … quinque annos inter praesentes personas possederit, posteaque ipse vinditor … pulsaverit dicendo quod praestitisset nam non vindedisset: ostendat libellus scriptus ubi rogatus fuisset praestandi. Et si libellus non habuerit … dann behält der Besitzer das Grundstück mit seinem Eide. Die Frist von fünf Jahren erklärt sich aus dem römischen Zeitpachtlustrum. Die Urkunde des Pächters, durch welche der Verpächter sich schützte, der libellus, war sachlich eine epistola precaria. Das Leiheverhältnis erhielt in Italien von dem libellus die Bezeichnung contractus libellarius. Wie in Italien im Anschluſs an die Sitte der fünfjährigen Zeitpacht eine fünfjährige Ersitzungsfrist entstand, so haben andererseits die Epitomatoren des Breviars aus einer Konstitution des Honorius eine fünfjährige Ersitzung von Fiskalgrundstücken fabriziert. Epitome Aegidii zu C. Th. IV 13, 1: quicumque rem fiscalem per quinquennium … possederit (Lex Cur. sine omne censu reddito) … sibimet eam valeat vindicare.

42 Form. Andeg. 7.

43 Form. Wisigoth. 36. 37.

44 Loening a. O. S 715.

45 Cod. Just. IV 65 l. 24 v. J. 293. Epitome Monachi zu Paulus V 7, 9: precario possidet non tantum qui per scriptum possidet.

46 Pardessus, Dipl. II 369, Nr 557 v. J. 735: precarias uno tenore conscriptas. Form. Augiens. Coll. B 3. 5. 7. 15. 16. 17, Zeumer S 349 ff. Form. Sangall. 3. 15. 23, Zeumer S 381 ff. Coll. Sangall. Salom. 7. 9. 14, Zeumer S 401 ff.

47 Marculf II 40. Cartae Senon. 16. 33. Form. Lindenbr. 4.

48 Form. Bignon. 22; Merkel. 6. 8. 35. 37.


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§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.

Neben der Litteratur zu § 25 siehe v. Inama-Sternegg, Die Ausbildung der groſsen Grundherrschaften in Deutschland während der Karolingerzeit, 1878. B. Guérard, Polyptyque de l’abbé Irminon I Prolégomènes, 1844; derselbe, Explication du capitulaire de villis, 1853, und Bibl. de l’école des chartes 3. Serie IV. Roth, Feudalität und Unterthanverband, 1863, S 139 ff. E. Loening, Das Kirchenrecht im Reiche der Merowinger S 632 ff. Garsonnet, Histoire des locations perpétuelles et des baux à longue durée, 1879. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben I 1. Heusler, Institutionen II 167 ff.

Der fränkische König tritt von Anfang an als groſser Grundbesitzer auf. In seinem Eigentum und in seiner ausschlieſslichen Verfügungsgewalt standen nach fränkischem Rechte die vorhandenen Staatsländereien, anders wie bei den Angelsachsen, wo über das sogen. Volkland der König nur mit Zustimmung der aus den Groſsen (sapientes, witan) bestehenden Reichsversammlung verfügen konnte. Einen Bestandteil des fränkischen Königsgutes bildeten die ausgedehnten Waldungen und das wüstliegende Land, soweit sie sich nicht in hergebrachtem Besitze der Markgenossenschaften oder im Sondereigentum von Unterthanen befanden.

Gewaltigen Zuwachs empfing das fränkische Königsgut infolge der Eroberungen. Der König succedierte in die römischen Fiskalgüter 1. Das der Konfiskation unterworfene Gut und alles herrenlose Land fielen ihm zu 2.

Seinen ausgedehnten Grundbesitz behielt der König nicht in eigener Hand. Ein guter Teil davon gelangte durch königliche Landschenkung an Kirchen und an Laien. Bestimmte Fiskalländereien waren als Amtsgut den königlichen Beamten, insbesondere den Grafen für die Dauer der Amtsverwaltung zur Benutzung überwiesen 3.

Wie bei den Franken der König erscheinen bei einzelnen Stämmen die Herzoge, soweit die urkundlichen Nachrichten zurückreichen, als Eigentümer groſser Grundkomplexe, über welche sie zu kirchlichen und politischen Zwecken verfügen.

Umfangreicher Landbesitz häufte sich in den Händen der katholischen Kirche an. Von Chlodovech ab hat das Königtum in frei-

1 Gaupp, Ansiedlungen S 335.

2 Roth, BW S 68.

3 Mir. S. Vedasti (Bischof von Arras † 540) c. 9 Mabillon, Acta IV 1 S 603: sedes comitatus videbatur in dominica curte. Aus dem Edikte Chlothars II. von 614 c. 12, Cap. I 22 ergiebt sich, daſs vor 614 Personen zu Grafen ernannt wurden, welche innerhalb der Grafschaft keinen Grundbesitz hatten. Solche Grafen können nur auf fiskalischem Boden gesessen haben.


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§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.

gebigster Weise Kirchen und Klöster beschenkt, neue Stiftungen dotiert. Schon König Chilperich hatte Anlaſs, aus Unmut über die Vermehrung des kirchlichen Reichtums, in die Klage auszubrechen: ecce pauper remansit fiscus noster, ecce divitiae nostrae ad ecclesias sunt translatae 4. Die erheblichste Zunahme erwuchs dem Besitztum der Kirche durch Schenkungen von Privatpersonen. Nachdem zuerst die Franken, dann die übrigen deutschen Stämme dem Christentum gewonnen worden waren, nachdem der Katholizismus den Arianismus überwunden hatte, äuſserte sich der kirchliche Eifer der Neubekehrten in zahllosen Vergabungen zu frommen Zwecken. Die Schenkung an die Kirche galt für ein gottgefälliges Werk, durch das man sich die Vergebung der Sünden erkaufte, sich irdischen und himmlischen Lohnes versicherte 5. Seinen Höhepunkt erreichte der Schenkungseifer in der Zeit Karls des Groſsen 6. Neben den unbedingten und unbeschränkten Schenkungen gab es verschiedene Arten betagter und bedingter Zuwendungen, welche den Entschluſs zu schenken erleichterten, weil sie dem Schenker den Genuſs des Gutes für seine Lebenszeit vorbehielten 7.

Wie rasch und wie hoch auf solche Weise der Besitzstand der Kirche anschwoll, zeigt das Beispiel des Klosters Fulda, welches bald nach seiner Gründung fünfzehntausend Hufen Landes besaſs. Ebensoviel hatte das neustrische Luxeuil. Nach einer Schätzung, welche der Wahrheit ziemlich nahe kommen dürfte, war zu Anfang des 8. Jahrh. ein Drittel der nutzbaren Bodenfläche Galliens Eigentum der Kirche 8.

4 Greg. Tur. Hist. Fr. VI 46.

5 In fränkischen und langobardischen Urkunden findet sich nicht selten die im Anschluſs an Evang. Matth. 19, 29 entstandene Arenga, daſs derjenige, der sein Gut der Kirche schenkt, in hoc seculo centuplum accipiet et quod melius est vitam possidebit eternam. Bei den Langobarden wurde das remedium salutis animae geradezu als die (nach Langobardenrecht für den Rechtsbestand der Schenkung erforderliche) Gegengabe des Beschenkten, als sog. Launegild bezeichnet und behandelt. Liu. 73. Val de Liévre, Launegild und Wadia S 10 ff.

6 Von den unlauteren Mitteln, mit welchen der Klerus ihn weckte und anspornte, giebt Karls Kapitular von 811, I 162 ein denkwürdiges Zeugnis.

7 v. Inama-Sternegg hat Grundh. S 115 die Erwerbsgeschäfte von St. Gallen, Wolff, Erwerb und Verwaltung des Klostervermögens in den Tradit. Wizenburg., 1883, S 21 die Erwerbsgeschäfte von Weiſsenburg im Elsaſs mit Unterscheidung der unbedingten Schenkungen, der Übertragungen mit Vorbehalt und der onerosen Erwerbungen für einzelne Zeitabschnitte zusammengestellt. Die Tabellen zeigen einerseits, wie sehr die lukrativen Erwerbsgeschäfte die onerosen überstiegen, andererseits daſs die Zahl der bedingten Übertragungen im Laufe des 9. Jahrh. verhältnismäſsig anwuchs. Im 10. Jahrh. ändert sich die Sachlage; die onerosen Erwerbungen, namentlich die Tauschgeschäfte, haben das unbestrittene Übergewicht.

8 Roth, BW S 251 ff.


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§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.

War in Gallien ein Stand von weltlichen Groſsgrundbesitzern (potentes, potentiores)9 schon vor der Eroberung vorhanden gewesen, so wurde nunmehr die Ausbildung eines solchen in den deutschen Stammlanden durch die königlichen und herzoglichen Landschenkungen vermittelt. Abgesehen hievon hat sich hier durch das Zusammenwirken verschiedener Ursachen die anfängliche Verteilung des Grundbesitzes allgemach verschoben. Für diese Verschiebung kommen zunächst die zahlreichen Rodungen in Betracht, durch welche vom sechsten Jahrhundert ab ein groſser Teil des Waldbodens dem Ackerbau gewonnen wurde. Was das Recht der Rodung betrifft10, so sind die Rodungen in der gemeinen Mark und auf fiskalischem Boden, genossenschaftliche Rodungen und Rodungen einzelner, Rodungen der Einheimischen und Fremder zu unterscheiden. In der gemeinen Mark war die Markgemeinde und, wo sie es nicht verwehrte, der einzelne Markgenosse befugt Land einzufangen. Der Neubruch, Beifang, adprisio, comprehensio, captura, in romanischen Gegenden auch runcale genannt, wurde Sondereigentum des Unternehmers. Über öffentliche Wälder, welche nicht zu einer gemeinen Mark gehörten, konnte der König verfügen. Soweit er sie nicht einforstete oder zur Domänenverwaltung zog, scheint die Rodung den Anwohnern entweder schlechtweg oder doch mit Erlaubnis des Grafen gestattet worden zu sein, so daſs ein königliches Rodungsprivileg im einzelnen Falle nicht erforderlich war. Allein der Neubruch wurde als fiskalisches Eigentum behandelt, der Erwerber erlangte nur ein erbliches Nutzungsrecht und muſste dafür einen Zins bezahlen11. Der Fremde hatte kein Okkupationsrecht, wenn ihm nicht der König das Recht der Rodung durch Privilegium verlieh. Die genossenschaftlichen Rodungen, welche in der Mark oder im Königswalde12 zur Erweiterung bestehender, zur

9 Diese in fränkischer Zeit übliche Bezeichnung findet sich schon in den römischen Quellen. Cod. Theod. XI 7, 12 v. J. 383; Cod. Just. III 25, 1 § 1 v. J. 439.

10 Vgl. Beseler, Der Neubruch nach dem älteren deutschen Rechte, in den Symbolae für Bethmann-Hollweg 1868 und Schröder, Z2 f. RG II 62 f.

11 Bei Devic et Vaissete, Hist. de Languedoc II Nr 189 v. J. 875 nimmt der Beklagte ein Grundstück in Anspruch partibus comitis et ad servitium regis exercendum. Die iudices fragen den Vertreter des Fiskus, ob er Beweise habe, daſs saepedictus locus per beneficia vel adprisionem comiti regalem servitium persolvi debeat vel homines loci illius commanentes. Königliches Privileg konnte die Zinsfreiheit gewähren, wie dies in Karls und Ludwigs Verleihungen an die flüchtigen Spanier geschah. Aber auch dann gab die adprisio noch kein Eigentum, sondern wurde als ein dem Lehen ähnliches Verhältnis behandelt.

12 Die fiskalischen Centenen, welche gelegentlich erwähnt werden, und die auf


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§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.

Anlage neuer Dorfschaften vorgenommen wurden, fallen für die Umwandlung der Besitzverhältnisse nicht ins Gewicht, da sie gleiche Rechte der Genossen begründeten. Soweit aber die Rodungen durch einzelne geschahen, hatte der Reichere, derjenige, der über eine gröſsere Zahl von Eigentum und Zugvieh gebot, in dem Wettbewerb um die Ausdehnung des Besitztums einen nicht auszugleichenden Vorsprung.

Seit sich ein unbeschränktes Erbrecht an der Hufe ausgebildet hatte, brachte es der Erbgang mit sich, daſs Vollhufen geteilt, mehrere Hufen in einer Hand vereinigt wurden. Denn keines der deutschen Stammesrechte kannte den Grundsatz der Individualsuccession, sondern gleichnahe Erben hatten gleiches Erbrecht, soweit nicht der Vorrang der Männer vor den weiblichen Verwandten platzgriff.

Armut auf der einen, Reichtum auf der andern Seite entsprangen aus der Anwendung des Buſsensystems. Die Wergelder und Buſsen waren verhältnismäſsig hoch. Bei den Franken stieg das Wergeld in manchen Fällen auf 1800 solidi. Andrerseits hatte das Geld so beträchtlichen Wert, daſs z. B. ein Ochse, den der Schuldner auf eine Buſsschuld in Zahlung gab, oft nur zu 1 bis 3 solidi in Schätzung kam. Bei so geringen Preisen der landläufigen Zahlungsmittel muſste die Verwirkung hoher Buſsen nicht selten die vollständige Verarmung des Schuldigen und zugleich eine wirtschaftliche Schwächung seiner Sippegenossen herbeiführen, welche ihm die Buſse aufbringen halfen13.

Im Laufe der fränkischen, insbesondere der karolingischen Zeit vollzog sich eine Verbesserung der Bodenkultur, in welcher die kleinen Güter mit den groſsen nicht gleichen Schritt zu halten vermochten. Die sorgfältige Domänenwirtschaft, welche Karl der Groſse organisierte, regte eine Steigerung der landwirtschaftlichen Technik an. Schon zu Anfang des neunten Jahrhunderts läſst sich in den Mosellanden die Dreifelderwirtschaft nachweisen14. Der Fortschritt verbreitete sich von den königlichen Besitzungen zunächst auf die gröſseren Grundherr-

ganzen Gemarkungen lastende Medempflicht sind m. E. aus solchen Rodungen auf fiskalischem Boden zu erklären. Näheres darüber in Band II.

13 Die hohen Buſszahlen der Volksrechte wären geradezu rätselhaft, wenn man nicht in Anschlag bringen dürfte, daſs ein erheblicher Teil der Buſse regelmäſsig von den Verwandten beigesteuert wurde. Auch die holländischen Sühnsprüche des 14. und 15. Jahrh. weisen mitunter enorme Summen von Sühngeldern auf. Ein Sühnspruch von 1350, Mieris, Charterboek II 769, legte ein Sühngeld von 12 000 Pfund auf (Z2 f. RG III 77). Allein die Schuld wurde innerhalb der vier Viertel der Sippe verteilt.

14 Lamprecht, Wirtschaftsleben I 545.


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§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.

schaften, während die freien Dorf- und Bauerschaften noch längere Zeit an den herkömmlichen Betriebsarten festhielten. An sich war damals der groſse Grundbesitz wirtschaftlich leistungsfähiger wie der kleine, da die grundherrliche, von einem einheitlichen Willen geleitete Organisation der Arbeit eine kräftigere Ausnutzung des Bodens gestattete15.

Verhältnismäſsig schwerer als den Groſsgrundbesitz belasteten die öffentlichen Pflichten der Unterthanen den Kleinbesitz, dem die Heerfahrt und die Dingpflicht die Arbeitskraft des Eigentümers entzogen. So hatte der Stand der freien Bauern Wind und Sonne gegen sich in dem Existenzkampfe gegen die Grundherrschaft, welche ihre natürliche Tendenz, den Kleinbesitz aufzusaugen, zum Teil mit rücksichtslosen Mitteln geltend machte. Durch Vergewaltigung, durch unausgesetzte Belästigung, durch Miſsbrauch der Amtsgewalt wurden freie Grundbesitzer von den Groſsen gezwungen, sich ihres Eigentums16 oder auch ihrer Freiheit zu entäuſsern17. Zwar suchte Karl der Groſse diesen Übelständen nach Kräften zu steuern. Aber auch sein starker Arm war zu schwach gegen die Habsucht der Grundherren. Bald nach seinem Tode konstatierten die von Ludwig I. ausgesendeten missi, daſs eine unzählige Menge von freien Grundbesitzern ihrer Hufen oder ihrer Freiheit beraubt worden seien18. Die Auflösung, der das fränkische Reich unter Ludwig I. verfiel, beschleunigte den Gang der organischen Entwicklung, durch welche die Zahl der freien Bauern abnahm.

Trotz der Entstehung der groſsen Grundherrschaften traten im

15 v. Inama-Sternegg, Grundherrschaften S 80 f.

16 Cap. v. J. 805 c. 16, I 125: de oppressione pauperum liberorum hominum, ut non fiant a potentioribus per aliquod malum ingenium contra iustitiam oppressi, ita ut coacti res eorum vendant aut tradant. Cap. v. J. 806 c. 8, I 131: sunt et alii qui iustitiam legibus recipere debent et in tantum fiunt in quibusdam locis fatigati, usque dum illorum iustitiam (ihr Recht) per fideiussorum manus tradant, ita ut aliquid vel parvum possint habere et fortiores suscipiant maiorem porcionem. Cap. v. J. 811 c. 2, I 165: quod pauperes se reclamant expoliatos esse de eorum proprietate; et hoc aequaliter clamant super episcopos et abbates et eorum advocatos et super comites et eorum centenarios.

17 Lex Rom. Curiensis Paul. V 1, 4: si … ingenuus homo propter forciam de malos homines … se ipsum ad alterum hominem commendaverit et ipse dixerit: pro servo tibi volo esse et tu me libera de malorum ominum potestate aut de illorum forcia …

18 Theganus c. 13, MG SS II 593: qui egressi invenerunt innumeram multitudinem oppressorum aut ablatione patrimonii aut expoliatione libertatis, quod iniqui ministri comites et loco positi per malum ingenium exercebant.


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§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.

fränkischen Reiche nicht jene gesellschaftlichen Zustände ein, welche den Verfall des römischen Reiches kennzeichnen. Bauernkriege, wie sie das soziale Elend des vierten und fünften Jahrhunderts in Gallien erzeugt hatte, brachen im fränkischen Reiche nicht aus. Die Verschiebung der Besitzverhältnisse vollzog sich hier, ohne jene soziale Spannung hervorzurufen, welche sich in Revolutionen Luft macht. Denn mit der Ansammlung groſsen Grundbesitzes ging die Bildung zahlreicher Leiheverhältnisse Hand in Hand, welche die Nutzungen von Grund und Boden unter viele einzelne verteilten. Auch in den ausgedehntesten Grundwirtschaften griff kein Groſsbetrieb, keine Latifundienwirtschaft Platz. In der Regel bildete die Grundherrschaft keinen zusammenhängenden Komplex, sondern setzte sie sich aus vielen in verschiedenen Gegenden zerstreuten Hufen zusammen19. Oft ging das Anwachsen der Grundherrschaft in der Weise vor sich, daſs der Grundherr rechtlich verpflichtet war, die früheren Eigentümer der erworbenen Hufen als Hintersassen darauf sitzen zu lassen. Auch wäre die Zahl der unfreien Arbeitskräfte, obzwar sie infolge der Eroberungen namhaften Zuwachs erhalten hatte, immer noch zu gering20 gewesen, um wahren Groſsbetrieb einzuführen, der auch in der gallischen Bodenwirtschaft der römischen Zeit nur ausnahmsweise vorgekommen sein kann21. Liten und Kolonen waren gegen ständige Tagwerkerdienste durch ihre rechtliche Stellung geschützt22. Freie Arbeitskräfte vermochte man für den Grund und Boden nur auf dem Wege der Güterleihe zu gewinnen. Die Grundherrschaft blieb daher auf die Parzellenwirtschaft angewiesen, welche auch die Aufsicht und Leitung des Herrn weniger in Anspruch nahm, als dies bei einer Groſswirtschaft der Fall gewesen wäre. Nur ein kleiner Teil des grundherrlichen Bodens wurde vom Herrenhofe aus mittels der Leibeigenen desselben unmittelbar bewirtschaftet. Im übrigen waren die Voll- und Teilhufen mit Zinsbauern besetzt, so daſs die Grundherrschaft

19 Pactus pro tenore pacis c. 12, Cap. I 6: de potentibus, qui per diversa possident. Ed. Chloth. II c. 19, Cap. I 23: potentes, qui in alias possedent regionis …

20 v. Inama-Sternegg, WG I 70. 237 ff. Geradezu auffallend ist die geringe Vermehrung der Leibeigenen, wie sie a. O. S 239 an der Hand der Urkunden nachgewiesen ist. In der Tabelle S 514 daselbst kommen auf 1136 erwachsene Unfreie nur 1146 Kinder.

21 Mommsen, Die italische Bodenteilung, Hermes XIX 408: „Eigentliche Plantagenwirtschaft mit gefesselten Feldsklavenherden ist in dem Italien der Kaiserzeit überhaupt nur ausnahmsweise und miſsbräuchlich vorgekommen, vielmehr hat die italische Groſswirtschaft der Kaiserzeit regelmäſsig aus einem Komplex von Kleinwirtschaften bestanden.“

22 Der römische Kolonat war nicht auf die Groſswirtschaft berechnet.


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§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.

sich aus einer Anzahl von Kleinwirtschaften zusammensetzte. Soweit die Hörigen und Knechte des Grundherrn nicht ausreichten oder nicht geeignet waren die vorhandenen Hufen zu besetzen, wurden diese im Wege der Landleihe an seine Hintersassen ausgethan.

Die der fränkischen Zeit angehörigen Leiheverhältnisse haben sich allmählich in zwei Hauptformen geschieden, nämlich in die des Zinsgutes23 und in die des Lehens. Man darf jenes als ein Leiheverhältnis niederer, dieses als ein Leiheverhältnis höherer Ordnung bezeichnen. An Zwischenbildungen und Übergängen fehlt es nicht und die Grenze ist namentlich in den Anfängen der Entwicklung oft kaum zu bestimmen. Die Verleihung des Zinsgutes erfolgt unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Der Zinshof soll dem Herrenhof dienen, durch Fronden, Naturalabgaben oder Geldzinse des Besitzers die Wirtschaft des Herrenhofes ergänzen. Das Zinsgut stellt sich daher als eine Pertinenz des Herrenhofes dar. Die wirtschaftliche Abhängigkeit des Besitzers und die Art der Dienste, zu denen es verpflichtet, charakterisieren es als ein Leiheverhältnis niederer Ordnung, welches sich schlieſslich derart ausgestaltet, daſs es die öffentlich-rechtliche Stellung des Beliehenen beeinfluſst und eine Schmälerung der vollen Freiheit nach sich zieht.

Dagegen geschieht die Vergabung des Lehens nicht zu wirtschaftlichen, sondern zu öffentlich-rechtlichen Zwecken. Der Beliehene soll nicht dem Grundbesitz, sondern der Person seines Herrn dienen, er soll ihm nicht wirtschaftliche, sondern öffentlich-rechtliche, insbesondere militärische Dienste leisten. Die Leistungsfähigkeit des Beliehenen darf einerseits nicht durch die Bewirtschaftung des Leihegutes absorbiert werden, das Gut muſs seine persönliche Arbeit entbehren können. Andrerseits soll es ihm eine derartige ökonomische Stellung gewähren, daſs er die lehnsmäſsigen Kriegsdienste davon zu leisten vermag. Demgemäſs können nur wirtschaftlich selbständige und gröſsere Güter, solche auf welchen die bäuerliche Arbeit in der Hauptsache von Knechten oder Hintersassen besorgt wird, den Gegenstand des echten Lehens bilden, abhängige Höfe nur insofern, als dem Lehnsmann ihre Rente zugewiesen wird. Eine wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Herrenhof, eine Schmälerung der vollen Freiheit führt das Lehen nicht herbei; es ist darum ein Leiheverhältnis höherer Ordnung.

Zinsgut und Lehen haben durch Aufteilung der Grundrente die

23 Es ist hier natürlich nur das geliehene Zinsgut gemeint. Auch den Hof, den ein Knecht gegen Zins bewirtschaftet, kann man Zinsgut nennen; doch hat er es nicht auf Grund einer Leihe.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 14


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§ 26. Grundherrschaften und Landleihe.

germanisch-romanische Welt vor den sozialen Übeln bewahrt, welche dem unvermittelten Gegensatz zwischen Groſsgrundbesitz und Pauperismus entspringen. Die Aufteilung der Grundrente hat sich schlieſslich in eine Aufteilung des Grundeigentums umgesetzt. Denn was in unseren Tagen durch die Allodifizierung der Lehen und durch die agrarische Gesetzgebung geschah, ist nur der Abschluſs einer tausendjährigen Entwicklung, welche mit der Ausbildung der fränkischen Leiheverhältnisse begonnen hatte.

Die Terminologie der fränkischen Quellen faſst die verschiedenartigsten Formen der Landleihe unter dem Begriffe der precaria24 zusammen, dessen Entstehung schon oben Seite 200 f. besprochen wurde. Er ist in dieser Zeit noch viel dehnbarer geworden. Das zu precaria oder wohl auch „precarium“ verliehene Gut war entweder auf Widerruf25 oder auf bestimmte Zeit26 oder auf Lebenszeit27, auf mehrere Leiber28 oder erblich hingegeben29. Die Widerruflichkeit muſste besonders vorbehalten sein. Für die kirchlichen Prekarien galt im allgemeinen das Erfordernis fünfjähriger Erneuerung30. Daſs sie auch thatsächlich zur Anwendung kam, läſst sich in vereinzelten Fällen nachweisen31. Doch wurde sie in dem Prekarievertrage häufig ausgeschlossen. Auch

24 Als eine Übersetzung von precaria erklärt sich wohl das bisher noch nicht gedeutete Wort gafergarias in Pardessus, Dipl. II 289 Nr 481 v. J. 711. Im Gau Toxandrien schenkt jemand sein Besitztum: casis, curticlis, campis … mobili cum immobili cum manentibus ibidem aspicientibus X, servientes gafergarias hochofinnas, cum ingressu et egressu. Gafergarias ist auf fërgôn, bitten, precari zurückzuführen. Bei hochofinnas möchte ich nicht wie Waitz II 2 S 315 Anm 3 an Hochöfen, eher an Hochhufen denken. Hofinna stände für hovina (in einer flandrischen Urkunde bei Du Cange III 723), soviel wie hobunna, huba. Vielleicht ist aber och hofinnas zu lesen. Der Donator schenkt die Hintersassen, welche die Leihegüter und die kleinen Hufen bedienen.

25 Marc. II 41: quamdiu vobis placuerit. Form. Tur. 7: quatenus vestrum manserit decretum. Eine praestaria wurde in solchem Falle nicht ausgestellt.

26 Lex Wisig. X 1, 12: si per precariam epistolam certus annorum numerus fuerit comprehensus. Rozière Nr 320, Zeumer S 491: ut quamdiu advixeris aut ad annos quinque aut decem aut quindecim ipsas res … usualiter habere … debeas. Vaissete II Nr 56 v. J. 820: per annos viginti duos.

27 Form. Andeg. 7; Marc. II 3. 39.

28 Wartmann, St. Gall. UB Nr 3. 17. 18. 19.

29 Form. Aug. Coll. B. 8, Zeumer S 352.

30 S. oben S 202. Roth, Feudalität S 170; Loening, Kirchenrecht S 713.

31 Mit Unrecht bezweifelt es Waitz, VG II 1 S 300. Bernard, Chartes de Cluny I 106, Nr 95 v. J. 907: morem antiquorum nostrorum decessorum sequens secundum Romane legis sanctionem … renovare decrevimus praestariam quam Bodoni … olim fecimus. Die frühere Verleihung hatte i. J. 902, Bernard I 73 Nr 64, stattgefunden und damals war fünfjährige Erneuerung vorgeschrieben worden.


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hatte jener Grundsatz wohl nur den Charakter einer kirchlichen Ordnungsvorschrift, welche bestimmt war, das Eigentum der Kirche gegen Verdunklung zu schützen32, so daſs das Unterbleiben der Erneuerung privatrechtliche Wirkungen nicht nach sich zog, sondern die Prekarie für stillschweigend verlängert galt. Zu Gunsten des Besitzers wird seit der Mitte des achten Jahrhunderts nicht selten verabredet, daſs das Gut wegen Versitzung des Zinses nicht eingezogen werden dürfe, also der Grundsatz: qui negligit censum, perdat agrum33, keine Geltung haben solle. Wenn der Beliehene das Gut, das er als Prekarie erhält, vor der Verleihung dem Verleiher zu Eigentum aufgetragen hatte, spricht man von einer precaria oblata im Gegensatz zur precaria data34, bei der dies nicht der Fall war. Zu jener gaben insbesondere die Landschenkungen an Kirchen den Anlaſs, bei welchen sich der Schenker die Rückleihe zu lebenslänglichem Nieſsbrauch ausbedang. Dann zahlte er entweder gar keinen Zins oder einen solchen, welcher nur den Zweck hatte, das Eigentumsrecht des Verleihers zum Ausdruck zu bringen35, wofür die geringsten Beträge genügten.

Die Verleihung der Prekarie wurde im Anschluſs an einen Sprachgebrauch, der schon in römischer Zeit üblich war36, als beneficium des Verleihers bezeichnet37. Beneficium hieſs aber bald auch das Leiheverhältnis und das Leihegut selbst, ohne daſs zwischen precaria und beneficium unterschieden wurde. Seit der Entstehung des eigentlichen Benefizialwesens, welche erst weiter unten bei Darstellung der fränkischen Verfassungsgeschichte erörtert werden kann, brachte man die Landschenkungen des Königs, die früher ein beschränktes Eigen-

32 In Baiern verlangte die Kirche, wenn der Schenker sich den Nieſsbrauch vorbehielt, und bei der donatio post obitum aus demselben Motive fünfjährige Erneuerung der Tradition. Brunner, RG der Urkunde S 268.

33 Concil von Meaux v. J. 845, c. 62; Loening, KR S 712 Anm 3.

34 Diese Unterscheidung ist von Albrecht, Gewere S 195 nach Analogie des feudum oblatum und datum gemacht worden. Die Quellen kennen jene Ausdrücke nicht.

35 Ob recordationem. Trad. Lauresh. I S 60. 71. Waitz, VG II 1 S 296.

36 Schon Tertullian († 220) sagt adversus Hermogenem c. 9 (Migne, Patrol. II 229): his enim tribus modis aliena sumuntur: iure, beneficio, impetu, id est dominio, precario, vi. Vgl. Paulus in l. 14 Dig. 43, 26: magis … ad … beneficii causam quam ad negotii contracti spectat precarii conditio.

37 Z. B. Form. Andegav. 7: fecistis mihi beneficium de rem vestram. In den Formeln: Form. Merkel. 34, Zeumer S 254 (precaria): nostra fuit petitio et vestra non negavit voluntas, ut illa rem vestra … per vestrum beneficium … nobis relaxare deberitis, und in Form. Merkel. 35 S 255 (commendatitiae): vestra fuit petitio et nostra decrevit voluntas ut illa rem nostra … per nostram precariam vobis relaxare deberimus, entsprechen sich die Ausdrücke beneficium und precaria.

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tum gewährt hatten, unter den Gesichtspunkt eines Leiheverhältnisses und nannte sie beneficia. Der Ausdruck precaria wurde für die königlichen Benefizien vermieden38. Allmählich begann man dann zwischen precaria als Zinsgut und beneficium als Lehen zu unterscheiden39; allein einen konstanten Sprachgebrauch hat die fränkische Zeit in dieser Beziehung noch nicht hergestellt40.

Die groſsen Grundherrschaften verblieben, soweit sie nicht ganze Marken aufgesogen hatten, zunächst im Verbande der Markgenossenschaften. Doch machte sich das Übergewicht der Grundherren bei der Ordnung der Markverhältnisse thatsächlich geltend, zumal ja die Nutzungsrechte nach der Gröſse des Grundbesitzes bemessen waren. Den wirtschaftlichen Mittelpunkt des einzelnen Grundkomplexes bildete der Herrenhof, Salhof, später Fronhof, sala, curtis salica. Es ist der Hof, welchen der Herr bezw. der zu seiner Vertretung eingesetzte Verwalter bewohnt. Das Land, welches von hier aus unmittelbar bewirtschaftet wurde, hieſs terra salica, mansus dominicus, indominicatus, seliland41. An den Herrenhof sind von den abhängigen Höfen die schuldigen Zinse und Abgaben zu zahlen, die Fronden zu leisten. Vom Herrenhofe aus ergehen die Anordnungen über die Bewirtschaftung, welche den in den freien Dorfschaften waltenden Flurzwang ersetzen. Jenachdem die abhängigen Höfe mit freien Hintersassen oder mit Liten oder mit Knechten besetzt waren, unterschied man mansi ingenuiles, litiles, serviles. Doch sind die Leistungen und Abgaben im Laufe der Zeit auf die einzelnen Höfe radiziert worden. Seitdem ist nicht mehr der Stand des Besitzers, sondern die herkömmliche Belastung des Hofes maſsgebend für jene Unterscheidung, so daſs dieser ein mansus ingenuilis blieb, auch wenn er mit einem Knechte, ein mansus servilis, auch wenn er mit einem Freien besetzt wurde42. Abhängige Hufen, die mit einem Hintersassen als regelmäſsigem Inhaber besetzt waren, hieſsen mansi vestiti, solche, bei denen dies nicht der Fall war, mansi absi43.

38 Die precaria hatte von der epistola ihren Namen. Daſs der König sich zur Sicherung seines Eigentums von dem Unterthan eine Urkunde ausstellen lieſs, mochte als unpassend und durfte als überflüssig angesehen werden, da der König genügende Machtmittel in der Hand hatte, sein Recht jederzeit geltend zu machen.

39 Roth, Feudalität S 142 ff. Waitz, VG IV 180 Anm 1.

40 Waitz, VG VI 82 ff.

41 Nach Inama-Sternegg, WG I 307 f. war das Salland ursprünglich nicht in Hufen vermessen und ist das in Hufen gelegene Dominikalland als späterer. Zuwachs zum Herrengute anzusehen.

42 Guérard, Polyptyque I 582. Waitz, VG II 1 S 245.

43 Guérard a. O. S 589. Waitz, Hufe S 220.


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§ 27. Geld- und Münzwesen.

J. H. Müller, Deutsche Münzgeschichte I, 1860. Waitz, Über die Münzverhältnisse in den älteren Rechtsbüchern des fränkischen Reiches, 1861 Abhandl. der Gött. Gesellschaft der Wissensch. IX; derselbe, Verfassungsgesch. II 2 S 305 ff., IV 77 ff. Soetbeer, Beiträge zur Geschichte des Geld- und Münzwesens in Deutschland, Forschungen I. II. IV. VI. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 28 ff. v. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte S 183. 450. Guérard, Polyptyque de l’abbé Irminon I 109 ff. 941 ff.

Durch den Verkehr mit den Römern hatten die Germanen das römische Metallgeld kennen und schätzen gelernt. Unter den Goldmünzen römischen Gepräges, welche man in Deutschland aufgefunden hat, sind namentlich die Goldsolidi des konstantinischen Münzfuſses häufig vertreten. Von den Sibermünzen nahmen die Germanen mit Vorliebe die schwereren älteren Silberdenare1 und hielten daran fest, als sie im römischen Reiche auſser Kurs gesetzt und durch Denare geringeren Silbergehaltes verdrängt worden waren. Bald nach der Eroberung Galliens führten die Salfranken eine Neuordnung des daselbst herrschenden Münzwesens durch, indem sie vierzig Silberdenare einem Goldsolidus gleichsetzten. In Gallien zirkulierten vor dieser Reform neben den Goldsolidi und neben Kupfermünzen, die für die Geschichte des deutschen Münzwesens nicht weiter in Betracht kamen, Silbermünzen, siliquae genannt, deren 24 auf den Goldsolidus gerechnet wurden. Es ist wahrscheinlich, daſs die Salier an diese siliqua anknüpften, indem sie dieselbe, weil sie minderwertig ausgeprägt war, mit Rücksicht auf ihren wirklichen Metallgehalt und mit Rücksicht auf das damalige Wertverhältnis des Silbers zum Golde als den vierzigsten Teil des Goldsolidus in Rechnung stellten und als Denar bezeichneten. Das deutsche Wort für Solidus war Schilling. Aus dem Pfund Goldes wurden anfänglich 72, seit der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts 84 Schillinge geschlagen. Öfter als der Solidus dürfte der Goldtriens, das Drittel des Solidus2, ausgeprägt worden sein.

Im Gegensatz zu den Franken scheinen die oberdeutschen Stämme an der Rechnung nach schweren Silberdenaren festgehalten zu haben. Die Baiern und die Alamannen zählen nämlich auf den Goldsolidus

1 Tacitus, Germ. c. 5: pecuniam probant veterem et diu notam, serratos bigatosque (Denare mit zackigem Rande und mit dem Gepräge des Zweigespanns). argentum quoque magis quam aurum sequuntur, nulla affectione animi, sed quia numerus argenteorum facilior usui est promiscua ac vilia mercantibus.

2 Auch tremissis genannt. Lex Rib. 23; Pactus pro tenore pacis c. 6 Cap. I 4. Tremissus sagt die Recap. zur Lex Sal. A 4 und B 5 statt triens in Lex Sal. 35, 4 (Cod. 6).


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§ 27. Geld- und Münzwesen.

12 saigae. Vermutlich sind es die schweren römischen Silberdenare, die uns hier als saigae begegnen.

Der Goldsolidus war in Austrasien nur Rechnungsgeld und auch die Silberdenare wurden hier im Verkehr wenig gebraucht. Dieser ging im groſsen und ganzen nicht über den Tauschhandel hinaus; thatsächliches Zahlungsmittel blieb das Vieh. Denn die austrasischen Deutschen befanden sich unter den Merowingern in einem Zustande wirtschaftlicher Isolierung. Die Handelsbeziehungen, welche in römischer Zeit bestanden hatten, waren durch die Völkerwanderung verschüttet, neue Verkehrswege seitdem nicht erschlossen worden. Erst die Karolinger begannen Austrasien in das entwickeltere Verkehrsleben Neustriens hineinzuziehen. Eine Maſsregel austrasischer Wirtschaftspolitik war es auch, daſs das fränkische Münzwesen kurz vor der Mitte des achten Jahrhunderts, als der Goldvorrat im Reiche fast erschöpft war, vom Goldsolidus zum Silbersolidus überging. Denn durch die Art der Neuerung wurde den austrasischen Stämmen die Möglichkeit eröffnet, sich über den Tauschhandel emporzuheben und an allgemeineren Gebrauch des gemünzten Geldes zu gewöhnen3.

Die neue Münzordnung wird zuerst in einem Kapitulare Karlmanns von 743 erwähnt. Sie rechnet auf den Silbersolidus 12 Denare. Da auf das Pfund Silber 20—22 solidi gingen, so hatte der Silbersolidus rechnungsmäſsig etwa das vierfache Gewicht des Goldsolidus. Schätzt man das Gold auf den zwölffachen Wert des Silbers, so entsprechen in runder Zahl drei Silbersolidi dem Goldsolidus. Übrigens war der Silbersolidus nur Rechnungsmünze, ausgeprägt wurde er nicht4. Ein Kapitular Pippins von 754—55 bestimmte, daſs auf das Pfund nicht mehr als 22 solidi ausgeprägt werden sollten, von welchen der Münzer einen Solidus als Schlagschatz abziehen dürfe5. Seit etwa 780 ist die Ausprägung des Pfundes zu einem Münzwert von 20 solidi bezeugt6, und dabei ist es auch auf die Dauer geblieben, nur daſs um jene Zeit Karl der Groſse dem leichteren römischen Pfunde von 327 Gramm ein schwereres substituierte, welches von jenem mindestens um 40 Gramm differierte7.

In Baiern hielt man längere Zeit an dem Goldsolidus fest, auf

3 v. Inama-Sternegg, WG I 452.

4 Die Münzfunde weisen ebensowenig einen Silbersolidus wie einen Silbertremissis auf. Müller a. O. S 264.

5 Cap. I 32 c. 5.

6 Cap. episcoporum I 52.

7 Nach Soetbeer IV 311 wog das neue Pfund 367, nach Guérard I 125 und v. Inama-Sternegg I 450 hatte es 408 Gramm.


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§ 27. Geld- und Münzwesen.

welchen zuerst 368, dann im neunten Jahrhundert 30 fränkische Denare9 gerechnet wurden10. Auch die alten saigae blieben hier in Gebrauch, wogegen die Alamannen den Ausdruck saiga nunmehr auf den zwölften Teil des Silbersolidus, den fränkischen Denar, bezogen, wie sie ihn vorher auf den zwölften Teil des Goldsolidus bezogen hatten11.

Besondere Münzverhältnisse begegnen in den Rechtsquellen der Sachsen und Friesen. Die Sachsen unterscheiden nach der Unterwerfung einen gröſseren Silbersolidus zu drei und einen kleineren zu zwei Trimsen (tremisses); der letztere ist gleichwertig mit einem einjährigen, der erstere mit einem sechzehnmonatlichen Ochsen. Die erheblichsten Schwierigkeiten bietet das friesische Münzwesen dar12. Ehe die karolingische Münzreform bei ihnen durchdrang, rechneten die Friesen nach Goldsolidi und Denaren, später veteres denarii genannt. Als die fränkische Silberwährung zur Herrschaft gelangte, bezeichneten sie den neuen Drittelsolidus, den Tremissis, als Denar der neuen Münze, denarius novae monetae13. Aber nur in Mittelfriesland rechnete man drei neue Denare auf den Solidus. Die West-

8 Lex Baiuw. IX 2: una saica id est 3 denarios.

9 Siehe Waitz, Münzverhältnisse S 30. Meichelbeck Nr 349 v. J. 817. Hundt, Abh. d. bayr. Akad. XIII 1 S 14, Nr 25 v. J. 846: et censuit annis singulis ad missam s. Martini persolvendum denarios 30 aut solidum unum de auro. Poenitentiale Merseburgense c hinter c. 15 bei Wasserschleben, Buſsordnungen S 437: et constituit ut pro uno solido id est 30 denarios missam unam cantet presbyter parochianus.

10 Die Differenz scheint mit der Einführung des schwereren Pfundes unter Karl dem Groſsen zusammenzuhängen. Goldsolidi wurden für den Verkehr nicht mehr ausgeprägt (Waitz, VG IV 78), so daſs der Goldsolidus nach dem alten, leichteren Pfunde in Anschlag zu bringen ist.

11 Die schwere saiga (1/12 des Goldsol.) findet sich nur im Pactus Alamannorum. Die Lex Alamannorum erwähnt sie nicht. Ein Zusatz aus karolingischer Zeit, Karolina 6, 2: saiga est quarta pars tremissi, hoc est denarius unus … tremissus est tertia pars solidi et sunt denarii quatuor, ist wohl auf den Silbersolidus zu beziehen.

12 Leider sind uns sowohl Soetbeer als auch v. Richthofen die von ihnen in Aussicht gestellten Untersuchungen über das friesische Münzwesen schuldig geblieben. Dürftig sind die Bemerkungen J. H. Müllers, Münzgesch. I 264 f.

13 In 4, 9; 9, 7; 22, in Add. 3 a, 1. 8. 10. 26 und in den Zusätzen zu 1, 10 und Add. 3 a, 58 nennt die Lex Fresionum statt des Denars den Tremissis. Vermutlich standen die Denare, in welche bei den Friesen der Goldsolidus eingeteilt war, im Werte dem Tremissis näher als dem fränkischen Denar (dem zwölften Teil des Silbersolidus) und wurde deshalb für die Trimsen der neuen Währung die Bezeichnung denarius verwendet, während man den Ausdruck tremissis ursprünglich vermied, weil er nicht zu dem Verhältnisse paſste, in welchem der tremissis (der novus denarius) zu dem kleinen ost- und westfriesischen Rechnungssolidus stand.


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§ 27. Geld- und Münzwesen.

und Ostfriesen verwendeten als Rechnungsmünze einen kleineren Solidus, indem jene zweieinhalb, diese nur zwei neue Denare als Solidus zusammenfaſsten. In jüngeren Teilen des friesischen Volksrechtes werden die neuen Denare Tremissen genannt und scheint sich zur Zeit ihrer Entstehung bereits die Einteilung des Silbersolidus in zwölf Denare, wie bei den Franken, durchgesetzt zu haben. Daneben kannte man eine Rechnung nach Pfunden, die in zwölf Unzen zerfielen14.

Der Übergang vom Goldsolidus zum Silbersolidus hatte bei den Stämmen, welche schon vor dieser Veränderung dem fränkischen Reiche angehört hatten, eine Herabsetzung der Buſsen und der Friedensgelder auf etwa den dritten Teil ihres Nominalbetrags zur Folge. In einem Kapitulare, das uns leider nicht überliefert ist, bestimmte Pippin, daſs den Kompositionen fürderhin der Silbersolidus zu Grunde gelegt werden solle15. Doch blieb für die Buſsen und Friedensgelder der Lex Salica die alte Berechnung nach solidi zu 40 Denaren in Kraft16. Auch diese Ausnahme schaffte Ludwig I. im Jahre 816 ab. Nur wenn ein Friese oder Sachse einen Salier getötet und somit dessen Wergeld verwirkt hatte, sollte es in alter Weise bezahlt werden17, ein Vorbehalt, der wohl kaum aus einer besonders strengen Behandlung der Sachsen und Friesen18, eher aus der Rücksicht auf die höheren Wergeldsätze zu erklären ist, durch welche die zahlreiche Klasse des sächsischen und des friesischen Adels ausgezeichnet war19.

14 Lex Fris. 15. S. unten § 44.

15 Conc. Rem. v. J. 813 c. 41 bei Mansi XIV 81: ut domnus imperator secundum statutum b. m. d. Pippini misericordiam faciat, ne solidi qui in lege habentur per 40 denarios discurrant …

16 Cap. v. J. 803 c. 9, I 114. Die Ausnahme erklärt sich am einfachsten daraus, daſs man sich an den Wortlaut der Buſssätze für gebunden erachtete, die in der Lex Salica zugleich in Denaren und in solidi angegeben waren.

17 Cap. legi addita v. J. 816 c. 2, I 269: de omnibus debitis solvendis, sicut antiquitus fuit constitutum, per duodecim denarios solidus solvatur per totam Salicam legem, excepto leudes, si Saxo aut Frisio Salicum occiderit, per 40 denarios solidi solvantur.

18 So Waitz, VG IV 81.

19 Der Umstand, daſs die Lex Salica keinen Adel kennt, wurde für die vornehmen Salier, die unter den Friesen und Sachsen lebten, einigermaſsen dadurch ausgeglichen, daſs ihre Wergelder nach dem alten, nicht wie die des einheimischen Adels nach dem neuen Münzfuſs bezahlt wurden. Dieses Verhältnis sollte 816 nicht geändert werden, weil sonst das Wergeld der Salier zu sehr unter das der sächsischen und friesischen Adeligen herabgedrückt worden wäre.


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§ 28. Die Sippe.

S. die Litteratur zu § 13 und Heusler, Institutionen II 272 ff. 480 ff.

Der Sippeverband, der mit ungebrochener Kraft in die fränkische Zeit eintrat, hat sich im groſsen und ganzen als ein wesentlicher Faktor der gesellschaftlichen Ordnung behauptet. Die Energie, mit welcher die Rechtsanschauungen des Volkes an den Pflichten der Sippe festhielten, wird durch die Thatsache beleuchtet, daſs vereinzelte Züge der germanischen Geschlechtsverfassung, wie die Rachepflicht und die Eideshilfe, in die Rechtssitten der römischen Bevölkerung eingedrungen sind. Dennoch hat im Verlaufe der fränkischen Periode die Stellung der Sippe nach verschiedenen Richtungen hin eine Abschwächung erfahren. Die erstarkende Staatsgewalt hat es versucht und zum Teil auch durchgesetzt, die Funktionen der Sippe einzuschränken. Die Stellung des Hausherrn und der Hausgenossenschaft wurde der Sippe gegenüber eine freiere und unabhängigere. Unter nicht verwandten Personen entstanden persönliche Treuverhältnisse, welche den durch die Sippe gewährten Schutz überboten. Diesen Auflösungstendenzen gegenüber hat sich die Geschlossenheit der Sippe bei den Niederdeutschen im allgemeinen zäher bewahrt wie bei den Oberdeutschen.

Der Umfang der Sippe wird in dieser Zeit bei den verschiedenen Stämmen wenigstens in gewissen Beziehungen rechtlich fixiert. Die Staatsgewalt machte nämlich im Verhältnis zu den vermögensrechtlichen Ansprüchen, welche die Blutsverwandtschaft gewährte, bei einem bestimmten Knie das Ende der Sippe geltend, indem sie, wenn Verwandte innerhalb dieses Knies nicht vorhanden waren, das Erbe, das Wergeld und die Heiratsgebühren mit Ausschluſs entfernterer Kniee an sich zog. Bei den Ribuariern1 und Thüringern2 wird das fünfte, bei den Salfranken das sechste3, bei den Baiern4, Langobarden5 und wohl auch bei den Sachsen6 das siebente Glied als das Ende der Sippe gerechnet, eine Verschiedenheit, welche zum Teil vielleicht auf verschiedenartigem Beginn der Kniezählung beruht7. Offenbar weil

1 Lex Rib. 56, 3: usque quinto genuclo.

2 Lex Angl. 34: usque ad quintam generationem.

3 Lex Sal. 44, 10: iam post sexto genuculum.

4 Lex Baiuw. XV 10, 4: si … nullus usque ad septimum gradum de propinquis et quibuscumque parentibus invenitur …

5 Rothari 153: usque in septimum geniculum (parentilla) nomeretur.

6 Lex Sax. 18. Vgl. Sachsenspiegel I 3 § 3.

7 Je nachdem die Geschwisterkinder als erstes, oder als zweites, oder wie bei


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§ 28. Die Sippe.

er betonen will, daſs er über das Maſs der normalen Blutrache weit hinausgehen werde, schwört König Guntram, daſs er, um den Tod seines Bruders zu rächen, nicht bloſs den Mörder, sondern auch dessen Sippe bis ins neunte Glied vertilgen werde 8. Im Fehde- und Wergeldwesen wird bei den Franken in der Regel nicht über das dritte, niemals aber über das vierte Glied der eigentlichen Vetterschaft (die fünfte bezw. sechste Parentel der Parentelenordnung) hinausgegangen.

Die Grundsätze über die Verteilung des Wergeldes und über das Maſs der Wergeldhaftung treten in den Quellen dieser Zeit wenigstens für einzelne Stammesrechte deutlicher hervor, so daſs sich, wenn wir jüngere Belege zur Ergänzung heranziehen, immerhin ein einigermaſsen abgerundetes Gesamtbild gewinnen läſst.

Bei den Salfranken zerfällt das Wergeld in zwei gleiche Hälften, deren eine als Erbsühne den Söhnen oder nächsten Erben des Erschlagenen zukommt, während die andere Hälfte als Magsühne zu gleichen Teilen zwischen Vater- und Muttermagen geteilt wird 9. Das salische Recht sondert die väterlichen und die mütterlichen Äste der Verwandtschaft so scharf, daſs in Ermangelung von Vatermagen deren Quote nicht an die Muttermagen, sondern an den Fiskus fällt und ebenso der Fiskus zugreift, wenn es an Muttermagen gebricht. Die

den Langobarden gar als drittes Glied gerechnet werden. Vgl. Heusler, Instit. II 592 f.

8 Gregor. Tur. Hist. Franc. VII 21: tunc rex iuravit omnibus optimatibus, quod non modo ipsum (Eberulfum) verum etiam progeniem eius in nonam generationem deleret, ut per horum necem consuetudo auferretur iniqua, ne reges amplius interficerentur. Da man hier unter den neun Generationen natürlich nicht Abkömmlinge des Eberulf verstehen kann, so ist die Stelle ein hübscher Beleg für die fränkische Zählung der Magschaft nach Generationen oder Gliedern. Eine treffliche Illustration bietet die Äuſserung des Löwen im Reineke Fuchs, weitere Unthaten des Reineke sollten alle büſsen, die ihm bis zum zehnten Gliede verwandt sind. Vos Reinaerde, hg. von Martin 1874, Vers 2536.

9 Lex Sal. 62; Cap. II zur Lex Sal. c. 3 (Behrend-Boretius S 94; Hessels T. 101). Der Anteil der mater ist hier jüngeres Recht. Sal. 62 kennt ihn noch nicht. In der Ansicht, daſs die mater die Witwe bedeutet (Z2 f. RG III 34), bestärkt mich gegen Heusler, Instit. II 523 Anm die Ausdrucksweise von Lex Sal. 62: si cuiuscunque pater occisus fuerit, medietate conpositionis filii collegant. Das weist auf ein etwas verschobenes Verwandtschaftsbild hin, in welchem der Erschlagene als pater bezeichnet ist und dessen Witwe natürlich nur als mater eingesetzt werden kann. Sonst müſste man unter den filii die Enkel des Erschlagenen verstehen, was unmöglich ist. — Aus Cap. I zur Lex Sal. c. 5 § 2: mortem illius nec parentes nec filius nullatenus requiratur, darf geschlossen werden, daſs Erbsühne und Magsühne unabhängig von einander eingeklagt werden konnten.


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§ 28. Die Sippe.

Vater- resp. die Muttermagen teilen die ihnen zukommende Quote in der Weise, daſs das erste Knie zwei Drittel, das zweite von dem verbleibenden Reste wieder zwei Drittel, das dritte endlich den Rest nimmt, so daſs sich die Anteile der Vettern der verschiedenen Parentelen wie 6 : 2 : 1 verhalten. Bei den Sachsen 10 und Friesen 11 betrug die Erbsühne zwei Drittel, die Magsühne ein Drittel des Wergeldes 12. Die Angelsachsen gaben den Vatermagen den doppelten Anteil der Muttermagen. Nach manchen Rechten empfing der nächste Verwandte aus dem Wergelde ein Voraus, welches aus Anlaſs des Friedenskusses oder der die Sühne abschlieſsenden Umarmung gezahlt wurde 13. Im ältesten Sachsenrechte und ebenso bei den Franken findet sich eine Vorsühne, im sächsischen Volksrechte praemium genannt, welche demjenigen Magen gebührte, der sich am meisten darum bemüht hatte, daſs dem Toten sein Recht werde 14.

Den Ribuariern und den Thüringern ist die Sonderung des Wergeldes in Erb- und Magsühne bereits unbekannt. Hier wird das ganze Wergeld als Erbschaft behandelt und fällt an die nächsten Erben 15. Auf demselben Standpunkte steht das langobardische Recht 16. Ebenso tritt uns bei den Baiern und Schwaben keine Spur einer Sonderung von Mag- und Erbsühne entgegen.

Sachsen, Angelsachsen, Friesen und Nordgermanen lassen die Magen unbedingt für eine Quote des Wergeldes haften. Das älteste Volksrecht der salischen Franken statuiert in einer berühmten Stelle eine subsidiäre Haftung der Magschaft, falls nämlich der Totschläger nach abgeschlossenem Sühnevertrag die gelobte Wergeldquote trotz

10 Arg. Lex Sax. c. 19.

11 Lex Fris. 1, 1.

12 Bei den Holsten ist das Verhältnis später umgekehrt. Die Magsühne beläuft sich auf zwei Drittel des Wergeldes, ebenso wie nach dänischem und schonischem Rechte, wo Erben, Vatermagen und Muttermagen je ein Drittel des Wergeldes nehmen.

13 S. oben S 161. Diesen Charakter hat der angelsächsische Halsfang, gewöhnlich ein Zehntel der ganzen Were. In den flandrischen Rechten des Mittelalters begegnet uns ein solches Voraus als Mundsühne.

14 Lex Sax. c. 14. Auch die in Herolds Lex Salica 79 (Hessels, Extravag. A 6) bei Totschlag genannte delatura scheint diesen Charakter zu haben. In Holland begegnet uns das praemium später als Moetsühne.

15 Arg. Lex Rib. 12, 2. 67, 1 (das Wergeld haftet für Erbschaftsschulden). Lex Angl. c. 31.

16 Arg. Roth. 162: Von dem Wergelde des filius naturalis nehmen die fratres legitimi zwei Drittel, die naturales ein Drittel. Von weiteren Verwandten ist nicht die Rede. Das langobardische Recht gestattet die Zuwendung des Wergeldanspruchs durch Verfügung auf den Tötungsfall.


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§ 28. Die Sippe.

Erschöpfung seines ganzen beweglichen Vermögens nicht aufzubringen vermag. Er kann dann durch Abtretung seines Hofes die Magen zur Zahlung des ungetilgten Restes heranziehen und zwar je drei Generationen der Vater- und Muttermagschaft. Ist die Sippe der lebenden Hand nicht imstande, das Defizit zu decken, so muſs sie den Thäter an den Wergeldgläubiger ausliefern, der ihn töten darf, wenn ihn niemand auslöst 17. Vermutlich beschränkte sich diese subsidiäre Haftung auf die Erbenbuſse, während die Magbuſse von vorneherein durch die Verwandten des Totschlägers aufzubringen war, wie dies in flandrischen, seeländischen und holländischen Quellen der folgenden Periode Rechtens ist.

Die Volksrechte der Ribuarier und der Oberdeutschen bieten keinerlei Anhaltspunkte für eine Wergeldhaftung der Magschaft; hier scheint die Wergeldschuld von Rechtswegen bereits nur noch Sache des Totschlägers und seiner Hausgenossenschaft gewesen zu sein.

Im wirklichen Leben ging die Teilnahme der Verwandten noch über ihre rechtlichen Pflichten hinaus. Räuber und Verbrecher überhaupt, die auſserstande sind, die ihnen zuerkannte Strafe abzulösen oder die Unthat zu sühnen, müssen nach dem salischen Rechte des sechsten Jahrhunderts an mehreren Gerichtstagen den Verwandten zur Auslösung angeboten werden, ehe sie mit dem Tode bestraft oder ihren Feinden ausgeliefert werden 18. Racheübung und Wergeldschuld der Verwandten dringen sogar in die Kreise der Unfreien ein, bei welchen sie das Volksrecht schlechterdings nicht kannte 19. Auch die römische Bevölkerung wurde durch das Fehdewesen erfaſst. Es ist eine Anwendung römischer Rechtssätze auf eine germanische Rechtsanschauung, wenn uns in einer Quelle berichtet wird, daſs die Söhne eines angeblichen Herzogs Sadregiselus gemäſs römischem Rechte die väterliche Erbschaft einbüſsten, weil sie es versäumt hätten, für die Tötung ihres Vaters Vergeltung zu suchen 20.

17 Lex Sal. 58.

18 Pactus Child. I et Chloth. I c. 2, Cap. I 5; Ed. Chilp. c. 8, Cap. I 10.

19 Ein Brief Einhards aus Seligenstadt von 828—840 (Jaffé, Epistolae Einhardi in Mon. Carol. bibl. rer. Germ. IV 469 ff. Nr 43) berichtet, es seien zwei servi des heiligen Martinus aus der villa Hedabahc (Heidebach) nach Seligenstadt in eine Kirche geflüchtet, weil ihr Bruder einen ihrer Genossen erschlug; sie bitten, daſs es ihnen gestattet werde für den Bruder das Wergeld des Erschlagenen zu zahlen et ut ei membra perdonentur. Die Flucht der Brüder erklärt sich nur daraus, daſs sie sich der Blutrache ausgesetzt fühlten. Der Schauplatz der Erzählung sind die unteren Maingegenden; sie erinnert an die Geschlechtsfehden der Knechte, welche in den leges et statuta Burchardi c. 30 mit grellen Farben geschildert werden.

20 So die Gesta Dagoberti c. 35, eine Kompilation des 9. Jahrhunderts, deren


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§ 28. Die Sippe.

Gesetzgebung und Verwaltung suchten die Teilnahme der Sippe an Fehde und Wergeld im Interesse des allgemeinen Friedens zu beschränken. Ein Dekret König Childeberts II. von 596 setzte die Todesstrafe auf vermessentliche Tötung. Um den Abschluſs einer auſsergerichtlichen Sühne zu erschweren, wurde den Magen des Totschlägers verboten, zur Zahlung des Wergeldes beizusteuern 21. Daſs diese Vorschrift auch nur in dem Reiche Childeberts II. sich in dauernder Geltung behauptet habe, ist nicht wahrscheinlich. Dagegen muſs in einzelnen Gegenden salischen Rechtes die Haftung der Magen für das Wergeld schlechtweg auſser Gebrauch gekommen sein 22. Nach einer Bestimmung des sächsischen Volksrechtes sollen im Falle des Mordes nur der Mörder und seine Söhne der Fehde ausgesetzt sein, dagegen nicht die Magen, soferne sie die Magsühne des einfachen Totschlags bezahlen 23. Das burgundische und das westgotische Recht schlieſsen grundsätzlich jede Fehde aus und ebenso jede Haftung der Sippe für die Missethat eines Sippegenossen 24. Karl der Groſse und Ludwig I. unternahmen es, die Fehde im Wege der Verwaltung zu unterdrücken, soweit sie das Volksrecht noch gestattete, indem der Graf das Recht erhielt, die feindlichen Parteien zum Sühnevertrag und zur Urfehde zu zwingen.

Bei der Leistung der Eideshilfe wird nicht mehr wie einst an dem Erfordernis blutsverwandter Eideshelfer festgehalten. Einige Rechte gestatten der Partei schlechtweg oder doch in Ermangelung von Blutsverwandten mit beliebig ausgewählten Helfern zu schwören, ein

Unzuverlässigkeit hier nicht in Betracht kommt. Migne, Patrologia lat. XCVI 1409: Cum Sadregiselus dux Aquitanorum … interfectus esset … et cum haberet … filios in palatio educatos, qui cum facillime possent mortem patris evindicare noluerunt, propterea postea secundum legem Romanam a regni proceribus redarguti omnes paternas possessiones perdiderunt. Cumque omnia ad regalem fiscum fuissent recepta … Noch ein sächsischer Jurist des 19. Jahrh., Treitschke, De weregildo, 1813, erklärt es mit Rücksicht auf l. 17 Dig. 34, 9 für einen Indignitätsgrund, der die Entziehung der Erbschaft nach sich ziehe, wenn der Erbe das Wergeld nicht einklagte, soweit die Wergeldklage nach damaligem kursächsischen Rechte noch platzgriff.

21 Cap. I 16 c. 5.

22 Das ergiebt sich aus einem Zusatz der Heroldina zu Titel 58 der Lex Sal., aus der Titelrubrik zu Titel 58 in den Codices 7. 8. 9 und aus der Bemerkung der Codices B—H: de chrenchruda lege, quae paganorum tempore observabant, deinceps numquam valeat, quia per ipsam cecidit multorum potestas. Vgl. oben S 206.

23 Lex Sax. c. 19. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 248. Die verletzte Sippe konnte diesfalls den Magen des Totschlägers die Annahme des Wergelddrittels nicht verweigern.

24 Lex Burg. 2, 6. Lex Wisig. VI 1, 8. Dahn, Westgot. Studien S 259.


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§ 28. Die Sippe.

Punkt, dessen nähere Erörterung der Darstellung des Rechtsganges dieser Periode vorbehalten bleibt.

Eine Abschwächung erlitt auch die vormundschaftliche Stellung der Sippe. Zu schwerfällig, um die Interessen des Mündels wahrzunehmen, wurde die Gesamtvormundschaft des Geschlechtes, wie schon oben bemerkt worden ist, durch die Rechte des geborenen Vormunds zurückgedrängt, während andrerseits die Staatsgewalt obervormundschaftliche Funktionen an sich zu ziehen begann.

Verhältnismäſsig am zähesten hat die Magschaft ihre Rechte bei der Vermählung von Mündeln festgehalten. Wird eine Mündel zur Ehe begehrt, so soll sie nach westgotischem Rechte nur communi voluntate parentum zugesagt oder communi parentum iudicio verweigert werden 25. Als König Reccared bei Childebert II. um die Hand seiner Schwester Chlodosvinde anhalten läſst, wagt es dieser nicht, sie ihm ohne Zustimmung seines Oheims Guntram zu verloben 26. Jüngere Quellen lassen ersehen, daſs im salischen Rechtsgebiete das Recht der Sippe während der fränkischen Periode in diesem Punkte nicht geschmälert worden ist. Holländische Rechte verbieten es bei schwerer Buſse, Unmündige ohne die Zustimmung der vier Vierendeele zur Ehe zu geben. Es wird als Pflicht des Vormundes betont, das Mündel nach erreichter Mündigkeit den gemeinen Magen auszuliefern vrie ende loys, das heiſst unvermählt und unverschuldet 27. Im nördlichen Frankreich pflegten sich die Magen für Erfüllung dieser Pflicht Bürgen stellen zu lassen 28. Auch auf die Errichtung und Verwaltung der Vormundschaft wirkte die Sippe noch ein. Ein von der Sippe gekorener Vormund erscheint bei den Westgoten. Die Magen wählen ihn, wenn gewisse nächste Verwandte des Mündels untauglich oder nicht vorhanden sind 29. Für das salische Rechtsgebiet ergänzen uns den Mangel gleichzeitiger Nachrichten die Quellen der folgenden Periode, nach welchen unter gewissen Voraussetzungen ein Vormund von der Sippe bestellt wird 30. Auch bei der

25 Lex Wisig. III 1, 7.

26 Gregor. Tur. Hist. Fr. IX 16. 20.

27 Rechtsbronnen der stad Zutphen, hg. von Hordijk 1881, S 66 § 66: eyn vormunder sal dat kint antwarden den menen maghen an beyden siden vri ende loys, als et mundich is.

28 Marnier, Anc. Coutumier de Picardie S 6.

29 Lex Wisig. IV, 3, 3.

30 Der holländische Sachsenspiegel nennt Art 8 den von den vier Vierteln der Sippe gekorenen Vormund. Nach dem Stadtrecht von Zwolle (hg. von Dozy 1867, § 223 S 131 Anm 2) wählen Vater- und Muttermagen einen Vormund, wenn ihnen der geborene Vormund untauglich scheint. Hugo Grotius berichtet (Inleydingh I


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§ 28. Die Sippe.

Übernahme der Vormundschaft durch den geborenen Vormund, bei seiner Absetzung und bei der Beendigung der Vormundschaft fungiert die Sippe. Nachmals verwaltet der friesische Vormund das Mündelgut mit dem Rate der Freunde, der holländische mit dem der vier Vierendeele, der nordfranzösische de l’avis des parents. Mitunter wird dem Vormund ein Ausschuſs der Sippe zur Seite gesetzt 31. Treten uns später die Zeugnisse über die obervormundschaftliche Stellung der Sippe zumal in den salischen Tochterrechten und im friesischen Rechte entgegen, so fehlt es doch an solchen auch nicht in dem Bereiche der sächsischen und der oberdeutschen Rechtsquellen 32.

Das Eingreifen der Staatsgewalt machte sich in Sachen der Vormundschaft am frühesten und am kräftigsten bei den Langobarden geltend, eine Thatsache, die um so mehr ins Gewicht fällt, als die spätere gemeinrechtliche Ausgestaltung der Obervormundschaft unter dem maſsgebenden Einfluſs der italienischen Rechtslehre erfolgte. Bei Rechtsstreitigkeiten, bei Veräuſserungen, bei Erbteilungen des unjährigen Mündels greift der langobardische Richter von Amts wegen ein 33. Auch bei Rechtsgeschäften von Frauen kommt die richterliche Mitwirkung unter dem Gesichtspunkte der Obervormundschaft zur Geltung 34. Im fränkischen Reiche erscheint die allgemeine Fürsorge für Witwen und Waisen theoretisch als Aufgabe des Königtums. Witwen und Waisen stehen in dem besonderen Friedensbanne des Königs. Die Richter sollen ihre Rechtssachen in erster Linie erledigen und ihnen im Notfall einen Sachwalter geben 35. Gebricht es an Verwandten, so kann der König das Mundium an sich ziehen 36. Ganz allgemein sagt Karl der Groſse, daſs er den Witwen und Waisen zum protector et defensor gesetzt sei 37. Zu einer organischen Verwaltung

c. 7), daſs der Vormund, wenn er nicht letztwillig ernannt worden ist, von altersher durch die vier Vierendeele bestimmt werde. Französische Coutumes (Loisel, Instit., hg. von Dupin et Laboulaye, Nr 181, I 211) haben den Rechtssatz, daſs die Verwandten, die einen Vormund ernennen, subsidiär haften, wenn er aus der Vormundschaftsverwaltung ersatzpflichtig geworden ist.

31 Nach dem Brokmerbrief v. Richthofen, Fries. RQ S 164 § 93 ein Rat von vier Magen. Über die vier Momber des Drenter Rechts s. oben S 90.

32 Kraut, Vormundschaft I 62. Stobbe, Deutsches Privatr. IV 436 Anm 13, 444 Anm 1, 446 Anm 6. Grimm, Weisthümer III 648 § 18, I 202. 278. 378, V 201 § 16, III 197.

33 Liutpr. 19. 74. 75.

34 Rosin, Die Formvorschriften für die Veräuſserungsgeschäfte der Frauen nach langob. Recht, 1880 in Gierkes Untersuchungen VIII.

35 Cap. I 37 c. 23, I 190 (langob.) c. 1, I 93 c. 9, I 281 c. 3, I 192 (langob.) c. 5.

36 Cap. I zur Lex Sal. c. 7.

37 Cap. I 93 c. 5.


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§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.

der Obervormundschaft des Staates, zu einer regelmäſsigen Beaufsichtigung der Vormundschaft ist es zwar im fränkischen Reiche nicht gekommen. Doch liegen wenigstens in der Theorie bereits die ersten Keime jener Entwicklung vor, welche später die vormundschaftlichen Funktionen der Sippe durch die obrigkeitliche Vormundschaft beseitigte oder auf die Stellung eines unter der Aufsicht des Staates fungierenden Familienrates herabdrückte.

Die Geschlossenheit der Sippe äuſserte sich, zumal seit die Raubehe verboten war, in der grundsätzlichen Begünstigung von Verwandtschaftsehen. Der Einfluſs, den die Sippe auf die Verehelichung ihrer Mitglieder hatte, kam der Tendenz zu statten, das Vermögen durch Verwandtschaftsheiraten innerhalb der Sippe fest zu halten. Gegen diese tief eingewurzelte Sitte eröffnete die Kirche einen zähen und nachhaltigen Kampf, indem sie gewisse Verwandtschaftsehen verbot und dieses Verbot mehr und mehr ausdehnte. Da seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts die weltliche Gesetzgebung hierin den kirchlichen Impulsen nachgab, ist es der Kirche gelungen, den lebhaften Widerstand der Bevölkerung zu brechen und die starre Isolierung der Geschlechtsverbände im Punkte der Eheschlieſsung zu zersetzen 38.

§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.

Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer, 1834, § 19 S 160 ff.; derselbe, Über das Wergelds- u. Buſsensystem der alten Lex Frisionum, in dessen germanistischen Abhandlungen 1853; derselbe, Recht u. Verf. der alten Sachsen, 1837, S 29 ff. 99 ff. Guérard, Polyptyque de l’abbé Irminon I 203 ff. August Chabert, Bruchstück einer Staats- u. RG der deutsch-österr. Länder, Denkschriften der Wiener Akad. III. IV, 1852. 1853. Naudet, De l’état des personnes en France sous les rois de la première race, in den Mémoires de l’acad. des inscriptions et belles lettres VIII 1827. Waitz, VG II 1 S 217 ff., IV 324 ff. S. noch die Litteratur zu § 14.

Als Maſsstab der sozialen Unterschiede dienen in fränkischer Zeit die Wergeldsätze. Das Wergeld bringt den rechtlich geschützten Wert der Persönlichkeit zu klarem, ziffermäſsigem Ausdruck. Dem höheren Stande entspricht ein höheres Wergeld. Aber nicht bloſs für die einzelnen Stände, sondern auch für die verschiedenen Nationalitäten ist das Wergeld ein verschiedenes. Der Gegensatz der Nationalitäten erscheint daher in gewissem Sinne als ein ständischer Gegensatz. Der Germane galt mehr als der Römer. Das Übergewicht, welches die

38 E. Loening, Kirchenrecht S 546 f. Über die kulturhistorische Bedeutung des Ehehindernisses der Verwandtschaft s. Richter-Dove, Kirchenrecht § 275.


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§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.

germanische Bevölkerung als die herrschende besaſs, fand in einem höheren Wergelde rechtliche Anerkennung.

Für den Rang, den die verschiedenen im fränkischen Reiche vereinigten Nationalitäten und Stämme in ihrem gegenseitigen Verhältnisse einnehmen, bilden die Wergelder des vollfreien Mannes die bestimmende Gröſse. Bei den deutschen Stämmen sind sie im wesentlichen von gleicher Höhe. Allerdings begegnen uns in ihren Rechtsquellen ungleiche Beträge. Allein die Ungleichheit ist in der Hauptsache nur eine scheinbare. Sie verschwindet bis auf unerhebliche Differenzen, wenn man die Verschiedenheit der Münzwerte und die verschiedenartige Berechnung des Friedensgeldes in Betracht zieht.

Das Wergeld des freien Franken ist in den Volksrechten der Salier, der Ribuarier und Chamaven auf 200 solidi angesetzt 1. Ebensoviel betrug das Freienwergeld bei den Angeln und Warnen 2. Dagegen sollen nach einer Stelle des ribuarischen Volksrechtes der Baier, der Alamanne, der Friese und der Sachse, wenn sie von einem Ribuarier erschlagen worden sind, nur mit 160 solidi gebüſst werden 3. Dieselbe Summe sprechen die heimischen Rechte der Alamannen und der Baiern dem Gemeinfreien zu 4. Ebenso hoch stellt sich das Wergeld des freien Sachsen, wenn man die 240 solidi minores, die als solches aus der Lex Saxonum erschlossen werden, in solidi maiores umrechnet 5. Im friesischen Volksrechte wird mehrfach der Betrag von 53⅓ solidi als simplex compositio oder weregildus des freien Mannes erwähnt 6. Allein aus anderen Stellen der Lex ist zu folgern, daſs die Tötung des freien Friesen, wenn sie nicht eine kasuelle war, mit dreimal 53⅓ solidi, also gleichfalls mit 160 solidi gebüſst wurde 7. Wahrscheinlich sind die friesischen Wergelder in Gold angesetzt worden zu einer Zeit, da die Franken bereits den Übergang zum

1 Lex Sal. 41, 1; Lex Rib. 7; Lex Chamav. c. 4.

2 Lex Angl. c 2.

3 Lex Rib. 36, 4.

4 Pactus Alam. II 37. Lex Alam. Hlo. 69, 1. Lex Baiuw. IV 28. Daſs der minoflidus des Pactus der Gemeinfreie ist, wird unten § 32 zur Sprache kommen.

5 Arg. Lex Sax. c. 40. v. Richthofen in MG LL V 52 Anm 27.

6 Lex Fris. 1, 3. 6. 9. 10. Add. 3 a, 58.

7 Das hat Gaupp, German. Abhandl. S 9 ff. m. E. bewiesen. Ein weiteres Argument liefern Titel 10, 1 und 22, 77, zwei Stellen, welche v. Richthofen zum ältesten Bestandteile der Lex rechnet. Nach 10, 1 kann sich der Meineidige vom Verluste der Schwurhand durch Zahlung des einfachen Wergeldes loskaufen. Nach 22, 77 (vgl. Add. 3 a, 1) betrug die Armbuſse 53⅓ solidi. Zur Zeit, da für die Schwurhand und den Arm ein einfaches Wergeld entrichtet wurde, muſste das Leben bereits durch ein mehrfaches Wergeld geschützt sein.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 15


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§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.

Silbersolidus vollzogen hatten 8. Als auch bei den Friesen die Rechnung nach Silbersolidi durchdrang, muſsten die ursprünglichen Ansätze mit Rücksicht auf das Wertverhältnis des Goldsolidus zum Silbersolidus verdreifacht werden. Doch blieb an den durch die Goldrechnung eingebürgerten Zahlen der Ausdruck weregildus haften, der nunmehr den dritten Teil der leudis oder compositio homicidii bezeichnete 9.

Die Differenz zwischen den Wergeldern der Franken und Thüringer einerseits, der übrigen Stämme andrerseits hat ihren Grund in der verschiedenartigen Berechnung des fredus. Bei den Franken bildet er den dritten Teil des Wergeldes und ist dieses Drittel in der Wergeldsumme von 200 solidi bereits einbegriffen 10. Desgleichen wird in das thüringische Freienwergeld von 200 solidi der fredus eingerechnet 11. Bei den Alamannen und bei den Baiern fiel das ganze Wergeld von 160 solidi an die Verwandten des Getöteten und war auſserdem ein Friedensgeld von 40 solidi an den Fiskus zu zahlen 12.

8 Die Wergelder der Salier, der Ribuarier, der Alamannen und der Baiern wurden in Goldsolidi, die der Sachsen, Chamaven, Angeln und Warnen in Silbersolidi normiert, denn die Volksrechte dieser Stämme sind erst nach dem oben S 216 erwähnten Statut Pippins aufgezeichnet worden.

9 Das einfache Wergeld wird auch als ein höheres Friedensgeld bezahlt. Lex Fris. 3, 2. 3. 4; 9, 1 und öfter.

10 Lex Chamav. 4: qui hominem ingenuum occiderit, solidos 200 componat et exinde in dominico terciam partem. Cap. v. J. 803 c. 7, I 114: weregeldum eius componat, duas partes illi quem inservire voluerit, tertiam regi. Lex Rib. 89. Siehe Wilda, Strafrecht S 467 und oben S 165.

11 Wahrscheinlich ein fredus von 40 solidi. Denn aus Lex Angl. c. 45: servus a domino per manumissionem libertate donatus, si occisus fuerit, 80 solidis componatur vel quicquid ei solvi debeat, medietas compositionis liberi hominis solvatur, ergiebt sich ein Freienwergeld von 160 solidi, worin das Friedensgeld nicht eingerechnet sein dürfte. Lex Angl. c. 49: bis 80 et sex solidos et duos tremisses conponat läſst sich mit den sonstigen Compositionen für Tötung von Frauen nur dann in rationellen Einklang bringen, wenn man annimmt, daſs die 6⅔ solidi sechsmal zu zahlen waren. Das gäbe ein Friedensgeld von 40 solidi. Vor „sex solidos“ ist vermutlich eine Vervielfältigungszahl, etwa sexies, ausgefallen.

12 Lex Alam. Hlo. 69, 1: conponat eum bis 80 solidos ad filios suos. Hlo. 17 von den Freigelassenen: 80 sol. conponantur ad ecclesiam vel ad filius eius. In Hlo. 69, 2: si autem filios non reliquid nec heredes habuit, solvat 200 solidos, und in Hlo. 46: cum widrigildo eum parentibus solvat, id est bis 80 solidos, si heredem reliquit; si autem heredem non reliquit cum ducentis solidis conponat — sind in den 200 solidi, die in Ermangelung von Erben dem Fiskus bezahlt werden, die 40 solidi des Friedensgeldes inbegriffen. — Für Baiern s. Lex Baiuw. IV 28, XVI 5 Abs. 3. Daſs die Baiern neben dem Wergeld einen fredus von 40 solidi zahlten, folgt aus Lex Baiuw. I 9 und aus der Stelle LL III 466: liberi, qui ad ecclesiam dimissi


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§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.

Sonach betrug bei den Oberdeutschen die gesamte Totschlagsbuſse thatsächlich ebensoviel wie bei den Franken. Auch das friesische und das sächsische Wergeld erhöhten sich um den Betrag des Friedensgeldes. Bei den Friesen belief es sich im Falle des Totschlags auf 30 solidi 13, so daſs die friesische Mannbuſse um die geringe Differenz von 10 solidi hinter der fränkisch-oberdeutschen zurückstand. Die Höhe des fredus, den die Sachsen neben dem Wergelde entrichteten, läſst sich nicht mit Sicherheit bestimmen 14.

Die Burgunder 15, die Langobarden 16 und die Westgoten 17 schätzten den Freien ursprünglich auf 150 solidi ohne Einrechnung des Friedensgeldes. Die Festsetzung dieses Wergeldes reicht in die Zeit zurück, als diese Stämme noch nicht unter fränkischer Herrschaft standen. Nach ihrer Unterwerfung war ein praktisches Bedürfnis, ihr heimisches Wergeld zu erhöhen, kaum vorhanden, da bei ihnen der Totschlag bereits unter öffentlicher Strafe stand und das Wergeld nur noch in Ausnahmefällen verwirkt wurde. Im Verhältnis zu den Franken spricht das ribuarische Volksrecht (36, 2) dem Burgunder ein Wergeld von 160 solidi zu.

Während die Wergelder der eigentlich deutschen Stämme, soweit der Gemeinfreie in Betracht kommt, gleich hoch oder doch nahezu gleich hoch waren, also der Salier unter ihnen keine Auszeichnung genoſs 18, wurden die freien Römer hierin zurückgesetzt. Sie hatten im fränkischen Reiche nur ein Wergeld von 100 solidi 19, so viel wie der fränkische Halbfreie, der Lite besaſs. Als Römer wird in den älteren Rechtsquellen der niedere Kleriker gedacht und gebüſst.

sunt liberi … si occidantur, 80 solidis conponantur ecclesie vel filiis eorum et in dominico 40 solidos conponat. Der fredus wurde in Baiern dem Richter besonders gewettet. Lex Baiuw. I 6, 5. II 14.

13 Lex Fris. 16.

14 Bei den Sachsen findet sich ein kleineres ständisch abgestuftes Friedensgeld von 12, 6 bezw. 4 solidi. Lex Sax. 36. Als ein Friedensgeld könnten ferner die zweimal 12 solidi in Betracht kommen, die nach c. 4 des Cap. Saxon. von 797 pro districtione und pro wargida zu zahlen waren. Wer einen Adeligen erschlug, zahlte nach Lex Sax. 14 neben dem Wergelde noch eine Vorsühne (praemium) von 120 solidi. Dieser Vorsühne würde neben dem Freienwergeld eine solche von 20 solidi minores entsprechen.

15 Lex Burg. 2, 2 (ohne mulcta von vermutlich 36 solidi: vgl. Tit. 101, 1; Add. I 14).

16 Liu. 62.

17 Wilda, Strafr. 427 ff. Dahn, Westgot. Studien S 147.

18 Einer vorübergehenden nur im Verhältnis zu Friesen und Sachsen aufrecht erhaltenen Ausnahme ist oben S 216 gedacht worden.

19 Lex Sal. 41, 6; Lex Rib. 36, 3.

15*


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§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.

Später, als auch Germanen in gröſserer Zahl in den Klerus eintraten, genossen sie das Wergeld ihrer Geburt 20. Die höhere Geistlichkeit war durch ein erhöhtes, nach der kirchlichen Rangordnung abgestuftes Wergeld ohne Rücksicht auf den Geburtsstand geschützt.

Dagegen muſs es bezweifelt werden, daſs die Juden 21 als Römer vergolten wurden. Allerdings waren sie dort, wo das römische Recht sich erhielt, wie zu römischer Zeit in Kriminalsachen und in Streitigkeiten mit Christen dem römischen Recht unterworfen. Allein ihr Personalrecht war es nicht, da sie es in ihren gegenseitigen Rechtsbeziehungen nicht zur Anwendung brachten und Juden, nicht Römer sein wollten. Darum nimmt auch das Judenschutzrecht, welches in karolingischer Zeit sich ausbildete, auf das römische Recht keine Rücksicht. In den Judenschutzbriefen Ludwigs I. wird auf die Tötung eines königlichen Schutzjuden eine Geldstrafe von zehn Pfund Goldes festgesetzt, die aber nicht an die Verwandten des erschlagenen Juden, sondern an den Fiskus fiel. Sofern der Jude nicht in dem besonderen Schutze des Königs stand, strafte dieser als allgemeiner Beschirmer der Unvermögenden die an jenem begangene Rechtsverletzung. Ein volksrechtlich anerkanntes Wergeld fehlte den Juden.

Neben der Verschiedenheit der Nationalitäten und Stämme kommen für die Gliederung der Gesellschaft die ständischen Gegensätze in Betracht. Das Ständewesen ist bei den einzelnen germanischen Stämmen ein verschiedenes. Allenthalben teilt sich die Bevölkerung in Freie, Halbfreie und Knechte. Die Franken kennen nur diese drei Klassen. Bei den übrigen Stämmen kommt ein Stand des Adels hinzu, der sich bei einigen wieder in einen höheren und niederen Adel spaltet. Dieses stammesrechtliche Ständewesen haben die Franken anerkannt, obzwar

20 Loening, Kirchenrecht S 296. E. Mayer, Zur Entstehung der Lex Ribuariorum, 1886, S 10 ff. Schröder, Z2 f. RG VII 26.

21 Zu Anfang der merowingischen Zeit verblieben die Juden in der sozialen Stellung, die ihnen die spätrömische Zeit angewiesen hatte. Nach wie vor waren sie auf den Schacher beschränkt, während der Groſshandel sich bis in das 7. Jahrh. in den Händen der Syrer befand. Scheffer-Boichorst, Zur Geschichte der Syrer im Abendlande, Mitth. d. Inst. f. österr. GF VI 521. Mommsen, Römische Geschichte V 467 Anm 3. Als die Eroberung Syriens durch den Islam die Juden von dieser überlegenen Konkurrenz befreit hatte, kamen sie im fränkischen Reiche als Kaufleute empor. Als solche werden sie neben den Friesen in karolingischer Zeit häufig genannt. Der Sklavenhandel scheint hauptsächlich durch die Hände der Juden gegangen zu sein. Stobbe, Die Juden in Deutschland S 7. 200. Über die relativ günstige Lage der Juden in karolingischer Zeit s. Hoeniger, Zur Gesch. der Juden Deutschlands im früheren Mittelalter, Z f. d. Gesch. der Juden in Deutschl. I 65 ff.


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§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.

sie selbst auſser dem merowingischen Königsgeschlechte keinen Adel besaſsen.

Anders verfuhren sie gegen das römische Ständewesen. Es waren jämmerliche soziale Zustände, die sie bei den römischen Provinzialen vorfanden. Wenn man das Recht der Berufswahl und die Freizügigkeit als Merkmale der Freiheit ansieht, so war hier der gröſsere Teil der nominell freien Bevölkerung in erblicher Unfreiheit befangen. Ackerbau und Gewerbe, Kriegsdienst und subalternes Ämterwesen hatten in der Kaiserzeit den Charakter erblicher Lasten angenommen. Das sinkende Reich vermochte sich nur in Funktion zu erhalten, indem es den Volksklassen, die den Druck der Verwaltung empfanden, die freie Wahl des Berufs versagte, die Leistungen, welche für das Gemeinwesen unentbehrlich waren, zu erblichen Fronden gestaltete und jeden, der sich dem aufgedrungenen Frondienste entzog, zwangsweise in denselben zurückführte 22. Den erblich gebundenen Gesellschaftsschichten stand eine privilegierte Aristokratie des höheren Staatsdienstes und der titulierten Groſsgrundbesitzer gegenüber, welche unter dem Namen der honorati zusammengefaſst wurde 23. In Gallien waren zur Zeit der Eroberung die höheren Ämter, Reichtum und Grundbesitz vorzugsweise in den Händen der sogenannten senatorischen Geschlechter, vornehmer Familien, in welchen der Senatortitel erblich war. Da die Bistümer sehr häufig aus ihnen besetzt wurden, stand auch die Kirche unter ihrem beherrschenden Einfluſs. In diese kastenartig abgeschlossene und versteinerte Gesellschaft mit ausgeklügelten Titulaturen und pedantischen Kleiderordnungen hat die germanische Invasion Luft und Bewegung gebracht. Die fränkische Rechtsordnung ignorierte das römische Ständewesen 24. Der Römer, der aus senatorischem Samen entsprossen war oder einem infulierten Geschlechte angehörte, erhielt ebenso wie die Plebs nur ein Wergeld von 100 solidi. Daſs der römische Kolone anfänglich noch ein geringeres Wergeld hatte, war nicht Anerkennung römischen Ständerechts, sondern Konsequenz einer germanischen Anschauung. Ebenso beruhte es auf allgemeinen fränkischen Rechtsgrundsätzen, daſs der Römer durch Königsamt und Königsdienst und durch die Erlangung

22 v. Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozeſs III 21 ff. Padeletti, Römische RG (übers. von Holtzendorff) S 373.

23 Zu den honorati zählten die fungierenden und die zur Disposition gestellten Beamten des höheren Civil- und Militärdienstes und jene, die eine Titularwürde erhalten hatten.

24 Anders wie die burgundische. In Lex Burg. 26, 1 werden die Romani nobiles den burgundischen Optimaten gleichgestellt.


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§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.

gewisser geistlicher Würden einer Erhöhung seines Wergeldes teilhaftig wurde.

Die Fortbildung, die das Ständewesen im Verlaufe der fränkischen Periode erfuhr, äuſsert sich in der Abschleifung der vorhandenen, in der Anbahnung neuer ständischer Gegensätze. Das Ergebnis ist zwar weit verschieden von den spätrömischen Verhältnissen. Auch läſst sich eine unmittelbare Einwirkung derselben nicht wahrnehmen. Aber die allgemeine Richtung und die tieferen Grundlagen der sozialen Entwicklung sind nicht frei von römischen Analogien. Es war nicht der Geist der römischen Kaiserzeit, es war ein höherer, aber doch ein verwandter Geist, der im fränkischen Reiche an der Umwandlung der Gesellschaft gearbeitet hat.

Der Gegensatz zwischen Freien und Unfreien erlitt eine allmähliche Abstumpfung durch Ausbildung von Übergangsstufen. Eine Klasse von Knechten gewann eine der Halbfreiheit verwandte rechtliche Stellung oder rückte geradezu in den Stand der Halbfreien auf. Der Kern des Volkes, der Stand der Gemeinfreien gab einen Teil seiner Genossen nach unten hin ab, indem eine Klasse von Minderfreien entstand. Ein andrer Teil der Freien hob sich über die gemeine Freiheit empor und bildete einen neuen Adel, den römischen honorati vergleichbar, weil er sich als Amts- und Dienstadel am Königtum hinaufrankte. In diesen neuen Adel ist auch der alte Geschlechtsadel der nichtfränkischen Stämme ganz oder doch teilweise aufgegangen. Der fränkischen Zeit gehören ferner die ersten Anfänge jener Entwicklung an, welche in der folgenden Periode die kriegerische Beschäftigung von der bäuerlichen trennte und aus dieser Trennung, wie das die römische Kaiserzeit in umfassenderer Weise gethan hatte, einen Gegensatz erblicher Berufsstände erzeugte. Als Krieger und Bauer war der freie Germane in die fränkische Geschichte eingetreten. Allmählich steigerten sich die Ansprüche, welche der Landbau einerseits, der Heerdienst andrerseits an ihn stellten. Zwar führt er noch abwechselnd den Pflug und die Waffe; aber immer lästiger wird es ihm, jenen mit dieser zu vertauschen, je enger sein Leben und sein Interessenkreis mit dem Ackerbau verwachsen. Im achten Jahrhundert beginnt eine Umgestaltung des Heerwesens, welche von Westen nach Osten vorwärts schreitend den Schwerpunkt des Kriegsdienstes in den Reiterdienst verlegt. Da der kleine freie Mann diesen nicht zu leisten vermag, bereitet sich jene Teilung der Kriegs- und der Friedensarbeit vor, welche in nachfränkischer Zeit dem unkriegerisch gewordenen Bauer das Waffenrecht entzog und ihm einen erblichen Kriegerstand zum Herren setzte.


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§ 30. Die Knechte.

In den sozialen Wandelungen der fränkischen Periode wurzeln noch die Reste des Ständewesens, welche die Gegenwart aufzuweisen hat. Der hohe Adel unserer Tage führt seinen rechtsgeschichtlichen Stammbaum auf das fränkische Ämterwesen, der niedere auf den Reiterdienst zurück.

§ 30. Die Knechte.

S. die Litteratur zu § 29 und Waitz, Verfassungsgesch. II 1 S 219 ff., IV 354 ff. Walter, Deutsche RG § 384 ff. Guérard, Polyptyque I 277 ff. Yanowski, De l’abolition de l’esclavage ancien au moyen âge et de sa transformation en servitude de la glèbe, 1860. Jastrow, Über das Eigenthum an und von Sklaven nach den deutschen Volksrechten, Forschungen XIX 626 ff. v. Fürth, Die Ministerialen, 1836.

Die Knechtschaft hat im fränkischen Reiche an Umfang und Verbreitung gewonnen, die Menge der Knechte eine nicht unerhebliche Zunahme erfahren. Gallien besaſs schon zur Zeit der Eroberung einen starken Bestand von Sklaven. Als Beute der fränkischen Sieger verfielen zahlreiche Gefangene dem Lose der Verknechtung. Auf den neustrischen Märkten der merowingischen Zeit bildete die Menschenware einen bedeutsamen Artikel des Binnen- und des Einfuhrhandels. In karolingischer Zeit erhöhte sich die Zahl der Leibeigenen durch die massenhaften Selbstverkäufe und freiwilligen Verknechtungen, zu welchen freie Leute im Drange der wirtschaftlichen Not und wegen Insolvenz sich gezwungen sahen. Seit dem Ende des neunten Jahrhunderts haben die Kämpfe mit den Slawen die Bezeichnungen der Knechte um eine neue vermehrt, den Namen der Sklaven 1, der in den meisten europäischen Sprachen für die niedrigste Unfreiheit gang und gäbe wurde 2.

Dagegen ist die rechtliche Stellung der Knechte eine bessere geworden. Sie erlangten eine beschränkte Rechts- und Vermögensfähigkeit, eine Veränderung, welche zuerst bei den Franken und Oberdeutschen, etwas später bei den Sachsen und Friesen einsetzte. Indem die Knechte nicht mehr in jeder Beziehung als Sache, sondern in manchen Beziehungen als Personen behandelt wurden, hat auch die Summe, welche für die Tötung von Knechten bezahlt wurde, den Charakter des Wertersatzes verloren und sich dem des Wergeldes genähert. Der Sachwert des gemeinen Knechtes ist in den Volksrechten durchschnittlich auf 12 solidi taxiert 3. Aber die Tötung

1 Potgieſser, De statu servorum S 287.

2 In allen romanischen Sprachen, im Englischen, im Griechischen.

3 v. Inama-Sternegg, WG S 63 Anm 5.


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§ 30. Die Knechte.

desselben wird als ein an dem Herrn begangenes Unrecht bei den meisten Stämmen durch eine Buſse gesühnt, welche sich mit Einschluſs des fredus als eine Verdreifachung jenes Sachwertes darstellt 4. Die Chamaven 5 und die Ostfriesen 6 setzen die Buſse für Tötung des Knechtes dem halben Wergelde des Liten, die Baiern dem halben Wergelde des Freigelassenen gleich 7. In Quellen des neunten Jahrhunderts wird geradezu von einem Wergelde, von einer leudis des Knechtes gesprochen 8.

Die Verbesserung der rechtlichen Lage war eine ungleichmäſsige bei den verschiedenen Arten der Knechte. Aus der Masse derselben hoben sich auf Grund der Beschäftigung, die ihnen dauernd zugewiesen war, gewisse Klassen zuerst in thatsächlich, dann in rechtlich bevorzugter Stellung heraus. Zu ihnen gehören die servi casati, Knechte, welche auf einer Hufe ihres Herrn angesiedelt sind. Sie sitzen in kleineren Höfen, casae, hospitia, hausen etwa in Vorwerken, die auf gerodetem Lande errichtet worden sind. Nach der Hufe, welche sie bebauen, heiſsen sie auch mansionarii, mansuarii oder hobarii, Hübner. An den Herrenhof leisten sie gewohnheitsrechtlich fixierte Zinse und Dienste. Mitunter sind ihnen Knechte geringeren Ranges als Feldarbeiter untergeben. Das Grundstück des mansuarius wird samt Zubehör nach römischem Vorbilde als sein peculium, er selbst gelegentlich als servus peculiaris bezeichnet 9. Indem es Regel wurde, den Grund und Boden nicht ohne die ihm gewidmeten unfreien Arbeitskräfte zu veräuſsern 10, haben Knecht und Hufe den Charakter

4 Nach Lex Rib. 8 sechsunddreiſsig solidi, von welchen wohl der dritte Teil als Friedensgeld abzuziehen ist, nach Lex Sal. 10 fünfunddreiſsig, nach Lex Angl. et Werin. 3 dreiſsig solidi, nach Lex Sax. 17 sechsunddreiſsig solidi minores (gleich 24 sol. maiores) ohne Einschluſs des fredus. Nach Lex Alam. Hlo. 8 A 1 nur fünfzehn solidi, neben welchen aber wahrscheinlich noch der kleine fredus von zwölf solidi fällig wurde. — Treibt der Unfreie ein Gewerbe, das besondere Geschicklichkeit oder Umsicht erfordert, so tritt eine Erhöhung der Buſse ein.

5 Lex Cham. 6: qui servum occiderit solidos 50 componat; exinde in dominico, sicut diximus, terciam partem.

6 Lex Fris. 15, 4.

7 Lex Baiuw. VI 12: zwanzig solidi, daneben wahrscheinlich ein kleiner fredus von zwölf solidi.

8 Cap. v. J. 808 c. 2, I 139: de servis vero, si quis alterius servum … pendiderit et ibi mortuus fuerit, weregildus eius domino solvatur; et si de ipsa morte evaserit, ipse ipsam liudem recipiat et liber postea permaneat. Form. Coll. Patav. 2, Zeumer S 457. Einhardi Epist. von 828—840 oben S 220 Anm 19.

9 Wartmann, St. Gall. UB I 14, Nr 12 v. J. 745: (trado) haec loca … conservis et ancillis peculiaribus cum domibus, aedificiis et mancipiis domesticis.

10 Schon in der 2. Hälfte des 4. Jahrh. hatte eine Konstitution Valentinians


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§ 30. Die Knechte.

eines rechtlich unteilbaren Wirtschafts- und Vermögenskomplexes angenommen. Der Knecht konnte nicht mehr ohne die Hufe, die Hufe nicht mehr ohne den Knecht veräuſsert werden. Rechtlich gelangt diese Veränderung darin zum Ausdruck, daſs die servi casati seit der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts zu den Immobilien gezählt und nach den Grundsätzen des Immobiliarrechtes behandelt werden, während die übrigen mancipia noch für Mobilien gelten. Die Verfolgung des Eigentums an Knechten jener Art geschieht nicht mehr in den Formen der Vindikation von Mobilien, sondern wird wie ein Rechtsstreit um Grundstücke durchgeführt 11. Die Prozesse um Eigenleute sind ebenso wie die um Grundstücke der Gerichtsbarkeit des Grafen vorbehalten 12. Eine fränkische Rechtsquelle des neunten Jahrhunderts stellt die mancipia und ihr peculium unter die Grundsätze des Immobiliarerbrechtes 13. Seit dieser Zeit wird auch die Übereignung von servi casati in den Formen der Übereignung von Grundstücken vorgenommen 14. Als Karl der Groſse 806 sein Reich unter seine drei Söhne teilte, verbot er ihnen, in dem Teilreiche eines Bruders unbewegliche Güter zu erwerben, indem er als solche auch die servi casati bezeichnete, wogegen er die mancipia non casata von diesem Verbote ausdrücklich ausnahm 15. Die Immobilisierung

und Gratians, Cod. Just. XI 48, 7 bestimmt: quemadmodum originarios absque terra, ita rusticos censitosque servos vendi omnifariam non licet.

11 Form. Sal. Merkel. 30, Zeumer S 252. Siehe Sohm, Reichs- und Gerichtsverfassung S 421 Anm 96.

12 Cap. miss. Aquisgr. sec. v. J. 810 c. 15, I 154. Cap. de iustitiis faciendis von 811—813 c. 4, I 176.

13 Lex Chamav. 42: si quis Francus homo habuerit filios, hereditatem suam de sylva et de terra eis dimittat et de mancipiis et de peculio.

14 Lex Rom. Curiensis VIII 5: der Schenker soll in die Schenkungsurkunde einschreiben lassen ipsam facultatem, quam donat sive in terris vel domo aut mancipiis, qui (al. quia) immobilia sunt et gestis ligare debet. In einem Rechtsstreit um Eigenleute, der 880—881 vor dem Grafen von Angoulême in den Formen des Immobiliarprozesses durchgeführt wurde, wird der siegreiche Kläger mit den Knechten, die das Streitobjekt bildeten, vom Beklagten investiert: tunc cum wadio predicto preposito mancipia restituit cum sua lege et in omnibus vestituram dedit. Holder-Egger, Notizen von S. Eparch, NA d. Gesellsch. f. ält. deutsche Geschichtsk. VII 634 f.

15 Divisio v. J. 806 c. 11, Cap. I 129: ut nullus ex his tribus fratribus suscipiat de regno alterius a quolibet homine traditionem vel venditionem rerum immobilium, hoc est terrarum, vinearum atque silvarum servorumque qui iam casati sunt, sive ceterarum rerum quae hereditatis nomine censentur excepto auro, argento et gemmis, armis ac vestibus nec non et mancipiis non casatis et his speciebus, quae proprie ad negotiatores pertinere noscuntur.


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§ 30. Die Knechte.

der angesiedelten Knechte hat in Neustrien begonnen und zunächst das fränkische Rechtsgebiet ergriffen. Im sächsischen und im thüringischen Rechte gelten zur Zeit Karls des Groſsen die mancipia noch schlechtweg für Fahrhabe 16.

Eine höher stehende Klasse von Knechten waren ferner die Diener, welche den Dienst um die Person des Herrn versahen oder zur Führung des Haushaltes verwendet wurden. Sie hieſsen in merowingischer Zeit famuli, pueri 17, vassi 18, vassalli 19, vassi ad ministerium 20 oder ministeriales 21. Das Wort vassus, vermutlich aus dem Keltischen stammend 22, hat in der karolingischen Zeit eine gesteigerte Bedeutung gewonnen; es bezeichnet nunmehr vorzugsweise freie Leute, die in ein Dienstverhältnis höherer Ordnung eingetreten waren. Dagegen hat der Name der Ministerialen, obwohl ihn die fränkischen Quellen auch in anderem Sinne gebrauchen 23, als Standesname die vorwiegende Beziehung auf Unfreie höheren Ranges beibehalten, so daſs er später für sie technisch geworden ist. Sie haben

16 Lex Sax. 62: nulli liceat traditionem hereditatis suae facere … mancipia liceat illi dare ac vendere. Lex Angl. et Werin. 33: sorori pecuniam ac mancipia, proximo vero paterni generis terram relinquat.

17 Bei Gregor von Tours und in Urkunden. Waitz, VG II 1 S 222 Anm 1.

18 Lex Alam. 81, 3; Marculf II 17.

19 Zeuſs, Trad. Wiz. Nr 17 S 25, Nr 52 S 54. Pardessus, Dipl. II 284 Nr 476.

20 Lex Sal. 10. Mit Rücksicht auf die veränderte Bedeutung haben die jüngeren Texte das Wort getilgt. Der Heroldsche Text ersetzt es durch die Aufzählung der Hausämter.

21 Lex Burg. 10, 1. Recapitulatio legis Sal. A 11. 15. 21. 22. Edictus Roth. 76: de haldius et servus menisteriales. De illos uero menisteriales dicimus, qui docti domui nutriti aut probati sunt; 131: de alio uero minesteriale, qui secundus ei inuenitur, tamen nomen minesteriale habet …

22 Vassus wird fast insgemein aus dem keltischen gwâs, junger Mann, Diener, famulus hergeleitet. Die romanische Form vassallus scheint durch Anlehnung an das keltische Adjektiv gwasawl, dienend entstanden zu sein. Von dem Diminutivum vaseletus stammt das französische valet. Diez, WB I s. v. vassallo. Verunglückte Herleitungen aus Geselle, Gast, Geisel, vadium sind aufgezählt bei Deloche, La trustis et l’antrustion, 1873, S 255. Ein niederdeutsches wassen mit der Bedeutung ligare, worauf Deloche im Anschluſs an Gryphiander verweist, ist bei Schiller und Lübben, Mnd. WB nicht bezeugt.

23 So heiſsen auch Unfreie, die auf den Landgütern des Herrn das Amt eines maior, decanus, cellerarius oder sonst ein officium versehen. Guérard I 599. Auch Freie, die ein Staats- oder Hausamt (ministerium) bekleiden, werden ministeriales genannt. Als unfreie Ministerialen sind dagegen der miles in Lex Sal. Hessels 79, 2 und die militunia a. O. 72, 3; 76, 9 aufzufassen. Der miles in 79, 2 entspricht dem puer in 42, 4 und Extrav. A VI 2. Über miles in der Bedeutung officialis s. Brunner, RG der Urk. S 257.


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§ 30. Die Knechte.

ein höheres Wergeld als gewöhnliche Knechte; es reicht fast an das Litenwergeld hinan oder steht ihm gleich 24. Zu den Ministerialen werden insbesondere die Inhaber der Hausämter gerechnet, deren es in den vornehmeren und gröſseren Haushaltungen regelmäſsig vier gab, nämlich für den Keller, für den Schatz, für den Stall und für die Tafel. Nach ihnen führen der Schenke, der Kämmerer, der Marschall 25 und der spätere Truchseſs 26 den Namen. Einer derselben hatte die Oberaufsicht über das gesamte Hauswesen und wurde maior oder senescalcus (Altknecht) genannt 27. Am Hofe des Königs und der Vornehmen haben auch freie Personen (dann wohl meistens Gefolgsgenossen) diese einfluſsreichen Ämter versehen.

Die unfreie Dienerschaft gelangte zu militärischer Bedeutung. Fränkische Groſse pflegten die Knechte, welche ihre persönliche Umgebung bildeten, schon in merowingischer Zeit mit Waffen zu versehen und in den Waffen zu üben. Sie nahmen sie als Begleiter auf die Heerfahrt mit oder stellten sich aus bewaffneten „pueri“ ein militärisch organisiertes Gefolge zusammen, um Handstreiche zu unternehmen oder Fehden auszufechten 28. Einen reisigen Knecht kennt das burgundische Gesetzbuch 29 als servus expeditionalis. Von einem solchen setzt die älteste alamannische Rechtsaufzeichnung den Fall, daſs der Herr ihn im Heere zum Liten freiläſst 30, eine Hilfsarbeit zur Lex Salica, daſs er im Heere getötet wird 31. Dieselbe Rolle spielt vermutlich in Baiern der (servus) exercitalis 32 und der daselbst

24 Nach Lex Sal. 10, 6 im ganzen 75 solidi. Bei den Langobarden hat der servus ministerialis gleiche Wundbuſse mit dem Aldio und ein Wergeld von 50 solidi (10 solidi weniger als das des Aldio). Der miles und die militunia stehen nach Lex Sal. Hessels 79, 2 und 76, 9 im Wergelde dem Liten gleich.

25 Der Heroldsche Text der Lex Salica nennt 11, 6, Hessels col. 61 den maior, infestor (infertor, Aufträger), scantio und den marescalcus. Zum scantio (von scancjo, ahd. scenco) vgl. den gotischen comes scanciarum (Dahn, Könige VI 333) und das französische échanson, span. escanciano. Diez, WB I s. v. escanciar. Den mariscalcus, Mährenknecht nennt auch die Lex Alam. 81. Der Kämmerer wird in fränkischen Heiligenleben und bei Gregor als thesaurarius, gelegentlich auch als cubicularius erwähnt. Waitz, VG II 2 S 72. 73. Ahd. Glossen Graff, IV 402. 403, sagen dafür: kamarari, triskamarari.

26 Truhsâzzo, dapifer Graff VI 304, der die Leute setzt; Kluge, WB S 350.

27 Lex Alam. 81.

28 Roth, BW S 154.

29 Lex Burg. 10, 1: servum … (e)lectum ministerialem sive expeditionalem.

30 Pactus Alam. II 48.

31 Recap. A 22: inde ad solidos LXXV, ut si quis servum ministerialem in oste occiserit.

32 Herzog Theodebert schenkt die villa Einhöring „et exercitales uiros“ (Indiculus Arnonis VII 2), „cum commanentibus ibidem servis et aliis exercitalibus ho-


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§ 30. Die Knechte.

später auftauchende Hiltischalk 33. Mehrfach beschäftigen sich die karolingischen Kapitularien mit den Knechten, die im Heere gegenwärtig sind, plündern oder widerrechtlich fouragieren oder die ihnen versagte Lanze tragen 34. Als im Kriegswesen der Reiterdienst durchdrang, gewannen die dafür ausgerüsteten Ministerialen erhöhte Bedeutung; gleich freien Leuten empfingen sie Benefizien, trugen sie den Speer und wurden sie in die Stellung von Vasallen aufgenommen 35.

Die höchste gesellschaftliche und rechtliche Stellung vermögen unter den Knechten die Ministerialen des Königs zu erlangen 36. In den Volksrechten und bei Gregor von Tours erscheinen sie als pueri regis, pueri aulici 37. Sie haben das Wergeld des Liten 38, können das Amt eines Grafen oder eines Sacebaro erlangen und in die Zahl der königlichen Antrustionen aufgenommen werden. Eine ähnliche Stellung dürften die Adelschalken des Herzogs von Baiern eingenommen haben 39.

Die den servi casati entsprechenden Knechte des Königs, welche auf den Domänen angesiedelt sind, werden in merowingischer Zeit

minibus XXX cum omnibus quod habebant“ (Breves Notit. Salzb. IV 2). Ferner die villa Titmonning (al. Tietramingen) „et in ea mansos 60 inter uestitos et apsos et inter exercitales et barscalcos“ (Ind. Arn. VII 7), „cum mansis 60 inter servos et tributales nec non et exercitales homines“. — Vielleicht ist auch der oben Anm 23 erwähnte miles hierherzustellen. War seine Stellung eine erbliche geworden, so würde sich die militunia allenfalls als Ehefrau des miles erklären lassen.

33 Kriegsknecht. Siehe Waitz, VG I 163 Anm 2, V 229; Zöpfl, Alterthümer II 280 f.

34 Cap. von 810—11 c. 4, I 160. Cap. Theod. v. J 805 c. 5, Note q I 123. In der Urk. Waitz, VG III 490 klagen die Istrianer über den dux Johannes: cum nostros servos facit nos in hoste ambulare. In jüngeren Handschriften der Lex Baiuw. findet sich LL III 450 der Zusatz: ille servus fiscalinus, qui hostem facit, pro freto 40 solidos ut alii liberi.

35 Cap. miss. v. J. 792 oder 786 c. 4, I 67: fiscilini quoque et coloni et ecclesiastici adque servi, qui honorati beneficia et ministeria tenent vel in bassallatico honorati sunt cum domini sui (a dominis suis) et caballos arma et scuto et lancea, spata et senespasio habere possunt … Über Knechte mit Benefizien Waitz, VG IV 218.

36 Roth, BW S 120 Anm 41; Waitz, VG II 1 S 228.

37 In karolingischer Zeit wird puer ebenso wie vassus von freien Leuten gebraucht.

38 In der Lex Salica werden sie regelmäſsig mit dem litus oder libertus zusammengestellt. Lex Sal. 13, 7. 79, 1. 42, 4; Extr. A VI 2, Hessels col. 420.

39 Tassilonis decret. Dingolf. c. 7, LL III 460: ut servi principis qui dicuntur adalschalhae ut habeant suam werageldam iuxta morem quem habuerunt sub parentibus et ceteri minores werageldi iuxta legem suam.


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§ 30. Die Knechte.

als servi fiscales, servi fisci, in karolingischer samt den halbfreien Kolonen als fiscalini zusammengefaſst. Ihre Stellung ist eine erbliche 40; sie haben das Recht, an ihre Genossen zu veräuſsern 41.

Als Eigentum des Königs sind dessen Knechte durch höhere Buſse geschützt. Sie scheint zuerst das zweifache, später das dreifache der normalen Buſse betragen zu haben 42. Die pueri regis haben von vornherein ein dem Liten gleichstehendes Wergeld 43. Ein höheres Wergeld unbekannten Betrages besaſsen die Adelschalken des bairischen Herzogs 44. In karolingischer Zeit haben auch die fiscalini das Wergeld des Liten 45. Wie in allen Fällen, wenn ein Knecht getötet wurde, das Wergeld nicht an die Blutsverwandten, sondern an den Herrn fiel, so hatte auch der Fiskus den vollen Anspruch auf das Wergeld der Königsknechte. Doch findet sich selbst in dieser Beziehung eine vereinzelte Ausnahme zu Gunsten der servi regis. Der Langobardenkönig Liutprand gestattete, daſs von dem Wergeld eines getöteten Königsknechtes dessen Verwandte ein Drittel bezögen 46.

Vorzüge und Vorrechte genossen ferner die Knechte der Kirche 47. Früher wie anderwärts scheinen auf den Kirchengütern die Leistungen und Zinse der Unfreien fixiert worden zu sein 48. Wie die Knechte des Königs erlangten auch die der Kirche mindestens in einzelnen Stammesrechten den Schutz dreifacher Buſse 49. Gleich jenen waren sie nach dem ribuarischen Volksrechte befugt sich in eigener Person vor dem öffentlichen Gerichte zu verantworten und auch sonst durch prozessualische Privilegien begünstigt 50. In karolingischer Zeit werden

40 Waitz, VG IV 350.

41 Cap. miss. v. J. 803 c. 10, I 115: ut nec colonus nec fiscalinus foras mitio possint aliubi traditiones facere. Vgl. Brunner, Mithio und Sperantes, in der Festgabe für Beseler 1885, S 19.

42 Arg. Lex Sal. 25, 4. Lex Alam. 8: si quis servum ecclesiae occiderit, in triplum componat; sicut solet servus regis ita componatur i. e. 45 solidis. Extrav. zur Lex Salica A VI 4, Hessels col. 420: causae vero dominicae in triplo componuntur.

43 Lex Sal. 54, 2. 79. Lex. Rib. 53, 2.

44 S. oben Anm 39.

45 Cap. legi Rib. add. v. J. 803 c. 2, I 117.

46 Notitia Liutpr. de actoribus c. 3: hoc autem in diebus nostris et in tempore regni nostri statuimus, quamvis lex nostra non sit.

47 Waitz, VG II 1 S 227, IV 351.

48 Lex Alam. 22, 1. Lex Baiuw. I 13.

49 Lex Alam. 8. Lex Baiuw. I 5 verlangt nur zweifachen Ersatz.

50 Lex Rib. 58, 20.


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§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.

sie mit den halbfreien Kirchenleuten trotz der rechtlichen Unterschiede zur Klasse der homines ecclesiastici zusammengefaſst 51.

§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.

S. § 14, § 29 und Waitz, VG II 1 S 219 ff., IV 354. Walter, Deutsche RG § 384 ff. Guérard, Polyptyque I 277. Heineccius, Antiquitates II 2 S 1 ff. 45 ff. Pardessus, Loi Salique S 525 ff. Loening, Kirchenrecht I 325, II 228. Ernst Mayer, Zur Entstehung der Lex Ribuariorum, 1836, S 131 ff. Winogradoff, Die Freilassung zu voller Unabhängigkeit in den deutschen Volksrechten, Forschungen XVI 599. Zeumer, Über die Beerbung der Freigelassenen durch den Fiscus nach fränkischem Recht, Forschungen XXIII 189. Brunner, Die Freilassung durch Schatzwurf, in den historischen Aufsätzen für Waitz 1886.

Nur um ein geringes ragte der Lite auf der sozialen Stufenleiter über den servus casatus empor. Seine Leistungen waren von Hause aus geringer als die des angesiedelten Knechtes. In den Grund- und Zinsbüchern stehen die mansi litiles hinsichtlich der Belastung zwischen den mansi ingenuiles und den mansi serviles.

Der Name der Liten war als Bezeichnung einer halbfreien Bevölkerungsklasse bei den niederdeutschen Stämmen der Salier, Ribuarier, Chamaven, Friesen und Sachsen im Gebrauche. Das Litenwergeld betrug hundert solidi bei den Franken 1, achtzig bei den Ost- und Westfriesen und bei den Sachsen. Etwas höher stellte es

51 Waitz, VG IV 352. Die Glosse Behrend, Lex Salica S 151 erläutert den letus als fiscalinus vel sanctuarius.

1 Arg. Lex Sal. 42, 4; 26, 1. Lex Chamav. 5. Schwierigkeiten macht Lex Rib. 62: si quis servum suum tributarium aut litum fecerat, si quis eum interficerit, 36 solidos culpabilis iudicetur, weil nach Rib. 8 schon der servus mit 36 solidi gebüſst wird. Vermutlich ist das Wergeld von 36 solidi, das man nicht schlechtweg für unmöglich erklären darf, nicht auf den geborenen Liten zu beziehen, sondern auf den zum Liten freigelassenen Knecht zu beschränken. Ihm fehlt es an Verwandten, denen ein Teil des Wergeldes zufallen könnte. Dieses kommt ungeteilt an den Herrn und beträgt in solchem Falle bei den Ribuariern nicht mehr als die compositio für Tötung eines Knechtes. Auch nach schwedischem Rechte, Östgötal. Aerfþa b. 20 wird der freigelassene Knecht, ehe er in ein Geschlecht aufgenommen worden ist, nicht höher gebüſst als der þræl. Der geborene Lite mochte nach altribuarischem Recht immerhin ein höheres Wergeld haben. Auch das langobardische Recht (Rothari 205. 206) giebt der aldia, die als solche geboren worden ist, höhere Buſse wie der liberta, die aus der Knechtschaft zur aldia freigelassen wurde. Lex Rib. 36, 5 setzt in den jüngeren Texten ein Litenwergeld von 100 solidi voraus, da diese den Liten zwischen dem homo regius aut ecclesiasticus und dem Freien aufzählen. Das Cap. zur Lex Rib. von 803 c. 2, I 117 spricht dem Liten das Wergeld von 100 solidi ausdrücklich zu und zwar in Ergänzung von Lex Rib. 10, während Tit. 62 keine Abänderung erfuhr.


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§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.

sich in Mittelfriesland, nämlich auf zwei Drittel des Freienwergelds. Bei den mittleren Friesen fiel ein Viertel, bei den Ostfriesen ein Drittel des Wergelds an die Verwandten des Liten, der Rest an den Herrn 2. Ein analoger Teilungsmodus hat vermutlich auch bei den übrigen niederdeutschen Stämmen bestanden 3.

Die rechtliche Stellung der Liten scheint sich etwas gehoben zu haben. Sie sind prozeſsfähig, genieſsen das Recht des Eides und müssen nicht wie die langobardischen Aldien durch ihren Herrn vertreten werden. Da die Person des Liten nicht im Eigentum des Herrn steht, kann er den Liten nicht veräuſsern, wohl aber die Hufe auf welcher der Lite sitzt und die Dienste die er zu leisten hat. Der Lite zahlt eine persönliche Abgabe an den Herrn, welche bei den Franken litimonium heiſst. Dazu kommen dann noch die Zinse und Dienste, die von der Hufe an den Herrenhof zu leisten sind 4. Wie die servi ministeriales, so nehmen auch die Liten auf Geheiſs ihres Herrn als dessen Begleiter an Heerfahrten teil 5. Der Stand der Liten ergänzte sich durch Geburt, durch freiwillige Ergebung in den Litendienst 6 und durch Freilassung von Knechten.

Die geschichtlich bedeutendste Rolle haben die Liten in Sachsen gespielt, wo ihre Anzahl eine ziemlich erhebliche gewesen sein muſs. Sie sind unter den Geiseln vertreten, welche Karl der Groſse aus dem Volke nahm 7. Neben den Adeligen und Freien wurden sie zur Ausstattung der christlichen Kirchen herangezogen 8. Die Heerpflicht erstreckte sich in Sachsen auch auf die Liten 9. Ja, nach einer Nachricht, deren Glaubwürdigkeit allerdings nicht ohne Grund bestritten wird, wären sie vor der Unterwerfung durch Abgeordnete auf allgemeinen sächsischen Stammesversammlungen vertreten gewesen 10. Von

2 Z2 f. RG III 18 ff.

3 Eine Halbteilung des Wergeldes zwischen Fiskus und Sippe konzedierte den königlichen Aldien König Liutprand in der Notitia de actoribus c. 4.

4 Die Traditiones Fuldenses unterscheiden lidi pleni und lidi dimidii, jenachdem sie volle oder halbe Litendienste zu leisten haben.

5 Lex Salica 26, 1, Cod. 5—9 und Emendata: si quis litum alienum qui apud dominum in hoste fuerit, … ingenuum dimiserit. Winogradoff, Forschungen XVIII 189 will emendieren: qui a domino suo in hoste dimissus fuerit … ingenuum dimiserit.

6 Lex Fris. 11, 1 oben S 103 Anm 3.

7 Annal. Laureshamenses zum J. 780 MG SS I 31.

8 Cap. de part. Sax. c. 15, I 69.

9 S. die Stellen bei Waitz, VG IV 537 und Roth, BW S 406 f.

10 Hucbald, Vita S. Lebuini, MG SS II 361. Siehe W. Sickel, Der deutsche Freistaat S 196 Anm 5. Die Vita ist erst im 10. Jahrh. verfaſst worden.


(0258 : 240)

§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.

Lothar I. nach seiner Niederlage bei Fontenoy zur Empörung aufgereizt, verbanden sich die sächsischen Frilinge und die Liten zu dem sogen. Stellingabunde, um die Adeligen aus dem Lande zu treiben und nach ihrem alten Rechte zu leben 11, eine Erhebung, welche Ludwig der Deutsche niederwarf.

Bei den Baiern findet sich keine Spur von Liten. Dafür kennen ältere bairische Urkunden die Aldien 12, ein Name der sonst nur noch bei den Langobarden vorkommt. Obwohl der langobardische Aldio, dessen Stellung durch die Gesetzgebung eingehend geregelt war, etwas tiefer stand als der Lite 13, hat man doch im fränkischen Reiche beide auf dieselbe ständische Stufe gestellt. Ein Kapitular Karls des Groſsen bestimmte, daſs die königlichen Aldien in Italien nach demselben Rechte leben und dienen sollen, wie die fränkischen Liten 14, während andrerseits eine langobardische Urkunde fränkische Liten schlechtweg als Aldien bezeichnet 15.

Eine den Liten nahe verwandte Klasse von Halbfreien hat auch bei den Alamannen existiert. In ihrer ältesten Rechtsaufzeichnung, in dem sog. Pactus Alamannorum, wird sogar der Name der Liten genannt. Allein eine viel ausführlichere jüngere Satzung und die zahlreichen Urkunden wissen nichts von alamannischen Liten. Und da der Pactus auch sonst spezifisch fränkische, den Alamannen durchaus fremdartige Ausdrücke enthält 16, so ist anzunehmen, daſs das Wort bei den Alamannen ebensowenig wie bei den Baiern heimisch war und im Pactus auf einer Entlehnung aus der fränkischen Rechtssprache beruht 17.

Halbfrei sind ferner die Kolonen, welche sich in Gallien, in Baiern und Schwaben aus der römischen Zeit her gehalten haben.

11 Mühlbacher, Regesten S 402. Waitz, VG III 149.

12 Meichelbeck, Hist. Fris. Nr 26. 28. 40. 43. 45.

13 Er hatte nur ein Wergeld von 60 solidi. Roth. 129. Seine Abhängigkeit war eine strengere. S. oben S 102.

14 Cap. ital. v. J. 801 c. 6, I 205: Aldiones vel aldianae ad ius publicum pertinentes ea lege vivant in Italia in servitute dominorum suorum, qua fiscalini vel lites in Francia.

15 Über Aldien in comitatu Lugdunensi verfügt eine zu Pavia 934 ausgestellte Urkunde, Chartes de Cluny I 403 Nr 417. Es können nur Liten gemeint sein, welche der lombardische Notar in der versio langobardica als Aldien bezeichnet.

16 K. Lehmann im NA X 471. 475.

17 Vermutlich hieſsen die Halbfreien bei den Alamannen parones wie in Wartmann I Nr 7 v. J. 741; Waitz, VG II 1 S 238. Vgl. die parmanni unten Anm 23. In den Urkunden werden neben den mancipia und servi genannt liberti, casati, manentes, accolae. Glossen haben lantsidel und lantsazo für inquilinus, colonus.


(0259 : 241)

§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.

Die Beschränkungen, denen sie im römischen Reiche aus öffentlichrechtlichen Gesichtspunkten unterworfen waren, sind im Frankenreiche privatrechtliche Beschränkungen geworden. Der Kolone ist erblich an die Scholle gebunden; will er sich seiner Abhängigkeit entziehen, so kann der Herr ihn vindizieren und wird er ebenso wie der entlaufene Knecht dem obsiegenden Kläger vom Gerichte durch handhafte Tradition übergeben 18. Das Grundstück, welches mit dem Kolonen besetzt ist, kann nicht ohne ihn, er nicht ohne das Grundstück veräuſsert werden. Die Abgaben und Dienste, welche der Kolone von seiner Person („de caput suum“) dem Herrn schuldet, werden als colonitium, colonaticum bezeichnet 19. Darin ist wohl auch die Kopfsteuer aufgegangen, welcher die Kolonen als plebs rustica nach der römischen Steuerverfassung unterworfen waren und welche der Herr zu erheben hatte. In den fränkischen Quellen erscheint der Kolone als tributarius, homo tributalis 20. Wie der vollfreie Römer im Wergelde dem freien Franken nachsteht, so hat nach der Lex Salica der Romanus tributarius ein geringeres Wergeld als der Lite 21. Das jüngere Recht beseitigte diese Ungleichheit und gab ihm ein Wergeld von 100 solidi 22.

Wenig verschieden von dem Kolonen war der bei den Baiern genannte Parschalk, der gelegentlich auch als Kolone bezeichnet wird 23. Er frondet, zahlt Abgaben, leistet Botendienste und kann mit seinem Hofe veräuſsert werden. Sein Wergeld, dessen Höhe unbekannt ist, wird vom Herrn eingeklagt und bezogen 24. Der Stand der Parschalken nahm ohne Zweifel eine erbliche Mittelstellung zwischen Freien und Knechten ein 25.

18 Carta Senon. 20; Form. Senon. rec. 1; vgl. 3. 6.

19 Form. Senon. rec. 2. 5; Carta Senon. 10; Form. Emmer. I 1: Zeumer S 463.

20 Über die Identität des tributarius und Kolonen Roth, BW S 83 f.

21 Die Handschriften schwanken in Lex Sal. 41, 7 zwischen 45, 63 und 70 solidi.

22 Lex Sal. 79, 2 (6. Kapit. zur Lex Sal. c. 1).

23 Waitz, VG II 1 S 240. Schmeller, Bayer. WB I 253. Zöpfl, Alterthümer II 172 ff. Parscalk, fem. pardiu oder parwip ist soviel wie Freiknecht. Später heiſsen die Parschalken auch parservi, parmanni, parliut.

24 Graf Hundt, Abhandl. der bayer. Akademie XIII 1 S 14, Nr. 25 v. J. 846: J. sculdhaisus contraplacitabat adversus E. episcopum … wergeldum Kaganharti barscalti sui. An Stelle des Wergeldes wird eine colonica gegen Zins in Zahlung gegeben, ein Vorgang, der eine nachträgliche Teilung des Wergeldes mit der Sippe des Erschlagenen ausschlieſst.

25 Liberi homines heiſsen sie Meichelbeck, Hist. Fris. Nr 481. Dagegen LL III 486 Z. 3: parscalchi vel alii servi regalis curtis.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 16


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§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.

Halbfrei war endlich die gröſsere Menge der Freigelassenen. Denn auch in fränkischer Zeit gewährte die Freilassung in der Regel nur eine beschränkte Freiheit, welche den Freigelassenen in der Hand des Freilassers festhielt oder ihn doch unter eine Schutzherrschaft stellte. Die Freilassung niederer Ordnung machte bei den niederdeutschen Stämmen zum Liten 26, bei den Langobarden zum Aldio. Anderwärts erscheint der Freigelassene geringeren Rechtes als libertus schlechtweg, so bei den Thüringern, wo ihm das halbe Wergeld des Freien, so bei den Baiern, wo ihm das zweifache Wergeld des Knechtes zugesprochen wird.

Neben den stammesrechtlichen Freilassungsarten kamen die des römischen Rechtes zur Anwendung und zwar zumeist in einer Form, welche durch den Einfluſs der Kirche zu einer Freilassung niederer Ordnung degradiert worden war. In Gallien hatte die Kirche es verstanden die Freilassung in den Kreis ihrer Interessen zu ziehen 27. Sie begünstigte sie als ein frommes gottgefälliges Werk, arbeitete aber mit Erfolg darauf hin, daſs die Freigelassenen unter ihren Schutz gestellt wurden. Schon die Gesetzgebung Konstantins hatte eine kirchliche Form der Freilassung geschaffen, darin bestehend, daſs der Sklave in der Kirche vor dem Bischof freigelassen und darüber eine Urkunde aufgenommen wurde 28. Diese Freilassungsform fand die häufigste Anwendung. Daneben bestanden zwar im römischen Vulgarrechte noch die Freilassung durch Testament und die durch Begebung eines Freibriefs, allein die Kirche wirkte darauf ein, daſs in solchen Fällen der Freigelassene ihrem Schutze empfohlen werde. Ferner betrachtete sie es als ihr Recht und ihre Aufgabe, die Freigelassenen jeder Art zu schützen und in ihrer Freiheit zu verteidigen 29. Wer die Freiheit eines Freigelassenen bestritt, sollte sich, so verlangte ein Konzil von 585, zunächst an den Bischof wenden 30. Das Bestreben

26 Liti und liberti vertreten sich in Lex Sal. 26, liberti und lazzi in Rudolfs Translatio S. Alexandri c. 1, SS II 675 und Nithard IV 2, SS II 668.

27 Loening, Kirchenrecht I 325.

28 Cod. Just. I 13 c. 1; Cod. Theod. IV 7 c. 1.

29 Conc. Agath. v. J. 506 c. 29; Conc. Paris. v. J. 614 c. 5; Clichy v. J. 626 c. 19. Hinsichtlich derjenigen, die gemäſs der Konstitution Konstantins die Freiheit empfangen hatten, wurde später das Schutzrecht der Kirche eigentümlicherweise aus jener Konstitution hergeleitet, obzwar sie kein Wort davon sagt. Carta Senon. App. 3, Zeumer S 210, Rozière Nr 63: secundum constitutionem bene memorie Constantine legis, qua sanxum est, ut omnis, qui sub oculis episcoporum, presbiterorum seu diaconorum in ecclesia manumittantur, a civitate (ad civitatem Romanam) pertinere et ab ecclesia defensatur. Vgl. Form. Bitur. 9.

30 Zweites Konzil von Mâcon c. 9. Loening, Kirchenrecht II 237.


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§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.

der Kirche, sich zur allgemeinen Schutzherrin aller Freigelassenen aufzuschwingen, trat in Gegensatz zum weltlichen Rechte und zu den Ansprüchen des Königtums. Zwar war und blieb die konstantinische Form der Freilassung in ecclesia durch die germanischen Volksrechte anerkannt, aber das Edikt Chlotars II. von 614, welches sich mit den weitergehenden Forderungen der Kirche vorläufig auseinandersetzte, läſst das Schutzrecht der Kirche nur gelten, sofern der Text der Freilassungsurkunde es angeordnet hatte. Auch versagte es der Kirche die Gerichtsbarkeit, welche sie in Sachen der Freigelassenen beanspruchte, und gestattete nur, daſs der Bischof oder der Propst an der Verhandlung des weltlichen Gerichtes teilnehme 31.

Ein fränkisches Königsgesetz, welches etwas später wie das Edikt Chlotars II. entstanden und in die Lex Ribuaria eingerückt worden ist, unterscheidet zwei Formen der Freilassung zu römischem Rechte, eine kirchliche und eine weltliche. Erstere bestand darin, daſs der Freilasser den Knecht vor dem Klerus in die Hände des Bischofs tradierte, der dann die Freilassungsurkunde schreiben lieſs 32. Hinsichtlich dieser Freigelassenen, welche tabularii hieſsen, wurden die Forderungen der Kirche in weitgehendem Maſse bewilligt. Die tabularii sollten Hörige der Kirche sein, die ihre Freilassung vermittelte, und unter ihrer Gerichtsbarkeit stehen. Die weltliche Form der Freilassung war die zum civis Romanus. Sie geschah durch Übergabe eines Freibriefes, gewährte dem Freigelassenen die Freizügigkeit und stellte ihn nicht unter kirchliches Patronat; vielmehr sollten, wenn er kinderlos verstarb, sein Erbe und sein Wergeld an den Fiskus gelangen 33. Ein solcher Freigelassener fällt unter den Begriff der cartularii 34, welcher alle per cartam freigelassenen Knechte in sich schlieſst, die nicht tabularii wurden 35.

Diese Unterscheidung zwischen tabularii und cartularii hatte — wenigstens auſserhalb des Geltungsbereiches der Lex Ribuaria — nur soweit praktische Bedeutung, als nicht die Freilassungsurkunde selbst die Stellung des Freigelassenen in anderer Weise regelte. Die fränkischen Formelsammlungen bieten Muster zur Beurkundung von

31 Chloth. II. ed. c. 7, I 22: libertus cuiuscumque ingenuorum a sacerdotibus iuxta textus cartarum ingenuetatis suae contenit, defensandus, nec absque praesentia episcopi aut praepositi aecclesiae esse iudicandus vel ad publicum revocandus.

32 Lex Rib. 58. Über die Freigelassenen der Lex Rib. handelt ausführlich Ernst Mayer, Zur Entst. der Lex Rib. S 131 ff. Vgl. Schröder, Z2 f. RG VII 23.

33 Lex Rib. 61.

34 Cap. legi Rib. add. v. J. 803 c. 10, I 118.

35 Auch jene, welchen die Freizügigkeit nicht gewährt wurde.

16*


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§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.

Freilassungen, welche in der Kirche geschehen, aber den Freigelassenen jeder Schutzherrschaft entheben. Andrerseits setzen sie Freilassungen auſserhalb der Kirche voraus, welche den Freigelassenen unter den Schutz der Kirche stellten. In diesem Falle wurde ihm nicht selten ein an die Kirche zu zahlender Wachszins auferlegt. Dann heiſst er cerarius 36.

In Alamannien hat die Kirche unter Herzog Lantfried auch die Schutzherrschaft über die cartularii erlangt. Die Lex Alamannorum spricht ihr das Wergeld der kinderlosen Freigelassenen zu, mögen diese nun in der Kirche oder per cartam ihre Freiheit empfangen haben 37. Dagegen hat die karolingische Gesetzgebung und Verwaltung die Rechte des Königtums an den cartularii mit Nachdruck gewahrt, indem sie das Erbe und das Wergeld der cartularii für den Fiskus in Anspruch nahm 38. Seitdem machte die Kirche geltend, daſs jede Freilassung, wenn sie zum Heil der Seele dienen wolle, in der Kirche vorgenommen werden und den Freigelassenen in ihren Schutz stellen müsse 39.

Der tabularius befand sich stets in erblicher Abhängigkeit von der Kirche und konnte aus derselben nicht freigelassen werden. Er war der Kirche zinspflichtig und gerichtspflichtig und entbehrte die Freizügigkeit. Nach den Gesetzen Konstantins gewährte die Freilassung in der Kirche die volle Freiheit des römischen Bürgers. Die Freilassung zum tabularius, die sich aus der konstantinischen Form herausgebildet hat, gab nur die Halbfreiheit. Die Kirche hatte sie zu einer Freilassung schwächerer Wirkung herabgedrückt. Der cartularius konnte von jeglichem patrocinium und von der Verpflichtung, ein litimonium zu zahlen, durch den Wortlaut der Freilassungsurkunde enthoben werden. Das Recht der Freizügigkeit pflegte er durch die wohl

36 Cap. Haristall. v. J. 779 c. 15, I 50, wo cerarii et tabularii atque cartolarii unterschieden werden.

37 Lex Alam. Hlo. 17, Lantfr. 15.

38 Cap. Aquisgr. von 801—813 c. 6, I 171. Cap. ad leg. Baiuw. add. von 801—813 c. 6, I 158: hi vero qui per cartam ingenuitatis dimissi sunt liberi, ubi nullum patrocinium et defensionem non elegerint, similiter regi componantur 40 solidis. Cap. legi Rib. add. v. J. 803 c. 10, I 118. Lex Chamav. c. 12. Form. imp. 38. Siehe Zeumer, Über die Beerbung der Freigelassenen durch den Fiscus, Forschungen XXIII 189 ff.

39 Regino, De synodalibus causis liber I c. 416, hg. von Wasserschleben: non solum autem qui ad clericatus ordinem promovendi sunt, in ecclesia manumittendi sunt, verum etiam hi quos quisque pro remedio animae suae emancipare vult, secundum legem mundanam in ecclesia absolvi debent et eiusdem ecclesiae patrocinio commendari. Siehe Guérard, Polypt. I 373 Anm 7.


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§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.

dem römischen Urkundenstil entlehnte Klausel: habeat portas apertas, zu erhalten. Ein solcher cartularius galt für einen vollfreien Römer, nur daſs der Fiskus sein Erbe und sein Wergeld nahm. Der cartularius konnte aber auch unter den Schutz des Freilassers, der Kirche oder eines Dritten gestellt und es konnte ihm die freie Wahl eines Schutzherrn überlassen werden. Kurz, seine Stellung wurde im einzelnen Falle durch den Inhalt der carta manumissionis bestimmt.

Während die Kirche die Freilassung fremder Knechte beförderte, um ihren Einfluſs und ihr Vermögen zu vermehren, knüpfte sie die Freilassung von Kirchensklaven an erschwerende Bedingungen. Niemand sollte einen solchen nach einer in das ribuarische Volksrecht aufgenommenen Vorschrift zum libertus machen, ohne der Kirche einen Ersatzsklaven zu gewähren. Für den Fall, daſs der Freigelassene nicht unter das patrocinium der Kirche gestellt wurde, verlangte schon ein toledanisches Konzil vom Jahre 633, daſs der Freilasser zwei Knechte gleichen Wertes und gleichen Pekuliums zum Ersatz gebe 40. Die Kirche wuſste diese Forderung auch im fränkischen Reiche durchzusetzen, was aus Freilassungsurkunden des neunten Jahrhunderts hervorgeht 41.

Wie die tabularii nebst den sonstigen Halbfreien der Kirche in älterer Zeit als homines ecclesiastici, so werden die halbfreien Leute des Königs als homines regii zusammengefaſst. Zu ihnen gehören insbesondere die freigelassenen Knechte des Königs, welche nicht die Rechte der vollfreien Franken erhalten haben. Ihre Freilassung konnte durch Freibrief geschehen. Dieser Freibrief brauchte keine Königsurkunde zu sein. Es genügte, wenn der vom König zur Freilassung ermächtigte Fiskalbeamte die epistola libertatis ausstellte 42.

Die Halbfreien konnten durch Freilassung die volle Freiheit erlangen. Der colonus, der litus und der libertus (so nannte man den Freigelassenen niederer Ordnung 43) konnte zum ingenuus im eigentlichen Sinne erhoben werden. Das römische Recht hatte zwar durch die Fiktion, daſs der Kolone persönlich frei sei, einer Freilassung des-

40 Aufgenommen in Regino, De synodalibus causis liber I c. 369, hg. von Wasserschleben.

41 Brunner, Freilassung durch Schatzwurf S 70.

42 In Marculf I 39 wird der domesticus vom König angewiesen, aus Anlaſs der Geburt eines Königssohnes in jeder villa drei Unfreie beiderlei Geschlechtes „per vestras (des domesticus) epistolas“ freizulassen. Das Formular des entsprechenden Freibriefs giebt Marculf II 52.

43 Siehe Zeumer, Beerbung der Freigelassenen, Forschungen XXIII 196.


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§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.

selben den Weg verschlossen 44. Allein trotz dieser Theorie hat man in Gallien schon vor der Eroberung Kolonen freigelassen 45. Auch in den Quellen der fränkischen Zeit ist noch von einer Freilassung der Kolonen die Rede 46. Sie geschah in römischen Formen und machte sonder Zweifel zum freien Römer. Eine Freilassung des Liten erwähnt das friesische Volksrecht, ohne uns näheren Einblick in ihren Formalismus zu gewähren 47. Die fränkischen Volksrechte kennen eine Freilassung durch Schatzwurf, manumissio per denarium, welche zum vollfreien Franken machte 48. Sie findet vor dem König statt und verlangt eine symbolische Handlung, darin bestehend, daſs der Lite dem Herrn einen Denar anbietet, welchen dieser ihm aus der Hand schleudert, so daſs die Münze zu Boden fällt. Der Denar wird als Kopfzins, als litimonium angeboten, aber vom Herrn verschmäht, und so die Befreiung von der Zinspflicht, die den Halbfreien charakterisiert, zu rechtsförmlichem Ausdruck gebracht. An den Denarwurf schlieſst sich ein Freiheitsbann des Königs an, durch welchen er befiehlt, daſs der Freigelassene fürderhin als ein Vollfreier behandelt werde. Diese Art der Freilassung hieſs denariatio, der, dem sie zuteil ward, homo denarialis. Über den Freilassungsakt stellte der König eine Urkunde aus, welche praeceptum denariale, carta denarialis genannt wird. Der denarialis hatte ein Wergeld von 200 solidi. Es fiel ebenso wie sein Erbe entweder unbedingt oder doch nach seinem kinderlosen Tode an den König. Häufig behielt er das Pekulium, das er als Lite besessen, indem es ihm aus Anlaſs der denariatio zu Eigentum oder zu Leiherecht überwiesen wurde.

Seit den vierziger Jahren des neunten Jahrhunderts erscheint die Freilassung per denarium als eine Freilassung durch die Hand des Königs. Der Freizulassende wird von seinem Herrn dem König tradiert, bietet dann dem König den Denar an, worauf dieser die Handlung des Schatzwurfes, die excussio denarii vornimmt. Obwohl die manumissio per denarium ursprünglich als eine Freilassung des Liten ausgebildet worden war, konnte sie auch dazu dienen, einem Knechte die volle Freiheit des Franken zu verschaffen. Kam dies früher nur ausnahmsweise vor, so sind es in den seit der zweiten Hälfte des

44 v. Savigny, Vermischte Schriften II 35.

45 F. Roth, Der bürgerl. Zustand Galliens Anm 34. 35. Esmein, Mélanges d’histoire du droit, 1886, S 370.

46 Waitz VG II 1 S 244 Anm 3. Loening, Kirchenrecht II 719 Anm 2.

47 Lex Fris. 11, 2.

48 Lex Sal. 26, 1. Lex Rib. 57, 1. Brunner, Die Freilassung durch Schatzwurf S 55 ff.


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§ 32. Adel und Freie.

siebenten Jahrhunderts überlieferten Formeln und Urkunden stets Knechte und zwar servi mansionarii, welche durch Schatzwurf freigelassen werden, indem sie dabei regelmäſsig die Hufe, die sie als servi bewirtschaftet hatten, zur Ausstattung empfangen.

Von den Franken verbreitete sich die denariatio in ihrer jüngeren Form zu den übrigen Stämmen und trat in Konkurrenz mit den Freilassungsformen, welche nach deren Rechten die volle Freiheit der Halbfreien und der Knechte vermitteln konnten. So kannten die Baiern eine Freilassung durch die Hand des Herzogs, welche die Freigelassenen befähigte, in den Gerichtsversammlungen an der Fällung des Urteils teilzunehmen 49, die Chamaven eine Freilassung per hantradam, bei welcher der Freilasser einen Zwölfereid schwur 50, die Langobarden eine Freilassung per gairethinx, welche selbmündig, amund machte, eine Freilassung in pans, id est in votum regis, von gleicher Wirkung 51 und eine Freilassung zum Volkfreien, welche zwar die Freizügigkeit gewährte, aber eine Schutzherrschaft bestehen lieſs.

§ 32. Adel und Freie.

S. die Litt. zu § 14 u. 29, insbes. K. Maurer, Wesen des ältesten Adels, 1846.

Der Adel ist im fränkischen Reiche teils alter germanischer Geschlechtsadel, teils jüngerer fränkischer Dienstadel.

Das Wergeld des Geschlechtsadels steht bei den einzelnen Stämmen in verschiedenem Verhältnis zum Wergelde des freien Mannes. Meistens beträgt es ein vielfaches des letzteren. So hat der sächsische Adel das sechsfache 1, der thüringische 2 das dreifache,

49 Tassil. decr. Niuh. c. 8, LL III 465.

50 Lex Cham. c. 11. 12. Sohm, Reichs- und Gerichtsverfassung S 573 ff. Havet in der Nouvelle Revue historique de droit français et étranger 1877, I 657. Cosack, Eidhelfer S 87. Das Wort hantrada ist bis jetzt nicht erklärt. Der Zwölfereid des Freilassers scheint mir ein assertorischer Eid gewesen zu sein. Der Freilasser beschwört in Anschluſs an die Freilassung die Freiheit des Freigelassenen. Bei Anfechtung seiner Freiheit kann sich der Freigelassene auf jenen Zwölfereid als Beweis seiner Freiheit (vgl. Lex Chamav. c. 10) berufen, und ist damit der Notwendigkeit enthoben durch seinen Auktor im Freiheitsprozeſs vertreten zu werden.

51 S. oben § 14 S 100. Über die Deutung des Wortes in pans oben S 147 Anm 22. Die manumissio in pans regis ist in fränkischer Zeit ebenso wie die bairische Freilassung ducali manu in die manumissio per denarium aufgegangen.

1 Lex Sax. c. 14. Gaupp, Thüringer S 163 ff. vermutet, daſs erst Karl der Groſse das Wergeld des sächsischen Adels erhöht habe, weil er ihn durch Zugeständnisse gewinnen wollte. Gegen diese Vermutung spricht die Thatsache, daſs auch der angelsächsische Adel das sechsfache Wergeld des Freien hat. v. Richthofen, Zur Lex Saxonum S 386.

2 Lex Angl. c. 1. 2.


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§ 32. Adel und Freie.

der langobardische 3, der ost- und westfriesische 4 Adel das zweifache Wergeld des Freien. In Baiern sind die Mitglieder des Herzogsgeschlechtes durch das vierfache, die übrigen fünf Adelsgeschlechter durch das zweifache Freienwergeld ausgezeichnet 5.

Bei den Mittelfriesen ist das Wergeld des Adeligen das anderthalbfache des Freien. Es entspricht nämlich die Erbenbuſse des Adeligen dem vollen Wergelde des Freien, während andrerseits die Erbenbuſse des Freien dem vollen Wergelde des Liten gleichsteht. Das Wergeld des höheren Standes überragt also das des nächst niedrigeren um den Betrag der Magsühne 6.

In Schwaben gliederte sich die freie Bevölkerung anfänglich in drei Stände, nämlich in minofledi oder minoflidi mit einem Wergelde von 160, in mediani mit einem Wergelde von 200 und in primi oder meliorissimi mit einem Wergelde von 240 solidi 7. Das Wergeld des höheren Standes steht um den Betrag des groſsen alamannischen Friedensgeldes über dem des nächstfolgenden Standes.

Das Wesen der ältesten alamannischen Ständegliederung ist streitig. Sie findet sich nur in dem sogenannten Pactus Alamannorum, einer Rechtsaufzeichnung vom Ende des sechsten oder vom Anfang des siebenten Jahrhunderts. In der Lex Alamannorum, welche im zweiten oder dritten Dezennium des achten Jahrhunderts abgefaſst worden ist, erscheinen die minofledi unter dem Namen liberi 8 und werden die primi nicht mehr genannt. Minoflidi erwähnt im Gegensatz zu meliores auch ein Zusatz zur Lex Salica 9, der von jenen wegen Mordverdachtes einen Eid mit 15, von diesen einen Eid mit 65 Eidhelfern verlangt. Drei freie Stände unterscheidet schon das burgundische Gesetzbuch, welches das Wergeld der untersten Stufe, der minores, inferiores oder leudes auf 150, das der personae mediocres auf 200, das der optimates auf 300 solidi ansetzt 10.

Die minofledi der Alamannen sind weder, wie man geglaubt hat, als Liten aufzufassen 11, noch stellen sie sich als ein Stand von Minderfreien dar, die des eigenen Grundbesitzes entbehrend auf

3 Liutprand 62.

4 Lex Fris. 1, 10; 15, 1. 2.

5 Lex Baiuw. II 1.

6 Lex Fris. 1, 1. 3; Add. 3 a 58. Z2 f. RG III 18 f. S. oben S 219.

7 Pactus Alam. II c. 37 ff.

8 Lex Alam. Hlo. 69.

9 Lex Sal. Hessels Titel 74. Behrend-Boretius, Cap. I c. 9.

10 Lex Burg. 2, 2; 26, 1. 2; 101, 2 (Add. I 14, 2).

11 So v. Savigny, Adel S 24; Merkel, De republica Alam. S 5 u. öfter. Dagegen Gaupp, Ansiedl. S 129 ff.; Wilda, Strafrecht 421.


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§ 32. Adel und Freie.

fremdem Grund und Boden angesiedelt sind 12. Wir haben sie vielmehr als die Gemeinfreien zu betrachten, welche das normale Maſs des Grundeigentums besitzen 13. Auch der salische minoflidus ist nicht ein Hintersasse, sondern ein selbständiger Hofbesitzer, wie denn überhaupt die Unterscheidung von minoflidi und meliores in dem salischen Kapitular keinen eigentlich ständischen Gegensatz zum Ausdruck bringen will 14. Das Wort minoflidus ist niederdeutsch und bedeutet den Besitzer eines geringeren Hofes 15. Im Gegensatz zu ihm bedarf der melior, weil er eine gröſsere Zahl angehöriger und abhängiger Personen freizuschwören hat, einer gröſseren Zahl von Helfern. Die salfränkische Bezeichnung minoflidi ist dann bei Abfassung des ala-

12 Walter § 438, Schröder in Z2 f. RG II 54 Anm 1 sehen in den minofledi freie Hintersassen. Nach Waitz VG II 1 S 265 waren die mediani die freien Grundbesitzer, die minofledi Freie, die nicht ihren Grundbesitz, aber die persönliche Freiheit bewahrt haben. Das Wergeld der ersteren sei erhöht worden.

13 Das Wergeld von 160 solidi stellt den minofledus dem Vollfreien der übrigen Stämme ebenbürtig zur Seite. In der Lex Alam. heiſsen die minofledi schlechtweg liberi. Das alamannische Buſssystem hat den Stand der minofledi oder liberi zur Grundlage. Denn die Buſse für den vollständigen Verlust der Hand und des Fuſses, welche regelmäſsig als eine Quote des Wergeldes berechnet wird, beträgt nach dem Pactus 40, nach der Lex 80 solidi, also das Viertel bezw. die Hälfte des Wergeldes, das dem minofledus oder liber zugeschrieben wird. Wenn Hlo. 8 B bestimmt, daſs die freien Kolonen der Kirche sicut alii Alamanni componantur, so können unter den alii Alamanni schlechtweg nur die liberi, nicht die mediani verstanden werden. Auffallend wäre es, wenn man die Lex in erster Linie nicht für die Gemeinfreien, sondern für Leute aufgezeichnet hätte, die ihre Freiheit gemindert haben. Und nicht weniger müſste es befremden, wenn schon zur Zeit der Entstehung des Pactus der gröſsere Teil der freien Bevölkerung aus grundbesitzlosen Personen bestanden hätte. In den Urkunden Wartmann Nr 135 v. J. 793, Nr 143 v. J. 797 erscheint der Betrag von 160 solidi, um welchen die vergabten Grundstücke zurückgekauft werden können (vgl. oben S 198 Anm 21) als das Wergeld freier Grundbesitzer. Schon Wilda, Strafrecht S 422 hat in den minofledi die Gemeinfreien erkannt.

14 Soweit das Ständewesen die Zahl der Eideshelfer beeinfluſst, schwört der höhere Stand nicht mit mehr, sondern mit weniger Eideshelfern, weil sein und seiner Genossen Eid höheren Wert hat. Der selbsechzehn geschworene Eid, wie er in Lex Sal. 74 von den minofledi verlangt wird, ist in einigen Gegenden salischen Rechts als Abart des normalen Zwölfereides nachzuweisen, nämlich dort, wo auſser den zwölf Eidhelfern noch drei aloarii (alwâri, allwahre) schwören. Carta Senon. 17. 21, Zeumer S 192. 194. Auch Schröder sieht in den salischen minoflidi freie Bauern, indem er die Stelle aus dem Gegensatz des herrschaftlichen Groſsgrundbesitzes oder der terra salica und des nachbarlichen, d. h. bäuerlichen Kleinbesitzes in der Gemeindeflur erklärt. Z2 f. RG II 54. Dagegen hält W. Sickel, Westd. Z f. Gesch. u. Kunst IV 267 die minoflidi für Zinsgutbesitzer.

15 Flid, alts., ags. und altn. flet, ahd. flezi, flazi area, aula. Grimm, WB III 1771; Schröder, Z2 f. RG VII 18.


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§ 32. Adel und Freie.

mannischen Pactus auf die Gemeinfreien angewendet worden. Die alamannischen mediani sind ein niederer Adel, vielleicht alter Geschlechtsadel, der nach der Unterwerfung der Alamannen unter die fränkische Herrschaft seinen politischen Einfluſs verlor und daher unter die primi herabsank, die ihn zu behaupten gewuſst hatten. Als die Lex Alamannorum abgefaſst wurde, bestand ein erbliches Herzogtum und war die erste Stufe des Adels vermutlich dem Herzogsgeschlechte vorbehalten, welches bei den Alamannen wahrscheinlich ebenso wie bei den Baiern durch ein höheres Wergeld ausgezeichnet war 16.

Auch in Burgund scheinen die minores die Masse der freien Leute gebildet zu haben, über welche sich die mediocres als ein niederer, die optimates als ein höherer Adel heraushoben 17. Den letzteren sind die nobiles Romani gleichgestellt. Die mediocres und die minores begreifen sowohl Burgunder als Römer in sich. Alter Adel können sonach die mediocres nicht sein. Ihre Entstehung hängt vielleicht mit dem Königsdienste zusammen.

Der Abstand zwischen dem Adel und den Gemeinfreien war am gröſsten in Sachsen, wie schon die Wergeldsätze ersehen lassen. Ehen von Adeligen mit Gemeinfreien galten hier für unebenbürtige Ehen. Nach einer aus dem neunten Jahrhundert stammenden Nachricht 18 soll der Freie, der eine Adelige zum Weibe nahm, sogar mit dem Tode bestraft worden sein. Unter dem Schutze von Adeligen standen freie Personen. Hauptsächlich auf den Gütern des Adels mögen die sächsischen Liten gesessen haben. Früher als die unteren Stände fanden sich die sächsischen Adeligen in die Verhältnisse, welche nach der Unterwerfung des Landes durch die Franken platzgriffen. Sie verschmähten es nicht, in den Dienst des fränkischen Königs einzutreten. Schon 782 konnte Karl der Groſse eine Anzahl

16 Nach Lex Alam. 11 soll der Bischof für Verwundungen die dreifache Buſse seiner Verwandten haben, ac si melius dicamus, sicut et ducem ita in omnibus eum componat. Wird er getötet, so soll er gleich dem dux gebüſst werden. Da schon der presbyter parrochianus ein Wergeld von 600 solidi hatte, muſs das des Bischofs, also auch das des Herzogs höher gewesen sein.

17 v. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 149. Der Ausdruck leudes deutet eher auf Gemeinfreie wie auf Minderfreie. Das burgundische Buſsensystem hat, wie schon Wilda S 424 aus der Vergleichung von Lex Burg. 48, 1 mit 93 (Add. I 6) folgerte, den Stand der minores zur Grundlage. In Lex Burg. 52, 4 zahlt der Verurteilte 150 solidi als sein Wergeld.

18 Rudolfi Translatio S. Alexandri c. 1, SS II 675. v. Richthofen, Untersuchungen II 1102. Es handelt sich wohl um Ehen ohne Brautkauf.


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§ 32. Adel und Freie.

der vornehmsten Sachsen zu Grafen bestellen 19. Nicht die Adeligen, sondern nur die Freien und Liten hatten Anlaſs, nach dem Tode Ludwigs des Frommen in einem fruchtlosen Aufstande für die Wiederherstellung der alten Zustände zu kämpfen. Der Adel, dem wir später bei den Sachsen begegnen, ist zum Teile Amtsadel.

Mit auffallender Beharrlichkeit haben die Friesen ihre altständischen Verhältnisse und ihren Geschlechtsadel bewahrt. Bis in das fünfzehnte Jahrhundert hinein kennen die nicht frankonisierten Teile Frieslands die Gliederung des Volkes in Ethelinge, Frilinge und Liten. Auch das Verhältnis der Wergeldsätze hat sich kaum geändert. Der Etheling besitzt das doppelte, in einzelnen Gegenden das anderthalbfache, der Lite das halbe Wergeld des Freien 20.

Bei den Baiern lassen sich die fünf Adelsgeschlechter, welche ihr Volksrecht als die ersten nach den Agilolfingern nennt, zum Teil über die fränkische Zeit hinaus in hervorragender Stellung verfolgen 21. Das Geschlecht der Fagana verfügt unter Tassilo III. über ausgedehnten Grundbesitz 22. Zwei Fagana fungieren 743 als bairische iudices 23. Unter den bairischen Bischöfen des neunten Jahrhunderts scheinen die Fagana und die Huosier vertreten zu sein 24. Von den Huosiern sollen die nachmaligen Grafen von Pitten abstammen 25.

Die Salier und die Ribuarier hatten, wie schon oben bemerkt worden ist, auſser dem Königsgeschlechte keinen Geburtsadel. Wahrscheinlich war er hier durch das Königtum ausgerottet oder seiner Vorrechte entkleidet worden. Die soziale Stellung des Adels fiel bei den Franken einer sich allmählich ausbildenden Aristokratie des Königsdienstes und des Groſsgrundbesitzes zu, welche die Quellen als potentes, meliores, priores, proceres, nobiles oder optimates bezeichnen. In den Gegenden, wo die Franken nur oder doch hauptsächlich als

19 Annales Lauresham. zu 782, SS I 32; Waitz, VG III 129.

20 v. Richthofen, Untersuchungen zur friesischen RG II 1107 ff. Eine Wergeldordnung von 1504 a. O. S 1110 giebt dem Häuptling (nobilis) das doppelte Wergeld des freien Hausmanns, dem Heuermann (Liten) das halbe Wergeld des Freien.

21 Die in jüngeren Quellen vorhandenen Nachrichten über die Adelsgeschlechter der Lex Baiuw. hat Merkel, Z f. RG I 255 zusammengestellt. Doch bleibt noch Raum für mancherlei Ergänzungen.

22 Meichelbeck, Hist. Fris. I S 49.

23 Meichelbeck I S 44, vgl. mit I S 49. S. oben S 150 Anm 36.

24 Von den Freisinger Bischöfen gehörten Otto (784—811) vermutlich dem Stamme der Fagana, Hitto (811—835) und Erchenbert (836—854) wahrscheinlich, Anno (855—875) und Arnold (875—883) vielleicht dem Geschlechte der Huosier an. Graf Hundt, Abh. der bayer. Akad. XIII 22. 26 f. 35. 39. 41.

25 Graf Hundt a. O. XIII 7.


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§ 32. Adel und Freie.

königliche Beamte oder als Groſsgrundbesitzer vertreten waren, scheint das Wort Francus den Sinn von maior persona gewonnen zu haben, in welchem die merowingischen Rechtsquellen es gelegentlich gebrauchen 26. Die neue Aristokratie ist nach unten hin in keiner Weise abgeschlossen. Durch die Gunst des Königs vermögen selbst unfrei geborene Personen in sie aufzusteigen. Der Königsdienst gab nach fränkischem Rechte höheres Wergeld. Gewisse königliche Beamte, die Grafen, die Sacebarones, die Missi, die königlichen Gefolgsgenossen, welche den Namen Antrustiones führen, besitzen das dreifache Wergeld ihrer Geburt. Solange nicht die Vorrechte, die der Kriegsdienst gewährte, die damit verbundenen Verpflichtungen überwuchert und den Charakter der Erblichkeit angenommen hatten, war der fränkische Dienstadel kein Adel im wahren Sinne des Wortes 27. Doch sind bereits in merowingischer Zeit die Anfänge einer Entwicklung vorhanden, welche die höheren Reichsämter zu erblichen Herrschaften umgestaltete. So waren seit der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts in verschiedenen Teilen des Reiches die Herzogsämter Erbgut hervorragender Geschlechter geworden. Die bairischen Agilolfinger, das alamannische und das elsässische Herzogsgeschlecht, die Arnulfinger und die Pippiniden, die sich im erblichen Besitze des austrasischen Dukats und dann der Hausmeierwürde befanden, sind Beispiele eines wirklichen Adels, der seinen Ursprung auf den Königsdienst zurückführte. Auch das Antrustionenverhältnis scheint in Verbindung mit den königlichen Landschenkungen in Teilen des fränkischen Stammesgebietes die Grundlage eines Adelsstandes geworden zu sein. Wenigstens dürfte kaum in anderer Weise erklärt werden können, daſs uns bei den chamavischen Franken in einer Rechtsaufzeichnung aus dem Anfange des neunten Jahrhunderts unter dem Namen homines Franci Adelige begegnen, welche durch das dreifache Wergeld des freien Franken, durch höhere Buſse und durch ein besonderes Erbrecht ausgezeichnet sind 28. Die Karolinger haben die Erblichkeit hinsicht-

26 Decretio Childeberti v. J. 596 c. 8. Vgl. Waitz, VG II 1 S 273 Anm 1.

27 Treffend sagt Waitz a. O. S 379: wenn man von einem Dienstadel spreche, dürfe man nicht vergessen, „daſs der Dienst an sich dem Begriff des Adels widerspricht, und die Verpflichtung, die er auferlegt, erst von dem Recht, das er giebt, überwunden werden muſs, ehe er als Grundlage eines Standesrechts betrachtet werden kann“.

28 Lex Chamavorum 3. 17—20. 42. Da in Lex Cham. 1 und 13 Francus den Angehörigen des fränkischen Stammes bedeutet, ist bei dem homo Francus der Ton auf den homo zu legen. Das spricht gegen alten Geschlechtsadel. Pardessus, Loi Salique S 646 denkt an den Antrustio. Waitz, VG IV 326 Anm schlieſst sich


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§ 32. Adel und Freie.

lich des höheren Reichsamtes beseitigt und im übrigen jene Entwicklung wenigstens zum Stehen gebracht. Allein gegen Ende der karolingischen Zeit neigen das Grafenamt und das Dienstverhältnis der Vassallität ganz entschieden zur Erblichkeit hin, welche dann in der folgenden Periode zur rechtlichen Anerkennung gelangt ist.

Wie der alte Volksadel, der — von Friesland abgesehen — in den neuen Dienstadel aufging, ist auch der Stand der Freien (liberi, ingenui, franci 29) zersetzt worden. Nicht nur daſs er seine kräftigsten Elemente an den neuen Dienstadel verlor, hat sich auch ein Stand von Minderfreien abgezweigt, der unter den Gemeinfreien steht. Der Grund der Freiheitsminderung ist ein Abhängigkeitsverhältnis niederer Ordnung.

Aus vereinzelten Nachrichten der merowingischen Zeit läſst sich entnehmen, daſs die Unterwerfung unter die Kopfsteuer, welche nach der römischen Steuerverfassung die Kolonen und die plebs urbana belastet hatte 30, als ein Zeichen mangelnder Vollfreiheit angesehen wurde 31. Wie die Freiheitsminderung, die in der Volksmeinung ohne Zweifel mit der Kopfsteuerpflicht verbunden war, sich in rechtlichen Wirkungen äuſserte, läſst sich nicht mit Sicherheit bestimmen.

Dagegen hatte die Pflicht zur Entrichtung eines Zinses, der nicht de capite, sondern für ein Leihegut bezahlt wurde, an sich eine capitis deminutio nicht zur Folge. Auch der freie Hintersasse gilt für vollfrei und bleibt ohne Änderung seines Gerichtsstandes in ungeschmälertem Genusse des Landrechtes, so lange er wie andere Freie persönlich in Heer und Gericht erscheint und Dritten gegenüber für sich einsteht. Eine Schmälerung des Wergeldes führte die Stellung des freien Hintersassen nicht herbei. Im alamannischen Volksrechte ist das Wergeld des liber ecclesiae, quem colonum vocant, dem der übrigen Alamannen gleichgestellt 32.

Verschiedene Ursachen muſsten zusammenwirken, um einen Teil

mit Vorbehalt an. Roth, Feudalität S 223 sieht in dem Francus homo den Vassallen. Aber die Stellung des Francus homo ist augenscheinlich eine erbliche, er hat Grundeigentum, das er auf die Söhne vererbt und, wie es scheint, nicht ver äuſsern kann.

29 Bei den Langobarden hieſsen sie arimanni, exercitales.

30 Karlowa, Röm. RG I 909 ff.

31 Gregor. Tur. Hist. Fr. VII 15: Ipse (Audo iudex) cum Mummulo praefecto multos de Francis, qui tempore Childeberthi regis senioris ingenui fuerant, publico tributo subegit. In Marculf I 19 giebt der König die Erlaubnis, daſs jemand sich zum Kleriker scheren lasse, se memoratus ille de caput suum bene ingenuus esse videtur et in poleptico publico (im Steuerkataster) censitus non est.

32 Lex Alam. 8 B.


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§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.

der Freien zu Minderfreien herabzudrücken. Die wirtschaftliche Abhängigkeit allein war nicht das entscheidende Moment. Maſsgebend war vielmehr auch der Eintritt in ein Schutzverhältnis, aus welchem dem Herrn eine dauernde Haftung für die von ihm abhängigen Leute erwuchs. Wurde dafür ein Schutzzins bezahlt, oder konkurrierte damit die Verpflichtung zu niederen Diensten oder die wirtschaftliche Abhängigkeit des Hintersassen, so trat eine Minderung der Freiheit ein. Die Ausbildung der Schutzhörigkeit, ihre Ausdehnung auf die niederen Formen der Güterleihe und der Hausgenossenschaft hängt so enge mit verfassungsrechtlichen Fragen, insbesondere mit den schwierigen Kontroversen über die Entstehung der Immunität, der sogenannten grundherrlichen Gerichtsbarkeit und des Lehnwesens zusammen, daſs ihre Erörterung füglich der Verfassungsgeschichte der fränkischen Zeit vorbehalten bleibt. Immerhin mag aber hier bereits konstatiert werden, daſs in einer Rechtsquelle Churrätiens vom Anfang des neunten Jahrhunderts freie Hintersassen des Bischofs von Chur, welche zur römischen Bevölkerung gehören, nicht das Wergeld des freien Römers, sondern nur ein Wergeld von 60 solidi haben 33.

III. Rechtsbildung und Rechtsquellen.

§. 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.

Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer I: über die Familien der altgermanischen Volksrechte, 1834. H. Brunner, Zur Rechtsgesch. der römischen und germanischen Urkunde, 1880, I 113. 308. Sohm, Fränkisches Recht und römisches Recht, in der Z2 f. RG I. Heusler, Institutionen I 19 ff.

Im fränkischen Reiche galt bei den einzelnen Nationalitäten und Stämmen verschiedenes Recht. Als die salischen Franken Gallien eroberten, lieſsen sie die römische Bevölkerung bei dem römischen Rechte beharren. Dieses war nicht — wie später das jüdische — ein bloſs geduldetes Recht, sondern es wurde im fränkischen Reiche wie im burgundischen und altwestgotischen für Streitigkeiten unter Romanen als Grundlage der Rechtsprechung anerkannt 1. Ebenso blieben die verschiedenen deutschen Stämme, welche in das fränkische Reich ein-

33 Capitula Remedii, LL V 182: item de patrianos, qui ingenuum hoc modo occiderit, LX solidos conponat.

1 Chlotharii II. praeceptio c. 4, Cap. I 19: inter Romanus negutia causarum romanis legebus praecepemus terminari. Pipp. Cap. Aquit. v. J. 768 c. 10, Cap. I 43: ut omnes homines eorum legis habeant tam Romani quam et Salici. Lex Burg. prima const. c. 7: inter Romanos … romanis legibus praecipimus iudicari; a. O. 55, 2: quodsi Romanus … iubemus … causam romanis legibus terminari.


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§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.

traten, in unangetastetem Besitze ihrer hergebrachten Stammesrechte. Als Burgund und das westgotische Gallien fränkisch wurden, erhielten sich dort das burgundische und das westgotische Recht. Desgleichen führte die Eroberung des Langobardenreiches daselbst keine unmittelbare Veränderung in der Geltung des langobardischen Rechtes herbei.

So stehen sich innerhalb der fränkischen Monarchie die germanischen Stammesrechte einerseits, das römische Recht andrerseits gegenüber. Unter den ersteren sind wieder die zwei ostgermanischen Stammesrechte der Burgunder und Westgoten und die Rechte der deutschen Stämme zu unterscheiden. Jene waren zu der Zeit, da sie Stammesrechte des fränkischen Reiches wurden, bereits stark entnationalisiert und stellen sich als Zwischenbildungen germanischen und römischen Rechtes dar. Unter den deutschen Stammesrechten sind das alamannische und bairische von Hause aus ebenso entschieden oberdeutsch, wie das sächsische und das friesische niederdeutsch sind. Als niederdeutsch erscheinen auch die Rechte der salischen, ribuarischen und chamavischen Franken. Im wesentlichen niederdeutsch ist trotz der hochdeutschen Sprache des Volkes das Recht der Langobarden.

Das römische Recht erhielt sich in dauernder Anwendung nur dort, wo die römische Bevölkerung dichter saſs, im südlichen Gallien, in Burgund, in den rätisch-romanischen Gegenden, in Italien und Istrien. Dabei darf nicht übersehen werden, daſs das Recht der römischen Provinzialen eine ähnliche Brechung erfuhr, wie das von ihnen gesprochene Latein. Es entwickelte sich nämlich ein römisches Vulgarrecht, welches weniger der juristischen Logik als den praktischen Bedürfnissen entsprechend sich als eine Fortbildung, oder wenn man will, als eine Entartung des reinen römischen Rechtes darstellt und sich zu diesem ähnlich verhält wie das im Volksmunde lebende Vulgarlatein zur reinen römischen Schriftsprache.

Innerhalb der einzelnen Stammesgebiete ist das Recht kein einheitliches. Bei den Sachsen zweien sich die Rechte der Ostfalen und Engern einerseits, der Westfalen andrerseits. Das friesische Recht ist in vielen Beziehungen ein verschiedenes für Westfriesland, Ost- und Mittelfriesland. Unter den Ribuariern haben die Chamaven ein Sonderrecht. Nur auf einen Teil des thüringischen Stammes bezieht sich das Volksrecht der Angeln und Warnen. Innerhalb des langobardischen Rechtsgebietes nimmt hinsichtlich der Rechtsbildung das Fürstentum Benevent eine Sonderstellung ein. Und auch bei der romanischen Bevölkerung erhielt das römische Vulgarrecht in den einzelnen Teilen des Reiches teils aus sich selbst heraus, teils unter der Einwirkung


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§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.

der germanischen Stammesrechte, mit welchen es sich örtlich berührte, eine verschiedenartige Ausprägung. Dazu kam, daſs in Italien und Istrien die Rechtssammlungen Justinians in Geltung waren, während in den übrigen Teilen des fränkischen Reiches das geschriebene römische Recht auf älteren Grundlagen beruhte. Die Verschiedenheit des Rechtes ging bei der Art der örtlichen Rechtsfindung wahrscheinlich noch viel weiter als wir aus den in dieser Beziehung dürftigen Überlieferungen nachweisen können, und es dürfte wohl im Reiche kaum eine einzelne Grafschaft gegeben haben, die nicht im Besitze eines lokalen Gewohnheitsrechtes, einer besonderen lex loci gewesen wäre, worunter die fränkische Rechtssprache das örtliche Recht im Gegensatz zu den absoluten Normen des Reichsrechtes versteht2.

Neben der Verschiedenheit des Rechtes machen sich im Frankenreiche wirksame Faktoren einer gemeinsamen und einheitlichen Rechtsbildung geltend. Abgesehen von der gleichartigen Grundlage der germanischen Rechte, wie sie durch Geschichte und Stammesverwandtschaft gegeben war, hat sich keines derselben in völliger Isolierung fortgebildet. Vielmehr zeigt die Entstehungsgeschichte der einzelnen geschriebenen Volksrechte, wie sie fast sämtlich durch andere Volksrechte in Fassung und Inhalt beeinfluſst worden sind. So kamen schon die Satzungen der salischen Franken und der Burgunder unter der Einwirkung der ältesten westgotischen Gesetzgebung zustande. Ein groſser Bestandteil des ribuarischen Volksrechtes stellt sich als freie Umarbeitung des salischen dar. Die älteste Satzung der Alamannen verrät in Ausdruck und Inhalt starken fränkischen Einfluſs. Die Lex der Baiern entlehnte zahlreiche Stellen den Leges der Alamannen und Westgoten. Die Volksrechte der Sachsen, der Angeln und Warnen sind im Anschluſs an die Lex Ribuaria ausgearbeitet worden. Neben diesen direkten Entlehnungen, wie sie bei der Aufzeichnung der Volksrechte stattfanden, kommt eine tiefgreifende Ausgleichung der Rechtsverschiedenheiten in Betracht, die sich auf gewohnheitsrechtlichem Wege vollzog. Jene germanischen Stämme, die mit den Römern in engere Berührung traten, nahmen römische Rechtsanschauungen und Einrichtungen an. Gleichwie die Sprache der Gesetzgebung und der Urkunden, die sie durchweg den Romanen entlehnten, sich an das Vulgarlatein anschloſs, so diente auch bei der Aufnahme römischen Rechtsstoffes nicht sowohl das ge-

2 Sohm, R- u. GV S 74 f. will unter der lex loci deutsches Stammesrecht im Gegensatz zum Reichsrecht und im Gegensatz zum römischen Rechte verstehen. S. dagegen Waitz, VG III 349 Anm 2 und Bethmann-Hollweg V 73 Anm 62.


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§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.

schriebene römische Recht, sondern das Vulgarrecht der römischen Provinzialen als Anknüpfungspunkt. Andrerseits drangen germanische Institutionen in das Recht der römischen Bevölkerung ein. Gegen Ausgang der fränkischen Periode lassen zahlreiche Urkunden über Rechtsgeschäfte ersehen, wie der Römer in Burgund die dem fränkischen Rechte entstammende Tertia „secundum legem romanam“ bestellte3, wie er in Italien gleich den Langobarden bei Schenkungen das Launegild, bei Verheiratung der Tochter das Mundgeld nahm4 und wie er sich bei Verträgen „secundum legem et consuetudinem romanam“ durch Hingabe einer Wadia verpflichtete5.

Noch weit mehr fällt die ausgleichende Einwirkung ins Gewicht, welche das fränkische Recht als das Recht des herrschenden Stammes auf die übrigen Stämme ausübte. Sie machte sich zum Teil auf gewohnheitsrechtlichem Wege, zum Teil auf dem Wege der Satzung geltend und führte zur Ausbreitung fränkischer Institutionen und fränkischer Rechtsausdrücke in allen Teilen des Reiches. Uniformierend wirkte in diesem Sinne die Rechtsprechung des Königsgerichtes, die natürlich in dem Banne fränkischer Rechtsanschauungen stand. Jene zahlreichen Franken, welche den Kern des Beamtentums bildeten, und ebenso die auserlesenen Köpfe nichtfränkischer Stämme, die am königlichen Hofe ihre Schulung empfingen, wirkten als Grafen, als königliche Missi und Gutsverwalter, als geistliche Würdenträger bewuſst oder unbewuſst für die Verbreitung des fränkischen Rechtes. Einrichtungen, die ihren Ausgangspunkt in der Stellung des fränkischen Königs hatten, wie Königsbann und Königsschutz, Immunität, Ämterund Lehenwesen wurden in allen Teilen des Reiches zu mehr oder minder gleichmäſsiger Durchführung gebracht. Auſserdem gewann das Königtum steigenden Einfluſs auf die Satzung und Ergänzung der Volksrechte und wurde es durch die Ausübung seiner Verordnungsgewalt ein wesentlicher Faktor einheitlicher Rechtsbildung. Die königlichen Kapitularien, mochten sie nun zu einzelnen Volksrechten oder für den ganzen Umfang des Reiches erlassen werden, stellten sich im allgemeinen auf den Boden des fränkischen Rechtes und

3 Z. B. Bernard, Chartes de Cluny I 219, Nr 229 v. J. 922: Constancius esponsus tuus … tercia porcione tibi dono secundum mea lege romana.

4 Val de Liévre, Launegild und Wadia S 46.

5 Expositio § 2 zu Liu. 35, LL IV 424. Z f. HR XXII 131 Anm 2. Vgl. Ficker, Mitth. des österr. Instituts, 2. Ergänzungsb. 1886 S 53, wo ausgeführt wird, daſs sich in den langobardischen Gegenden Italiens das vivere lege Romana schlieſslich nur noch auf etliche Einzelheiten bezog, in welchen sich das römische Recht erhalten hatte.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 17


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§ 33. Vielheit und Einheit des Rechtes.

beanspruchten Beachtung trotz des etwaigen Widerspruches, der zwischen ihnen und den Rechtssystemen der verschiedenen Stämme bestand6.

Bei dieser Ausdehnung fränkischen Rechtes hat unter den fränkischen Stammesrechten, soweit zwischen ihnen Verschiedenheiten obwalteten, in merowingischer Zeit das salische, in karolingischer das ribuarische die führende Rolle. Unter den Merowingern geschah sie mehr durch den Zug der thatsächlichen Verhältnisse als aus bewuſster Absicht. Unter den Karolingern war sie nur eine vereinzelte Äuſserung des politischen Strebens, die zwischen Neustrien und Austrasien bestehenden Gegensätze auszugleichen. Die zentralisierende Tendenz ging in dieser Zeit so weit, daſs sogar das Projekt auftauchte, die Rechtseinheit auf dem Wege der Gesetzgebung herzustellen. Von Karl dem Groſsen wird uns berichtet, daſs er nach der Kaiserkrönung den Plan gefaſst habe, wenigstens die Verschiedenheiten zwischen den beiden fränkischen Volksrechten zu beseitigen7. In der Zeit Ludwigs des Frommen, unter welchem die Einheitsbestrebungen hauptsächlich von der hohen fränkischen Geistlichkeit verfochten wurden, sprach ein fränkischer Prälat, Bischof Agobard von Lyon, den Wunsch aus, es möge das fränkische Stammesrecht zum allgemeinen Reichsrechte werden, damit alle Unterthanen wie unter der Herrschaft eines Königs, so auch unter der Herrschaft eines Rechtes ständen8. Wenn auch diese Pläne nicht zur Ausführung gelangten, so waren doch gegen Ende der fränkischen Zeit bemerkenswerte Anfänge einer das ganze Reich umspannenden Rechtseinheit vorhanden. Jene Gemeinsamkeit der Rechtsinstitutionen, die das germanisch-romanische Mittelalter vor der Rezeption des römischen Rechtes aufzuweisen hat, ist eine Rechtsgemeinschaft der Länder, welche im fränkischen Reiche eine gemeinsame Rechtsentwicklung durchgemacht hatten oder wie England durch die normannische Eroberung nachträglich in den Wellenschlag derselben hineingezogen worden sind.

6 Dieses Verhältnis tritt namentlich im Gebiete des Langobardenrechtes grell hervor. Siehe unten § 56 S 388.

7 Einhard, Vita Karoli c. 29: post susceptum imperiale nomen cum adverteret multa legibus populi sui deesse — nam Franci duas habent leges, in plurimis locis valde diversas —, cogitavit quae deerant addere et discrepantia unire, prava quoque ac perperam prolata corrigere; sed de his nihil aliud ab eo factum est, nisi quod pauca capitula et ea inperfecta, legibus addidit.

8 Atque utinam placeret omnipotenti Deo, ut sub uno piissimo rege una omnes regerentur lege, ea ipsa ad quam et ipse vivit, et proximi eius respondent. Adversus legem Gundobadi liber (Agobardi opera ed. Baluzius I 113 ff.) c. 14.


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

Trotz der unleugbar eingetretenen Nivellierung stammesrechtlicher Gegensätze läſst sich doch nicht behaupten, daſs im fränkischen Reiche eine allgemeine Frankonisierung und damit eine Auflösung der Stammesrechte eingetreten sei und schlieſslich neben dem römischen Rechte nur fränkisches Recht gegolten habe. Die angebahnte Einheit des Rechtes war von ihrer völligen Durchführung noch weit entfernt. Die verschiedenen Stammesrechte blieben als solche in Kraft und wiesen nach wie vor noch erhebliche Unterschiede auf. Auch sind die allenthalben eingedrungenen fränkischen Rechtsinstitutionen bei den einzelnen Stämmen zu verschiedenartiger Ausgestaltung und Fortbildung gelangt9.

§ 34. Das Personalitätsprinzip.

v. Savigny, Gesch. des röm. Rechts im Mittelalter I 115 ff. Eichhorn, Staats- u. RG I 264 ff. Waitz, VG II 1 S 109 f., III 347 f. Wilda, Strafrecht S 678 ff. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 455 ff., V 72 ff. Gaupp, Ansiedlungen S 241 ff.; ders. in der Z f. DR XIX 161. v. Richthofen, Zur Lex Saxonum, 1868, S 10. Stobbe, Personalität und Territorialität des Rechts, im J d. gem. d. R VI 21. Karl Schulz, Das Urtheil des Königsgerichts unter Friedrich Barbarossa … ein Beitrag zur Geschichte der Stammesrechte und der professiones iuris in Deutschland, 1878, Abdruck aus der Z f. Thüring. Gesch. IX. Klimrath, Travaux sur l’histoire du droit français, 1842, I 342 ff. G. Padeletti im Archivio storico italiano III. Ser. XX 431 ff. Salvioli, Nuovi studii sulle professioni di legge nelle carte medievali italiane. Estratto dagli atti et memorie delle deputazioni di storia patria per le provincie Modenesi e Parmensi. Ser. III vol. II (1883) S 389 ff.

Besondere Rechtsgrundsätze bildeten sich für die rechtlichen Beziehungen zwischen den Angehörigen verschiedener Stämme. Die Stämme saſsen nicht in räumlicher Abgeschlossenheit. Salische Franken finden sich geradezu in allen Teilen des Reiches als Grundbesitzer angesiedelt. In einzelnen Gegenden ist die Bevölkerung hinsichtlich ihrer Herkunft so sehr gemischt, daſs man kaum von einem herrschenden örtlichen Rechte, von einer „lex loci“ sprechen kann. So lebten in Burgund neben Burgundern und Romanen zahlreiche Salier, und in etwas übertreibender Weise berichtet Bischof Agobard von Lyon, es käme nicht selten vor, daſs fünf Menschen zusammen gehen oder sitzen, von welchen jeder ein verschiedenes Volksrecht habe1. Eine

9 Gegen Sohm, der in seinem Aufsatze: Fränkisches Recht und römisches Recht, Z2 f. RG I 62 zu dem Ergebnis gelangt, daſs das salische Recht alle übrigen Stammesrechte verdrängt habe, s. Heusler, Institutionen I 20 f.

1 Adversus Gundobadi legem c. 4. Die Stelle ist abgedruckt in Mon. Germ. LL III 504: .. tanta diversitas legum, quanta non solum in singulis regionibus aut

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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

sehr bunte Mischung zeigt auch Italien, wo sich über die römische Bevölkerung zunächst die langobardische gelagert hatte und nach dem Sturz des langobardischen Königtums zahlreiche Franken, Alamannen, vereinzelte Baiern und Angehörige anderer Stämme eingeströmt waren2.

Für die Rechtsbeziehungen von Unterthanen, die nach verschiedenem Rechte lebten, entwickelte sich im fränkischen Reiche das sogen. Personalitätsprinzip, nach welchem der einzelne auch auſserhalb seiner Stammesheimat gemäſs dem Rechte behandelt wurde, in welchem er geboren war. Altgermanisch ist dieser Grundsatz nicht. Auf Fremde im staatsrechtlichen Sinne hat er weder in germanischer noch in fränkischer Zeit Anwendung gefunden. Die Burgunder haben in der Periode ihrer Selbständigkeit bei Rechtshändeln zwischen Langobarden und Römern das burgundische Recht entscheiden lassen3. Die Langobarden sind sicher, die Westgoten des tolosanischen Reiches vermutlich von gleichem Standpunkte ausgegangen4. Die Lex Salica enthält noch keine Spur des Personalitätsprinzips, ja die Zusätze einer alten Handschrift lassen ersehen, daſs der Römer dem salischen Beweisrechte unterworfen wurde5. Erst in der Lex Ribuaria tritt uns der Grundsatz, daſs der einzelne nach seinem Geburtsrechte zu behandeln sei, in voller Ausbildung entgegen6. Wenn somit das Personalitätsprinzip nicht von Anfang an im fränkischen Reiche vorhanden war, so liegt es nahe zu vermuten, daſs seine Ausbildung aus dem Bedürfnis und aus dem Bestreben hervorging, den salischen Franken den Genuſs ihres Stammrechtes in den verschiedenen Rechtsgebieten sicher zu stellen, über welche sie sich verbreitet hatten. Die Anwendung des Geburtsrechtes muſste dann unter dem Gesichtspunkte der Gegenseitigkeit auf alle übrigen Stämme ausgedehnt werden. Auch den Langobarden wurde sie nicht, wie man fälschlich geglaubt hat7, diesseits der Alpen vorenthalten. Nur das jüdische Recht und

civitatibus, sed etiam in multis domibus habetur. Nam plerumque contingit, ut simul eant aut sedeant quinque homines, et nullus eorum communem legem cum altero habeat.

2 Soweit man aus den Traditionsurkunden schlieſsen kann, scheinen in der zweiten Hälfte des neunten und im zehnten Jahrhundert die groſsen Grundbesitzer Oberitaliens nahezu in der Mehrzahl Franken und Alamannen gewesen zu sein.

3 Lex Burg. prima const. c. 2: omnes iudices .. secundum leges nostras .. inter Burgundionem et Romanum .. iudicare debebunt.

4 Bethmann-Hollweg a. O. IV. 194. 332.

5 Lex Sal. Hessels Cod. 2 (Guelferbyt.) 14, 2; 16, 3.

6 Lex Rib. 31, 3. 4; 61, 2.

7 Diese von Savigny (I 120) aufgestellte Ansicht hat schon Waitz, VG III 347


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

die slawischen Rechte haben die Stellung eines vom Standpunkte des Personalitätsprinzips anerkannten Stammesrechtes nicht erlangt.

Das Personalitätsprinzip läſst an sich die Frage offen, welches Geburtsrecht maſsgebend sei, wenn an einem Rechtsverhältnis mehrere Personen verschiedenen Geburtsrechts beteiligt sind. Die Rechtssätze, die uns in dieser Beziehung überliefert sind, bilden das internationale Privat- und Strafrecht der fränkischen Zeit, wobei denn freilich zu beachten ist, daſs es nur für die im fränkischen Reiche vertretenen Nationen, nicht für Ausländer gegolten hat.

1. Das Wergeld wird durch das Geburtsrecht des Verletzten bestimmt. Dasselbe gilt von den Buſsen für Körperverletzungen, die sich als Bruchteile des Wergeldes darstellen, und überhaupt von allen Kompositionen, welchen der Gedanke zu Grunde liegt, daſs die Feindschaft des Gegners und seiner Sippe abgekauft werde. Ein italienisches Kapitular Pippins von 790 stellt ausdrücklich den Grundsatz auf, daſs Unthaten, aus welchen eine faida erwachsen könne, nach dem Rechte des Verletzten zu büſsen seien8. Auf dieses weist auch jenes Gesetz Ludwigs I. von 816 hin, welches bestimmt, daſs die in der Lex Salica normierten Buſsen, wenn sie ein Friese oder ein Sachse an einen Salier verwirkt, in solidi von 40 Denaren, also in der Währung der Lex Salica gezahlt werden sollen9. Italienische Rechtsquellen geben dem Rechte des Verletzten eine noch weiter gehende Anwendung, indem sie es bei Kompositionen schlechtweg entscheiden lassen. So sagt eine Rechtsaufzeichnung über Kollisionsfälle zwischen Römern und Langobarden: quando componunt, iuxta legem cui malum fecerint componant10. Aber auch im fränkischen Reichsrecht ist das Recht des Verletzten auf einzelne Buſsen ausgedehnt worden, für die

zurückgewiesen. Doch vermag er keinen Beleg von der Anwendung langobardischen Rechtes diesseits der Alpen anzuführen. Ein solcher findet sich in einer salzburgischen Urkunde von 1058 bei Kleinmayrn, Juvavia Urkk. S 287. Ein Fridaricus, filius comitis Epponis schenkt den Kanonikern der Kirche des heiligen Petrus und Ruodbert eine villa sancti Oudalrici: … reliquit earum rerum vestituram cartamque ipse Fridaricus ipsis canonicis presens presentibus dedit scriptam et confirmatam secundum legem Langobardorum et Baioariorum.

8 Cap. Pipp. c. 4, I 201: volumus ut ubicumque culpa contigerit, unde faida crescere potest, pro satisfactione hominis illius contra quem culpavit, secundum ipsius legem cui negligentiam commisit, emendet.

9 Cap. legi add. c. 3, I 268. Siehe oben S 216.

10 Cap. ital. Nr. 105 c. 14, I 218 f. Vgl. Cap. Harist. von 779, Forma langob. c. 11, I 49: et si ille qui criminavit alium, periurium non approbaverit, legem suam, cui periuratum esse dixerit, persolvat. Die fälschliche Beschuldigung wegen Meineid wird mit der Meineidsbuſse des Beschuldigten gesühnt.


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

es ursprünglich kaum gegolten hatte. So bedachte ein Kapitular Karls des Groſsen den Diebstahl bei Hausfriedensbruch mit dem dreifachen der Buſse, die das Recht des Verletzten statuiert11.

2. Öffentliche Strafen und die Lösungsbuſsen, um welche öffentliche Strafen geledigt werden können, richten sich nicht nach der Lex des Verletzten, sondern nach dem Rechte des Thäters12. Volksrechte mit ständisch abgestuftem Strafrecht gehen noch weiter. Indem sie bei der Bemessung der compositio auf den Stand des Thäters sehen, müssen sie in Kollisionsfällen das Recht des Thäters entscheiden lassen. Auf diesem Standpunkte steht die Lex Ribuaria, welche für die Bestrafung von Personen, die einem fremden Stammesrechte angehören, den Grundsatz aufstellt, daſs dieses letztere und nicht das ribuarische Recht die Entscheidungsnorm abgebe13.

Seit dem neunten Jahrhundert beginnt im internationalen Strafrechte die lex loci delicti commissi, das Recht des Thatortes durchzudringen. So soll nach einer langobardischen, vor 830 entstandenen Paraphrase eines älteren Kapitulars der Eidhelfer, der unwissentlich einen Meineid geschworen, büſsen: sicut lex loci illius, ubi periurium factum est, a longo tempore fuit14. Handschriftliche Zusätze zur Lex Saxonum, welche der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts angehören15, enthalten die Bestimmung, daſs Diebstahl, Brandstiftung, Tötung auf dem Kirchwege, Kirchenschändung und wissentlicher Meineid, die ein Sachse auſserhalb Sachsens begangen hat, nicht mit der Todesstrafe des sächsischen Rechtes, sondern nach dem Rechte des Thatortes bestraft werden sollen. Ein westfränkisches Edikt von 864

11 Cap. I 160, c. 2.

12 Das läſst sich durch argumentum a contrario aus den Zusätzen zur Lex Saxonum im Spangenbergischen Kodex erschlieſsen. Siehe unten Anm 15. Eine vereinzelte Anwendung enthält Cap. Pipp. 782 — 786 c. 7, I 192: Et de Langubardiscos comites .. sicut illorum lex est, ita componat. In dem Falle Muratori SS IIb 942, v. J. 874 wird der Franke, der eine Nonne zur Ehe genommen hat, nach fränkischem, die Nonne und ihr Mundwald nach langobardischem Rechte bestraft.

13 Lex Rib. 31, 4: quod si damnatus fuerit, secundum legem propriam non secundum Ribuariam damnum susteneat. Vgl. Lex Rib. 61, 2 über den libertus civis Romanus: quod si aliquid criminis admiserit, secundum legem Romanam iudicetur.

14 Cap. Haristall. v. J. 779 c. 10, Forma langobardica I 49.

15 Die Zusätze des Spangenbergischen Kodex, über welche v. Richthofen, Zur Lex Saxonum S 2 ff. zu vergleichen ist. Sie ersetzen das persönliche Recht nicht durch das Recht des erkennenden Gerichts, sondern durch das Recht des Thatorts. Diese decken sich nicht immer. Der Sachse, der auſserhalb Sachsens gestohlen, würde nach c. 36 auch von einem sächsischen Gerichte nicht nach sächsischem Rechte, sondern secundum illorum legem, ubi factum fuerit, bestraft worden sein.


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

läſst für gewisse Verbrechen, die von Amts wegen zu verfolgen und zu bestrafen waren, nämlich für Münz-, Maſs- und Metallfälschung in den Gebieten des römischen Rechtes nicht die durch das Reichsrecht der Kapitularien festgesetzten Strafen, sondern die des römischen Rechtes, also die Strafen der lex fori platzgreifen 16.

3. Im Rechtsgange verteidigt sich der Beklagte nach seinem Geburtsrechte 17. Die lex originis des Beklagten bestimmte die ihm gebührenden Fristen 18, bestimmte das Beweisrecht, insbesondere die Form und die Gröſse des Eides 19. Über Freiheit und Erbe brauchte der Beklagte, der auswärts belangt worden war, nur innerhalb seines Heimatsgaues zu schwören 20. Kam es auf einen Zeugenbeweis an, so muſsten die Zeugen wenigstens zum Teile Stammesgenossen desjenigen sein, der durch ihr Zeugnis überführt werden sollte 21. Aus diesem Grunde erschien es im Interesse des Erwerbers als erforderlich, daſs der Veräuſserer eines Grundstücks zur Übereignung Zeugen zuzog, welche nach seinem Rechte lebten 22. Weil nach dem Stam-

16 Ed. Pistense c. 13 LL I 491: in illis autem regionibus, in quibus secundum legem Romanam iudicia terminantur, iuxta ipsam legem culpabilis iudicetur; ähnlich c. 16. 20. 23. Eine allgemeine Einführung des Territorialitätsprinzips (nach welchem stets die lex fori entscheidet) hat das Edictum Pistense nicht beabsichtigt. In c. 20. 28. 34 steht es auf dem Boden des Personalitätsprinzips. Vgl. v. BethmannHollweg V 75. Soweit das Territorialitätsprinzip zur Anwendung kam, setzte es sich nicht an die Stelle des Personalitätsprinzips, sondern sollte das römische Recht ein anderes territoriales Recht, das in den Kapitularien normierte fränkische Reichsrecht ausschlieſsen.

17 Rib. 31, 3: in iudicio interpellatus, sicut lex loci continet, ubi natus fuit, sic respondeat. Cap. ital. Pippini von 790 c. 4, I 201: de vero statu ingenuitatis aut aliis quaerelis unusquisque secundum suam legem se ipsum defendat. Cap. legi add. v. J. 816 c. 2, I 268 unten Anm 20.

18 Expositio § 7 zu Lud. P. 15, LL IV 530: ceteri vero secundum suam legem, veluti Romanus 20 dies habeant indutias.

19 Cap. ital. c. 14, I 218: et quando iurant, iuxta suam legem iurent. Ed. Pist. v. J. 864 c. 20: secundum suam legem se inde sacramento idoneum reddat.

20 Cap. legi add. v. J. 816 c. 2, I 268: si quis in aliena patria .. de qualibet causa fuerit interpellatus, ibi secundum suam legem iustitiam faciat .. excepto si quis eum de statu suo id est de libertate vel de hereditate .. appellaverit: de his duobus liceat illi sacramentum in patria .. iurandum offerre.

21 Agobard in LL III 504, c. 4.

22 Cap. legibus add. von 818—19 c. 6, I 282: adhibeat sibi vel de suis pagensibus vel de aliis qui eadem lege vivant qua ipse vivit (in der ahd. Übersetzung thie theru selueru vuizzidi leuen) testes idoneos, vel si illos habere non poterit, tunc de aliis quales ibi meliores inveniri possint (eine Milderung des Volksrechtes für Traditionen extra comitatum). In den langobardischen Traditionsurkunden wird das Geburtsrecht der Zeugen als ein dem des Veräuſserers entsprechendes so regelmäſsig


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

mesrechte des Beklagten entschieden werden muſste, ob er schuldig sei oder nicht, wurde — wenigstens in Neustrien — darauf Gewicht gelegt, daſs der Richter nach dem Rechte lebe, welches die Entscheidungsnorm abgeben sollte 23.

4. Bei Verträgen bindet sich jeder Kontrahent nach dem Rechte, in welchem er geboren ist. Wird ein Wettvertrag abgeschlossen, so ist für seine Form das Recht jenes Kontrahenten maſsgebend, der das Vertragssymbol, die Wadia giebt 24. Verpflichtet man sich durch Hingabe einer carta, so wird die Form des Urkundungsaktes und der Urkunde durch das Geburtsrecht des Ausstellers bestimmt 25. Die Frage, ob die rechtliche Wirksamkeit einer Schenkung eine Gegengabe, ein Launegild erfordere, wie das nach langobardischem Rechte der Fall ist, beantwortet sich nach dem Geburtsrecht des Schenkers 26.

Sollen Grundstücke übereignet werden, so gilt es die Übereignungsformen zu beachten, welche das Stammesrecht des Veräuſserers

hervorgehoben, daſs man sogar in einzelnen Fällen aus der lex der Zeugen auf die des Veräuſserers zurückschlieſsen darf. Für die Gegenden diesseits der Alpen bietet Loersch u. Schröder, Urkunden Nr 100 von 1133—1152 ein lehrreiches Beispiel.

23 So dürfte wohl Cap. miss. spec. c. 48, I 104: ut comites et iudices confiteantur qua lege vivere debeant et secundum ipsam iudicent, zu verstehen sein. Bethmann-Hollweg, Civilpr. V 75 Anm 67 emendiert allzukühn: confiteri faciant partes qua … Sohm, GV S 173 f. nimmt an, daſs der Graf nach seinem persönlichen Rechte gerichtet und insbesondere die Banngewalt ausgeübt habe. Allein die Banngewalt steht dem Grafen nicht nach Geburtsrecht, sondern kraft seiner amtlichen Stellung zu und ich halte für undenkbar, daſs etwa ein Franke, der eine alamannische Grafschaft verwaltete, bei dem fränkischen Grafenbann von 15 solidi und nicht bei dem alamannischen von 6 solidi gebannt habe. Und wie hätte wohl der Graf gebannt, der nach römischem Rechte lebte? In Cap. cit. c. 57: caeteri vero banni, quos comites et iudices faciunt, secundum legem uniuscuiusque componantur, ist unter lex nicht das Geburtsrecht des Richters gemeint. Nach Cap. miss. c. 5, I 67 ist der Richter, Graf oder Missus dafür verantwortlich, daſs jeder nach seinem persönlichen Rechte behandelt werde.

24 Placitum v. J. 933, in civitate Narbona, Gallia christiana VI instrum. S 423: quod wadiasset legaliter sicut in lege Salica continetur. Der Fall bezieht sich auf eine gerichtliche wadiatio.

25 Um den Rechtsverkehr in Italien zu erleichtern und zu vereinfachen, bestimmte Liu. 91, daſs die cartulae ohne Rücksicht auf das Geburtsrecht des Ausstellers entweder nach römischem oder nach langobardischem Rechte geschrieben werden dürfen, ausgenommen Vergabungen von Todes wegen, für welche das Geburtsrecht des Ausstellers maſsgebend blieb.

26 Troya, Cod. dipl. V 430, Nr. 880: Signa manus B. qui hanc cartola donationis fieri rogavit, qui iuxta lege sua Langobardorum recepit launechi(l)t manente par uno. Vgl. Val de Liévre, Launegild und Wadia S 43 ff.


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

verlangt 27. Doch beginnt man schon in fränkischer Zeit auf die Liegenschaften Grundsätze anzuwenden, welche die Loslösung der Immobilien von dem Stammesrechte ihrer jeweiligen Eigentümer vorbereiten. Zunächst in prozessualischer Hinsicht. Da die Erwerbstitel des Veräuſserers, welche dieser aus Anlaſs der Veräuſserung dem neuen Erwerber des Grundstücks zu übergeben pflegte, regelmäſsig auf die dem Personalrechte des Veräuſserers entsprechende prozessualische Verfolgung und Verteidigung berechnet waren, da ferner im Rechtsstreit um das Gut die Notwendigkeit eintreten konnte, den Gewährsmann zu stellen, so lag es nicht selten im Interesse des Eigentümers, sich im Prozeſs um das Grundstück nach dem Geburtsrechte seines Vormanns verteidigen zu können 28. Das fränkische Reichsrecht brachte diesen Gesichtspunkt zu Gunsten der Kirchengüter zur Geltung, welche auf Grund einer unter Karl dem Groſsen ausgesprochenen, durch ein Kapitular Ludwigs I. eingeschärften Sentenz nach dem Stammesrechte der Donatoren verteidigt werden sollten 29. In Italien wurde es Rechtens, daſs der Eigentümer, der sein Geburtsrecht aufgegeben oder verloren und ein anderes Personalrecht erworben hatte, ererbte Güter nicht nach letzterem, sondern nach ersterem übereignete. So schenken und tradieren Ehefrauen ihr Erbgut nicht nach dem Rechte des Mannes, welches während der Ehe ihr persönliches Recht ist, sondern nach ihrem Geburtsrechte 30. Desgleichen übereignen Geistliche ererbte Grundstücke nach ihrem Geburtsrecht, auch wenn sie nicht nach diesem, sondern nach römischem Rechte

27 Bernard, Chartes de Cluny I 101 Nr 90 von 905, Veräuſserung von Gütern in pago Lucdunensi: vendimus, tradimus atque transfondimus secundum legem nostram salicam. Angeschlossen ist eine notitia warpituria, in der es heiſst: et revestivit .. per suum andelangum secundum legem salicam et se exitum inde fecit. Loersch u. Schröder a. O. Nr 77 von 957 (aus der Histoire de Metz I 70): tradidi per manus fidelium meorum lege salica viventium .. praedium meum. Zahlreiche Beispiele bieten die italienischen Urkunden seit der Mitte des neunten Jahrhunderts; siehe u. a. Loersch u. Schröder a. O. Nr 68 von 872.

28 Die Lex Burg. gestattet 55, 2 dem Burgunder, der ein Grundstück durch königliche Schenkung (publica largitione) erhalten hat, dasselbe nach römischem Rechte einzuklagen und zu verteidigen. Vermutlich waren es römische Fiskalgüter, welche den Grundstock der publicae largitiones bildeten.

29 Cap. von circa 820 c. 3, I 297.

30 Die mit einem Römer verheiratete Langobardin veräuſsert ihr Gut nach langobardischem Rechte Mon. Patriae, Chartae, I 193, von 961. Schröder, Eheliches Güterrecht I 21 Anm 13. Urkunden des 11. Jahrhunderts lassen ersehen, daſs Frauen von Saliern und Alamannen ihre Güter nach langobardischem Geburtsrechte übereignen. Pertile, Storia I 58 Anm 22.


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

leben 31. Nach Auflösung des fränkischen Reiches finden sich diesseits der Alpen vereinzelte Fälle, in welchen Übereignungen eines Grundstücks nach den Formen mehrerer Stammesrechte stattfinden 32.

5. Bei Eheschlieſsungen muſsten in Konsequenz der das Vertragsrecht beherrschenden Grundsätze die Rechte beider Ehegatten, nicht bloſs das des Mannes, berücksichtigt werden. Für die Form, in welcher der Bräutigam sich bei der Verlobung rechtlich verpflichtete, war sein Geburtsrecht maſsgebend. Als König Chlodovech sich mit der burgundischen Königstochter verlobte, geschah dies in der Form des salischen Rechts, per solidum et denarium 33. Bis in das zehnte Jahrhundert hinein wird es in den Formeln und Urkunden ausdrücklich hervorgehoben, daſs der Bräutigam die Verlobung gemäſs seinem Geburtsrechte abgeschlossen habe 34. Allein der Kaufpreis der Braut, die Ablösung des Mundiums richteten sich nach dem Stammesrechte der Braut und ihres Vormundes. So setzt das langobardische Edikt voraus, daſs der Römer, der eine Langobardin heiratet, deren Mundium bezahlt 35. Nach einer langobardischen Formel muſs der Trauung einer salischen Witwe die dem salischen Rechte eigentümliche Entrichtung des reipus von Seite des langobardischen Bräutigams vorausgehen 36. Auch bei der Trauung war für die Übergabe der Braut ihr und ihres Mundwalds Rechts zu beobachten, solange die Eheschlieſsung den formellen Charakter des Frauenkaufs nicht abgestreift hatte. Morgengabe und Wittum bestellte der Ehemann nach seinem Geburtsrechte. Dem Langobardenkönig Ratchis wurde es zu schwerem Vorwurf gemacht, weil er bei der Heirat mit der Römerin Tassia sich nicht an Meta und Morgengabe, sondern an „donationes cartulae romanae“ gehalten hatte 37. In burgundischen Urkunden des zehnten

31 Beispiele bei Pertile a. O. I 58 Anm 23. Ein Fall von 780 unten S 270 Anm 55. Im Registrum Farfense II 250, von 856 übereignet eine Nonne Warnhild ex natione Francorum (ihr Vater stammte aus dem Wormsgau) iuxta saligam legem, was ihr verstorbener Mann iuxta suam saligam legem ihr aus Anlaſs der Eheschlieſsung zugewendet hatte.

32 Beispiele bei Stobbe a. O. VI 32. Über Lacomblet, UB I, Nr 65 v. J. 855, s. jedoch v. Richthofen, LL III 638 f. u. Schröder, Unters. zu den fränk. Volksrechten, Festschrift S 19.

33 Schröder, Ehel. Güterr. I 55 Anm 3.

34 Form. Bignon. 6, Lind. 7, Merkel. 15. Bernard, Chartes de Cluny I 96, Nr 86 von 904: te dilectissima sponsa mea B. iusta legem salicam et consuetudinem per solido et denario visus fuero esponsas(s)e. Das. I 117, Nr 105 von 909: Ego F. desponso mihi iuxta legem meam romanam ..

35 Liu. 127.

36 Cartularium Langob. Nr 16.

37 Chronicon Benedicti c. 16, SS III 702.


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

Jahrhunderts wird es regelmäſsig betont, daſs der Bräutigam Morgengabe oder Dos oder sponsalitium nach burgundischem oder salischem oder römischem Rechte gegeben habe 38.

Der Grundsatz, daſs bei der Eheschlieſsung die Stammesrechte beider Ehegatten zu beachten seien, wurde von der Kirche bekämpft. Aus Anlaſs eines einzelnen Falles, in welchem ein Franke seine Frau verlieſs, weil er sie nicht nach fränkischem Rechte, sondern nach ihrem sächsischen Geburtsrechte geehelicht habe, bestimmte eine Synode von Tribur 895, daſs die Ehe giltig sei, auch wenn sie nur nach dem Rechte des Bräutigams oder nur nach dem Rechte der Braut geschlossen worden sei 39.

6. Bestellung und Verwaltung der Vormundschaft fanden ihre Norm in dem Personalrechte des Mündels. Daher entschied auch das Recht der bevogteten Kirche über die Ausübung der Kirchenvogtei 40.

7. Das Erbrecht wird durch das Stammesrecht des Erblassers beherrscht 41. Schriftliche Vergabungen von Todeswegen muſsten daher nach dem Rechte des Vergabenden geschrieben werden und zwar auch in Italien, wo König Liutprand im allgemeinen die Wahl zwischen der langobardischen und römischen Urkundungsform freigestellt hatte 42.

8. Im Freiheitsprozeſs entschied das Recht desjenigen, der seine Freiheit behauptete. Doch war das Recht des Herrn maſsgebend für die Frage, ob dieser sich an dem Knechte, der eine Zeit lang als Freier gelebt hatte, verschwiegen habe. Ein Zusatz zu einem Kapi-

38 Bernard, Chartes de Cluny I 176, Nr 189 von 912: parcione mea secundum lege mea Gonbada in morgingiva .. tibi dono ad abendum; a. O. I 99, Nr 88 von 905: .. tercia porcione .. tibi cedo et secundum mea lege salica manibus tibi trado .. et sicut lex mea salica commemorat faciendum; a. O. I 335, Nr 358 von 928: in dotalicio tercie porcione tibi dono, sicut lex salica commemorat; a. O. I 219, Nr 229 von 922: Constancius esponsus tuus .. tercia porcione tibi dono secundum mea lege romana; a. O. I 427, Nr 439 von 935: in esponsalicio tibi dono, sicut lex romana commemorat .. In Italien bestellt der fränkische Ehemann eine tertia, der langobardische eine quarta. Schröder, Ehel. Güterrecht I 20.

39 Conc. Trib. c. 39, Mansi XIX 154 und c. 1, X De sponsal. IV 1.

40 Cap. I 192, von 782 c. 5: ut viduas et orfanos tutorem habeant iusta illorum legem, qui illos defensent .. Et si tutor aliquis illorum esse non voluerit, iudex prevideat Deum timentem hominem iuxta ut lex ipsorum est. Das. c. 6: et talis sit ipse advocatus .. qui sacramenta pro causa ecclesiae .. deducere possit .. sicut lex ipsorum est.

41 Cap. ital. Nr 105 c. 14, I 218 f.: Observamus ut romanus populus successionem eorum iuxta suam legem habeant.

42 Siehe oben S 264 Anm 25. Vgl. Lombardakommentare II 56.


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

tular von 801 bestimmt 43, aus diesem Gesichtspunkte heraus, daſs in Italien zwar dem Herrn, der nach langobardischem oder nach römischem Rechte lebt, dreiſsigjähriger Besitz der Freiheit entgegengehalten werden könne 44, daſs aber dem Franken und Alamannen gegenüber die Einrede der praescriptio von Seite des Knechtes schlechtweg ausgeschlossen sei 45.

Das persönliche Recht wird im allgemeinen durch die Abstammung bestimmt, es ist die lex originis, bei ehelichen Kindern die lex paterna, bei unehelichen das Stammesrecht der Mutter 46. Die Ehefrau lebte nicht nach dem Rechte ihrer Geburt, sondern nach dem Rechte des Ehemanns. Sie behielt dieses Recht auch nach Auflösung der Ehe, stand sie doch unter der Vormundschaft der Verwandten ihres verstorbenen Mannes 47. In Italien ging man aber im neunten Jahrhundert von jenem Grundsatze ab. Ein Kapitular Lothars I. setzte fest, daſs die Frau nach dem Tode des Mannes wieder in ihr Geburtsrecht zurücktrete 48.

Das persönliche Recht der Freigelassenen bestimmte sich bei den Franken durch die Art der Freilassung. Der durch Schatzwurf (per denarium) freigelassene Knecht wurde Salier oder Ribuarier. Die Freilassung durch römische carta libertatis und die Freilassung durch Vermittlung der Kirche gaben römisches Recht. Daneben existierte eine Freilassung zum fränkischen Liten 49. Das ältere langobardische

43 Cap. Nr 98 c. 8, I 206. Die Zugehörigkeit dieses Kapitels zu dem Kapitular von 801 ist unsicher.

44 Mit Rücksicht auf Ed. Lang. Grim. 1. 2. In Vaissete, Hist. de Languedoc II 373, Nr 185 von 874 klagt der Fiskus einen Freien als Fiskalsklaven ein. Dieser antwortet: non debeo esse servus fiscalis .. quia ego et parentes mei sicut lex Gotorum continet per 30 vel 50 annis in domos in qua nati sumus inter presentes instetimus absque blandimento vel iugo servitutis.

45 Das Bistum Chur erhielt von Konrad I. 912 das Privileg (Mohr, Cod. dipl. I 57): ut nullus servorum vel ancillarum ad eandem Curiensem aecclesiam pertinentium se per tricennia tempora liberare deinceps audeat, sicuti hactenus .. mala consuetudine et dissimili aliarum aecclesiarum fecerant.

46 Für die im Ehebruch erzeugten Kinder kam die langobardische Jurisprudenz zu der Ansicht, daſs sie ihr Recht beliebig wählen dürften. Quaestiones et monita § 30, LL IV 593: iustum est ut homo de adulterio natus vivat quali lege voluerit.

47 Liu. 127.

48 Cap. Nr 158 c. 16, I 319. Vgl. Lombardakomm. II 7.

49 Lex Rib. 57, 1; 61, 1; 58, 1. Daſs bei den Burgundern der Freigelassene das vor seiner Verknechtung genossene Geburtsrecht wieder erlangte, folgerte man mit Unrecht aus Papian 3, 2: liberti romani natione a principe manumissi … Die Stelle


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

Recht kannte nur eine Freilassung zum freien Langobarden oder zum Aldio. Die Aldien lebten nach dem Rechte des Herrn, der sie zu vertreten hatte. Das jüngere langobardische Recht gab dem Freigelassenen schlechtweg das persönliche Recht seines Freilassers 50.

Die katholische Kirche lebte als eine aus dem römischen Reiche überkommene Einrichtung nach römischem Rechte 51. Eine Ausnahme bildeten die im Eigentum und die im besonderen Schutze des Königs stehenden Klöster und Kirchen, welche fränkisches Recht genossen 52. In Italien hielt sich das Kloster Farfa in der Sabina an das langobardische Recht 53. Daſs der durch Schenkung erworbene Grundbesitz der Kirche nach fränkischen Kapitularien das Stammesrecht der Donatoren bewahrte, ist oben Seite 265 bereits bemerkt worden.

Der einzelne Kleriker wurde im fränkischen Reiche nicht, wie man vielfach behauptete, nach römischem Rechte, sondern nach dem Rechte seiner Geburt beurteilt 54. Anders war das Verhältnis im Langobardenreich. Zur Zeit, da die Langobarden noch Arianer waren, kann es katholische Kleriker langobardischer Herkunft in nennenswerter Zahl nicht gegeben haben, und muſs das römische Recht für das selbstverständliche Personalrecht des katholischen Klerus gegolten haben. Die daraus hervorgehende Auffassung, daſs der katholische Kleriker nach römischem Rechte lebe, erhielt sich, nachdem das Volk sich zum Katholizismus bekehrt hatte. Der Langobarde, der in den geistlichen Stand eintrat, unterwarf sich dem römischen Rechte 55.

ergiebt nur, daſs der princeps eine Freilassung zu römischem Rechte vornehmen konnte.

50 Die langob. Jurisprudenz berief sich dafür miſsverständlich auf Roth. 226: omnes liberti .. legibus dominorum et benefacturibus suis vivere debeant, secundum qualiter a dominis suis propriis eis concessum fuerit. Unter den leges dominorum sind hier die Bedingungen der Freilassung zu verstehen. Vgl. Expositio zu Roth. 226, Lombardakomment. II 34. Pertile a. O. I 56 Anm 13. Bethmann-Hollweg a. O. IV 339 Anm 85.

51 Lex Rib. 58, 1: secundum legem Romanam, quam ecclesia vivit. Lib. leg. Lang. Lud. P. 53, LL IV 539: ut omnis ordo aecclesiarum secundum legem romanam vivat.

52 Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis S 83. Der Bischof von Le Mans, der das Kloster Anisola in Anspruch nahm, das königlich zu sein behauptete, führte u. a. aus: wenn Anisola in Wahrheit königlich wäre, res ipsius secundum legem Salicam aut Ribuarium tuerentur.

53 Eine Besonderheit, welche Bethmann-Hollweg V 78 Anm 78 aus der Neugründung des Klosters durch fränkische Mönche erklärt, die als wargangi unter dem Schutze des Langobardenkönigs und daher nach langobardischem Rechte lebten.

54 Das ist gegen die herrschende Meinung durch Edgar Loening, Kirchenrecht II 284 ff. klargestellt worden.

55 Durchschlagend ist Liu. 153. Die Bestimmung, daſs die Söhne, welche


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

Nach der fränkischen Eroberung tritt unter dem Einfluſs der fränkischen Rechtssitte in Italien ein schwankender Rechtszustand ein. Geistliche bekennen nicht selten, daſs sie nach langobardischem Rechte leben 56. Andrerseits suchte aber die Kirche dem Satze, daſs der Kleriker als solcher dem römischen Rechte unterworfen sei, allgemeine Geltung zu verschaffen. Die langobardische Jurisprudenz betrachtete ihn im elften Jahrhundert als geltendes Recht 57 und auch in den Urkunden wird er als solches seit dieser Zeit gelegentlich hervorgehoben 58.

In Gegenden mit gemischter Bevölkerung findet sich die Eigentümlichkeit, daſs man in den Geschäftsurkunden nicht selten das Personalrecht des Kontrahenten ausdrücklich hervorhob, dessen lex für die Verbindlichkeit des Geschäftes maſsgebend war. Ein Bedürfnis, die Rechtsgeschäfte in dieser Beziehung gegen etwaige Anfechtung sicher zu stellen, ergab sich zumeist für die der Minorität angehörigen Rechtsgenossen, während das Stammesrecht der herrschenden Majorität als selbstverständlich eher mit Stillschweigen übergangen werden konnte. Nicht bloſs bei Verträgen unter Personen verschiedenen Rechtes, auch bei solchen, die von Kontrahenten desselben Geburts-

einem Langobarden vor seinem Eintritt in den geistlichen Stand geboren worden waren, nach dem Rechte leben sollen, das ihr Vater zur Zeit ihrer Geburt besaſs, setzt einen Wechsel des Rechtes voraus, den die Aufnahme in den Klerikerstand zur Folge hatte. Zu demselben Ergebnis führt die kürzlich von Kohler, Beiträge zur german. Privatrechtsgeschichte, 2. Heft 1885, S 7 Nr 2 veröffentlichte und besprochene Urkunde von 780, worin ein Kleriker Felix bezeugt, daſs er aus Anlaſs einer Schenkung von seiner Tochter Launegild erhalten habe, obwohl er dem römischen Rechte unterworfen sei: accepi ad te suprascripta filia mea launigild quamquam romane legibus subiectus. Der Inhalt der Urkunde läſst ersehen, daſs Felix von Geburt ein Langobarde war. Das Objekt der Schenkung bilden Güter, welche Felix (gemäſs langobardischem Rechte) von seiner Frau ererbt hatte. Daher vollzieht er die Schenkung nach langobardischem Rechte, nämlich gegen Launegild. S. oben S 265. In den Rechtsverkehr der römischen Bevölkerung ist das Launegild erst seit dem 10. Jahrh. eingetreten.

56 Cod. dipl. Langob. Nr 326, col. 548 v. J. 885: ego T. archipresbiter … qui professo sum lege vivere Langobardorum, und öfter. Vgl. Savigny a. O. I 143 Anm h.

57 Expositio zu Lud. P. 53, auf welche Stelle man das römische Personalrecht der Geistlichkeit miſsverständlich zurückführte.

58 Muratori, SS II b 1002 v. J. 1086: sicut in lege (Lud. P. 53) scriptum est, omnis ordo ecclesiarum secundum legem romanam vivant et faciant, ego … sic facio. Cod. dipl. Lang. Nr 974 col. 1713 v. J. 1000: et propter onore sacerdotii mei mihi aliquit impetit lege romana. Weitere Beispiele bei Pertile, Storia I 56 Anm 10.


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

rechtes abgeschlossen wurden, konnte die Bezeichnung der lex originis als zweckmäſsig erscheinen.

Die ältesten Beispiele von Urkunden, welche das Personalrecht der disponierenden Vertragspartei konstatieren, stammen aus Italien, wo sie bis in die zweite Hälfte des achten Jahrhunderts zurückreichen. In einer Schenkungsurkunde von 767 bekennt der Aussteller, daſs er iuxta lege sua Langobardorum Launegild empfangen habe 59. Noch charakteristischer ist eine 769 zu Brescia aufgenommene Urkunde, ausgestellt von einem Ostgoten Namens Stavila, civis Brixianus, vivens legem Gothorum 60. Bis zum Anfang des neunten Jahrhunderts hat der italienische Urkundenstil, der später auf die Betonung der Personalrechte besonderes Gewicht legt, noch kein fest ausgebildetes System. Die lex der Kontrahenten wird verhältnismäſsig selten, mitunter nur zufällig und ohne ersichtlichen Grund hervorgehoben 61. Im Gegensatz zur späteren Übung verschweigt die Urkunde hin und wieder das Stammesrecht des Veräuſserers, auch wenn ihr sonstiger Inhalt ersehen läſst, daſs er auſseritalischer Herkunft war 62. Erst seit den vierziger Jahren des neunten Jahrhunderts beginnt die italienische Notariatspraxis für die Geschäftsurkunden der in Italien ansässigen Franken, Alamannen und Baiern ein typisches Schema auszubilden, welches die lex oder die natio des Ausstellers zu nennen pflegt 63.

Nicht bloſs die Geschäftsurkunden, sondern auch die Gerichtsurkunden Italiens betonen das maſsgebende Personalrecht der Partei, mag es sich nun um wirkliche Rechtsstreitigkeiten oder um Akte der

59 In der oben Anm 26 angeführten Urkunde.

60 Cod. dipl. Lang. Nr 38 col. 72. Unter dem Goten kann nur ein Ostgote verstanden sein. Ein Westgote hätte in der Zeit vor der fränkischen Eroberung als wargangus nach langobardischem Rechte gelebt (Roth. 367) und könnte auch kaum als Bürger von Brescia gedacht werden. Daſs sich ostgotische Bevölkerung am Fuſse der Alpen erhielt und in ihren gegenseitigen Rechtsbeziehungen das gotische Recht und die Erinnerung an ihre Herkunft bewahrte, hat nichts Auffälliges an sich.

61 So in einer lombardischen Verkaufsurkunde von 807, Cod. dipl. Lang. Nr 84 col. 157, wo die rechtlich irrelevante lex des Käufers (ex genere Alamannorum), dagegen nicht die des Verkäufers genannt wird.

62 In Cod. dipl. Lang. Nr 102 col. 186, v. J. 823 nehmen zwei Ehegatten eine gegenseitige Vergabung iuxta lege nostra vor. Ihre „natio“ ist nicht genannt. Der Inhalt der Urkunde macht es wahrscheinlich, daſs der Mann ein Franke, die Frau eine Alamannin war. Eine Carta von 836, a. O. Nr 127 col. 226, enthält eine in den Formen des fränkischen Rechtes vorgenommene Veräuſserung. Obwohl die natio des Veräuſserers nicht genannt ist, wissen wir zufälligerweise, daſs er ein Franke war.

63 Beispiele bei Brunner, Zur RG der Urk. I 105 Anm 3 ff.


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§ 34. Das Personalitätsprinzip.

freiwilligen Gerichtsbarkeit handeln. Im Gerichtsverfahren war es Sitte, daſs die Personen von Gerichtswegen befragt wurden: qua lege vivis.? Die darauf hin abgegebene Antwort wurde in der über die Gerichtsverhandlung aufgenommenen Urkunde dokumentiert 64.

Das Bekenntnis des Personalrechts, welches im einzelnen Falle vor Gericht oder bei auſsergerichtlichen Rechtsgeschäften abgelegt wurde, bezeichnen die Quellen als profiteri und zwar in herkömmlichen Wendungen, wie: qui professus fuit se lege vivere salica und dergleichen. Aus diesem Sprachgebrauch hat die neuere Wissenschaft den Ausdruck professio iuris abgeleitet, um damit die über das Personalrecht abgegebene Erklärung zu bezeichnen. Da er sich eingebürgert hat, mag er füglich beibehalten werden, nur gilt es, nicht zu vergessen, daſs er in den Quellen als ein technischer nicht zu finden ist.

Die sogen. professiones iuris kommen auch auſserhalb Italiens im fränkischen Reiche vor, insbesondere in Gegenden, wo — wie in Burgund und Septimanien — eine mehrfach gemischte Bevölkerung seſshaft war 65. Schon ein Kapitular vom Ausgange des achten Jahrhunderts wies die königlichen Missi an, bei der Handhabung der Rechtspflege die einzelnen um ihr Geburtsrecht zu fragen 66.

Zurückzuweisen ist die Ansicht, als ob es im Belieben des einzelnen gestanden hätte, heute dieses, morgen jenes Recht als Personalrecht zu bezeichnen oder ein für allemal ein Personalrecht zu wählen 67; ebenso die Meinung, daſs es Grundsatz der Rechtsverwaltung gewesen sei, von allen erwachsenen Personen zum Zweck amtlicher Registrierung eine Bekanntmachung ihres Geburtsrechtes ent-

64 Cartularium Langob. Nr 17. 18 ff.

65 Burgund: Pérard, Recueil de pièces … servant à l’histoire de Bourgogne, 1664, S 35 Nr 18, Placitum von 816: tunc interrogatum fuit M. sub quale lege vivebat? et ipsius sibi a lege Salica adnunciavit. Bernard, Chartes de Cluny I 176, Nr 189 v. J. 912: secundum lege mea Gonbada; a. O. I 27, Nr 23 v. J. 880: donamus secundum legem nostram romanam. S. noch oben Anm 27. 38. Angoulême: Placitum von 880—81 im NA VII 635: interrogatus eorum leges Austrulfus (der Kläger) se Romanum, Avegus (der Beklagte) Salicum se dixit. Septimanien: Gallia christiana VI 423 Nr 14, oben Anm 24: interrogaverunt ipso comite supradicto qualem legem vivebat? ille autem praesens stetit, et taliter dixit quod lege Salica vivebat.

66 Cap. miss. I 67, c. 5: et per singulos inquirant, quale habeant legem ex nomine (natione).

67 Über diese ältere Meinung, welche zuerst von Lupi, Codex dipl. Bergom. diss. 4 widerlegt worden ist, s. Savigny, Gesch. d. röm. Rechts I 151 ff., VII 2 f.; Padeletti, Delle professioni di legge, Arch. storico III. Ser. XX 431 ff.


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§ 35. Das Fremdenrecht u. das Judenrecht.

gegenzunehmen 68. Nur eine vereinzelte und vorübergehende Maſsregel war es, daſs Lothar I. im Jahre 824, um eine sichere Grundlage für die Handhabung der Strafjustiz zu gewinnen, die Anordnung traf, es sollten die Bewohner der Stadt Rom gefragt werden, nach welchem Rechte sie leben wollten 69.

§ 35. Das Fremdenrecht und das Judenrecht.

Grimm, Rechtsalterthümer S 396 ff. Wilda, Strafrecht S 672. Heusler, Institutionen des deutschen Privatrechts I 144 ff. E. Loening, Gesch. des deutschen Kirchenrechts II 51. Waitz, Verfassungsgeschichte II 1 S 270 f., IV 44. 237 Klimrath, Travaux sur l’histoire du droit français I 405. Stobbe, Die Juden in Deutschland während des Mittelalters, 1866, S 3 ff. 197 ff.

Den Fremden vermag das ihm angeborene Recht nicht zu schützen. Er ist rechtlos, wenn ihn das Gastrecht nicht beschirmt oder ein Schutzherr, den er gewonnen hat, und nicht etwa eine völkerrechtliche Schutzpflicht des Gemeinwesens begründet ist. Diese grundsätzliche Rechtlosigkeit äuſsert sich darin, daſs er buſslos erschlagen und verknechtet werden kann 1. Der Volksgenosse, der einen Fremden behaust und beschützt, haftet seinerseits für das, was dieser verbricht.

Aber schon sehr früh hat sich ein subsidiärer Schutz des Königs zu Gunsten der Fremden ausgebildet, die keinen andern Schutzherrn hatten. Wir finden ihn bei den Angelsachsen 2, bei den Langobarden 3, bei den Franken 4 und bei den Baiern 5. Der im Schutz befindliche

68 Savigny a. O. I 148 nimmt an, „daſs jeder überhaupt bei irgend einer Gelegenheit (z. B. bei erlangter Mündigkeit) für die ganze Zukunft erklärte, zu welcher Nation und zu welchem Recht er gehöre, und daſs diese einmal für immer abgegebene Erklärung in eine öffentliche Liste eingetragen wurde“. Dagegen Gaupp, Ansiedlungen S 242 ff.

69 Loth. Const. Rom. v. J. 824 c. 5, Cap. I 323.

1 Die von Rogge, Gerichtswesen S 54 und von anderen behauptete grundsätzliche Rechtlosigkeit der Fremden wird seit Wilda vielfach bestritten. S. dagegen Heusler, Institutionen I 145. Das Recht der Verknechtung verbürgt die in Kraut, Grundriſs, 6. Aufl., S 124 angeführte Erzählung der Translatio S. Alexandri c. 13: quae cum cogitasset, quomodo illam peregrinam vendidisset, eo quod peregrina esset et patronum non habuisset. Ebenso der Umstand, daſs das Strandrecht die Verknechtung des Schiffbrüchigen in sich schloſs. Noch Art. 218 der Halsgerichtsordnung Karls V. sieht sich veranlaſst, den Miſsbrauch zu verbieten, daſs ein Schiffbrüchiger mit Schiff, Leib und Gut der Obrigkeit verfallen sei.

2 Edw. u. Guthr. c. 12, Schmid, Gesetze der Angels. S 126. Aethelr. 8, 33; Knut II 40; Leges Henr. I. 10, 3. 75, 7.

3 Rothari 367.

4 Lex Chamav. c. 9.

5 Lex Baiuw. IV 30.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunuer, Deutsche Rechtsgesch. I. 18


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§ 35. Das Fremdenrecht u. das Judenrecht.

Fremde heiſst in den langobardischen Rechtsdenkmälern 6 waregangus, in einer fränkischen Quelle wargengus 7, bei den Angelsachsen værgenga 8. Sonst wird der Fremde auch der Elende (alilanti) genannt. Im Lateinischen erscheint er als peregrinus, alienigena oder als albanus 9. Ein ausschlieſsliches Recht des Königs, den Fremden zu schützen, wie es später in dem Begriffe des Fremdenregals auftritt, hat in fränkischer Zeit nicht bestanden. Der Schutz des Königs greift nur ergänzend ein. In angelsächsischen Quellen wird mehrfach betont, daſs der König für den Fremden Mag und Mundherr sein soll, wenn er keinen anderen hat. Fremdlinge, welche Unterthanen zu Herren haben, sich als Hausgenossen im Schutze eines Unterthans befinden, werden in fränkischen und in bairischen Quellen vorausgesetzt 10.

Der Fremde lebt nach dem persönlichen Rechte des Schutzherrn, also wenn er unter dem Schutze des Königs steht, nach dem persönlichen Rechte des Königs. Daher gilt für den wargangus des Langobardenreiches das langobardische Recht, es müſste ihm denn der König durch besonderes Privileg den Genuſs eines anderen Rechtes verstattet haben 11. Für das fränkische Reichsrecht ist uns durch ein Mandat Karls des Groſsen zu Gunsten des Schottenklosters Honau der Grundsatz überliefert, daſs das Besitztum der Fremden nach fränkischem Rechte einzuklagen sei 12. Durch den Schutz des Königs erlangt der Fremde ein Wergeld, welches nach dem fränkischen Rechte in vollem Betrage an den König fällt 13, während der angelsächsische König es mit den Magen des Erschlagenen teilt 14. Das Erbe des Fremden gelangt nach langobardischem Rechte in Er-

6 Rothari 367, Registrum Farfense II, Nr 199 v. J. 813: guaregangus homo. Radelgisi et Siginulfi div. v. J. 851 c. 12, LL IV 222: de waregnangis.

7 Lex Chamav. c. 9. In einer lothringischen Urkunde von 1069, Waitz, Urkk. z. D. VG, 2. Aufl., S 17 findet sich warganeus wohl für wargancus.

8 Grimm bringt das Wort RA S 396 mit altnord. ver Wohnung zusammen und sieht in dem wargango den Vagabunden, der zu den Wohnungen der Leute kommt und bettelt. Allein näher scheint der Zusammenhang mit ahd. wara schützende Obhut, Schutz zu liegen. Schade, WB S 1096; Graff I 907. Dann wäre wargangus so viel wie der im Schutze Wandelnde. In den Fundstellen der angels. Poesie Dan. 663, Gûthlâc 685 hat værgenga, vergenga (von varu Schutz) die Bedeutung von Gefährte, Schützling. Grein, Sprsch. II 650.

9 Französisch aubain, doch wohl von alibi.

10 Cap. I 447 c. 2. Const. Ransh. c. 3, LL III 484.

11 Rothari 367.

12 Mühlbacher, Regesten Nr 152. Vgl. Brunner, Zeugen- u. Inquisitionsbeweis S 82.

13 Lex Chamav. c. 9. Es ist ein erhöhtes Wergeld von 600 solidi.

14 Ine 23.


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§ 35. Das Fremdenrecht u. das Judenrecht.

mangelung von ehelichen Söhnen an den König. Der Fremde darf daher nicht auf den Todesfall über sein Vermögen verfügen 15. Der fränkische König nahm, wie es scheint, das Erbe des Fremden, auch wenn Kinder desselben vorhanden waren. Die erwähnte Urkunde Karls für Honau sagt geradezu: res peregrinorum propriae sunt regis. So liegen die Grundsätze, welche die Folgezeit als Fremdlingsrecht, ius albinagii, zusammenfaſst, schon während der fränkischen Periode in deutlichen Keimen vor unseren Augen.

Wie für die Fremden hat auch für die Juden das Personalitätsprinzip nicht gegolten. Das jüdische Recht nahm im Gegensatz zu den germanischen Volksrechten und zum römischen Rechte als ein nur geduldetes Recht eine Sonderstellung ein. Die fränkischen Gerichte waren nicht verpflichtet, darauf Rücksicht zu nehmen. Die rechtliche Behandlung der Juden schloſs sich in der fränkischen Monarchie an die Zustände an, in welchen sich das Volk der Juden innerhalb des römischen Reiches befunden hatte. In diesem waren die Juden dem gemeinen, also dem römischen Rechte unterworfen 16. In Zivilstreitigkeiten, die sie unter einander hatten, besaſsen und übten sie das Recht schiedsrichterlicher Entscheidung 17. Das jüdische Recht, welches bei der internen Erledigung ihrer Händel in Anwendung kam, blieb auch im fränkischen Reiche dafür maſsgebend 18. Kriminalsachen und Streitigkeiten der Juden mit Christen wurden nach der thatsächlich herrschenden lex loci entschieden. Das römische Recht erhielt sich daher nur in den Gegenden, wo es seine Herrschaft behauptete, als das für die Juden geltende Recht. Dagegen hat man in den Gebieten, wo die Urteilfinder nach deutschem Rechte sprachen, das römische Recht auf sie nicht angewendet 19. Es war nicht etwa

15 Roth. 367. Registrum Farf. II Nr. 199.

16 C. Th. II 1 l. 10: Judaei romano et communi iure viventes … sub legibus nostris sint.

17 Daſs dieses Recht von ihnen konstant geübt wurde, zeigt Edictum Theoderici c. 143: circa Judaeos privilegia legibus delata serventur; quos inter se iurgantes et suis viventes legibus eos iudices habere necesse est, quos habent observantiae praeceptores.

18 Interpretatio zu C. Theod. II 1, 10. Epitome Monachi a. O.: Judaei omnes negotia, quae inter se habent, lege sua definiant; quae vero cum Christianis habent, nostris legibus … confligant. Vgl. Lex Rom. Cur. a. O.

19 Vgl. oben S 228. Waitz hat vermutungsweise, E. Loening bestimmt ausgesprochen, daſs die Juden nach römischem Rechte lebten. Dagegen stellt sie Klimrath a. O. als Schutzbefohlene mit den Fremden zusammen. Ich halte diese Auffassung für zutreffend. Das karolingische Judenschutzrecht und die spätere Stellung der Juden wären kaum zu erklären, wenn das römische Recht als

18*


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§ 35. Das Fremdenrecht u. das Judenrecht.

jüdisches Stammesrecht. In den Judenschutzbriefen und in den Kapitularien der karolingischen Zeit ist unter der lex der Juden nicht das römische, sondern das jüdische Recht verstanden 20. Das erstere kann daher nicht als ihr persönliches Recht gegolten haben. Andererseits finden sich Anhaltspunkte dafür, daſs die Juden dem germanischen Beweisrechte unterworfen wurden, den Gottesurteilen des Kesselfanges, des Feuers und der Geiſselung, aber freilich nicht als vollberechtigte Volksgenossen, denn die körperliche Züchtigung diente bei den Franken nur gegen Unfreie als Beweismittel 21. Für Zivilstreitigkeiten zwischen Christen und Juden galt der Grundsatz, daſs der Jude gegen den Christen unter seinen Zeugen eine Anzahl von Christen, der Christ gegen den Juden unter seinen Zeugen eine Anzahl von Juden vorführen muſste 22. Für den Eid, den der Jude selbst zu leisten hatte, bestand die besondere Form des Judeneides 23.

Unter den Karolingern scheint sich ein typisches Judenschutzrecht ausgebildet zu haben. Denn unter Ludwig I. finden sich Schutzbriefe für christliche Kaufleute, in welchen ihnen der Schutz

Personalrecht der Juden gegolten hätte. In der Lex Romana Curiensis ist der Jude kein Romanus. Siehe v. Salis, Z2 f. RG VI 143 Anm 2. Sie spricht C. Th. II 1, 10 von den Judaei, qui apud Romanos conversant in habitandum.

20 In den Schutzbriefen Form. imperial. 30. 31 wird den Schutzjuden gestattet secundum legem eorum vivere; in Form. imper. 52, für einen Juden Namens Abraham in Saragossa, wird diesem konzediert secundum legem suam vivere. In einer Rechtsaufzeichnung, welche sich für einen Auszug aus Kapitularien Karls des Groſsen ausgiebt, Cap. I 259, c. 6 heiſst es: si Judaeus contra Judaeum aliquod negocium habuerit, per legem suam se defendat. Ist es in den ersteren Fällen wahrscheinlich, so ist es im letzten Falle sicher, daſs nicht das römische, sondern das jüdische Recht gemeint sei. In der oben Anm 18 angeführten Stelle der Epit. Mon. kann die lex sua nicht das römische Recht sein, da dieses unter den leges nostrae zu verstehen ist. Dasselbe gilt von L. R. Curiensis, C. Th. II 1, 10.

21 Ludwigs I. Judenschutzbriefe geben den Schutzjuden das Privilegium, daſs sie von den Gottesurteilen des Feuers, des Kesselfangs und von der Geiſselung befreit sein sollten. Form. imper. 30: et nullatenus volumus, ut praedictos Judaeos ad nullum iudicium examinandum id est nec ad ignem, nec ad aquam calidam seu etiam ad flagellum. Daraus läſst sich ex argumento a contrario die thatsächliche Übung erschlieſsen.

22 Cap. miss. v. J. 809 c. 13, I 152. Der Christ soll drei Juden, der Jude drei Christen als Zeugen produzieren. Analog sind in dieser Hinsicht die Bestimmungen der Judenschutzbriefe. Jener Grundsatz scheint von altersher bestanden zu haben. Denn schon bei Gregor von Tours, Hist. Fr. VII 23 tritt ein Jude, der christliche Schuldner mahnt, in Begleitung eines Juden und zweier Christen auf, offenbar deshalb, weil er ihrer eventuell zum Zeugnis der stattgefundenen Mahnung bedarf.

23 Cap. I 258, c. 4. 5.


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§ 36. Volksrecht und Königsrecht.

zugesichert wird, wie ihn die Juden genieſsen 24. Die strafrechtliche Behandlung der Juden hatte in einem Kapitulare Ludwigs I., welches uns verloren gegangen ist, ihre besondere Regelung erfahren. Es waren darin die Fälle bestimmt, in welchen die Juden, wenn sie überführt worden waren, gegeiſselt werden durften 25. Das für Streitigkeiten zwischen Schutzjuden und Christen geltende Zeugenverfahren wurde durch die Anordnung ergänzt, daſs eine amtliche Inquisitio vorzunehmen sei, wenn die vorgeführten Zeugen das Zeugnis gegen ihren Volks- und Glaubensgenossen verweigerten 26. Für den gewährten Schutz waren den königlichen Schutzjuden Leistungen an die königliche Kammer auferlegt 27.

§ 36. Volksrecht und Königsrecht.

Sohm, Die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, 1871, S 102 ff. Vgl. Karl Lehmann, Der Königsfriede der Nordgermanen, 1886.

Ein Rechtssatz entsteht entweder durch seine unmittelbare Anwendung im Rechtsleben oder durch Satzung. Die unmittelbare Anwendung von Rechtssätzen, die zuvor als solche nicht ausgesprochen waren, geschah im fränkischen Reiche durch das Volk und die zur Rechtsprechung berufenen Organe desselben. Auſserdem konnten aber neue Rechtssätze auch durch den König und dessen Organe, die königlichen Beamten, kraft der ihnen zustehenden Amtsgewalt zu unmittelbarer Anwendung gebracht werden. In diesem wie in jenem Falle ergab erst die wiederholte, die gleichmäſsige Übung, also die Gewohnheit, daſs der angewendete Satz dem allgemeinen Rechtsbewuſstsein entspreche, daſs also schon mit der ersten Anwendung ein wirklicher Rechtssatz entstanden sei.

Neben dem Gewohnheitsrechte flieſst in dieser Periode die Satzung als Quelle des Rechtes. Die Satzung kommt bei den deutschen Stämmen anfänglich nur durch die ausdrückliche Erklärung des Volkswillens zustande, daſs etwas Rechtens sein solle, sei es nun daſs sie einen völlig neuen Rechtssatz einführt oder daſs sie einem bereits

24 Form. imp. 32: liceat illi … quieto ordine vivere … sicut ipsi Judaei; a. O. 37: liceat eis sicut Judaeis partibus palatii nostri fideliter deservire. Sickel, Beiträge zur Diplomatik III 80.

25 Form. imp. 31: nemo saepe dictis Hebreis flagellis cedere praesumat, nisi probati fuerint … eos capitula, quae a nobis eis observanda promulgata sunt, violasse atque irrita fecisse, in quibus similiter definitum est, pro quibus culpis flagellis sint coercendi.

26 Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis S 108 ff.

27 Stobbe, Juden S 198 ff.


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§ 36. Volksrecht und Königsrecht.

geltenden Gewohnheitsrechte die Form und Kraft der Satzung giebt. Die volksrechtliche Satzung schlieſst eine Teilnahme des Königtums nicht aus. Einen Rechtszustand, wie er z. B. bis ins dreizehnte Jahrhundert bei den Schweden galt, wo der König keinerlei Mitwirkungsrecht bei der Gesetzgebung besaſs, vermögen wir für die gotischen und für die deutschen Stämme, die unter Königen standen, nicht nachzuweisen. Vielmehr ist der König allenthalben bereits ein mitwirkender Faktor der Schaffung des Rechtes. Aber auch nicht mehr wie dies: denn begrifflich steht das Recht der Satzung bei dem Volke. Selbst wenn sie aus der Initiative des Königs hervorging und im Namen desselben erfolgte, muſste die Zustimmung des Volkes hinzutreten, damit Volksrecht entstehe. Durch die Satzung als den Ausdruck des Volkswillens wurden die Organe der Rechtsprechung unmittelbar gebunden. Denn die Satzung erklärt, daſs in diesem oder jenem Falle so und so geurteilt werden solle. Die älteste typische Form der Satzung bewegt sich daher innerhalb des Schemas: si quis fecerit, iudicetur.

Die frühzeitige Erstarkung der königlichen Gewalt, das Vorhandensein eines Königsgerichtes, die Handhabung des Friedens, die Ausdehnung der Banngewalt, die Besetzung der höheren Richterstellen mit königlichen Beamten setzten das fränkische Königtum in die Lage, unabhängig vom Willen des Volkes Verordnungen zu erlassen. Soweit die königliche Verordnung neue Rechtssätze einführt, werden sie nicht durch die Organe der volksgerichtlichen Urteilfindung, sondern durch den König und sein Beamtentum zur Anwendung gebracht. Nicht der Urteilfinder des Volksgerichtes, sondern die Exekutivgewalt wacht über die Handhabung der königlichen Verordnung.

Das Recht, welches der unmittelbaren Teilnahme des Volkes an der Rechtsanwendung und an der Rechtssatzung seine Entstehung verdankt, nennen wir Volksrecht. Das Recht, welches in der Amtsgewalt des Königs und seiner Beamten seinen Ausgangspunkt hat, darf als Königsrecht bezeichnet werden. Wie das Volksrecht das auf dem Willen des Volkes, ist das Königsrecht das auf dem Willen des Königs beruhende Recht. Wie das Volksrecht ist auch das Königsrecht zum Teile Gewohnheitsrecht, zum Teile Satzung. Um den Dualismus im deutschen Rechte der fränkischen Zeit in Parallele zu bringen mit der aus der römischen Rechtsgeschichte bekannten Unterscheidung von ius civile und ius honorarium hat man das Königsrecht auch als Amtsrecht bezeichnet 1.

1 Der Gegensatz von Volksrecht und Amtsrecht ist von Sohm, Reichs- und


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§ 36. Volksrecht und Königsrecht.

Galt es hier den Gegensatz in begrifflicher Schärfe hinzustellen, um ihn überhaupt zu klarer Anschauung zu bringen, so darf doch nicht verhehlt werden, daſs die Grenzen zwischen Volksrecht und Königsrecht durch die thatsächlichen Verhältnisse mancherlei Trübung erfuhren. Einerseits hat der König Rechtssätze, welche der Urteilfindung zu Grunde gelegt werden sollten, wenn ein Widerstreben der rechtsprechenden Organe schlechterdings nicht zu besorgen war, ohne Zustimmung des Volkes dekretiert, so daſs sie dann durch ihre Anwendung bei der Rechtsprechung zu wirklichem Volksrechte wurden; andererseits hat es der König nicht verschmäht, Einrichtungen, die er ohne weiteres kraft seiner Banngewalt durchführen konnte, im Wege volksrechtlicher Satzung unter den Schutz des Volksrechtes zu stellen.

Das Verhältnis zwischen Königsrecht und Volksrecht konnte ein verschiedenartiges sein. Es gab Rechtssätze und Rechtsinstitute des Königsrechtes, welche das Volksrecht ergänzten, ferner solche, welche mit den Rechtssätzen und Rechtsinstituten des Volksrechtes konkurrierten, und endlich solche, welche dem Volksrechte widerstritten. Einzelne Beispiele sollen diese verschiedenen Funktionen des Königsrechtes erläutern.

Das Königsrecht ergänzte das Volksrecht durch Ausbildung einer Exekution in das Vermögen des Schuldners. Es gab eine Zeit, in welcher das Volksrecht keinerlei gerichtliche Zwangsvollstreckung kannte, sondern nur die Pfandnahme des Gläubigers und die Friedloslegung verfügbar waren gegen denjenigen, der sich weigerte das Recht zu erfüllen. Schon zu Beginn der merowingischen Periode war als eine zunächst königsrechtliche Institution eine Mobiliarpfändung eingeführt worden, welche ein königlicher Beamter, der Graf, vorzunehmen hatte. Ihre Anfänge liegen im dunklen. Der älteste uns überlieferte Text der Lex Salica kennt sie bereits. Aber noch geraume Zeit hindurch fehlte es an einer Zwangsvollstreckung in Liegenschaften. Eine solche wurde erst durch das karolingische Königtum und zwar im Anschluſs an die Friedloslegung eingeführt. Die Friedlosigkeit wurde vom König verhängt und ergriff, wie oben S 168 ausgeführt worden ist, nicht nur die Person, sondern auch das Gut des Geächteten, welches dem König verfiel. Aus der Friedlosigkeit des

Gerichtsverfassung I 102 ff. mit der ihm eigentümlichen Energie entwickelt worden. Ich kann seine Darstellung nur mit den oben entwickelten Modifikationen acceptieren und insbesondere nicht zugeben, daſs das Volksrecht nur Gewohnheitsrecht, das Gewohnheitsrecht nur Volksrecht sei.


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§ 36. Volksrecht und Königsrecht.

Gutes schuf der König einen Ersatz der mangelnden Immobiliarexekution, indem er die Friedlosigkeit nur soweit geltend machte, als sie zu diesem Zwecke unbedingt nötig war. Er verhängte sie nicht über die Person, sondern nur über das Vermögen des Säumigen. Sein unbewegliches Gut wurde mit dem Banne des Königs belegt, nach Ablauf von Jahr und Tag endgiltig konfisziert (gefront) und soweit die Forderung des betreffenden Gläubigers reichte, zur Befriedigung desselben verwendet. Weil nur im Namen des Königs, konnte die missio in bannum nur von den königlichen Beamten ausgeübt werden. Ein Kapitular Ludwigs des Frommen 2, welches volksrechtliche Kraft besaſs, führte sie in das Volksrecht ein, so daſs fürderhin durch Urteil darauf erkannt werden konnte 3.

Institutionen des Königsrechtes traten in Konkurrenz mit den Einrichtungen des Volksrechtes. Ein Beispiel bietet das Verhältnis der volksrechtlichen und der amtlichen Ladung. Das fränkische Recht kannte ursprünglich nur eine Vorladung vor Gericht, welche in rechtsförmlicher Weise durch den Kläger erfolgte. Daneben kam zuerst für das Königsgericht eine Ladung durch schriftlichen Befehl des Königs, dann auch für das Volksgericht eine Ladung durch richterliches Gebot in Übung. Eine Zeit lang haben die betreffenden Ladungsformen neben einander bestanden, indem der Kläger, von einigen Ausnahmefällen abgesehen, die Wahl hatte, den Gegner selbstthätig zu mannieren oder die richterliche Vorladung desselben zu erwirken. Schlieſslich hat die richterliche bannitio, weil sie für den Kläger bequemer und gefahrlos war, die alte volksrechtliche Form der Ladung vollständig verdrängt.

Das Königsrecht vermag sich auch in Widerstreit gegen das Volksrecht zu setzen. Beispielsweise haben das langobardische und das sächsische Recht noch ein auſsergerichtliches Pfändungsrecht des Gläubigers gekannt. Das fränkische Königtum verbot die Ausübung desselben bei Strafe des Königsbanns. Die meisten Volksrechte gestatteten in gewissen Fällen die Geltendmachung der Fehde. Nichtsdestoweniger haben die Karolinger sie verboten und die Neuerung eingeführt, daſs der Graf die fehdelustigen Parteien von Amts wegen

2 Cap. I 283, c. 11.

3 Auf den königsrechtlichen Ursprung der Immobiliarexekution weisen noch die Quellen des normannischen Rechtes zurück, indem sie dieselbe (Tres anc. Cout. de Normandie, ed. Tardif 1881, c. 81 § 1. 2) als ein Vorrecht der höheren Gerichte, der sog. Rekordgerichte betrachten und den Niedergerichten absprechen. Brunner, Schwurgerichte S 165. Über Rekordgerichte derselbe, Gerichtszeugnis, in den Festgaben für Heffter, S 149.


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§ 36. Volksrecht und Königsrecht.

zum Abschluſs eines Sühnevertrags zwingen dürfe. Die Lösung des Gegensatzes zwischen Volksrecht und Königsrecht war häufig eine Machtfrage. Nicht immer und nicht überall hat sich das Königsrecht auf die Dauer durchzusetzen vermocht. So hat sich in Italien die eigenmächtige Pfändung trotz des Verbotes erhalten 4. Und in nachfränkischer Zeit finden wir gerade in den alten Sitzen der Salfranken die Geschlechterfehde in vollster Blüte.

Das Volksrecht ist Stammesrecht, es ist persönliches Recht der Stammesgenossen und beansprucht keine Geltung über Personen, die einem andern Stammesrechte angehören, auch wenn sie in dem Gebiete wohnen, in welchem jenes das thatsächlich herrschende Recht ist. Das Königsrecht hat einerseits einzelne Stammesrechte reformiert, andererseits vermochte es sich auch territoriale Geltung zu verschaffen, indem es das gesamte Reich oder einzelne Gebiete desselben seiner Herrschaft unterwarf. Stellen uns die Stammesrechte die Mannigfaltigkeit des in der fränkischen Monarchie geltenden Rechtes dar, so erscheint das Königsrecht als der wichtigste Faktor für die Entstehung eines einheitlichen Rechtes.

Das Volksrecht ist im allgemeinen das ältere, das Königsrecht das jüngere Recht; jenes ist das altertümlichere, dieses im Verhältnis zu jenem das moderne Recht, welches die das Volksrecht überholenden Gedanken der Rechtsreform zum Ausdruck bringt. Das Volksrecht ist das ius strictum, das strenge, starre und unbeugsame Recht. Das Königsrecht vertritt im allgemeinen den Standpunkt der Billigkeit und den Grundsatz der Elastizität des Rechts.

Die Entstehung des Gegensatzes zwischen Volksrecht und Königsrecht, das Eindringen des Königsrechtes in das Volksrecht bezeichnet einen der bedeutsamsten Fortschritte in der Rechtsentwicklung der fränkischen Periode. Indem das Königsrecht in den Volksgerichten Wurzel faſste und sich auf gewohnheitsrechtlichem Wege oder auf dem Wege der Satzung in das Volksrecht einschob, wirkte es als die treibende Kraft zeitgemäſser, den steigenden Kulturzuständen angepaſster Fortbildung und Erneuerung des Rechtes und spielte es im fränkischen Reiche ungefähr dieselbe Rolle, wie das prätorische Recht in der römischen Rechtsgeschichte. In ähnlicher Weise sehen wir seit dem dreizehnten Jahrhundert in den nordgermanischen Königreichen ein Königsrecht entstehen, welches die Neuerungen im Rechte vermittelt. In gesteigerter Potenz hat nach der Eroberung Englands das Königsrecht die dort bestehenden Rechtszustände umgestaltet und

4 Wach, Der italienische Arrestprozeſs S 24 f.


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§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.

die wesentlichen Grundlagen des anglo-normannischen Rechtes geschaffen.

Eine Anzahl von Institutionen des fränkischen Königsrechtes ist zunächst im Königsgerichte entstanden und von da aus mit Hilfe des königlichen Beamtentums in die Rechtspflege der Volksgerichte hineingetragen worden. Gewisse Einrichtungen königsrechtlichen Ursprungs sind jedoch während der fränkischen Periode auf dem halben Wege dieser Entwicklung stehen geblieben, indem ihre Anwendung dem Königsgerichte und dessen Emanationen vorbehalten, dagegen den ordentlichen Richtern der Volksgerichte versagt blieb.

§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.

Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen I 6—28. — Kollektivausgaben. Eine Gesamtausgabe der fränkischen Rechtsquellen versprechen die Monumenta Germaniae historica in der Abteilung Leges zu liefern. Bisher sind erschienen in der Folioausgabe die Kapitularien LL I und II, die Lex Alamannorum, Baiuwariorum, Burgundionum, die Lex Romana Burgundionum und die Lex Frisionum LL III, der Edictus Langobardorum und der Liber legis Lang. LL IV, die Lex Saxonum, Thuringorum, das Edictum Theoderici, die Lex Ribuaria und die Lex Chamavorum in zwei Faszikeln von LL V. In der Quartausgabe der erste Band einer verbesserten Edition der Kapitularien und die Formulae Merowingici et Karolini aevi. Der Edictus Langobardorum, die Lex Rib. und Chamav. sind auch in einer Textausgabe in 8° abgedruckt worden. Von älteren Sammlungen, welche verschiedene Gruppen von Rechtsquellen zusammenfassen, sind zu nennen: Lindenbrog, Codex Legum antiquarum, 1613. Steph. Baluzius, Capitularia regum Francorum, 1687, in verbesserter Auflage herausg. von P. de Chiniac 1780 (enthält auſser den Kapitularien auch Formelsammlungen und Volksrechte). Bouquet, Recueil des historiens des Gaules et de la France, 1738 ff. Peter Georgisch, Corpus iuris Germanici antiqui, 1738, auf welche Ausgabe Jakob Grimm in den RA seine Citate stellt. F. P. Canciani, Barbarorum leges antiquae, 1781—1792. — Eine Ausgabe für den akadem. Gebrauch lieferte Ferd. Walter, Corpus iuris Germanici antiqui, 3 Bde 1824. Eine Auswahl von Auszügen aus den fränkischen Rechtsquellen bietet nebst ausführlicher Einleitung, Anmerkungen und Glossar H. G. Gengler, Germanische Rechtsdenkmäler, Leges, Capitularia, Formulae, 1875. — Mitteilungen über Handschriften und Untersuchungen zur Geschichte einzelner Rechtsquellen enthalten das Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 12 Bde 1820 ff. und das neue Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 1876 ff.

Die Zeit von der Mitte des fünften bis zur Mitte des neunten Jahrhunderts ist für die germanischen Stämme, welche in der fränkischen Monarchie ihre Vereinigung fanden, die Periode ihrer ältesten Rechtsaufzeichnungen. Durch die Fülle geschriebenen Rechts, die sie aufzuweisen hat, steht sie in scharfem Gegensatz zu dem absoluten Mangel an Rechtsquellen, welcher die germanische Zeit, und zu der


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§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.

Quellenarmut, welche die nachfränkische Zeit charakterisiert. Den entscheidenden Impuls zur schriftlichen Fixierung des Rechts gab nach Abschluſs der sogen. Völkerwanderung die Einwirkung der christlichrömischen Kultur. Als um die Mitte des neunten Jahrhunderts im fränkischen Reiche der Zug zur Bildung nationaler Staaten wirksam zu werden begann, versiegte die Quelle des geschriebenen Rechtes, um während der vier Jahrhunderte, in welchen Deutschland und Frankreich an der Entwicklung einer nationalen Kultur arbeiteten, kaum wieder zum Vorschein zu kommen. Der innere Zusammenhang, welcher zwischen der Entstehung des geschriebenen Rechts und dem Eintritt der Germanen in die römische Kulturwelt obwaltet, kennzeichnet sich in der Reihenfolge, in welcher die Rechtsaufzeichnung bei den verschiedenen Stämmen einsetzt, und in der Sprache der Rechtsquellen, die bei den Südgermanen des Festlandes durchweg die lateinische ist.

Die Westgoten, die Burgunder und die Langobarden besitzen, nachdem etwa fünfzig bis fünfundsiebenzig Jahre seit ihrer Niederlassung auf römischer Erde verflossen waren, Rechtsaufzeichnungen erheblichen Umfangs. Von den deutschen Stämmen des fränkischen Reiches haben jene, welche an der westlichen und südlichen Grenze des deutschen Sprachgebietes saſsen und sich hier mit der römischen Bevölkerung örtlich berührten, noch in merowingischer Zeit die Satzung und Aufzeichnung ihres Rechtes vorgenommen. Zuerst die Salfranken, deren ältestes Volksrecht jedenfalls bald nach ihrem Einrücken in die römischen Gebiete entstand, dann die Ribuarier, die Schwaben und gegen Ausgang der merowingischen Periode die Baiern. Dagegen empfingen die im Norden und in der Mitte Deutschlands wohnenden Stämme, welche nicht in unmittelbarem Kontakt mit römischer Bevölkerung standen, die Friesen, die Sachsen, die chamavischen Franken, die Angeln und Warnen Thüringens geschriebene Rechtsquellen erst in der karolingischen Zeit. Diese stehen in Umfang und Inhalt hinter den reichhaltigeren Volksrechten der merowingischen Periode bedeutend zurück. Die geringe Zahl der Handschriften, welche uns von den karolingischen Volksrechten überliefert und bezeugt sind 1, läſst ersehen, daſs das geschriebene Recht als solches bei den nördlichen und mittleren Stämmen durchaus nicht so hohe Bedeutung erlangte wie bei den west- und süddeutschen Stämmen, deren Volks-

1 Von der Lex Frisionum haben wir keine, von der Lex Angliorum et Werinorum eine Handschrift. Die Lex Saxonum und die Lex Chamavorum sind in je zwei Handschriften überliefert.


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§ 37. Die Entstehung geschriebenen Rechts.

rechte sich nachweislich einer groſsen handschriftlichen Verbreitung erfreuten 2. Die im Herzen Deutschlands seſshaften Hessen, die Ostfranken und die oberdeutschen Thüringer haben bezeichnender Weise in fränkischer Zeit keinerlei geschriebenes Recht aufzuweisen.

Während sich die Mehrzahl der germanischen Stämme gedrungen fand, das ungeschriebene Recht wenigstens teilweise durch geschriebenes zu ersetzen, litt die römische Bevölkerung der germanischen Reiche an der erdrückenden Masse geschriebenen Rechtsstoffes. Die Schriften der römischen Juristen, die vorhandenen Sammlungen der kaiserlichen Konstitutionen und die spätrömische Interpretationslitteratur bildeten ein umfangreiches Quellenmaterial, welches die Rechtspraxis nicht mehr zu beherrschen vermochte. Es stellte sich daher in den germanischen Reichen das Bedürfnis ein, die Überfülle des vorhandenen Quellenbestandes zu sichten, den überlieferten Stoff zu reduzieren und Rechtssammlungen herzustellen, welchen die juristische Fassungskraft der Romanen noch gewachsen war. Arbeiten dieser Art entstanden im ostgotischen, im westgotischen und im burgundischen Reiche. Aber auch das brauchbarste dieser Rechtsbücher, das westgotische Breviarium wurde, da die römische Bevölkerung unter germanischer Herrschaft mehr und mehr die geistige Beherrschung ihres geschriebenen Rechts verlernte, schlieſslich als eine zu schwere Bürde empfunden. Man hat daher Auszüge aus dem Breviarium verfaſst, welche häufiger als dieses gebraucht wurden.

Unter den Rechtsquellen der fränkischen Zeit sind die Volksrechte, die Kapitularien, die Urkunden und die Formelsammlungen zu unterscheiden. Den ältesten Grundstock des geschriebenen Rechts bilden die Volksrechte, welchen die römischen Rechtsbücher der Germanenreiche zur Seite zu stellen sind. Zu ihnen treten die Verordnungen und Kapitularien der fränkischen Könige und Hausmeier als eine jüngere Schicht geschriebenen Rechts hinzu.

Das germanische Urkundenwesen verdankt seine Entstehung der unmittelbaren Entlehnung aus dem römischen Rechtsleben, ist aber in seiner Fortbildung selbständige Wege gegangen. Auſserhalb Italiens, des ältesten und reichsten Urkundenlandes, kam das Urkundenwesen zuerst in Neustrien und dann in Austrasien zur Entfaltung, diesseits des Rheins besonders in Schwaben und Baiern, während Friesland und Sachsen nur geringe Urkundenschätze aufweisen. Um

2 Die neuesten Ausgaben verzeichnen von der Lex Salica mehr als 60, von der Lex Ribuaria mehr als 30, von der Lex Alamannorum nahezu 50, von der Lex Baiuwariorum 30 Handschriften, die verschollenen nicht mit gerechnet.


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§ 38. Die Volksrechte.

die Abfassung von Urkunden zu erleichtern, entstanden Sammlungen von Urkundenformeln. Zuerst in Neustrien. Westfränkische Formelsammlungen bürgerten sich dann auch bei den ostrheinischen Stämmen ein, so daſs das Urkundenwesen des fränkischen Reiches ein ziemlich gleichartiges Gepräge erhielt. Eine Sonderstellung nahm in dieser Beziehung Italien ein. Hier fehlt es an Sammlungen von Urkundenformeln. Das ausgebildete Notariats- und Schreiberwesen Italiens lieſs dieses Hilfsmittel entbehren.

Anders wie die Angelsachsen und die Nordgermanen, die ihr Recht in der Volkssprache aufzeichneten, haben die gotischen und die deutschen Stämme ihre Rechtsquellen in einem mehr oder minder korrupten Latein abgefaſst. Trübt uns das fremde Idiom den vollen Einblick in die Sprache und damit in die Begriffswelt des deutschen Rechts, so fehlt es doch glücklicherweise nicht an Anhaltspunkten, um die deutsche Rechtsterminologie der fränkischen Zeit einigermaſsen zu rekonstruieren. Zunächst enthalten die Rechtsquellen selbst zahlreiche deutsche Rechtsausdrücke, sei es nun daſs sie das deutsche Wort lateinisch flektieren oder daſs sie dem lateinischen Terminus den deutschen Ausdruck erläuternd beifügen. Zu einigen Volksrechten sind uns altdeutsche Glossen erhalten. Althochdeutsche Übersetzungen besitzen wir für ein Bruchstück der Lex Salica 3 und für ein Kapitel eines karolingischen Kapitulars 4. Vereinzelte Lücken gestatten die Vergleichung der angelsächsischen Quellen und der Wortschatz der altdeutschen Litteratur mit annähernder Sicherheit auszufüllen.

§ 38. Die Volksrechte.

Boretius, Beiträge zur Capitularienkritik, 1874, S 8 ff. Eine Zusammenstellung des Inhalts der Volksrechte giebt Davoud-Oghlou, Histoire de la législation des anciens Germains, 2 Bde 1845. — Über Ausgaben der Volksrechte in Verbindung mit anderen Quellen s. oben zu § 37. Von älteren Sammlungen, welche sich grundsätzlich auf Volksrechte beschränken, verdienen wegen Benutzung verschollener Handschriften besondere Beachtung: (Joh. Sichard) Leges Riboariorum, Baioariorum … item Alamannorumque leges …, Basileae 1530; (Joh. Tilius, Du Tillet) Aurei venerandaeque antiquitatis libelli Salicam legem continentes … item leges Burgundionum, Alamannorum, Saxonum, Baiuuariorum, Ripuariorum, Parisiis 1573; B. Joh. Herold, Originum ac Germanicarum antiquitatum libri,

3 Müllenhoff u. Scherer, Denkmäler deutscher Poesie u. Prosa, 2. Aufl. 1873, S 178 f. Merkel, Lex Salica S 104. 109.

4 Boretius, Cap. I 378 ff. Müllenhoff und Scherer a. O. S 180, vgl. S 538 f.


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§ 38. Die Volksrechte.

Leges videlicet Salicae, Ripuariae, Allemannorum, Baioariorum, Saxonum, Westphalorum, Angliorum, Werinorum, Thuringorum, Frisionum, Burgundionum, Langobardorum …, Basileae (1557).

Volksrechte, Leges nennen wir die Aufzeichnungen der Stammesrechte. Im Gegensatz zu den für die Römer bestimmenden Leges Romanae werden sie wohl auch Leges Barbarorum genannt. Selbst nennen sich einzelne derselben pactus, lex, ewa, edictus.

Die Volksrechte stellen sich zum Teile als Satzungen, zum Teile als Weistümer dar 1. Manche haben in dieser Beziehung einen ziemlich einheitlichen Charakter. So erweist sich z. B. das burgundische Volksrecht als eine amtliche Sammlung von Konstitutionen, die im Namen des Königs erlassen worden sind. Andrerseits besitzen wir eine Lex aus karolingischer Zeit, die Ewa Chamavorum, welche nichts als ein über das chamavische Gewohnheitsrecht abgegebenes Weistum ist. In manchen Volksrechten tragen dagegen einzelne Bestandteile den ausgeprägten Charakter der Satzung, andere den des Weistums an sich. Im groſsen und ganzen darf wohl die überwiegende Masse des in den deutschen Volksrechten enthaltenen Rechtsstoffes als ein zur Zeit der Aufzeichnung bereits geltendes Gewohnheitsrecht betrachtet werden 2. Denn auch die darin enthaltenen Satzungen sind durchaus nicht immer Satzungen neuen Rechts, sondern sanktionieren oft nur das bereits geltende Recht. Nicht ausnahmslos gehen die uns vorliegenden Texte der Volksrechte auf amtliche Redaktion zurück. In einzelnen Leges finden sich eingeschobene Stücke, die als Privataufzeichnungen über das bestehende Gewohnheitsrecht anzusehen sind.

Da das Volksrecht begrifflich das auf dem Willen des Volkes beruhende Recht ist, läſst sich allenthalben eine mehr oder minder weit gehende Teilnahme des Volkes an der Rechtssatzung wahrnehmen oder voraussetzen. Das Volk erscheint entweder als der maſsgebende Faktor der Satzung, wie bei den Salfranken, wo sie aus der Initiative des Volkes hervorging, und bei den Alamannen, wo der Inhalt der Lex von den Angesehensten des Stammes mit dem Herzog und übrigen Volke vereinbart worden ist 3. Oder die Satzung geschah zwar aus der Initiative und im Namen des Königs, aber unter Zustimmung des Volkes. So lieſs der Langobardenkönig Rothari sein Edikt vom Volke durch einen rechtsförmlichen Akt, nämlich durch ein

1 Zu weit geht Siegel, Deutsche RG S 28 ff., wenn er die dort aufgezählten deutschen Volksrechte schlechtweg für Satzungen erklärt.

2 So sagt Rothari 386: presentem edictum … rememorantes antiquas legis patrum nostrorum quae scriptae non erant, condedimus.

3 So nach den Eingangsworten der Lantfridana, LL III 84.


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§ 38. Die Volksrechte.

unter Speerschlag oder Speerberührung abgegebenes Gesamturteil bekräftigen 4. So sagt König Gundobad von Burgund in der Einleitung zu seiner Konstitutionensammlung, daſs sie ex tractatu nostro et communi omnium voluntate niedergeschrieben worden sei. Und wenn es in einem Kapitular Karls des Kahlen von 864 gelegentlich heiſst: lex consensu populi fit et constitutione regis 5, so ist dies nur die knapp gefaſste Formulierung einer Rechtsanschauung, welche im Sinne der Zeit der verbindlichen Kraft der Volksrechte zu Grunde lag.

Die Satzung wird als eine Vereinbarung der Volksgenossen aufgefaſst, ein Gesichtspunkt, der darin zum Ausdruck gelangt, daſs die Lex nicht selten als Pactus bezeichnet wird. So heiſsen in einigen Handschriften das salische und das ribuarische Volksrecht, so nennt sich die älteste Satzung des Alamannenrechts. Auch das bairische Volksrecht wird als Pactus zitiert 6. Zahlreiche Stellen der Lex Salica beginnen mit den Worten: hoc convenit observare. Mit sic convenit leitet sich der Pactus Alamannorum, mit convenit enim die Lex Alamannorum ein. Ein Rechtssatz der letzteren motiviert sich durch die Wendung, daſs der Herzog und das gesamte Volk in öffentlicher Versammlung ihn gewillkürt habe 7.

Bei der Satzung und bei der Weisung des Volksrechts waren regelmäſsig rechtskundige und erfahrene Männer thätig, welche die Formulierung der Rechtssätze vorschlugen oder auf Anfrage hin das geltende Gewohnheitsrecht kundgaben. Sie wurden als sapientes oder als legislatores bezeichnet; ihre Thätigkeit wird legem dictare genannt. Karl der Groſse nennt in einer Verordnung von 789 das Volksrecht lex a sapientibus populo conposita 8.

Der Anteil, welchen das Königtum an der Satzung und an der Aufzeichnung der Volksrechte nahm, ist im Laufe der fränkischen Zeit mehr und mehr gestiegen. Von der Satzung und Aufzeichnung der karolingischen Volksrechte kann man geradezu sagen, daſs sie nicht aus dem Bedürfnisse des Rechtslebens, sondern aus dem Willen des Königtums hervorgegangen sei. Diesem steigenden Einflusse des Königtums entspricht es, daſs eine gelehrte Sage die Satzung der fränkischen und der oberdeutschen Volksrechte auf eine sie gemeinsam

4 S. oben S 131.

5 LL I 490, c. 6.

6 S. die Belegstellen bei Waitz, VG II 1 S 87 Anm, dem darin beizustimmen ist, daſs pactus nicht bloſs das geschriebene Recht bezeichnet. Pactus legis Ribuariae lautet in der Wiener Handschrift A 5 die Überschrift des ribuar. Volksrechts.

7 Lantfr. 40, 3, Hlo. 41, 3.

8 Cap. I 58, c. 63. Ahd. Glossen haben für legislator êoskefel, Graff VI 447. Siehe noch oben S 110 Anm 5, S 150 Anm 33.


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§ 38. Die Volksrechte.

umfassende Thätigkeit bestimmter merowingischer Könige zurückführt. Sie findet sich in einem Aufsatz de legibus (auctoribus legum) 9, der handschriftlich zumeist als Prolog zur Lex Baiuwariorum überliefert ist 10. Drei Stellen dieses Prologs, der mit den Worten: Moyses gentis Hebreae primus omnium divinas leges sacris litteris explicavit beginnt, sind einem Werke des Bischofs Isidor von Sevilla, den sog. Origines seu etymologiae entlehnt, aber nicht unmittelbar, sondern nach Auszügen, welche vor dem Breviarium Alaricianum vorkommen 11. Eingeschoben ist zwischen die entlehnten Stücke die selbständige Notiz 12, König Theoderich habe zu Chalons weise und rechtskundige Männer ausgewählt und mit ihrer Hilfe die Rechte der Franken, der Alamannen und Baiern aufzeichnen lassen. Childebert und Chlothar hätten sein Werk im Sinne der Christianisierung des Rechts zu Ende geführt; schlieſslich habe König Dagobert durch vier Männer, Namens Claudius, Chadoind 13, Magnus und Agilulf, eine Revision vornehmen lassen und allen Stämmen ihre geschriebenen Rechte gegeben, welche bis heute in Geltung seien.

Diese Erzählung ist unglaubwürdig, denn sie läſst sich mit der Entstehungsgeschichte der darin genannten Leges nicht in Einklang bringen 14. Höchst wahrscheinlich beruht sie, soweit sie sich auf die

9 Vgl. über ihn v. Daniels, RG I 203 und Merkel im Archiv XI 615.

10 Er findet sich vereinzelt auch als Prolog zur Lex Salica, zur Lex Alamannorum und zur Lex Wisigothorum. Wahrscheinlich war er ursprünglich nicht für eine einzelne Lex, sondern für einen Sammelkodex bestimmt, der auſser den fränkischen Leges auch die Lex Baiuw. und die Lex Alamannorum enthielt.

11 v. Daniels a. O. S 204.

12 Theodericus rex Francorum, cum esset Catalaunis, elegit viros sapientes, qui in regno suo legibus antiquis eruditi erant. Ipso autem dictante iussit conscribere legem Francorum et Alamannorum et Baioariorum unicuique genti quae in eius potestate erant, secundum consuetudinem suam, addidit quae addenda erant et inprovisa et inconposita resecavit et quae erant secundum consuetudinem paganorum mutavit secundum legem christianorum. Et quicquid Theodericus rex propter vetustissimam paganorum consuetudinem emendare non potuit, post haec Hildebertus rex inchoavit, sed Lotharius rex perfecit. Haec omnia Dagobertus rex gloriosissimus per viros illustres Claudio, Chadoindo, Magno et Agilulfo renovavit et omnia vetera legum in melius transtulit et unicuique genti scripta tradidit, quae usque hodie perseverant. LL III 259.

13 Ein Chadoind war königlicher Referendar in der Zeit Dagoberts. Merkel, LL III 219 Anm 84.

14 Eine gleichzeitige Satzung der Lex Sal. und Rib. und der Leges Alam. und Baiuw. ist schlechterdings undenkbar. Vgl. im übrigen v. Daniels a. O. Unkritisch ist es, die Nachricht des Prologs auf die Ribuarier, Alamannen und Baiern zu beschränken. Unter den Franci sind sicher auch die Salier gemeint.


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§ 38. Die Volksrechte.

Könige Theoderich, Childebert und Chlothar bezieht, auf einer freien Nachbildung von Nachrichten, welche uns über die Entstehung der Lex Salica überliefert sind, wogegen die Erwähnung Dagoberts am ehesten aus einer verloren gegangenen Notiz über eine Satzung dieses Königs für die ribuarischen Franken erklärt werden kann 15. Alt ist die Erzählung jedenfalls nicht, sie stammt wohl erst aus dem Ende des achten Jahrhunderts 16.

Festeren Grund und Boden haben die Nachrichten über die Fürsorge, welche Karl der Groſse den Volksrechten zugedacht und zugewendet habe. Von ihm wird erzählt, daſs er bald nach der Annahme der Kaiserwürde die Rechte der Stämme, die noch kein geschriebenes Recht besaſsen, aufzuzeichnen befahl, daſs er eine Revision der geltenden Leges anordnete und daſs er von allen Volksrechten Handschriften herstellen lieſs 17. Es ist sehr wahrscheinlich,

Erwähnt mag noch werden, daſs eine Stelle der burgundischen Lex Romana, LL III 596 Anm 8, V 168 miſsverständlich einem Theodericus rex Francorum zugeschrieben wird (s. unten § 49), und daſs die Expositio zum Liber legis Lang. Aist. 7 § 3, Liu. 87 § 2, Karl 70 § 2 den rex Theodericus als cartarum compositor und als Verfasser der Lex Salica betrachtet. Letztere Nachricht geht sicher auf den Prolog zurück.

15 Der Epilog der Wolfenbüttler Handschrift der Lex Salica nennt den primus rex Francorum als Verfasser, Childebert und Chlothar als Ergänzer der Lex Salica. Für den primus rex setzte der Prolog den sagenhaften Namen Theoderichs ein; die vier viri illustres bilden das Seitenstück zu den vier sapientes des salischen Prologs. Die Ausdehnung dieser Nachrichten auf die Lex Alam. und Baiuw. erklärt sich aus dem Bestreben, die herzoglichen Satzungen dieser Stämme nach der Beseitigung der Herzogsgeschlechter als Satzungen merowingischer Könige erscheinen zu lassen.

16 Nach Dagoberts Tode (639) muſs der Prolog verfaſst worden sein, weil sonst die Wendung, daſs seine Gesetze bis heute in Geltung seien, keinen Sinn hätte. Zudem ist Isidors Werk, die mittelbare Quelle des Prologs, erst nach dessen Tod († 636) von einem seiner Schüler zum Abschluſs gebracht worden. Siehe Merkel, Archiv XI 681. In den Akten der Aschheimer Synode von 756 bezeichnen die bairischen Bischöfe dem Herzog Tassilo gegenüber die Lex Baiuw. als precessorum vestrorum depicta pactus, LL III 457, c. 4. Der Prolog zur Lex Baiuw. kann ihnen also noch nicht vorgelegen haben. Von den Handschriften, welche ihn enthalten, reicht der Ingolstädter Kodex der Lex Baiuw. bis in das Ende des 8. Jahrh. hinauf.

17 Einhardi Vita Karoli c. 29, SS II 458: omnium nationum, quae sub eius dominatu erant, iura quae scripta non erant, describere ac litteris mandare fecit. Annales Lauresham. zum J. 802, SS I 38: imperator … congregavit duces comites et reliquo christiano populo cum legislatoribus et fecit omnes leges in regno suo legi et tradi unicuique homini legem suam et emendare ubi necesse fuit et emendatam legem scribere. Poeta Saxo SS I 276: … antiquas leges correxit, in ipsis Uniri mandans dissona quae fuerant. Addidit his etiam noviter quae congrua duxit,

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 19


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§ 38. Die Volksrechte.

daſs diesem Impulse die Leges der Sachsen, Angeln und Warnen und der Chamaven ihre Aufzeichnung verdanken. Dagegen ist die damals in Aussicht genommene Revision der älteren Volksrechte im wesentlichen ein unausgeführtes Projekt geblieben 18. Doch hat Karl, und zwar nicht erst damals sondern schon früher, dafür Sorge getragen, daſs vom Hofe aus bessere und gleichartige Texte zum mindesten der fränkischen Leges verbreitet wurden 19.

Bei den meisten Stämmen hat der ursprüngliche Text der Lex im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren und Zusätze erhalten. Nur von den Langobarden und von den Angelsachsen besitzen wir die Gesetze in der Gestalt, wie sie unter den einzelnen Königen zustande gekommen waren, indem die Novellen sich als solche kenntlich machen und die Namen ihrer Urheber nennen. Weit minder durchsichtig ist die Geschichte der übrigen Volksrechte, denn das Verfahren, durch welches man das neue Recht mit dem alten in Verbindung brachte, war ein sehr verschiedenartiges und unmethodisches. Oft hat man die Novellen, ohne sie als solche zu bezeichnen und ohne die Zeit oder den Anlaſs ihrer Abfassung zu nennen, der alten Lex an Stellen, wo es die Verwandtschaft des Inhalts als passend erscheinen lieſs, eingeschoben, nicht selten hat man sie dem vorliegenden Texte des Volksrechtes, ohne eine neue Kapitelzählung zu beginnen, angehängt. Nicht bloſs neue Satzungen sind auf diese Weise hinzugefügt worden, sondern auch Aufzeichnungen von Weistümern oder beachtenswerte Aussprüche der Rechtspraxis. Wenn etwa die neue Satzung die ältere an Bedeutung sichtlich übertraf, hat man wohl auch die erstere vorangestellt und ihr Sätze der letzteren, die man nicht für bedeutungslos geworden erachtete, nachträglich angehängt, so daſs das ältere Recht nicht den Anfang, sondern den Schluſs des Volksrechtes bildet.

Bei den Westgoten hat nachweislich eine mehrmalige offizielle Redaktion der Lex stattgefunden. Eine Mehrzahl amtlicher Redak-

Pauca quidem numero valde sed utilia, Cunctorumque sui regni leges populorum Collegit plures inde libros faciens. S. über diese Stellen Eichhorn I 558. 566; Waitz, VG III 625; Boretius, Die Capitularien im Langobardenreich S 71 ff.; Ernst Mayer, Zur Entstehung der Lex Rib. S 67.

18 Einhardi Vita Karoli c. 29 in der oben S 259 Anm 7 abgedruckten Stelle. Die Schluſsworte: nihil aliud ab eo factum est, nisi quod pauca capitula et ea imperfecta legibus addidit, beziehen sich auf das Cap. legibus add. von 803, I 113 und das Cap. zur Lex Rib. von 803, I 117. Boretius a. O. S 76.

19 Auf diese Bemühungen Karls des Gr. ist die Lex Salica emendata (vgl. Hessels, Lex Sal. praef. S XX und unten S 294 Anm 13) und die überlieferte Textgestaltung der Lex Rib. zurückzuführen, welche in Handschrift A 5 als Pactus legis Ribuariorum, qui temporibus Karoli renovatus est, bezeichnet wird.


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§ 38. Die Volksrechte.

tionen glaubte man bis in die neuere Zeit auch für die meisten deutschen Volksrechte annehmen zu müssen. Doch ist die neueste Kritik dieser Hypothese gegenüber aus guten Gründen vorsichtig geworden, es gewinnt vielmehr die entgegengesetzte Ansicht festeren Boden, daſs es in der Regel den Abschreibern überlassen blieb, das neue Recht mit dem alten in Verbindung zu setzen und daſs sich auf dem Wege handschriftlicher Fortbildung eine mehr oder minder traditionelle Textgestaltung der einzelnen Leges festsetzte.

Die Volksrechte wollen das geltende Recht nicht in erschöpfender Weise darstellen, sie sind nicht Kodifikationen im Sinne unserer modernen Gesetzbücher, sondern beschränken sich auf solche Rechtssätze, welche zu fixieren eine besondere Veranlassung vorlag. Der strafrechtliche Inhalt überwiegt namentlich in den älteren Leges, in welchen erhebliche Abschnitte als Kataloge von Buſszahlen erscheinen. Daneben gelangten insbesondere noch Grundsätze des Rechtsganges zur Aufzeichnung. Ziemlich stiefmütterlich wurde das Privatrecht behandelt. Das Staatsrecht hat nur in einzelnen Leges, so im ribuarischen, im alamannischen und bairischen Volksrechte, nennenswerte Beachtung gefunden.

Daſs die Volksrechte als geschriebenes Recht der Rechtsprechung zu Grunde zu legen seien, wurde gelegentlich besonders eingeschärft; ihre thatsächliche Anwendung ist uns mehrfach bezeugt. In dem Volksrechte der Baiern begegnet uns die ausdrückliche Vorschrift, daſs der Graf im Gerichte den liber legis bei sich haben solle 20. Den angelsächsischen Richtern schrieb der König Edward vor, die Urteile gemäſs dem Satzungsbuche (dômbôk) zu sprechen 21. In Italien schärfte Pippin um 790 ein, daſs die lex, das geschriebene Volksrecht, einen entgegenstehenden Brauch ausschlieſse 22. Fränkische Kapitularien ermahnen die Richter, die Grafen und ihre Vikare das Recht kennen zu lernen; nach geschriebenem Rechte, nicht nach eigenem Ermessen, solle geurteilt werden 23. Mit peinlicher Genauigkeit hielt

20 Lex Baiuw. II 14, 2.

21 Edw. I, praef. Vgl. Edw. II 5, Edg. II 3. 5.

22 Cap. I 201, c. 10: placuit nobis inserere: ubi lex est praecellat consuetudinem et nulla consuetudo superponatur legi.

23 Admon. gen. c. 63, I 58: primo namque iudici diligenter discenda est lex a sapientibus populo conposita. Cap. v. J. 802 c. 26, I 96: ut iudices secundum scriptam legem iuste iudicent, non secundum arbitrium suum. Cap. von 801—14 c. 4, I 144: ut comites et vicarii eorum legem sciant, ut ante eos iniuste neminem quis iudicare possit vel ipsam legem mutare. LL I 528, c. 1: sed tantum secundum scripturam iudicent, ut nullatenus audeant secundum arbitrium suum iudicare; sed discant pleniter legem scriptam.

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§ 39. Die Lex Salica.

sich die Rechtsprechung der septimanischen Gerichte des neunten Jahrhunderts an den Buchstaben der daselbst geltenden Lex Wisigothorum. Der Tenor des Urteils wird hier häufig durch ein Zitat aus der Lex eingeleitet nach dem Schema: perquisivimus in lege Gotorum, in libro V. titulo 4. era 8. ubi dicit: … tunc decrevimus iudicium per legem Gotorum: … 24. Ebenso enthalten die langobardische Gerichts- und Geschäftsurkunden nicht selten Allegate aus dem Edictus Langobardorum oder Hinweisungen auf denselben 25. Was die übrigen Volksrechte betrifft, so dürfen wir uns keinen allzugroſsen Illusionen über den gerichtlichen Gebrauch derselben hingeben. Bei den Leges der Friesen, Sachsen, Thüringer und Chamaven spricht schon die geringe handschriftliche Verbreitung gegen eine ausgedehnte Anwendung. Aber auch die Lex Salica und die Lex Ribuaria dürften schwerlich in den Händen der Rachineburgen und Schöffen gewesen sein, sondern höchstens der Grafen und Vikare, welchen es überlassen blieb einer Beugung des geschriebenen Rechts durch die Urteilfinder entgegenzutreten.

§ 39. Die Lex Salica.

Ausgaben: Pardessus, Loi Salique, 1843 (8 Texte). Waitz, Das alte Recht der sal. Franken, 1846 (nach den 4 Handschr. der ersten Familie). Merkel, Lex Sal., 1850. Hubé, La loi Salique d’après un manuscrit de la biblioth. centr. de Varsovie, 1867. Behrend, Lex Sal. nebst den Capitularien zur Lex Sal., bearbeitet von Boretius 1874. Hessels, Lex Sal. the ten texts with the glosses and the lex emendata, 1880. A. Holder, Lex Sal. mit der mallob. Glosse nach den Handschr. von Tours-Weissenburg-Wolfenbüttel und von Fulda-Augsburg-München, 1879; nach der Handschr. von Sens-Fontainebleau-Paris 4627, 1880; nach der Handschr. Besançon-St. Gallen 731 und Herold, 1880; nach d. Cod. Lescurianus (Paris 9653), 1880; Lex Sal. emendata nach d. Cod. Vossianus Q 119, 1879; nach d. Codex von Trier-Leyden (Voss. Lat. oct. 86), 1880. Litteratur: Die Ausführungen von Pardessus, Waitz, Hubé und Hessels in ihren Ausgaben. Wiarda, Geschichte und Auslegung des sal. Gesetzes, 1808. H. Müller, Der Lex Sal. und der Lex Angl. et Werin. Alter und Heimat, 1840. Behrend, Die Textentwicklung der Lex Sal., Z f. RG XIII 1 ff. J. Hartmann, Beitr. zur Entstehungsgesch. des sal. Rechts, Forsch. XVI 609. Jungbohn Clement, Forsch. über das Recht der sal. Franken, 1876 (Übersetzung u. Kommentar, mit Vorsicht zu benutzen). R. Schröder, Über den Ligeris in der Lex Sal., Forsch. XIX 471; ders., Untersuchungen zu den fränk. Volksrechten, Festschr. f.

24 Vaissete, Histoire de Languedoc Nr 161, II 331, v. J. 862. Vgl. Nr 139, II 288, v. J. 852; Nr. 185, II 373, v. J. 874. Vgl. Form. Wisig. 40.

25 Sechs derartige Urkunden teilt Bluhme mit LL IV 658 ff. S. auſserdem Registrum Farfense II Nr 135. 154. 183. 199 und vgl. Mitteilungen des Instituts für österr. Geschichtsforschung II 12.


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§ 39. Die Lex Salica.

Thöl 1879 und in Picks Monatsschr. für die Gesch. Westdeutschlands VI 468; ders., Die Franken und ihr Recht, Z 2 f. RG II 1 ff. Fahlbeck, La royauté et le droit royal francs, 1883, S 250—293. Waitz, VG II 1 S 119—135. — Zur Litteratur der Glossen: J. Grimms Vorrede zu Merkels Ausgabe. Kern, Die Glossen in der Lex Sal. und die Sprache der sal. Franken, 1869, und dessen Notes on the frankish words in the Lex Sal., in Hessels’ Ausgabe col. 431 ff. Sohm, R- u. GV S 558. Thiele in der Z f. deutsche Philologie (hrsg. von Höpfner und Zacher) 1873, IV 350. H. Scherrer, Z f. RG XIII 259. — Über die deutschen Wörter in der Lex Sal. handelt Müllenhoff bei Waitz, Das alte Recht S 271 ff.

Die mannigfaltigen Textformen, welche uns die Handschriften der Lex Salica überliefern, gruppieren sich in vier Familien. Die erste 1 und die zweite 2 enthalten einen Text in 65 Titeln, unterscheiden sich aber dadurch, daſs die zweite eine Anzahl von Zusätzen aufweist, darunter solche, welche, wie das Eheverbot der Schwägerschaft 3, die Bestrafung von Freveln an christlichen Grabdenkmälern und Kirchen 4, deutlichen Einfluſs des Christentums verrathen. Die Handschriften der dritten Familie 5 bieten einen verkürzten Text in 99 Titeln dar, welcher auf neustrischen Ursprung hinweist 6, und zerfallen in zwei Gruppen, deren jüngere die in den älteren Textformen vorhandene sogenannte mallbergische Glosse entbehrt. Die vierte Familie, hand-

1 Vier Handschriften: 1. Paris, Bibl. nat. anc. fonds lat. 4404 vom Anfang des 9. Jahrh.; Pard. Text I, Hessels Cod. 1. — 2. Wolfenbüttel, Cod. Weiſsenburg. 97 aus der 2. Hälfte des 8. Jahrh., geschrieben von einem Mönche Agambert von Tours; Pard. Erster Anhang, Hessels Cod. 2. — 3. München, Königl. Bibl. Cimel. IV 3 g vom Ende des 8. oder vom Anfang des 9. Jahrh.; Pard. Anhang 2, Hessels Cod. 3. — 4. Paris, Bibl. nat. f. lat. 9653, aus dem 9. Jahrh.; Pard. Text II, Hessels Cod. 4. Von diesen vier Handschriften bietet Cod. 1 im allgemeinen den ältesten Text der Lex Sal. dar.

2 Zwei Handschriften, nämlich Paris, fonds lat. 18237, vormals Notre Dame 252 F. 9; Pard. Text III, Hessels Cod. 6, — und Paris, 4403 B; Hessels Cod. 5.

3 Lex Sal. 13, 11 aus Interpret. zu Cod. Theod. III 12, 3. Loening, Kirchenrecht II 552 Anm 1. E. Mayer, Zur Entst. der Lex Rib. S 82 Anm.

4 Lex Sal. 55, 6. 7.

5 Neun Handschriften. Erste Gruppe: Montpellier, Faculté de Médecine H 136; Pard. Text IV, Hessels Cod. 7. — Paris, f. lat. 4627; Hessels Cod. 8. — St. Gallen 731, vom Jahre 793 datiert; Hessels Cod. 9. — Zweite Gruppe: die von Hubé hsg. Warschauer Handschr.; Hessels’ Cod. H. — Paris, anc. f. lat. 4409; Hessels Cod. B. — Paris, f. lat. 4629; Hessels Cod. F. — St. Gallen 729; Hessels Cod. G. — Hierher gehören auch die noch nicht kollationierten Handschr. Middlehill 1736 und Vatic. Christ. 846.

6 In Tit. 47 (81) werden die Rechtsgrundsätze des Anefangs durch den Zusatz qui lege Salica vivit, in Tit. 63, 1 (71) wird das Wergeld von 600 solidi durch denselben Zusatz auf die Salier beschränkt. Das setzt eine Gegend voraus, in der auch eine nicht salische Bevölkerung wohnte. Vgl. noch Hubé a. O. préface S 9 f.


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§ 39. Die Lex Salica.

schriftlich am meisten vertreten7), enthält die von den Neueren sogenannte Lex Salica emendata, hat einen unglossierten, in 70 Titel eingeteilten Text und sucht in ihrer Sprache die Vulgarismen der älteren Texte möglichst zu vermeiden. Als eine besondere, also fünfte Textform stellt sich der Abdruck in Herolds Ausgabe8) der Volksrechte dar. Er geht auf eine verschollene Handschrift zurück mit einem kompilierenden, der zweiten Familie verwandten Texte, welcher Zusätze aus jüngeren Texten aufnahm9). Der Entstehung dieser fünf Textfamilien liegt vermutlich folgende Entwicklung zu Grunde10). Ein älterer, uns unbekannter Text hatte von den Händen der Abschreiber allmählich Vermehrungen und Abänderungen erfahren. Als eine Anzahl derartiger Handschriften, wie sie durch die erste Familie repräsentiert werden, sich angesammelt hatte, ergab sich das Bedürfnis, den darin verteilten Stoff in einem einzigen Texte zusammenzufassen. So entstanden seit Ausgang des sechsten Jahrhunderts11) die kompilierenden Texte der zweiten Familie und entstand der verwandte Heroldsche Text. Ein ähnlicher, jetzt nicht mehr vorhandener Text scheint die gemeinschaftliche Grundlage des glossierten Textes in 99 Titeln und der Emendata gebildet zu haben. Der erstere war jedenfalls unter König Pippin bereits vorhanden12). Die Entstehung der Emendata fällt in den Anfang der Regierungszeit Karls des Groſsen und ist wohl einer von ihm ausgegangenen Initiative zu verdanken13). Ohne die älteren Texte vollständig zu verdrängen,

7) Wir besitzen etwa 50 Handschriften.

8) Bei Hessels Cod. 10.

9) Gegen Merkels Meinung, daſs Herold seinen Text aus verschiedenen Handschriften kombiniert habe, s. Behrend, Z f. RG XIII 31. Einzelne Stellen, die sich bei Herold als Zusätze zu erkennen geben, hat die von ihm für den Grundtext benutzte Handschrift bereits enthalten. Auſser dieser verwertete Herold noch andere Textformen (darunter mindestens eine glossierte), deren Varianten er unter Kreuzen und Sternen vermerkt. Am häufigsten sind es Varianten aus der Emendata. Über die Lex Sal. Heroldina s. E. Mayer, Entst. der Lex Rib. S 81 Anm 11.

10) Ich schlieſse mich im wesentlichen den Ergebnissen Behrends, Z f. RG XIII an.

11) Nicht früher wegen Lex Sal. 13, 11. Vgl. Loening, Kirchenr. II 550 f. E. Mayer, Entst. der Lex Rib. S 82 Anm.

12) Die Handschrift von Montpellier enthält die Notiz: anno ter XIII decimo regnante domno nostro Pipino gloriosissimo rege Francorum. Vgl. Hubé a. O. pr. S 13.

13) Cod. Paris. 4626 enthält die Angabe: anno ab incarnatione d. n. J. C. 768, indictione sexta, dominus rex noster Carolus hunc libellum tractati legis Salice scribere iussit. Cod. St. Gallen 728: anno ab incarnatione d. n. J. C. 778, indictione sexta, dominus Karolus rex Francorum inclitus hunc libelli tractati legis Salice scribere ordinavit. Von einer amtlichen Redaktion, von einem Karlischen Rechtsbuch zu sprechen, ist deshalb kein Anlaſs.


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§ 39. Die Lex Salica.

erlangte sie, da sie am häufigsten abgeschrieben wurde, die Stellung einer Vulgata14). Jünger wie die Emendata, die in ihm benutzt wurde, ist der unglossierte Text in 99 Titeln15); er entstand noch im achten Jahrhundert, ehe die Emendata die Textentwicklung des salischen Volksrechtes zum Stillstande gebracht hatte.

Der ursprüngliche Text der Lex Salica ist uns nicht erhalten und läſst sich aus den vorhandenen Handschriften nicht mehr mit voller Sicherheit konstruieren. Jede derselben enthält Stellen, die sich durch die Vergleichung mit anderen Texten als nachträgliche Zusätze herausstellen. Aber auch der übrigbleibende Grundtext ist durchaus nicht aus gleichartigem Guſs, sondern zeigt Spuren von Einschiebungen und Abänderungen. Manche Stellen verraten sich als Zusätze, weil sie in den Zusammenhang oder in die Titelrubrik, in die sie gestellt worden, nicht hineinpassen16), andere, weil ihr Inhalt im Verhältnis zu den sonstigen Grundsätzen und Begriffen der Lex als eine Neuerung oder wohl gar als eine Entlehnung aus fremden Quellen erscheint17). Wir besitzen Novellen zur Lex Salica, welche in manchen Handschriften als Anhänge auftreten, während andere Handschriften einzelne Rechtssätze dieser Novellen an passenden Stellen in den eigentlichen Körper der Lex hineingeschoben haben. Wahrscheinlich sind ähnliche Einschaltungen bereits in ausgiebigem

14) Ein Weistum von 819, Cap. I 292, legt die Emendata zu Grunde, an deren Titelzählung es sich anschlieſst. Auf der Emendata beruht die oben S 285 erwähnte althochdeutsche Übersetzung der Lex Salica, von der ein Bruchstück (Hessels col. XLIV) auf einem Buchdeckel der Trierer Stadtbibliothek durch Mone entdeckt worden ist.

15) Behrend a. O. S 36 ff. Einen terminus ad quem ergiebt das Wergeld des Diakons in Tit. 77, Hessels col. 357, welches nur 300 solidi beträgt, während es in Cap. v. J. 803 c. 1, I 113, auf 400 solidi erhöht ist.

16) Z. B. 14, 2. 3. Siehe Behrend, Textentwicklung S 19. Nach Waitz, Altes Recht S 22. 23 die Bestimmungen in 27, 25 und in 34, 4.

17) Tit. 29, 1 setzt für den gänzlichen Verlust des Fuſses, des Auges und der Nase die Buſse von 100 solidi. Die Texte der zweiten Familie und der folgenden haben aber dafür ältere und geringere Buſsen in Stellen, welche die kompilierende Thätigkeit der Abschreiber aus älteren verlorenen Handschriften hinzugefügt haben dürfte. Vgl. Septem causae 3, 6; Wilda S 85 Anm 1; E. Mayer, Zur Entst. der Lex Rib. S 82 Anm. Die Buſse von 100 solidi könnte etwa auf eine westgotische Quelle, nämlich auf die Vorlage von Lex Wis. VI 4, 3 zurückgehen. — Tit. 39 faſst das Stehlen eines Sklaven und die Verknechtung einer freien Person — vielleicht im Anschluſs an die frühere Gestalt von Lex Wisig. VII 3 — unter dem römisch-rechtlichen Begriff des plagium zusammen. Er scheint nach Tit. 10 u. 32 dem ursprünglichen Texte der Lex Sal. fremd gewesen zu sein. Hartmann a. O. S 614. — Spätere Zusätze sind nach Waitz a. O. S 171 Tit. 39, 2; 42, 5.


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§ 39. Die Lex Salica.

Maſse erfolgt, ehe die älteste handschriftlich überlieferte Textform der Lex Salica zur Ausbildung gelangt war. Ein derartiges, nachträglich aufgenommenes Königsgesetz scheint gleich der erste Titel zu sein, welcher die Vorladung vor Gericht behandelt18).

In den älteren Texten finden sich zahlreiche nicht lateinische Wörter eingestreut, welche den Satzbau unterbrechend durch die Sigle mall. oder malb. eingeführt werden19). Man nennt sie herkömmlich die mallbergischen Glossen. Es sind altfränkische Wörter, aber durch die Ungunst der handschriftlichen Überlieferung zum Teil so hoffnungslos verderbt20), daſs man sie alles Ernstes für keltisch erklären konnte21). Sie wollen den Inhalt des lateinischen Textes durch technische Ausdrücke erläutern und ergänzen, wie sie auf der Gerichtsstätte, in mallobergo gebraucht wurden22). Einzelne Glossen mögen

18) Titel 1 ist eine königliche Satzung. Die Vorladung, welche darin geregelt wird, ist durch die Wendung: si quis ad mallum legibus dominicis mannitus fuerit … als eine Vorladung kraft königl. Gesetzes bezeichnet. Das „legibus dominicis“ soll sie von anderen Vorladungen unterscheiden. Um eine rechtmäſsige Ladung überhaupt zu bezeichnen, hätte, wie in Lex Rib. 32, 1, das Wort legibus an sich genügt. Der Zusatz dominicis bedeutet den Gegensatz zur Ladung nach römischem Rechte, welche nicht Privatladung, sondern gerichtliche Ladung war und die Stellung eines Prozeſsvertreters gestattete (Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs III 241 f.). Die Ladung legibus dominicis war wohl insofern nicht völlig identisch mit der Ladung secundum legem Salicam, als das Königsgesetz des Tit. 1 sie auch den Römern zur Verfügung gestellt haben dürfte (vgl. Form. Andegav. 12—14). Für die jüngere Entstehung des Titels fällt die Wahrnehmung ins Gewicht, daſs alle älteren Texte entweder in c. 1 oder in c. 2 die Rechnung nach Denaren vermissen lassen. Mit Unrecht vermutet Geppert, Beitr. zur Lehre von der Gerichtsverfassung der Lex Sal. S 14, daſs die Worte legibus dominicis dem Texte der Lex ursprünglich gefehlt hätten, weil die althd. Übersetzung der Trierer Fragmente sie ignoriert. Der Text, den das Bruchstück übersetzt, gehörte bereits der Emendata an, wie schon die Zahlen der Titelrubriken ergeben.

19) Z. B. Lex Sal. 2, 14: si quis 25 porcos qui furaverit, ubi amplius non fuerit in grege illa, et ei fuerit adprobatum, mall. sonista, hoc est 2500 den. qui faciunt sol. 62 culp. iud. Sonista bedeutet Herde. Tit. 46 löst die Abkürzung malb. auf als: hoc est in mallobergo.

20) Aus dem Verderbnis der an das Vulgarlatein anklingenden Glossen schlieſst Kern bei Hessels col. 433, daſs sie nach Diktat geschrieben worden seien.

21) Leo, Die Malberg. Glosse ein Rest altkeltischer Sprache und Rechtsauffassung, 2 Hefte 1842. 1845.

22) Den gröſsten Reichtum an Glossen haben nicht die ältesten Texte, sondern die der zweiten und dritten Familie und Herold. Auch jüngere Anhänge der Lex sind glossiert. S. unten Anm 48. Diese Thatsache spricht gegen Kerns Meinung (bei Hessels col. 434), daſs die Lex Sal. ursprünglich in deutscher Sprache abgefaſst worden und die Glosse ein Überrest dieses im übrigen verlorenen Textes sei.


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§ 39. Die Lex Salica.

auch prozessualisch formelhafte Bedeutung haben23). Doch läſst sich dies durchaus nicht von allen behaupten24).

Die Vermutungen, welche über die Entstehungszeit der Lex geäuſsert worden sind, gehen weit auseinander. Zwar besteht kaum ein Zweifel, daſs sie noch vor dem Tode Chlodovechs entstanden sei. Während aber die einen sich für die Zeit vor der Reichsgründung, entweder für die Zeit Chlogios25) oder doch für die Zeit vor 486 entscheiden26), setzen andere die Abfassung der Lex unter Chlodovech an und zwar entweder vor dessen Übertritt zum Christentum (486 bis 496)27) oder nach diesem Ereignis (496 bis 511)28). In der Litteratur über das Alter der Lex werden die Frage nach der Entstehungszeit der ältesten überlieferten Textform und die Frage, wann die älteste Satzung der Lex Salica stattgefunden hat, nicht immer genügend unterschieden. Für letztere hat man insbesondere den Titel 47 zu verwerten gesucht. Hier wird für den Rechtsstreit um eine bewegliche Sache eine vierzigtägige Frist gesetzt, falls der Kläger und der Besitzer der Sache zwischen der Loire und dem Kohlenwalde wohnen. Dagegen soll die Frist eine achtzigtägige sein, wenn der Besitzer jenseits der Loire oder des Kohlenwaldes wohnt29). Da die Gerichts-

23) Eine Klagformel hat J. Grimm aus den Glossen in Lex Sal. 26 zu konstruieren versucht, Kern eine Freilassungsformel.

24) Nach Sohm, R- u. GV S 558 ff. muſste der Kläger gemäſs dem Formalismus des Rechtsganges die Ausdrücke der Glosse bei Präjudiz des Klagverlustes anwenden, eine Annahme, die bei dem Mangel an Belegen umsomehr in der Luft schwebt, als die Deutung vieler Glossen höchst unsicher oder geradezu unmöglich ist, während manche die Sohmsche Auslegung schlechterdings nicht vertragen. Gegen Sohm s. Thiele a. O. S 353.

25) Waitz, Altes Recht S 77. Fahlbeck S 275. 276.

26) Stobbe, RQ I 39 zwischen 453 und 486.

27) So Eichhorn, Pardessus und neuerdings Schröder.

28) Nach v. Sybel, Entst. d. deutschen Königtums S 308 ff. veranstaltete Chlodovech nach 508 eine Revision des ursprünglichen, nicht mehr vorliegenden Textes.

29) Die Fassung der Stelle läſst es nicht zu, die Frist mit Rücksicht auf den Wohnort des Auktors zu bestimmen, wie Schröder, Festschr. für Thöl S 5 vorschlägt. Übrigens ist der überlieferte Wortlaut nicht so gedankenlos, wie Schröder glaubt. Auf dem placitum müssen binnen der 40- bezw. 80 tägigen Frist mit dem Beklagten auch sämtliche Gewährsmänner erscheinen. Es wäre daher, wenn der Wohnort des Auktors die Frist bestimmen sollte, auf den Wohnort des letzten und nicht des ersten Vormanns des Beklagten angekommen. Wie weit aber der Gewährszug zurückgehe, wo der letzte Vormann wohne, konnte der Besitzer in dem Zeitpunkte, da der Anefang stattfand, nicht wissen. Rib. 33 verlangt nur die Beibringung des unmittelbaren Vormanns und kann daher die Frist nach dessen Wohnsitz bemessen. Als Schauplatz des Anefangs ist in der Lex Salica die Gegend zwischen Loire und Kohlenwald gedacht.


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§ 39. Die Lex Salica.

verhandlung in dem Mallus stattfindet, der durch den Wohnsitz des Beklagten bestimmt wird, so setzt die Lex Termine für Gerichtsverhandlungen jenseits der Loire und jenseits des Kohlenwaldes. Das fränkische Reich muſs sonach die Loire nicht bloſs erreicht, sondern überschritten haben und Titel 47 kann seine vorliegende Fassung frühestens in den letzten Jahren Chlodovechs, nämlich nach dem westgotischen Kriege erhalten haben30). Aber ein zwingender Schluſs auf das Alter der Lex oder auch nur des Titels 47 ist damit für diejenigen, die aus anderen Indizien auf eine frühere Abfassung schlieſsen, nicht gegeben, weil es bei dem Zustande der Textüberlieferung sehr wohl möglich ist, daſs die Loire und der Kohlenwald erst nachträglich auf Grund einer Novelle eingesetzt worden sind31).

Über die Satzung der Lex berichtet ein Prolog32), welcher noch dem sechsten Jahrhundert anzugehören scheint, daſs zur Zeit, da das Volk noch heidnisch war, vier durch dessen rectores ausgewählte Männer, nämlich Uuisogast, Bodogast, Saligast und Uuidogast an den Orten Salchamae, Bodochamae und Uuidochamae auf drei Versammlungen das salische Recht gewiesen hätten33). König Chlodovech, nach-

30) Waitz, Altes Recht S 60, Thonissen, L’organisation judiciaire, 2. Aufl., S 11 und andere dachten bei dem Ligeris dieser Stelle an die flämische Lys oder Leye, ein Nebenflüſschen der Schelde, die wohl auch Legeris genannt worden sei, wofür man sich auf Pardessus, Dipl. II Nr 319 v. J. 651 berief. Allein Schröder, Forschungen XIX 471 hat nachgewiesen, daſs hier wie sonst die Loire gemeint ist.

31) Fahlbeck a. O. S 283 vermutet, daſs die Abänderung unter Chilperich 567—575 erfolgt sei.

32) Es sind uns im ganzen fünf Prologe erhalten. Drei nennen nur die Namen der legislatores. Von den zwei ausführlicheren Prologen pflegt man den einen Hessels I, col. 422 schlechtweg den längeren, den anderen Hessels II, col. 423 schlechtweg den kürzeren zu nennen. Zum mindesten der Grundstock des längeren Prologs (die in der folgenden Anm ausgeschriebene Stelle) ist mit Waitz, VG II 1 S 121 gegen Loening, Kirchenrecht II 29 für älter zu erachten. Der kürzere Prolog muſs zu Anfang des 8. Jahrh. vorhanden gewesen sein, weil er in den 727 begonnenen Gesta Francorum (Bouquet II 543) benutzt worden ist.

33) Gens Francorum … ad catholica fide conuersa et inmunis ab herese dum adhuc teneretur barbara …: dictauerunt salica lege per proceris ipsius gentis, qui tunc tempore eiusdem aderant rectores, electi de pluribus uiris quatuor his nominibus Uuisogastis, Bodogastis, Salegastis et Uuidogastis in loca nominancium Salchamae, Bodochamae, Uuidochamae, qui per tres mallos conuenientes omnes causarum origines sollicite discuciendum tractandis de singulis iudicibus decreuerunt hoc modo. Die meisten beziehen dictauerunt auf gens Francorum und betrachten die proceres als die vier legislatores. W. Sickel, Freistaat S 176 sieht, wie ich glaube mit Recht, in den vier Männern eine von den Königen (rectores) gewählte Kommission, interpungiert aber vor per proceres. Ich beziehe dictauerunt auf quatuor.


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§ 39. Die Lex Salica.

dem er die Taufe empfangen, Childebert und Chlothar hätten dann, was an dem Gesetze als unvollkommen erschien, mit mehr Deutlichkeit verbessert34). Aus diesem Prolog ist ein kürzerer abgeleitet, welcher die genannten Ortschaften als jenseits des Rheins gelegen bezeichnet35). Die Nachrichten der Prologe tragen zwar einen sagenhaften Charakter an sich, beruhen aber wahrscheinlich auf alter Tradition, welche die Entstehung der Lex in die Zeit der Vielherrschaft und des Heidentums verlegt.

Prüft man diese Überlieferung an dem Inhalte der Lex, so fällt in die Augen, daſs sie keine Spur der Vielherrschaft enthält, sondern die Einheit des salischen Königtums voraussetzt36) und daſs ihr jede bestimmte Beziehung auf das Heidentum fehlt37), eine Thatsache, welche bei dem engen Zusammenhange, der zwischen Recht und Kultus obwaltete, geradezu unerklärlich wäre, wenn uns das salische Volksrecht in der Gestalt vorläge, die es in der Zeit des ungebrochenen Heidentums erhalten hätte. Allerdings sind die ältesten Texte auch frei von Rechtssätzen, die das Christentum und die katholische Kirche betreffen. Allein daraus läſst sich nicht schlieſsen, daſs die Lex vor Chlodovechs Taufe abgefaſst wurde38), da noch lange über diese Zeit hinaus ein Teil des Volkes heidnisch blieb39). Ganz abgesehen davon

Der Satz: dum gens Francorum … adhuc teneretur barbara, enthält nur eine Zeitbestimmung. Die rectores sind als die Kleinkönige zu denken.

34) Et quod minus in pactum habebatur idoneo per proconsolis regis Clodouehi et Hildeberti et Chlotarii fuit lucidius emendatum.

35) Schröder nimmt deshalb an (Picks Monatsschr. VI 471 Anm 5), daſs dieser Prolog rechts des Rheins entstanden sei. — Zwei Epiloge (Hessels col. 423) schreiben die Abfassung der Lex dem primus rex Francorum zu und verteilen die Zusatztitel unter diesen, Childebert und Chlothar.

36) Lex Sal. 14, 4; 26; 46; 56. Vgl. Fahlbeck, Royauté S 274.

37) Der maialis sacrivus oder votivus in 2, 12. 13, welchen auch die Emendata noch kennt, ist mit dem Christentum vereinbar. Man vgl. die pecora votiva in Gregor. Turon., De virtutibus S. Juliani c. 31 S 577, 5. 16 und die Anmerkung des Herausgebers. Die Bemerkungen einiger Handschriften über den angeblich heidnischen Brauch der chrenecruda (s. oben S 221 Anm 22) sind jüngere Reflexionen; denn die Wergeldhaftung hat mit dem Heidentum nichts zu thun und erhielt sich in einigen Gegenden salischen Rechtes durch das ganze Mittelalter hindurch. Auch die Stelle des Leydener Codex Vossianus Q 119, Hessels 102, die den (noch in karolingischer Zeit vorkommenden) Waffeneid auf die vorchristliche Zeit zurückführt, kann für das Alter der Lex Sal. nicht verwertet werden.

38) Vgl. v. Sybel, Königthum S 318.

39) Über die Fortdauer des Heidentums in den Stammsitzen der Franken s. Loening, Kirchenr. II 58 f. Besonders charakteristisch ist die Erzählung der Vita Vedasti c. 7 (bei v. Schubert, Unterwerfung der Alamannen, 1884) über das Gelage, welches der Franke Hozinus König Chlothar I. und seinem Gefolge ver-


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§ 39. Die Lex Salica.

daſs ein aggressives Vorgehen gegen das noch mächtige Heidentum ein politischer Selbstmord des fränkischen Königtums gewesen wäre, hätte es gar nicht in der Macht des Königs gelegen, Rechtssätze spezifisch christlichen Inhalts einseitig in das Volksrecht einzuführen, dessen Begriff ein solches Vorgehen ausschloſs40).

Auf die Zeit nach der Reichsgründung weist uns auch das Münzsystem der Lex Salica hin. Abweichend von allen anderen Volksrechten giebt sie die Buſsen und Wergelder zugleich in Denaren und solidi an41), wobei 40 Denare auf den Solidus gehen. Augenscheinlich sollte damit eine Unterscheidung von einer anderen, älteren Geldrechnung markiert werden, eine Absicht, die sich kaum anders erklären läſst, als daſs nicht lange vorher eine Veränderung des Münzwesens stattgefunden hatte42). Den Zeitpunkt der fränkischen Münzreform können wir nicht genau bestimmen. Es ist aber nach Lage der Verhältnisse wahrscheinlicher, daſs sie erst nach Chlodovechs ersten gallischen Eroberungen, als daſs sie vorher stattgefunden habe. Auch glaubt man aus den Berichten über die Münzfunde, welche 1653 in dem Grabe Childerichs I. zu Tournay gemacht worden sind, schlieſsen zu können, daſs die Franken um das Jahr 481 den Solidus noch nicht zu 40 Denaren berechneten43).

Höchst beachtenswert ist die bisher allgemein übersehene Übereinstimmung der Ausdrucksweise, welche sich in einzelnen Stellen zwischen der Lex Salica einerseits und zwischen der Lex Burgundionum und der Lex Wisigothorum andererseits nachweisen läſst44). Sie

anstaltete. Da giebt es Bierkrüge für die Christen und für die Heiden. Weil letztere nach heidnischem Gebrauche geweiht waren, werden sie durch ein Wunder des Heiligen ihres dämonischen Inhalts entleert.

40) Ein culpabilis iudicetur wäre in Sachen des Christentums völlig illusorisch gewesen, wo heidnische Rachineburgen nach Volksrecht das Urteil fanden. Zum Schutz der Kirche und ihrer Diener konnte der König seinen Friedensbann verwenden. Man beachte, wie spät und wie spärlich die Zusätze christlichen Inhalts sind, welche die jüngeren Texte in die Lex aufgenommen haben. Die oben S 177 hervorgehobene Einengung der Todesstrafe scheint in Einklang mit den Tendenzen des gallischen Klerus erfolgt zu sein.

41) Nach dem Schema: DC dinarios qui faciunt solidos XV.

42) Vgl. E. Mayer, Zur Entst. der Lex Rib. S 38.

43) Soetbeer, Forsch. zur deutschen Gesch. I 545 ff. Gegen seine Schluſsfolgerungen haben freilich Fahlbeck S 283 und E. Mayer a. O. S 36 Widerspruch erhoben.

44) Die Erledigung dieser Frage erfordert eine eingehendere Untersuchung, als sie hier gegeben werden kann, zumal die Verwandtschaft sich stellenweise auch auf andere Volksrechte erstreckt, welche, wie die Lex Baiuw. anerkanntermaſsen oder wie Rotharis Edikt wahrscheinlich, westgotische Vorlagen benutzt haben. Ich be-


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§ 39. Die Lex Salica.

scheint auf eine gemeinschaftliche Grundlage der zwei letztgenannten Leges, nämlich auf die Gesetzgebung des Westgotenkönigs Eurich (466 — 484) zurückzugehen. Da die Verwandtschaft sich seltener in den Rechtsfolgen als in der Fassung der Thatbestände geltend macht, mögen Eurichs Gesetze bei der Abfassung der betreffenden Stellen der Lex Salica in der Weise benutzt worden sein, daſs man im Anschluſs an die westgotische Vorlage Weistümer über das geltende salische Recht aufnahm und redigierte. Bei solchem Vorgang konnte der die Fragestellung betreffende Teil des Rechtssatzes (das si quis)

schränke mich hier auf folgende Parallelstellen; bei welchen auch die Reihenfolge der Rechtssätze in Betracht zu ziehen ist. Sal. 27, 2: si uero de pecoribus (tintinno) inuolaverit … 27, 3: si quis pedica ad caballo imbulaverit … 27, 4: si uero caballi ipsi perierunt, ipsos in capite restituat. Burg. 4, 5: qui tintinnum caballi furto abstullerit … 4, 6: si autem inpedicato caballo ingenuus pedicam tulerit. Wis. VII 2, 11: si quis tintinnabulum involaverit … weiter unten pecoribus. VIII 4, 1: si quis caballum … de pedica … tulerit … unum solidum ei det et si … perierit, eiusdem meriti caballum … restituat. Zu Sal. 27, 2 vgl. noch Lex Baiuw. IX 11 und Roth. 289. — Sal. 27, 6: si quis in orto alieno in furtum ingressus fuerit … Burg. 25, 1: si quis cuiuslibet ortum violenter aut furtim ingressus fuerit. Wis. VIII 3, 2: si quis alienum hortum vastaverit. Baiuw. IX 12: si quis in orto furtive alicuius intraverit … Die ursprüngliche Anordnung der Wis. ist aus Baiuw. als mit der Salica identisch zu erschlieſsen. In Baiuw. folgt a. O.: ita et de pomeriis lex servanda est. In Sal. a. O. Cod. 6 u. 5: si quis … de pomario … deruperit. — Sal. 9, 1: si quis animalia aut caballus aut quolibet pecus in messe sua invenerit, penitus eum vastare non debet. Quod si fecerit et hoc confessus fuerit, capitale in locum restituat; ipse vero debilem ad se recipiat. Wis. VIII 3, 13: si quis caballum aut pecus alienum in vinea, messi … invenerit, non expellat iratus, ne … evertat. … Et si pecora … everterit, domino pecorum dampnum simpla tantummodo satisfactione restituat et sibi quae debilitavit aut occidit, usurpet. — Sal. 9, 5 Cod. 1: si quis vero pecora de damno aut in clausura aut dum ad domum minantur expellere aut excutere praesumpserit … Burg. 23, 3: quod si animalia, dum de dampno ad clausuram menantur … tollere praesumpserit … Wis. VIII 3, 14: si quis expellenti de frugibus pecora excusserit … Vgl. Roth. 346: si quis peculium de damno ad clausura minaverit … Vgl. noch Sal. a. O. Cod. 2: si vero pecora de damnum inclausa fuerint etc. mit Burg. 23, 1 u. Wis. VIII 3, 14: quod si de domo eius aut clausura etc. — Sal. 9, 8 Cod. 2: si uero per inimicitiam aut per superbia sepem alienam aperuerit et in messe, in prato, in vinia aut qualibet laborem pecora miserit … stematum damnum reddat … Burg. 27, 4: si quis sepem alienam aperuerit et caballos suos aut animalia in messem aut in pratum voluntarius miserit … per singula animalia inferat … solidos singulos. Wis. VIII 3, 10: qui iumenta vel boves aut quaecunque pecora voluntarie in vineam vel messem immiserit … dampnum quod fuerit aestimatum cogatur exsolvere … et … per singula capita singulos solidos reddat. Roth. 344: si quis caballus aut armenta asto animo in messe aliena aut in prato aut in quolibet damnum miserit, componat per caput solidum unum. S. noch oben S 295 Anm 17 und vgl. Sal. 32, 1 mit Burg. 32, Sal. 10, 3 mit Burg. 10.


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§ 39. Die Lex Salica.

mit der Vorlage konkordieren, während die den Nachsatz (das culpabilis iudicetur) aussprechende Antwort ein selbständiges Gepräge erhielt. Die Verwertung westgotischer Vorlagen macht es wahrscheinlich, daſs das Frankenreich damals bereits mit dem Reiche der Westgoten grenzte und schlieſst jedenfalls die Zeit vor Chlodovech aus. Andererseits sprechen manche Züge für ein hohes Alter der Lex, so daſs wir sie jedenfalls nicht aus der Zeit nach Chlodovech datieren können. Zwar werden schon Römer als Unterthanen genannt, allein sie bilden noch keinen Teil des Volksheeres45), während sie bereits unter Chlodovechs Söhnen als wehrpflichtig erscheinen46). Auch wenn sie in besonderen Königsdienst und in den Haushalt des Königs aufgenommen sind, gehören sie noch nicht zur königlichen Trustis47). Der königliche Beamte, der noch als grafio und nicht mit dem später üblichen Titel comes bezeichnet wird, hat nur erst die Funktionen der Exekutivgewalt, aber noch nicht den Vorsitz im Mallus.

Nach alledem wird man annehmen müssen, daſs die Lex Salica die in den ältesten Texten vorliegende Grundform — auch wenn wir von allen noch erkenntlichen Zusätzen absehen wollen — erst unter Chlodovech und zwar nach der Reichsgründung erhalten hat. Bei den Satzungen, durch die sie zustande kam, scheint man Aufzeichnungen älterer Weistümer benutzt, zum Teil wohl auch unverändert übernommen zu haben. Die Erinnerung an solche der Zeit des Heidentums und der Vielherrschaft angehörige Rechtweisungen spiegelt sich, wie wir vermuten dürfen, in den Nachrichten der Prologe.

Unter Chlodovechs Nachfolgern entstand eine Anzahl von Novellen, welche die Neueren als Kapitularien zur Lex Salica zusammenfassen. Einige, die nicht viel jünger sein mögen wie die Lex48), rühren vielleicht noch von Chlodovech her. Die Handschriften fügen die Novellen als Nachträge an; nur ausnahmsweise sind noch einzelne Rechtssätze

45) Das folgt aus Lex Sal. 63, 1 Cod. 1. 3. 4, während die jüngeren Texte und ein Zusatz des Cod. 2 der Anwesenheit von Römern im Heere durch Änderung des Wortlauts Rechnung tragen.

46) Roth, Beneficialwesen S 179 ff.

47) In Lex Sal. 41, 3. 5 wird der Römer als conviva regis von demjenigen unterschieden, der in truste dominica ist. Vgl. 63, 2. Die Trustis ist ein militärisch organisiertes Gefolge.

48) So der ältere Bestandteil des ersten Kapitulars (Behrend-Boretius, Lex Sal. S 89), nämlich c. 1—4 mit mallbergischer Glosse und Buſsenberechnung nach Denaren und solidi. Vgl. Brunner, Mithio und Sperantes, in der Festgabe für Beseler S 22 Anm 1. Hohes Alter verrät auch Cap. 6, Behrend-Boretius S 110, welches gleichfalls die Rechnung nach Denaren und mallbergische Glossen enthält.


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§ 40. Die Lex Ribuaria.

handschriftlich in den Text des Volksrechtes eingeschaltet worden49). Eines der gedachten Kapitularien stellt sich als ein Landfriedensgesetz Chlothars I. und Childeberts I. aus den Jahren 511—55850), ein anderes als ein Edikt König Chilperichs von 561—584 dar; den jüngsten Anhang bildet ein 819 oder bald darnach abgefaſstes Weistum, welches die Lex im Anschluſs an die Titelzählung der Emendata ergänzt und von Kaiser Ludwig I. als Zusatz zum Volksrechte genehmigt worden ist51).

Etliche Privatarbeiten geben Zusammenstellungen von Buſssätzen der Lex. Eine derselben führt den Titel Septem causas und gehört noch der merowingischen Zeit an52). Karolingisch sind die vorhandenen Remissorien, von welchen sich eines als Recapitulatio legis Salicae bezeichnet, denn sie kennen die Emendata. In Italien entstand frühestens um die Mitte des neunten Jahrhunderts53) eine Privataufzeichnung über salisches Recht, welche uns in einer Handschrift aus Ivrea, leider lückenhaft, überliefert ist54).

§ 40. Die Lex Ribuaria.

Herausgegeben von R. Sohm in Mon. Germ. Leges V 185 ff., davon ein Textabdruck in 8° 1883. Berichtigungen aus zwei Pariser Handschriften gab Karl Lehmann, NA 1885 S 414 ff. Litteratur: Rogge, Observationes de peculiari Legis Ripuariae cum Salica nexu, 1823. Sohm, Über die Entstehung der Lex Ribuaria, Z f. RG V 380 und

49) So Cap. 1 c. 2 zu Tit. 41 hinter § 8 in Cod. 7—10 und in der Emendata. Cap. 1 c. 4 zu Tit. 24 in allen Textformen ausgenommen Cod. 1, der das Cap. 1 c. 1—4 als Nachtrag zu den 65 Titeln der Lex Sal. bringt. Cap. 6 c. 3 § 4 als Zusatz zu Lex Sal. 2, 1 Cod. 5—10 und Emendata. Cap. 6 c. 17 als Lex Sal. 15 Cod. 2—10 und Emendata. Cap. 3 c. 1. 2 ist in den Heroldschen Text 19, 5. 6, Hessels Tit. 96, col. 411 übergegangen, ebenso Cap. 2 c. 6 in Herold 32 am Ende, Hessels Tit. 104.

50) Über die Streitfrage, ob der Pactus pro tenore pacis von Chlothar I. und Childebert I. oder von Chlothar II. und Childebert II. herstamme, s. Boretius bei Behrend, Lex Sal. S 99 und in seiner Kapitularienausgabe S 4. Der von Waitz, VG II 1 S 405 Anm 3 geäuſserten Meinung, daſs Cap. I c. 1: si quis truste … battere praesumpserit .., jünger sei als der Pactus pro tenore pacis, vermag ich in keiner Weise zuzustimmen.

51) Cap. I 292. Vgl. über die salischen Novellen unten § 54 S 376.

52) Sie kennt zwar schon das dreifache Wergeld des Bischofs (E. Mayer, Zur Entst. der Lex Rib. S 15), kann aber wegen 8, 7: si quis andrustione, qui inter duos reges pagaverit .., nicht karolingisch sein.

53) Extravag. c. 5.

54) Als Extravaganten B bei Behrend S 120, bei Hessels col. 421.


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§ 40. Die Lex Ribuaria.

dessen Vorrede in LL V a. O. Ernst Mayer, Zur Entstehung der Lex Ribuariorum, 1886. R. Schröder, Z2 f. RG VII 22 ff.

Später als das Volksrecht der Salier wurde das der Ribuarier aufgezeichnet. Im übrigen ist seine Entstehungsgeschichte dunkel und streitig. Die 35 Handschriften, welche wir davon besitzen, und die auf verschollenen Handschriften beruhenden Drucke1) geben einen im wesentlichen gleichförmigen Text. Jene stammen aus dem neunten Jahrhundert oder aus jüngerer Zeit, mit Ausnahme eines Münchener Kodex2), der vielleicht noch gegen Ausgang des achten Jahrhunderts geschrieben wurde. Ohne durch eine scharfe Grenzlinie geschieden zu sein, zerfallen sie in zwei Gruppen, von welchen die gröſsere sich durch eine bessere Latinität charakterisiert und durch das Bestreben, altfränkische Rechtsausdrücke zu vermeiden oder zu erläutern3). Die Gleichförmigkeit der überlieferten Texte macht es wahrscheinlich, daſs uns von der Lex nur eine in karolingischer Zeit und zwar im achten Jahrhundert auf ähnlichem Wege wie die Lex Salica emendata entstandene Rezension erhalten ist4) und die älteren Textformen verloren gegangen sind. Titel 36 weist in allen Handschriften Interpolationen und Zusätze auf, welche erst in karolingischer Zeit entstanden sein können5). In einer Wiener Handschrift (A 5) bezeichnet sich die Lex

1) Bei Sichard, Herold, Tilius u. Lindenbruch. S. oben zu § 37. 38. Die Lex Rib. steht auch in dem jüngst aufgefundenen Klitschdorfer Kodex.

2) Cod. bibl. reg. Monacensis Lat. 4115, bei Sohm A 4.

3) Sohm hat in seiner Ausgabe demgemäſs eine altertümlichere Textform A und eine modernisierte B neben einander abgedruckt. Von sachlichen Unterschieden ist der erheblichste, daſs die meisten, aber nicht alle A-Texte in Titel 36 dem Kleriker das Wergeld seiner Geburt beilegen und ein geringeres Wergeld des Diakons und des Subdiakons ansetzen.

4) Einen sicheren terminus ad quem giebt das Cap. legi Rib. add. v. J. 803, I 117, dessen Bestimmungen nicht mehr in den Text der Lex aufgenommen worden sind. Nur zwei Ausnahmen sind in dieser Beziehung zu verzeichnen. Der Heroldsche Druck hat statt Titel I das erste Kapitel des Kapitulars. Die Handschrift, welche den LL V 277 abgedruckten althochdeutschen Glossen zu Grunde lag, hatte c. 6 des Kapitulars in Titel 32 aufgenommen, wie die Stellung der Glosse lehan für beneficium ergiebt. Die adkapitulierten Sätze würden in gröſserem Umfange und in einer gröſseren Zahl von Handschriften aufgenommen worden sein, wenn sich die überlieferte Textform nicht bereits vor 803 als eine herkömmliche und feststehende ausgebildet hätte.

5) In 36, 4 sind die Worte Fresionem, Saxonem interpoliert. Sie setzen die Unterwerfung friesischer und sächsischer Bevölkerung voraus. Zusätze karolingischer Zeit sind auch 36, 11 (E. Mayer S 32 f.) und 36, 12, wo der Silbersolidus als eine vor längerer Zeit (sicut antiquitus constitutum est, wie in Cap. I 269, s. oben S 216 Anm 17) eingeführte Währung erscheint (E. Mayer S 35 ff.).


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§ 40. Die Lex Ribuaria.

ausdrücklich als Pactus legis Ribuariae, qui temporibus Karoli renovatus est. Spuren einer älteren, verlorenen Textform enthalten die Inhaltsverzeichnisse einiger Handschriften. Sie verzeichnen eine Titelrubrik6), für welche in keinem der überlieferten Texte ein entsprechender Titel zu finden ist.

Die Lex Ribuaria ist zum gröſsten Teile nach dem Vorbilde des salischen Volksrechtes ausgearbeitet worden7). In Bezug auf das Maſs der Abhängigkeit zeigen sich Verschiedenheiten. Schon in dem ersten, hauptsächlich von Verwundungen und Tötungen handelnden Teile der Lex Ribuaria tritt der Anschluſs an den Wortlaut und Inhalt des Vorbildes zu Tage. Allein die Buſszahlen, die nicht auf einer Teilung des Wergeldes beruhen, weichen häufig von der Lex Salica ab, indem das salische, auf der Grundzahl 15 aufgebaute Buſsensystem durch ein anderes ersetzt wird, welches auf die Grundzahl 18 zurückführt. Weit enger wird die Anlehnung in einem zweiten Teile der Lex, welcher — mit Ausnahme eines eingeschobenen Königsgesetzes — die Titel 32 bis 64 umfaſst. Er stellt sich geradezu als eine Umarbeitung der Lex Salica dar, bei welcher die den Ribuariern fremden Rechtsinstitute der Salier8) und die damals bereits veralteten Titel der Vorlage9) absichtlich übergangen worden sind. Charakteristisch ist diesem Teile der Lex auch die Art, wie die Wergeld- und Buſszahlen ausgedrückt werden. Während sonst Kardinalzahlen dafür verwendet werden, sind hier die Buſsbeträge regelmäſsig in Distributivzahlen angesetzt10). Die Titel 57 bis 59, Titel 60 c. 1, 61 und

6) Die Rubrik „de aroene“ hinter Titel 56 de alodis. Sie würde Lex Sal. 61 de charoena entsprechen. Sohm glaubt den Titel de aroene in Lex Rib. 60 c. 2 bis 5 zu erkennen, wo von widerrechtlicher Landnahme gehandelt wird. Dagegen macht Ernst Mayer a. O. S 48 mit Recht geltend, daſs charoena das Entreiſsen einer beweglichen Sache bedeutet und nicht auf die superprisio terrae angewendet werden kann. Das Trierer Fragment (s. oben S 295 Anm 14) übersetzt de charoena: der fon anđres hentî eowiht nimit.

7) Es wurde eine Textform der Lex Salica benutzt, welche der ersten Handschriftenfamilie angehörte oder ihr doch wenigstens sehr nahe stand. Siehe Eichhorn I 251; v. Daniels I 250 Anm 3.

8) Z. B. der reipus bei der Witwenehe, die Entsippung, die Wergeldhaftung der Magen und die Wergeldverteilung. Sohm, Z f. RG V 406 ff.

9) Aus diesem Grunde sind verschiedene Titel des altsalischen Prozeſsrechtes und insbesondere die zahlreichen Diebstahlsbuſsen nicht aufgenommen worden. Das ribuarische Recht strafte — von gewissen leichteren Fällen abgesehen — den Diebstahl gleich dem jüngeren salischen Rechte mit Tod oder Wergeldzahlung.

10) Man vgl. z. B. Tit. 5: centum solidos culpabilis iudicetur mit 36, 3: bis quinquagenus solidus multetur. Sohm, Praef. S 188.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 20


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§ 40. Die Lex Ribuaria.

62 verraten sich als ein eingeschobenes Königsgesetz11). Es handelt von den Freilassungen und von der Übereignung des Grundbesitzes. Die Berücksichtigung kirchlicher Ansprüche und Interessen läſst vermuten, daſs der Satzung ein Kompromiſs des Königtums mit der Kirche zu Grunde lag. Die Titel 65 bis 79 zeichnen sich durch die in den Leges sonst so spärlich vertretenen Normen des öffentlichen Rechtes aus. Auſserdem enthalten sie prozeſs- und strafrechtliche Sätze zum Teil altertümlichen Inhalts. Von den letzten zehn Titeln sind sechs (80, 82—86) der Lex Salica nachgebildet.

Die Entstehung der Lex reicht jedenfalls in die merowingische Zeit zurück. Sie muſs im wesentlichen zum Abschluſs gelangt sein, als das Königtum noch kräftig war und der maior domus noch nicht eine das Königtum lahmlegende Machtfülle erlangt hatte, weil in Titel 88 dem Hausmeier ebenso wie anderen Beamten die Todesstrafe angedroht wird, falls er in gerichtlicher Thätigkeit Geschenke annimmt. Das weist auf die Zeit vor dem Tode Dagoberts I. (639) hin, des letzten merowingischen Königs, der ein kraftvolles persönliches Regiment zu führen wuſste. Für die ältere merowingische Zeit spricht auch die ursprüngliche Fassung des Titels 36, c. 5; welche dem niederen Kleriker nicht das Wergeld seiner Geburt, sondern schlechtweg das des Römers beilegt und damit voraussetzt, daſs noch fast ausschlieſslich Romanen die niederen ordines innehaben12). Das eingeschobene Königsgesetz macht der Kirche eine Reihe von Konzessionen, die über das Maſs der Zugeständnisse hinausgehen, welche ihr durch ein Edikt Chlothars II. von 614 zuteil geworden sind13). Es ist also jedenfalls erst nach 614, wahrscheinlich erst unter Dagobert I., 628—639 entstanden. Gleichfalls unter Dagobert scheinen die Titel 65—89 abgefaſst worden zu sein. Schon oben S 289 wurde angedeutet, daſs die Nachricht des Aufsatzes De auctoribus legum über Dagoberts gesetzgeberische Thätigkeit auf eine ribuarische Satzung dieses Königs zurückgehen dürfte. Dagegen reicht die Entstehung der übrigen Bestandteile vermutlich noch in das sechste Jahrhundert hinauf14). Titel 53 setzt den Fall, daſs ein

11) Tit. 60 c. 2—8, ursprünglich wohl durch die Rubrik de testamentis regum zusammengefaſst, ist mit Sohm, Praef. S 189 f. für älter zu erachten.

12) Loening, Kirchenr. II 296 ff. Sohm, Praef. S 188. E. Mayer S 10 ff. Schröder, Z2 f. RG VII 26. Die bald nach Anfang des 8. Jahrh. abgefaſste Lex Alam. (Hlo. 15) bestimmt das Wergeld des Klerikers bereits nach seinem Geburtsrechte.

13) Loening, Kirchenrecht II 238 f. 741. Schröder a. O. S 23.

14) Sohm a. O. S 192 unterscheidet vier Teile der Lex u. das Königsgesetz. Der erste (1—31) sei in der ersten, der zweite (32—64) in der zweiten Hälfte des 6. Jahrh.,


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§ 40. Die Lex Ribuaria.

Unfreier oder ein Freigelassener des Königs die Würde des Grafen erlangt, muſs daher wohl älter sein wie das Edikt Chlothars II. von 614, welches die Ernennung im Gau ansässiger Grafen mit selbständigem Vermögen in Aussicht stellte15). Die Bestimmung in Titel 60 c. 7, welche von zwei sich widersprechenden Königsurkunden jede zum Teile gelten läſst, rechnet noch nicht mit dem Zugeständnis Chlothars II., daſs die rechtswidrig erlangte Königsurkunde nichtig sein solle16). Die Rechtssätze über die Haftung des Herrn für seine Knechte überlassen es der Wahl des Herrn, ob er den Knecht vor Gericht stellen oder dessen Unthat verantworten wolle, wogegen ein Gesetz Childeberts II. von 596 bereits eine unbedingte Präsentationspflicht des Herrn statuiert17). Dasselbe Gesetz bedroht den Frauenraub mit amtlicher Verfolgung und mit Todesstrafe, während die Lex Ribuaria in Titel 34 nur die Zahlung des Wergeldes verlangt.

Mit Rücksicht auf die Verschiedenheiten, welche die Titel 1—31 einerseits, die Titel 32—64 andererseits aufweisen, ist es unwahrscheinlich, daſs sie sämtlich aus einer einheitlichen und gleichzeitigen Satzung hervorgegangen sind. Es empfiehlt sich vielmehr, sie auf zwei Satzungen zurückzuführen, die vielleicht zeitlich nicht weit auseinander liegen, aber beide noch vor 596 entstanden sind.

das Königsgesetz (57—62) gegen Ende des 6., der dritte Teil (65—79) im 7., der vierte (80—89) zu Anfang des 8. Jahrh. entstanden. Dagegen hat E. Mayer S 174 f. die Ansicht aufgestellt, daſs die Lex in ihrer Gesamtheit zwischen 633 und 639 abgefaſst worden sei. Er stützt sich dafür insbesondere auf die Eingangsworte des Tit. 88: hoc autem consensu et consilio seu paterna tradicione et legis consuetudinem super omnia iubemus, indem er übersetzt: Mit väterlicher Zustimmung befehlen wir obendrein. Das Gesetz müsse also von einem König erlassen sein, der Mitregent seines Vaters war. Er findet ihn in Sigibert III., welchem Dagobert 633 oder 634 die Regierung Austrasiens übertrug. Allein jene Übersetzung ist nicht haltbar. Die Stelle sagt nur: mit Zustimmung und Rat gemäſs väterlicher Überlieferung und hergebrachtem Recht befehlen wir vor allem. Neuestens hat Schröder für Sohms 2. und 3. Teil der Lex geltend gemacht, daſs sie frühestens im 7. Jahrh., auf alle Fälle nach 614 entstanden seien. Er schlieſst dies aus der den meisten A-Handschriften in Tit. 33. 67 c. 5 und 75 eigentümlichen althochdeutschen Form des Wortes staffolus. Da aber die meisten Handschriften der B-Klasse und einige der A-Klasse stapplus oder auch stabulum haben, so könnte aus Schröders Argument ein sicherer Schluſs höchstens auf das Alter der Textform der A-Klasse, nicht aber auf das Alter der Lex selbst gezogen werden.

15) Cap. I 22, c. 12.

16) Praec. Chloth. c. 5, Cap. I 19. Breſslau, Forsch. zur deutschen Gesch. XXVI 17. Auf demselben Standpunkte steht bereits der dem Königsgesetz angehörige Tit. 57, der im Gegensatz zum älteren Rechte das rechtswidrig erlangte praeceptum denariale als unwirksam behandelt. Brunner, Freilassung durch Schatzwurf S 59.

17) Lex Rib. 28—30. Cap. I 17, c. 10.

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§ 41. Pactus und Lex Alamannorum.

Im Jahre 803 wurde eine Novelle verfaſst, das Capitulare legi Ribuariae additum, welches einzelne Titel der Lex abändert oder ergänzt18).

In einer um das Jahr 906 verfertigten kirchenrechtlichen Sammlung findet sich ein Zitat aus der Lex Ribuaria, die daselbst als Pactus Francorum bezeichnet wird19).

§ 41. Pactus und Lex Alamannorum.

Pactus und Lex Alamannorum sind herausgegeben von Joh. Merkel in den Mon. Germ. hist. LL III. Die Ausgabe ist verfehlt. Eine neue wird vorbereitet. Litteratur: Joh. Merkel, De republica Alamannorum, 1849, ursprünglich als Vorrede zur Ausgabe der Lex in den Mon. Germ. angelegt; derselbe, Praef. in LL III. Waitz, Nachrichten der Göttinger Gesellsch. d. Wissensch. 1869 Nr 14. E. de Rozière, Recherches sur l’origine et les différentes rédactions de la loi des Allemands, Revue hist. de dr. fr. et étr. I 69 ff. Brunner, Über das Alter der Lex Alamannorum, Sitzungsber. der Berliner Akad. 1885 S 149 ff. Karl Lehmann, Zur Textkritik und Entstehungsgeschichte des alam. Volksrechts, NA X 469 ff. R. Schröder, Zur Kunde der deutschen Volksrechte, Z2) f. RG VII 17.

Über das älteste Volksrecht der Alamannen sind uns zwei verschiedene Rechtsaufzeichnungen erhalten, von welchen die ältere als Pactus Alamannorum, die jüngere als Lex Alamannorum bezeichnet wird.

Von dem Pactus haben wir fünf Fragmente. Vier Fragmente sind uns in einer einzigen Handschrift erhalten1). Das fünfte Fragment bildet regelmäſsig einen handschriftlichen Anhang zur Lex Alamannorum2). Als Satzung kennzeichnet sich der Pactus durch die Eingangsworte: et sic convenit3). Eigentümlich ist ihm die Anwendung salfränkischer Rechtsausdrücke, welche in die jüngere Lex keinen Ein-

18) Cap. I 117 und in Sohms Handausgabe der Lex Rib. S 108 f.

19) Regino, Libri duo de synodalibus causis I c. 416: scriptum quippe est in pacto Francorum. Darauf folgt in c. 417 unter der Überschrift ex pacto der Text von Rib. 58, 1. 4. Eine Bezugnahme auf Lex Rib. 58, 3 liegt der Urkunde bei De Sloet, Oorkondenboek d. grafsch. Gelre en Zutphen Nr 68, I 68, von 896 zu Grunde. Statt: ut lex Salica docet … secundum legem Francorum, muſs es daselbst heiſsen: ut lex Francorum docet (Rib. 58, 3) … secundum legem Salicam. Brunner a. O. S 70 Anm 4.

2) Bei Merkel, LL III 80 ff. als Additamenta, sive legum liber tertius. Daſs die Additamenta zum Pactus gehören, hat zuerst Rozière angedeutet, dann Karl Lehmann methodisch nachgewiesen.

1) In Merkels Cod. A, Paris. 10 753 (Suppl. Lat. 215). Wie mir K. Lehmann mitteilt, beginnt in III 37 hinter „mancatus“ ein 4. Fragment.

2) Bei Merkel, LL III 80 ff. als Additamenta, sive legum liber tertius. Daſs die Additamenta zum Pactus gehören, hat zuerst Rozière angedeutet, dann Karl Lehmann methodisch nachgewiesen.

3) Schröder a. O. gegen Lehmann, der darin eine Privatarbeit sieht.


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§ 41. Pactus und Lex Alamannorum.

gang gefunden haben4). Man darf daraus schlieſsen, daſs sich bei seiner Abfassung fränkischer Einfluſs geltend machte und seine Entstehung noch in die Zeit hinaufreicht, ehe die innige Verbindung Alamanniens mit dem Frankenreiche durch das aufstrebende Stammesherzogtum gelockert zu werden begann. Andrerseits hatte das Christentum bei den Alamannen bereits feste Wurzel gefaſst, denn der Pactus kennt die Freilassung in ecclesia5). Unter den deutschen Wörtern, welche die uns vorliegenden Bruchstücke enthalten, stehen manche auf der altgermanischen, andere auf der althochdeutschen Lautstufe6). Der königlichen und der herzoglichen Gewalt wird in den überlieferten Fragmenten nicht gedacht. Die Rechtssätze des Pactus sind älter als die der Lex Alamannorum. Seine Entstehungszeit kann mit Wahrscheinlichkeit in die erste Hälfte des siebenten, frühestens in den Ausgang des sechsten Jahrhunderts gesetzt werden.

Eine umfassendere und besser geordnete Satzung erhielt der schwäbische Stamm durch die Lex Alamannorum, die uns in ungefähr fünfzig Handschriften erhalten ist. Ihre Entstehungsgeschichte ist kontrovers. Merkel hat in seiner Ausgabe drei angeblich verschiedene Redaktionen der Lex abgedruckt, eine Lex. Alam. Hlothariana7), die er in drei Bücher einteilt, eine Lex Alam. Lantfridana und eine Lex Alam. Karolina. Von der Lex Alam. Hloth. weist er Buch I (Kapitel 1—75) der Gesetzgebung König Chlothars II. (613—622), Buch II (Kapital 76—97) der Zeit Dagoberts, Buch III (Kapitel 98—104) der Zeit zwischen Dagobert und Lantfrid I. zu. Eine zweite Redaktion der Lex soll Herzog Lantfrid, der Sohn Godofrids, zwischen 724 und 730 vorgenommen haben. Die Lex Alam. Karolina soll in karolingischer Zeit entstanden sein. Die nähere Untersuchung der überlieferten Textformen ergiebt jedoch, daſs Merkels drei Rezensionen sich nicht halten lassen, daſs die Lex uns nur in einer einzigen Redaktion vorliegt und daſs die von Merkel betonten Verschiedenheiten der von ihm konstruierten drei Texte zum Teil auf einer unrichtigen Verteilung

4) Litus, baro, minoflidus wie in Cap. zur Lex Sal. I 9, texaca, medii electi für die vom Kläger ernannten Eideshelfer wie im Pactus Child. et Chloth. 2. 5. 8, während die Lex Alam. dafür nominati sagt (vgl. Walter, RG § 657 Anm 11). Siehe Lehmann a. O. S 471. Auch battutus in Hlo. 101 und die Eidformel, quod ei amplius non redebet in Pactus I 2 sind fränkisch.

5) II 48: si litus fuerit in ecclesia (a)ut in heris generationis dimissus …

6) Schröder a. O. verweist u. a. einerseits auf stelzia, stotarius, andererseits auf drappo, minofledus, minoflidus, letus, litus neben lesa, lisa.

7) Wo nichts anderes bemerkt ist, wird die Lex Alam. im Folgenden nach der Kapitelzählung in Merkels Hlothariana zitiert.


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§ 41. Pactus und Lex Alamannorum.

der Lesarten beruhen, zum Teil auf Rechnung der handschriftlichen Fortbildung der Lex zu setzen sind8).

Die wichtigste Nachricht über die Entstehung der Lex enthält eine Handschrift aus St. Gallen, welche im Jahre 793 geschrieben wurde. Das erste Kapitel hat hier die Eingangsworte: convenit enim maioribus nato populo Allamannorum una cum duci eorum Lanfrido vel citerorum populo adunato9). Abweichende Angaben überliefern die Überschriften oder Prologe, welche dem Texte der Lex vorausgehen. Die Mehrzahl der Handschriften bringt einen längeren Prolog, nach welchem die Lex zur Zeit König Chlothars abgefaſst worden sei10). Aus zwei Handschriften haben wir die Überschriften: Lex Alamannorum, qui temporibus Lanfrido filio [Godofrido] renovata est11).

Aus dem längeren Prolog glaubte man schlieſsen zu müssen, daſs die Lex Alamannorum eine Satzung des fränkischen Königs Chlothar II. sei. Allein der Inhalt der Lex ergiebt, daſs sie nicht vor dem Ende des siebenten Jahrhunderts abgefaſst worden sein kann. Dies folgt aus dem Verhältnis der Lex zu den fränkischen Konzilienschlüssen aus der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts, aus der Erwähnung freier dingpflichtiger Vasallen des Herzogs und der Grafen, aus der Anwendung des Wortes beneficium12), insbesondere aber aus einer Stelle, betreffend das Verbot der Sonntagsarbeit (Kapitel 38), welche auf ein Beichtbuch des Erzbischofs Theodor von Canterbury zurückgeht13).

Die Lex ist nicht auf einer unter königlichem Vorsitz abgehaltenen Reichsversammlung, sondern auf einer herzoglichen Stammesversammlung zustande gekommen. Den Beschluſs einer solchen führt Kapitel 37 an, welches sich durch seinen Inhalt als herzogliche Satzung darstellt und denjenigen mit Strafe bedroht, der einen Sklaven

8) Über das Alter der Lex Alam. S 150 ff.

9) Cod. Sangall. Nr 731 bei Merkel C 1. Dieselbe Nachricht enthielt Kodex C 2, in welchem uns der Anfang der Lex nicht mehr erhalten ist. Siehe Eckhardt, Commentarii de rebus Franciae orientalis I 493.

10) In A 1: incipit lex Al. qui temporibus Chlotario rege una cum proceribus suis, id sunt 33 episcopi et 34 duces et 65 comites vel cetero populo adunatu. Die Mitteilung Rozières, daſs die Sanktgaller Handschrift B 3 in dem Prolog den Namen Chlothars auf einer ausradierten Stelle bringe, die früher vielleicht Lantfrids Namen trug, beruht auf einem Irrtum. Die Rasur beschränkt sich darauf, daſs Chlothario in Chlotharii verbessert ist. Dagegen verdient bemerkt zu werden, daſs B 2 die Lesart bietet: Lodhanri rex, dux Alamannorum.

11) Sie steht in C 1 und stand in C 2.

12) Lehmann a. O. S 492 ff.

13) Über das Alter der Lex Alam. a. O. S 164 f.


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§ 41. Pactus und Lex Alamannorum.

in das Ausland (foris provincia) verkauft, „post conventum nostrum, quod conplacuit cunctis Alamannis“. In Kapitel 41, 3 wird eine Satzung über rechtswidrige Urteilschelte motiviert mit den Worten: quia sic convenit duci et omni populo [Alamannorum] in publico concilio. Allenthalben tritt in den Rechtssätzen der Lex der Herzog als die entscheidende politische Macht des Stammes hervor. Seine Herrschaft heiſst regnum und vererbt vom Vater auf den Sohn. Habe und Gut des Herzogs sind res dominicae. Er hat die oberste Gerichtsbarkeit, setzt die iudices ein, bezieht die Friedensgelder, spricht die Friedloslegung aus und entscheidet über die Verhängung der Todesstrafe. Andrerseits wird die Oberhoheit des fränkischen Königs über den alamannischen Herzog anerkannt. Dieses Verhältnis der herzoglichen zur königlichen Gewalt paſst nicht in die Zeit Chlothars II., sondern ist das Spiegelbild der thatsächlichen Unabhängigkeit, welche das alamannische Herzogtum seit der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts zu erringen wuſste, indem es bei theoretischer Anerkennung der königlichen Oberhoheit sich dem Einfluſs der wirklichen Machthaber Austrasiens, der emporstrebenden Hausmeier entzog.

Nach alledem steht nichts im Wege, den Eingangsworten der Lex in der Sanktgaller Handschrift von 793 vollen Glauben zu schenken, daſs das alamannische Gesetz unter Herzog Lantfrid zustande gekommen sei. Von Herzog Lantfrid wissen wir, daſs er der Sohn des 709 verstorbenen alamannischen Herzogs Godofrid war und von Karl Martell bekriegt im Jahre 730 Land und Leben verlor.

Die beiden Prologe sind jünger wie die Lex. Der längere Prolog ist den Eingangsworten der Lex Lantfridana nachgebildet. Nach Lantfrids Tode hat es in Schwaben kein von Reichswegen anerkanntes Herzogtum mehr gegeben. Man mochte daher Bedenken tragen, den Namen des im Kampfe mit der Reichsgewalt erlegenen Herzogs an die Spitze der Lex zu setzen. Der Eingang der Lex, wie er sich in der Sanktgaller Handschrift von 793 vorfindet, wurde daher von den Abschreibern unterdrückt und in dem Prolog Lantfrids Name durch die Wendung temporibus Chlothario ersetzt. Diese Zeitbestimmung läſst sich aber mit dem Inhalte der Lex nur dann in Einklang bringen, wenn man an den fränkischen König Chlothar IV. denkt, welcher 717—719 regierte. Nur Chlothar IV. kann unter den fränkischen Königen dieses Namens Zeitgenosse Herzog Lantfrids gewesen sein. Die Nachricht des längeren Prologs macht es daher wahrscheinlich, daſs die Lex Alamannorum in den Jahren 717—719 ent-


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§ 41. Pactus und Lex Alamannorum.

standen sei14). Hält man sie für unglaubwürdig, so muſs man sich mit der Thatsache zufrieden stellen, daſs die Lex in der Regierungszeit Herzog Lantfrids abgefaſst worden sei.

Die Lex Alamannorum zerfällt ihrer Anordnung nach in drei Abschnitte. Der erste Abschnitt, Kapitel 1—23, behandelt die causae ecclesiae. Den Beginn des zweiten Abschnittes (Kapitel 24—44) bezeichnen die Worte: causae, qui ad duce pertinent. Mit Kapitel 45 beginnt ein dritter Abschnitt: causae, qui saepe solent contingere in populo. Es ist nicht unwahrscheinlich, daſs bei der Redaktion dieser drei Abschnitte verschiedene Arbeitskräfte thätig waren, indem bei Abfassung des ersten die Geistlichkeit hervorragend beteiligt war, während bei Abfassung des dritten Abschnittes die alamannischen iudices das erste Wort führen mochten.

Der Satzung Lantfrids haben die Kapitel 98—104 ursprünglich nicht angehört. Sie stammen aus dem Pactus Alamannorum und wurden von den Abschreibern der Lex zur Ergänzung derselben aus dem Pactus herübergenommen, indem sie dabei jene Stellen auswählten, von welchen sie sich nicht zum Bewuſstsein brachten, daſs sie durch die Lex obsolet geworden waren.

Zum Pactus verhält sich die Lex, abgesehen von der erwähnten Ergänzung, ziemlich selbständig. Auch wo der Inhalt der Rechtssätze übereinstimmt, ist die Fassung der Lex unabhängig von dem Wortlaute des Pactus. Kapitel 78 und 79 sind dem Pactus entlehnt. Vielleicht wurden sie nachträglich eingefügt. Auch von dem Kapitel 93, welches vorausgehende Rechtssätze wiederholt, ist es unsicher, ob es der Lex ursprünglich angehört habe.

In den jüngeren Handschriften hat die Lex Zusätze aufgenommen und Veränderungen erlitten, welche der Fortbildung des alamannischen Rechtes unter den Karolingern entsprechen.

14) Die Notiz über die Anwesenheit von 33 Bischöfen, 34 Herzogen und 65 Grafen ist durch ein Miſsverständnis in den längeren Prolog geraten. Sie kann keinen Bezug haben auf die Geschichte der Lex, da das schwäbische Stammesgebiet, an welches bei einer alamannischen Stammesversammlung ausschlieſslich gedacht werden kann, niemals eine so groſse Zahl von Groſsen jenes Ranges besaſs. In Kod. A findet sich hinter Tit. 97 unmittelbar vor dem Pactus Alamannorum der Vermerk: ubi fuerunt 33 duces et 33 episcopi et 45 comites. Diese zum Pactus gehörige Notiz ist in den Prolog der Lex aufgenommen worden. Daſs sie sich ursprünglich auf den Pactus bezog, kann bezweifelt werden. Vielleicht hat sie einstens die Schluſsbemerkung eines dem Pactus voraufgehenden fränkischen Reichsschlusses gebildet und ist dann an der Spitze des Pactus hängen geblieben.


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§ 42. Die Lex Baiuwariorum.

Ausgaben: Merkel in Mon. Germ. LL III 183 ff. v. Mederer, Leges Baiuwariorum oder ältestes Gesetzbuch der Baiuuarier (mit Übersetzung und Anmerkungen, auf Grundlage der Ingolstädter Handschrift), 1793. Litteratur: P. Roth, Über Entstehung der Lex Baiuvariorum, 1848. Merkel, Das bairische Volksrecht, in Pertz’ Archiv XI 533 ff., 1858. De Pétigny, De l’origine et des différentes rédactions de la loi des Bavarois, Revue hist. de droit fr. et étr. II 305, 1856. Gfrörer, Zur Gesch. der deutschen Volksrechte I 322, 1865. A. Quitzmann, Die älteste Rechtsverfassung der Baiwaren, 1866. P. Roth, Zur Gesch. des bayr. Volksrechts, 1869. F. v. Muth, Das bair. Volksrecht, 1870. Waitz in den Nachrichten der Göttinger Gesellsch. d. Wissensch. 1869 Nr 8 u. 14 und Verfassungsgeschichte II 1 S 116. Riezler, Über die Entstehungszeit der Lex Baiuw., in den Forschungen zur deutschen Gesch. XVI 409 ff. Mutzl, Die Lex Baiw. als geschichtliche u. sprachliche Urkunde, 1859 (unbedeutend).

Über die Entstehungsgeschichte des bairischen Volksrechtes gehen die Ansichten weit auseinander. Manche betrachten die Lex als ein einheitliches Ganzes und als das Ergebnis einer einmaligen Satzung1). Dagegen zerlegt sie die herrschende Ansicht2) in drei oder mehrere Satzungen verschiedener Entstehungszeit, wobei wieder hinsichtlich des Umfangs und der Datierung der einzelnen Bestandteile die erheblichsten Meinungsdifferenzen obwalten.

In der handschriftlichen Überlieferung3) findet die herrschende Theorie keine Stütze. Sie zieht denn auch ihre Schluſsfolgerungen nur aus dem Inhalte der Lex4). Dieselbe enthält nämlich zahlreiche Stellen in welchen das alamannische, andere in welchen das westgotische Volksrecht benutzt ist, während in den zwei ersten Titeln

1) So Eichhorn und die ältere Litteratur; von den Neueren bes. Waitz.

2) Hauptsächlich durch Roth und Merkel vertreten.

3) Unter den Handschriften geht nur Kod. B 1 (Münchener Universitätsbibliothek, früher in Ingolstadt) in das ausgehende 8. Jahrh. hinauf. Wenig Ausbeute verspricht der Text des jüngst zu Klitschdorf aufgefundenen Kodex (s. oben S X).

4) Ohne sie als verschiedene Satzungen zu unterscheiden hat Merkel drei Textformen, einen textus primus in 22 Titeln, einen textus secundus in 54 Titeln und einen textus tertius in 21 Titeln abgedruckt. Von dem textus primus schied er fünf appendices aus. Aber nur eine derselben, app. II, kann als jüngerer Zusatz gelten. Die übrigen vier Anhänge gehören zum ursprünglichen Text. Textus secundus giebt an einzelnen Stellen bessere Lesarten wie I und III, so in den Buſszahlen V 7 (vgl. IV 11, VI 7) und VI 6. Den dritten Text sollen die jüngere Sprache und die Stellung einzelner Titel charakterisieren. Ein sichtlicher Grund liegt für die Scheidung der drei Textformen nicht vor. Als solcher kann insbesondere die Verschiedenheit der Texteinteilung und der Titelrubriken nicht gelten. Denn die Einteilung in Titel ist der Lex nicht ursprünglich, sondern erst nachträglich von den Schreibern der Handschriften und zwar in verschiedener Weise durchgeführt worden.


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§ 42. Die Lex Baiuwariorum.

der Einfluſs der fränkischen Herrschaft stark hervortritt. Deshalb glaubt man einen ältesten Bestandteil, bairisch-alamannisches Recht enthaltend, eine zweite auf westgotischem Rechte fuſsende Satzung und eine dritte unter fränkischem Impuls entstandene Gesetzgebung unterscheiden zu müssen. Die erste Satzung wird der Zeit Theoderichs I. oder Childeberts II. oder Chlothars II. oder Dagoberts I., die zweite der Zeit Dagoberts I.5) oder dem Ende des siebenten oder dem Anfang des achten Jahrhunderts, die dritte dem Anfang oder der Mitte des achten Jahrhunderts zugeschrieben.

Die Unterscheidung von drei Satzungen hält einer näheren Prüfung nicht stand. Das alamannische Volksrecht ist in jeder der drei angeblichen Massen des Baiernrechtes benutzt worden6), und zwar in der Form, die es durch die Satzung Lantfrids erhalten hatte7). Die Übereinstimmung tritt im Wortlaut und in der Anordnung der Rechtssätze, in den Buſszahlen und namentlich in der Entlehnung althochdeutscher Wörter hervor, durch welche die Lex Alamannorum ihren lateinischen Text erläutert. Besonders enge schlieſst sich Titel IV der Lex Baiuwariorum, welcher die Gliederbuſsen freier Leute normiert, an das alamannische Vorbild an. Seltener und freier wird die Benutzung der Lex Alamannorum von Titel VII ab. Eine sorgfältige und umsichtige Umarbeitung der alamannischen Vorlage verraten Titel I und II der bairischen Lex8).

Der Anschluſs an westgotisches Recht findet sich in den meisten Titeln der Lex Baiuwariorum. Frei sind davon nur die Titel, welche von Wergeldern und Wundbuſsen (III—VI), von Hausfriedensbruch (XI), von dem altbairischen Rechtsgang, von Unthaten an Leichen, von getöteten Hunden und Falken (XVII—XXI) handeln9). Das west-

5) Diese Zeitangaben stützen sich auf die Nachrichten des sog. Prologs zur Lex Baiuw. (s. oben S 288).

6) Die Parallelstellen verzeichnet Merkel, LL III 213 f.

7) Stobbe, RQ I 157 findet Anklänge an den Pactus und schlieſst daraus, daſs dieser Teil der Lex vor Chlothar II. entstanden sei. S. dagegen Roth, Zur Gesch. des bayr. Volksrechts S 5 f. Wenn in der That einzelne Stellen dem Pactus näher stünden als der Lex (in Lex Baiuw. IV 14, IV 18 stimmen die zwei Buſszahlen mit Pactus II 3 und III 28 überein), so läge die Annahme nahe, daſs man bei Abfassung des Baiernrechtes eine Handschrift der Lex Alamannorum benutzte, welcher jene Stellen des Pactus oder der ganze Pactus angehängt waren.

8) So ist in Lex Baiuw. I 1, betr. die Schenkungen an Kirchen, auf das bairische Beispruchsrecht der unabgeschichteten Söhne Rücksicht genommen, wird ferner unter den Personen, welche die Schenkung nicht anfechten dürfen, neben dem dux der rex genannt und wird die fränkisch-alamannische carta durch die bair. epistola ersetzt.

9) Auch in Tit. I und II ist westgotisches Recht benutzt; I 4 verrät die Be-


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§ 42. Die Lex Baiuwariorum.

gotische Gesetzbuch hat den Verfassern des Baiernrechtes in der Form der Leges antiquae vorgelegen und zwar in jener Form, die es unter König Eurich erhalten hatte10). In den Gebieten Galliens, die das westgotische Reich infolge der Niederlage Alarichs II. hatte aufgeben müssen, waren die westgotischen Leges antiquae nach wie vor in Kraft geblieben, auch nachdem im Westgotenreiche unter König Reckessuinth die älteren westgotischen Königsgesetze durch die Lex Wisigothorum ersetzt worden waren. Die Redaktoren der Lex Baiuwariorum haben die westgotische Rechtsquelle im allgemeinen mit Maſs und Verständnis benutzt. Soweit sie positive Rechtssätze entlehnten, wuſsten sie Widersprüche gegen jene Bestimmungen ihrer Lex zu vermeiden, welche einheimisches Recht enthielten oder dem alamannischen Volksrechte entstammten11). Als auffallend erscheint bloſs die Aufnahme der dem bairischen Rechte fremdartigen Beweisregel des Westgotenrechtes, dass der Eid nur in Ermangelung anderen Beweismaterials zugelassen werden solle, eines Grundsatzes, der bei

nutzung von Lex Wisig. VII 3, 1 (nach Cod. Legion. Antiqua). Vgl. ferner II 5 mit Lex Wisig. VIII 1, 9; II 17, 18 mit Lex Wisig. II 1, 20.

10) Über die Gesetze König Eurichs, die uns in einer Anzahl von Fragmenten überliefert sind, s. unten § 43. Vergleicht man die Lex Baiuw. mit den Fragmenten und mit der Lex Wisig., so zeigt sich, daſs sie mit ersteren nicht nur in der Anordnung übereinstimmt (Fr. 286—297 finden sich in Lex Baiuw. XVI 2—10 in derselben Reihenfolge), sondern daſs sie auch dem Wortlaut der Fragmente viel näher steht wie jener Fassung, welche die Leges antiquae in der Lex Wisig. erhielten. Zu Lex Baiuw. XVI 3 findet sich die Parallelstelle nur in Fr. 287, nicht in der Lex Wisig. (aufgehoben von Chindasuinth Lex Wisig. V 4, 13). Von den korrespondierenden Stellen des bairischen und des westgotischen Gesetzbuchs ist uns etwa die Hälfte aus den Fragmenten bekannt. Die übrigen finden sich nur in Titeln der Lex Wisigothorum, von welchen die meisten die Überschrift Antiqua tragen, während einige keine Inskriptio oder handschriftlich unsichere Inskriptionen haben.

11) Solche Widersprüche behauptet Roth, Zur Gesch. des bayr. Volksr. S 8 f. Er führt an Lex Baiuw. IX 4 u. XVI 5. Allein IX 4 aus Lex Alam. 46 behandelt das Verhältnis des Verkäufers zum Verkauften, XVI 5 aus Fr. 290 auch das des Verkäufers zum Käufer. Die dem letzteren zu zahlende poena dupli war im Titel de furto zu erwähnen kein Anlaſs. Ferner IX 7 u. IX 14. Ein Widerspruch liegt nicht vor, da die erste Stelle den unwissentlichen, die zweite den wissentlichen Ankauf einer gestohlenen Sache behandelt. Ebensowenig widersprechen sich XVI 1 und XVI 4, denn die duo consimiles in 1 vertreten die poena dupli in 4. Auch die Bestimmungen über Abtreibung der Leibesfrucht VIII 19. 20 vertragen sich mit einander: VIII 19 statuiert die Zahlung des Wergelds; VIII 20 sagt wie es bezahlt wird, nämlich 12 solidi sofort, das übrige durch eine jährliche Buſse von 1 solidus, zu welcher der Verbrecher und seine Nachkommen bis in das siebente Glied verpflichtet sind, donec series rationabiles inpleatur.


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§ 42. Die Lex Baiuwariorum.

dem Zuschnitt des bairischen Rechtsgangs auf den Fall der handhaften oder notorischen Missethat eingeschränkt werden muſs12).

Die Titel I und II, welche angeblich einer dritten Satzung ihre Entstehung verdanken, behandeln die Stellung der Kirche und des Herzogs und sind nach dem Vorbilde der Lex Alamannorum an die Spitze des bairischen Volksrechtes gestellt worden. Daſs sie den übrigen Titeln der Lex in einer gewissen Selbständigkeit gegenüberstehen, beruht auf den Rechtsverhältnissen, die sie zu normieren bestimmt sind. Gerade in den Materien des öffentlichen Rechtes muſste der fränkische Einfluſs zu einer Zeit, da Baiern denselben nicht abzuwehren vermochte, sich besonders geltend machen. Bei der Abfassung der kirchlichen Kapitel war die Geistlichkeit thätig13), bei der Redaktion der staatsrechtlichen Vorschriften dürften Organe der fränkischen Regierung beteiligt gewesen sein. Titel III, welcher das Wergeld des Herzogs und des Adels normiert, ist sogar im Namen des fränkischen Königs abgefaſst. Dagegen wurden das Strafrecht, das Privatrecht und der Rechtsgang als interne bairische Angelegenheiten ausschlieſslich von einheimischen Kräften redigiert und zwar mit Hilfe der bairischen iudices, deren Zuziehung in Fragen des Rechtsgangs eine Stelle der Lex ausdrücklich bezeugt14). Nichts spricht dafür, daſs die zwei ersten Titel später entstanden seien wie die übrige Lex, denn die Widersprüche, die man in ihnen zu angeblich älteren Rechtssätzen glaubte entdecken zu können, halten einer näheren Prüfung nicht stand15) oder sind so unerheblich, daſs sie sich mit der Annahme einer gleichzeitigen Redaktion sehr wohl vertragen16).

12) Offenbar wollte man in IX 17 eine der Lex Alam. 42 entsprechende Vorschrift im Anschluſs an den Wortlaut der westgotischen Vorlage formulieren. Die Stelle benutzt sowohl die alamannische als auch die westgotische Lex. Vgl. Lex Wisig. II 1, 22. Übrigens kommt auch in Betracht, daſs sie im Titel de furto steht.

13) Das zeigen die Beziehungen auf die Bibel und die Canones. Über das Verhältnis zwischen I 12 und Brev. Cod. Theod. XVI 1 c. 6 oder c. 42 des vierten Konzils von Toledo s. Loening, Kirchenrecht II 325.

14) Lex Baiuw. XVII 5: sed hic discordant nostri iudices de pacto.

15) Besonderes Gewicht legt man auf den Umstand, daſs II 1. 2 für Tötung des Herzogs die Todesstrafe anordnet, während III 2 ein Wergeld des Herzogs kennt. Allein eine ähnliche Antinomie weisen auch Lex Alam. 24 und 11, 2 auf. Trotz der Todesstrafe blieb das Wergeld praktisch für die Fälle, daſs die Tötung eine kasuelle war oder der Totschläger das kirchliche Asyl erreichte (vgl. I 7, 2) oder die Todesstrafe nicht zur Vollstreckung kam. Roth, Zur Gesch. des bayr. Volksr. S 4 und Riezler a. O. S 436 sehen einen Widerspruch zwischen I 3 und IX 2 hinsichtlich der Eidhelferzahlen. Allein IX 2 handelt vom Diebstahl, der in einer Kirche begangen wird. Wer bestohlen wurde ist gleichgiltig. I 3 betrifft den Diebstahl an Sachen der Kirche. Wo sie gestohlen wurden ist gleichgiltig.

16) [zu S 316] Lex Baiuw. I 4 setzt eine Buſse von 12 solidi, XIII 9 eine Buſse von 24 solidi, wenn man einer ancilla zur Flucht verhilft. In I 4 müſste man nach dem I 6 ausgesprochenen Grundsatz eine höhere Buſse erwarten. Jedenfalls enthält I 4 nicht das jüngere Recht, sondern liegt nur ein Redaktionsversehen vor.


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§ 42. Die Lex Baiuwariorum.

Können wir nach alledem die Lex Baiuwariorum, welche sich vor den übrigen Volksrechten gerade durch ihren einheitlichen Charakter auszeichnet, als das Ergebnis einer einzigen Satzung betrachten, so läſst sich auch die Zeit ihrer Abfassung mit ziemlicher Genauigkeit bestimmen. Sie ist jedenfalls jünger wie die unter Herzog Lantfrid († 730) abgefaſste Lex Alamannorum. Sie muſs unter einem Vorgänger Tassilos III., also vor 749 entstanden sein. Denn in den Beschlüssen der Aschheimer Synode wird sie dem Herzog Tassilo gegenüber von den Bischöfen als precessorum vestrorum depicta pactus bezeichnet17). Die Lex ist nicht vor 739 abgefaſst worden; denn in diesem Jahre organisierte Bonifazius die bairische Kirche, indem er mit Zustimmung des Herzogs Odilo drei neue Bischöfe setzte, während es vorher in Baiern nur einen Bischof gegeben hatte. Die Lex setzt aber eine Mehrheit von Bischöfen voraus18). Zur Zeit da die Lex entstand, gab es einen fränkischen König, ein Umstand, der die Jahre von 739 bis 743 ausschlieſst. Das bairische Herzogtum muſs sich damals in strammer Unterordnung unter die fränkische Staatsgewalt befunden haben. Ein solches Verhältnis existierte in den Jahren 744 bis 748. Herzog Odilo von Baiern hatte sich vergeblich gegen die Söhne Karl Martells aufgelehnt. Als es ihm nach seiner Niederlage gelungen war, sich mit ihnen wieder auszusöhnen, wurde er 743 oder 744 wieder in sein Herzogtum eingesetzt, welches er dann bis zu seinem Tode (748) verwaltete19). In dieser Zeit der Abhängigkeit muſs unter Beteiligung der fränkischen Staatsgewalt die Satzung des Baiernrechtes vor sich gegangen sein.

Für eine frühere Entstehung hat man insbesondere geltend gemacht, daſs das westgotische Gesetzbuch in der Form der Leges

Unter den res ecclesiae werden hier noch genannt caballus, bos, vacca, die man kaum in einer Kirche zu stehlen Gelegenheit hatte. Übrigens hat I 3 nicht, wie Roth meint, die Tendenz die Eidhelferzahlen zu vermindern, sondern sie zu erhöhen. Vgl. Lex Alam. Lantfr. 85.

17) LL III 457 c. 4.

18) Lex Baiuw. I 10: in usu ecclesiae ipsius, ubi pontifex fuit; I 11: episcopus civitatis illius; I 13: ab episcopis iudicentur. Sieht man von diesem Argumente ab, so könnte auch die Zeit in Betracht kommen, als Hukpert, der Schützling Karl Martells, 725—736 das Herzogtum inne hatte.

19) Schon in meiner Abhandlung Mithio und Sperantes S 13 Anm 2 habe ich die Entstehung der Lex Baiuwariorum unter Odilo angedeutet.


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§ 42. Die Lex Baiuwariorum.

antiquae und nicht in der Form der Lex Wisigothorum benutzt worden ist, wie sie unter König Reckessuinth zustande gekommen war. Die Erklärung dieser Thatsache ist in dem Umstande zu suchen, daſs in den westgotischen Teilen Galliens, welche Chlodovech und welche die Ostgoten erworben hatten, die Gesetzgebung der Nachfolger Alarichs II. nicht in Kraft getreten ist, sondern nur eine Sammlung westgotischer Königsgesetze in Gebrauch geblieben sein kann, welche vor dem Tode Alarichs II. ausgearbeitet worden war. Die einzige Konstitutionensammlung, welche vor dieser Zeit im Westgotenreiche promulgiert wurde, war die des Königs Eurich. Ein Kodex, der die Sammlung Eurichs enthielt, muſs in die Hände der Redaktoren des Baiernrechtes gelangt sein. An Beziehungen der Baiern zu Gallien fehlt es nicht. Baiern fochten in Aquitanien. Eine vereinzelte Notiz besagt, daſs Odilo nach seiner Niederlage längere Zeit in Gallien verweilt habe20).

Gegen die Entstehung der Lex in den Jahren 743—748 kann auch nicht ins Treffen geführt werden, daſs ihr in zahlreichen Handschriften die Notiz vorausgeschickt wird: hoc decretum apud regem et principibus eius et apud cuncto populo christiano qui infra regnum Mervungorum consistunt. Daſs man das fränkische Reich, als es im Namen eines Merowingers regiert wurde, regnum Mervungorum nannte, hat nichts Auffallendes an sich. Der Ausdruck regnum Francorum wäre an der Spitze einer bairischen Lex minder passend gewesen. Die Satzung ist ohne Zweifel mit Zustimmung der Hausmeier und des von ihnen eingesetzten Königs zustande gekommen.

In der Zeit Tassilos III. erscheint die Lex Baiuwariorum bereits als ein in sich abgeschlossenes Gesetzbuch. Die oben erwähnte Aschheimer Synode von 756 zitiert sie als Pactus. In einer Urkunde von 772 wird sie als Baioariorum lex atque pactus erwähnt21). Das Schicksal anderer Volksrechte, deren ursprüngliche Anlage durch Einschiebung von Novellen zerstört wurde, ist ihr erspart geblieben. Nur sehr wenige Stellen der Lex Baiuwariorum haben den Charakter nachträglich eingefügter Novellen22).

20) Breves Notitiae Salzb. ed. Keinz VII 5, S 33: in illis quoque temporibus Otilo dux expulsus ab aemulis suis de Bavaria fuit cum domino Pipino rege (!) in Francia multis diebus. Inde reverso et accepto ducatu suo tradidit … VIII 1: in peregrinatione Otilonis ducis fuit cum eis quidam presbyter, capellanus eius, Ursus nomine.

21) Meichelbeck, Hist. Fris. I Nr 27.

22) Als Novelle stellt sich Lex Baiuw. IV 31 dar, betreffend die Tötung eines peregrinus. Während IV 30 dieses Verbrechen mit der duplex compositio und einer an den Herzog zu zahlenden Buſse von 160 solidi bestraft, setzt IV 31 eine com-


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§ 42. Die Lex Baiuwariorum.

Aus der Zeit Tassilos III. und Karls des Groſsen besitzen wir eine Anzahl bairischer Rechtsquellen, welche in den Körper der Lex nicht mehr aufgenommen worden sind, nämlich:

1. Die Dingolfinger Dekrete von 772, Beschlüsse einer zu Dingolfing unter der Leitung Tassilos23) abgehaltenen Versammlung, gewissermaſsen eine bairische carta libertatis, in welcher mit Bezugnahme auf die Lex Baiuwariorum bestimmte Forderungen der Kirche, des Adels und des Volkes sichergestellt wurden24).

2. Die Neuchinger Dekrete „de popularibus legibus“, eine inhaltreiche Novelle zur Lex Baiuwariorum, welche aus den Beschlüssen einer in den Jahren 774 oder 775 unter Tassilo zu Neuching abgehaltenen Versammlung hervorging und helles Licht wirft auf einzelne Materien des bairischen Rechtes, über welche die Lex uns im dunkeln läſst25).

Sowohl die Dingolfinger als auch die Neuchinger Dekrete bilden handschriftlich einen Anhang der Lex. In der Ingolstädter Handschrift und in einigen anderen Handschriften sind einzelne Kapitel der Neuchinger Dekrete in den Text der Lex eingefügt worden.

3. Ein Kapitular zur Lex Baiuwariorum von Karl dem Groſsen aus den Jahren 801—813, welches die fränkischen Bannfälle in das bairische Volksrecht einführt26).

4. Das Capitulare Baiwaricum, eine königliche Instruktion für bairische Missi, die um das Jahr 810 entstanden sein dürfte27).

Privatarbeit unbestimmter Entstehungszeit ist eine Vergleichung der Lex Baiuwariorum mit der Lex Alamannorum. Sie zählt 41 der letzteren eigentümliche Rechtssätze auf, welche der ersteren fehlen28).

positio von 100 solidi fest und ist im übrigen das Vermögen des Totschlägers de iure dem Herzog verfallen. Diese Bestimmung widerspricht aber dem in Lex Bai. III 1, VII 4 ausgesprochenen Grundsatz. Erst das Dingolfinger Dekret setzte in c. 9 Vermögenskonfiskation auf Tötung eines homo principis sibi dilectus. Das ist IV 31 auf den Pilger ausgedehnt, der als Schützling des Herzogs gedacht wird. Sonach ist IV 31 jünger wie die Lex Baiuw. Eine nach Tassilos Sturz entstandene Novelle ist Merkels Appendix II. S. oben S 313 Anm 4.

23) Haec sunt decreta, quae constituit sancta synodus in loco qui dicitur Dingolvinga domino Tassilone principe mediante.

24) LL III 459.

25) LL III 464.

26) Cap. I 157.

27) Cap. I 158.

28) LL III 172.


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§ 43. Die Leges Wisigothorum.

Die Pariser Fragmente sind herausgegeben von Bluhme u. d. T.: Reccaredi Wisigothorum regis antiqua legum collectio, 1847 (auch als Beilage zu dessen Textkritik des Westgotenrechts 1872). Dazu Anschütz, Der Palimpsest der Lex Wisigothorum, in Pertz’ Archiv XI 215. Für die Lex Wisig. fehlt es an einer kritischen Ausgabe. Von den vorhandenen Ausgaben sind zu erwähnen P. Pithous, Codicis legum Wisigothicarum libri XII, Paris 1579, die in Lindenbrogs Codex legum antiquarum, 1613, die bei Bouquet, Recueil des historiens des Gaules tom. IV, die Madrider Ausgabe, Fuero Juzgo en Latin y Castellano 1815, durch unerhebliche Zuthaten vermehrt in Portugaliae Monumenta historica, Leges vol. I, Olisiponae 1856. Am leichtesten zugänglich ist der Abdruck bei Walter, Corpus iur. germ. I 417. Über den Wert oder vielmehr Unwert der vorliegenden Ausgaben s. Bluhme, Textkritik. — Eine bisher unbekannte westgotische Rechtsquelle edierte A. Gaudenzi, Un antica compilazione di diritto Romano e Visigoto con alcuni frammenti delle legge di Eurico, 1886, abgedruckt im NA XII 390. Litteratur: A. Helfferich, Entstehung u. Gesch. des Westgothenrechts, 1858. Merkel bei Savigny, Gesch. des röm. Rechts VII 42 ff.; derselbe in der Z f. DR XII 281. Gaupp, Über das älteste geschriebene Recht der Westgothen, in dessen germanist. Abhandl., 1853, S 27. Hänel in seiner Ausg. der Lex Rom. Visig. S XCVI. De Pétigny, De l’origine et des différentes rédactions de la loi des Wisigoths, in Revue hist. de droit français et étr. I 209. Bluhme, Zur Textkritik des Westgothenrechts, 1872. Dahn, Westgoth. Studien, 1874. v. BethmannHollweg, Civilprozeſs IV 208. Waitz, Die Redaction der Lex Wisig. von König Chindasuinth, in den Nachr. der Göttinger Gesellsch. der Wissensch. 1875 Nr 15. Schmeltzer, Die Redactionen des Westgothenrechts durch die Könige Chindasuinth und Reccessuinth, Z2 f. RG II 123. A. Gaudenzi, Un antica compilazione. Zeumer, Eine neu entdeckte westgoth. Rechtsquelle, NA XII 389.

Die Lex Wisigothorum ist eine amtliche Sammlung westgotischer Königsgesetze, welche in Bücher, Titel und Kapitel zerfällt. Die einzelnen Kapitel haben Überschriften (inscriptiones), worin die Herkunft der darin enthaltenen Gesetze bezeichnet wird. Diese Inskriptionen sind zweifacher Art. Entweder nennen sie den Namen des Königs, von welchem die Lex herrührt, oder sie bezeichnen die Lex als Antiqua oder Antiqua noviter emendata. Der Unterschied markiert den Gegensatz einer älteren und einer jüngeren Periode der westgotischen Gesetzgebung, welche die folgende Darstellung auseinander zu halten hat.

1. Die Pariser Fragmente und die Leges antiquae. In einem Pariser Palimpsest sind uns 55 teilweise verstümmelte Kapitel einer westgotischen Gesetzsammlung erhalten 1. Dieselbe muſs ziem-

1 Paris, St. Germain 1278, ehemals zu Corbie. Die neuere Schrift enthält den Hieronymus und Gennadius, De viris illustribus, in merowingischer Kursive vom Ende des 7. Jahrh. Pertz, Archiv VII 718.


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lich umfangreich gewesen sein, denn die überlieferten Bruchstücke stammen aus der Reihe der Kapitel 276—336. Die meisten Fragmente begegnen uns mehr oder minder umgearbeitet und in anderer Anordnung in der Lex Wisigothorum unter der Überschrift Antiqua, die übrigens noch bei zahlreichen Gesetzen erscheint, welche uns in den Pariser Fragmenten fehlen.

Die Entstehungszeit der Sammlung, welcher die Pariser Fragmente angehören, ist streitig. Was uns über die ältere westgotische Gesetzgebung berichtet wird, beschränkt sich auf spärliche Angaben. Einzelne Gesetze scheint nach ihnen schon Theoderich I. (419—451) oder Theoderich II. (453—466) gegeben zu haben 2. Doch ist die Erinnerung an diese Gesetze im Westgotenreiche früh entschwunden; denn Bischof Isidor von Sevilla († 636) bezeichnet bestimmt den König Eurich (466—484) als den ersten Gesetzgeber der Westgoten 3. Eine Verbesserung und Ergänzung der Gesetze Eurichs hat, nach demselben Isidor, der westgotische König Leovigild († 586) vorgenommen 4. Auſserdem berichtet noch eine späte und nicht sehr lautere Quelle, die Weltchronik des Lukas von Tuy († 1250), König Reccared I. (586—601) habe im sechsten Jahre seiner Regierung die gotischen Gesetze in knapperer Fassung zusammenstellen lassen 5.

In den Pariser Fragmenten sehen die meisten den Überrest der angeblich von Reccared I. vorgenommenen Redaktion des Westgotenrechtes 6, andere schreiben sie Alarich II. 7 oder Leovigild 8, dagegen E. Th. Gaupp und Gustav Hänel 9 dem König Eurich zu. Leovigild kann sie nicht verfaſst haben, weil aus zwei Stellen hervorgeht 10, daſs

2 Apollinaris Sidonius sagt in einem vor 468 abgefaſsten Briefe (II 12 éd. Baret) von einem Römer: leges Theodosianas calcans Theodoricianasque proponens. Es ist kein Grund die Nachricht als wertlos zu verwerfen, wie schon Gaupp und Binding bemerkt haben.

3 Chronicon seu hist. Gothorum zu 466 (aerae vulg.): sub hoc rege Gothi legum statuta in scriptis habere coeperunt; nam antea tantum moribus et consuetudine tenebantur. Hispania illustr. III 849.

4 Isidor zu 570 (aerae vulg.): in legibus quoque ea, quae ab Eurico incondite constituta videbantur, correxit; plurimas leges praetermissas adiiciens, plerasque superfluas auferens. Hisp. ill. III 850.

5 Anno regni sui sexto Gothicas leges conpendiose fecit abbreviari. Das. IV 50.

6 So Bluhme, Helfferich, Merkel, Stobbe, Dahn, v. BethmannHollweg.

7 Pétigny, Zöpfl und Walter.

8 So Gaudenzi a. O. S 187.

9 Lex Rom. Visig. S XCVI Anm 31.

10 Nämlich Fr. 277: antiquos uero terminos sic stare iubemus sicut et bonae memoriae pater noster in alia lege praecepit. Ferner ebendaselbst: omnes autem causas

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 21


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der Gesetzgeber Sohn eines westgotischen Königs war, was nicht auf Leovigild, wohl aber auf Eurich, den Sohn Theoderichs I., auf Alarich II., den Sohn Eurichs, und auf Reccared, den Sohn Leovigilds, passen würde. Gegen Reccareds Autorschaft spricht ebenso wie gegen diejenige Alarichs II. das Schweigen Isidors. Will man dieses Schweigen damit erklären, daſs Reccareds Redaktion nur wenig an dem vorhandenen Gesetzesstoff geändert habe 11, so bricht man der Streitfrage die Spitze ab, denn dann müssen die in der Antiqua vorliegenden Rechtssätze in der Hauptsache eben von Eurich oder von Leovigild herrühren.

Reccared war der erste katholische König der Westgoten. Man glaubt, daſs die Begünstigung des Katholizismus für ihn der Anlaſs zu einer neuen Redaktion des Westgotenrechtes gewesen sei, und will in den Pariser Fragmenten die Einwirkung eines 589 auf dem dritten Konzil von Toledo gefaſsten Beschlusses erkennen, indem man annimmt, daſs c. 306 der Fragmente aus Kanon 3 des gedachten Konzils geflossen sei 12. Das Fragment verbietet die Veräuſserung von Kirchengütern ohne Zustimmung aller übrigen Kleriker der Kirche 13, eine Beschränkung, welche nachweislich ein Grundsatz des arianischen Kirchenrechtes war 14. Dagegen sagt Kanon 3 des toledanischen

quae in regno bonae memoriae patris nostri seu bonae seu male actae sunt, non permittimus commoveri. Bei dem Inhalt der beiden Rechtssätze wäre es eine Gedankenlosigkeit sondergleichen gewesen, wenn etwa der Autor der Sammlung ein älteres Gesetz eines Vorgängers mit diesem Wortlaut in dieselbe aufgenommen hätte. Als Autor der Sammlung kann daher füglich nur der Verfasser von Fr. 277 betrachtet werden.

11 So Dahn S 11; v. Bethmann-Hollweg IV 211 Anm 17.

12 Helfferich a. O. S. 45: Das in den Fragmenten (306) durch einen erwünschten Zufall erhaltene alte Gesetz V 1, 3 steht in unverkennbarer Beziehung zu Conc. Tolet. III c. 3.

13 Si quis episcopus uel presb[yter vel clericus] praeter consensum om[nium clericorum aliquid de re]bus aecclesiae uende[derit uel donauerit hoc fir]mum non esse precipimus. Die folgenden Worte: quia secundum canones, sind eine unberechtigte Konjektur Bluhmes.

14 In der Urkunde Marini, Pap. dipl. Nr 119, Spangenberg, Tabulae negotiorum S 266 f. v. J. 551 verkauft der gotische Klerus der heiligen Anastasia zu Ravenna ein Grundstück. Die Verkäufer versprechen ausdrücklich Gewährschaft zu leisten, si forte quis conministrorum nostrorum qui nunc absentes sunt … contra hanc nostram deliverationem temptaverint sive ipsi aut forsitan futurus episcopus. Dieses Gewährschaftsversprechen setzt voraus, daſs die Zustimmung der conministri absentes nötig gewesen wäre und diese de iure den Verkauf anfechten könnten. Theoderichs I. Edikt, LL V 169, welches die Veräuſserung des Eigentums an Kirchengütern schlechtweg verbietet (s. unten § 52), bezieht sich auf die katholische Kirche.


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Konzils nichts von dem Konsens der übrigen Kleriker, sondern beschränkt sich darauf, dem Bischof die Veräuſserungsbefugnis im allgemeinen zu versagen, wogegen ihm in gewissen Fällen Verwendungen aus dem Kirchenvermögen gestattet werden 15. Das Verhältnis der Fragmente zum Konzil von 589 spricht daher mehr gegen als für die Autorschaft Reccareds.

Wenn man die Sprache der Pariser Fragmente vergleicht mit dem Stil der westgotischen Königsgesetze, die noch aus der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts stammen und uns in der Lex Wisigothorum vorliegen, so sticht die knappe Fassung der ersteren scharf ab von der sentenziösen Weitschweifigkeit, die sich in der letzteren breit macht. Wären die Fragmente von Reccared, so müſste es wundernehmen, daſs sich der Stil der Gesetzgebung in so kurzer Zeit so sehr verändert hätte.

Die in den Pariser Fragmenten vorausgesetzten Rechtszustände passen im allgemeinen besser in Eurichs als in Reccareds Zeit. Goten und Römer sind noch streng geschieden. Der Gote erscheint als der Mächtigere. Darum wird verboten, daſs ein Römer ein streitiges Grundstück vor Erledigung des Rechtsstreites einem Goten übereigne. Die durch die gotische Ansiedelung und Landteilung geschaffenen Verhältnisse treten in den sortes gothicae und in der tertia Romanorum noch frisch und anschaulich hervor.

Einzelne Leges antiquae, die uns zwar in den Pariser Fragmenten fehlen, aber in der Lex Wisigothorum vorliegen, haben der burgundischen Gesetzgebung zum Vorbilde gedient, und zwar erscheinen sie als benutzt in jenem Teile der Lex Burgundionum, welcher um 490, jedenfalls nicht nach 501 abgefaſst worden ist 16. Sie müssen also in ihrer ursprünglichen Fassung damals schon vorhanden gewesen sein und können nur einer noch im fünften Jahrhundert entstandenen Sammlung westgotischer Königsgesetze zugeteilt werden.

Für ein über Reccared hinaufreichendes Alter der Pariser Fragmente fällt auch ihr Verhältnis zur Lex Romana Wisigothorum ins Gewicht, einer Sammlung römischer Rechtsquellen, welche König Alarich II. im Jahre 506 für die römische Bevölkerung des Westgotenreiches zusammenstellen lieſs. Rechtssätze römischer Herkunft

15 Conc. Tol. III c. 3: haec s. synodus nulli episcoporum licentiam tribuit res alienare ecclesiae, quoniam et antiquioribus canonibus prohibetur; si quid vero quod utilitatem non gravet ecclesiae pro suffragio monachorum ad suam parrochiam pertinentium dederint, firmum maneat; peregrinorum vero vel clericorum et egenorum necessitati salvo iure ecclesiae praestare permittantur pro tempore quo potuerint.

16 S. unten S 339 f.

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sind in den Pariser Fragmenten sehr stark vertreten 17. Einige sind ihrem Inhalte nach verwandt mit Stellen der Lex Romana Wisigothorum 18, andere mit Stellen der Justinianischen Rechtsbücher 19. Doch liegt nirgends ein derartiger Anschluſs an den Wortlaut der Parallelstellen vor, daſs eine direkte Benutzung derselben behauptet werden könnte 20. Vielmehr läſst die selbständige Formulierung, welche die römischen Rechtssätze in den Pariser Fragmenten gefunden haben, darauf schlieſsen, daſs diese zu einer Zeit entstanden sind, als das römische Rechtsleben des westgotischen Reiches die volle geistige Beherrschung der römischen Rechtsquellen noch nicht verloren hatte. Solche juristische Potenz konnte noch in Eurichs Zeit, aber nicht mehr ein volles Jahrhundert später vorhanden sein. Ja man kann noch weiter gehen und betonen, daſs die Pariser Fragmente noch vor der Lex Romana Wisigothorum abgefaſst worden sind, weil man sonst die in Frage kommenden Rechtssätze, statt sie selbständig zu formulieren, einfach aus der letzteren übernommen hätte.

Stammen die Pariser Fragmente von König Eurich, so sind sie das älteste Denkmal germanischer Gesetzgebung. Eurichs Gesetze

17 S. die Zusammenstellung bei Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 211 Anm 16.

18 Vgl. Fr. 282 und Paulus II 4, 2, Fr. 285 und Interpr. zu C. Th. II 33, 2, Fr. 289 und Interpr. zu Paulus II 17, Fr. 294 und Interpr. zu C. Th. III 1, 7, Fr. 299 und Paulus V 1, 1, Fr. 307 und Interpr. zu C. Th. VIII 5.

19 Fr. 300 über den Verkauf eines Freien, der sich mit dem Verkäufer in den Kaufpreis teilt, ist verwandt mit l. 7 Dig. 40, 12, l. 1 Dig. 40, 13 und Inst. I 3 § 4; Fr. 292 mit Cod. IV 49, 7. In Fr. 280 findet sich das quadruplum als Strafe des Diebstahls aus brennendem Hause wie in l. 1 Dig. 47, 9. Vgl. Savigny II 78 Anm m, welcher der Lex Wis. die Bekanntschaft mit Justinians Rechtsbüchern abspricht, aber S 84 ff. für die Lex Baiuw. wegen XVI 7, wo sie auf die Pariser Fragmente (292) zurückgeht, eine unmittelbare Benutzung des justinianischen Rechtes für wahrscheinlich hält. Übertreibend Roth, Entstehung der Lex Baiuw. S 25 ff.

20 Am nächsten stehen sich Fr. 285: nullus qui pecuniam commendauit ad usuram per annum plus quam tres siliquas de unius solidi poscat usuram … qui si cautionem ultra modum superius conprehensum per necessitatem suscipientis creditor extorserit … und Intr. zu C. Th. II 33, 2: si quis plus quam legitima centesima continet, hoc est tres siliquas in anno per solidum, amplius a debitore sub occasione necessitatis accipere vel auferre praesumserit … Eine Benutzung, wie sie Stobbe S 77 annimmt, scheint mir zweifelhaft. Die Definition der legitima centesima konnte sehr wohl als eine landläufige aufgenommen worden sein. Die Interpr. bestraft den Wucher mit der poena quadrupli, unser Fragment mit dem Verlust der Zinsen. Vgl. Gaupp, Abh. S 35 f. Auch wenn die westgot. Interpr. benutzt wäre, so würde daraus nicht folgen, daſs die Fragmente nach 506 entstanden seien. S. unten § 50 S 360.


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haben unmittelbar oder mittelbar auf die meisten germanischen Leges aus merowingischer Zeit eingewirkt. Schon oben S 301 ist darauf hingewiesen worden, daſs die Verwandtschaft der Lex Salica mit der Lex Wisigothorum aus einer Benutzung der Gesetze König Eurichs zu erklären sei. Wie die Burgunder haben nachmals auch die Baiern 21 die älteste westgotische Gesetzgebung als Vorlage verwertet. Auch der Edictus des Langobardenkönigs Rothari zeigt einige Spuren westgotischen Einflusses.

Im Anschluſs an die Leges Eurici wurde vermutlich noch in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts eine Rechtsaufzeichnung verfaſst, von welcher kürzlich ein Bruchstück in einer ziemlich planlosen Kompilation römischer und westgotischer Rechtsquellen entdeckt worden ist 22. Daſs sie dem Kreise der gotischen Rechtsquellen angehört, beweist der darin genannte Sagio, ein Wort, welches den Gerichtsbüttel bedeutet und nur den Ost- und Westgoten bekannt ist. Mehrfach wird auf ein königliches Edikt verwiesen, indem es heiſst: sicut in edictum scriptum est, secundum edicti seriem, secundum regis edictum, eine Ausdrucksweise, welche den Gedanken ausschlieſst, als ob die erhaltenen Fragmente selbst ein Teil eines königlichen Ediktes seien 23. Die Aufzeichnung stellt sich als eine die Leges Eurici ergänzende Privatarbeit dar 24. Aus Anlaſs des Rechtssatzes, daſs Neffen und Nichten sich in die Erbschaft des Ohms und der Muhme nicht nach Stämmen, sondern nach Köpfen teilen, beruft sie sich mit den Worten: sicut in edictum scriptum est, wahrscheinlich auf Fr. 331 des Pariser Palimpsestes. hauptsächlich römisch-rechtlichen Inhalts benutzt sie die westgotische Interpretatio, während sie an anderen Stellen Rechtssätze aus dem Edikt des Ostgotenkönigs Theoderich aufnimmt 25 und auch unverkennbare Anklänge an burgundische Rechtsquellen verrät 26. Die Rechtsaufzeichnung kann daher nur in Gallien und zwar nur in einem Gebiete entstanden sein, wo westgotisches,

21 Siehe oben S 314 f.

22 In der Bibliothek des Lord Leicester zu Holkham. Der Entdecker, A. Gaudenzi, hat die Handschrift eingehend beschrieben, erörtert und teilweise ediert.

23 Gegen Gaudenzi, der in den Fragmenten Gesetze des Königs Eurich erblickt, s. Zeumer, NA XII 389.

24 Zeumer a. O., nur daſs dieser die Antiqua noch dem König Reccared zuschreibt.

25 Vgl. c. 10 mit Ed. Theod. 2, c. 14. 15 mit Ed. Theod. 51. 52, c. 12 mit Ed. Theod. 131, c. 19 mit Ed. Theod. 80.

26 Cap. 13 vgl. mit Lex Burg. 19, 3. Über Verwandtschaft mit der Lex Rom. Burg. s. Gaudenzi S 28. 29.


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ostgotisches und burgundisches Recht in Geltung getreten waren. Ihre Heimat scheinen jene Teile der Provence zu sein 27, welche 477 unter die Herrschaft Eurichs, dann in vorübergehenden Besitz der Burgunder gelangt waren und 510 oder 523 von den Ostgoten erworben wurden. Gerade die Mannigfaltigkeit der mit dem Wechsel der Herrschaft überkommenen Rechtsquellen muſste hier das Bedürfnis nach einer orientierenden Rechtsaufzeichnung erzeugen.

Die Sammlung, welcher die Pariser Fragmente angehören, darf nicht mit den Leges antiquae der Lex Wisigothorum, das heiſst mit der Gesamtheit der Konstitutionen, die daselbst die Inskription „Antiqua“ aufweisen, identifiziert werden. Der Begriff der Leges antiquae ist ein weiterer, denn er faſst zum mindesten die westgotische Königsgesetzgebung bis zum Ausgange des siebenten Jahrhunderts in sich. Mit welchem Jahre die zeitliche Grenze zu ziehen ist für den Sinn, in welchem die Lex Wisigothorum die Inskription Antiqua anwendet, läſst sich derzeit nicht mit Sicherheit bestimmen, da die aus den vorliegenden Ausgaben und aus Handschriften bekannten Inskriptionen vielfach auseinandergehen und erst eine kritische Ausgabe der Lex in dieser Beziehung feste Grundlagen schaffen dürfte 28. Jedenfalls schlieſsen die Leges antiquae die Gesetzgebung Leovigilds in sich, von welchem uns durch das Zeugnis Isidors sichergestellt ist, daſs er Eurichs Gesetze teils verbesserte, teils beseitigte und durch zahlreiche eigene Gesetze vermehrte. Auch die Gesetze Reccareds I. fallen noch sämtlich oder doch zum gröſsten Teile unter den Begriff der Leges antiquae. Daſs er gesetzgeberisch thätig war, steht fest. Über zwei Gesetze Reccareds haben wir zuverlässige Nachricht 29 und es ist mehr als wahrscheinlich, daſs die unter seiner Regierung erfolgte

27 Und nicht, wie Zeumer annimmt, das östliche Septimanien.

28 Eine Konstitution des Königs Reckessuinth, Lex Wisig. II 1, 5 nennt die leges, quas ab antiquitate ius tenemus, im Gegensatz zu den Gesetzen des Königs Chindasuinth.

29 Ein Gesetz Reccareds I. über den Kindesmord ist uns in den Akten des 3. Konzils von Toledo c. 17 beglaubigt. Ein anderes über die Juden wird in Lex Wisig. XII 2, 13 erwähnt. Verschiedene Handschriften der Lex weisen durch ihre Inskriptionen drei Gesetze dem Reccared zu. Lex Wisig. III 5, 2. VI 5, 5. XII 1, 2 haben in drei spanischen Codices den Namen Reccareds. Gengler, Grundriſs S 133. Wie Bluhme, Textkritik S 18 u. XXVI mitteilt, hat der Cod. Remigianus dreimal den Namen Reccared, nämlich in III 5, 1. XII 1, 2 und XII 2, 12 Lindenbr. Die zwei ersten Gesetze könnten auch von Reccared II. herrühren, der aber 621 nur ganz kurze Zeit regierte, so daſs seine Autorschaft recht unwahrscheinlich ist. Lex Wisig. XII 2, 12 wird durch Sisibuts Gesetz in XII 2, 13 als eine Konstitution Reccareds sicher gestellt.


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Konversion der arianischen Westgoten eine Reihe legislativer Reformen veranlaſste. Daſs aber Reccared eine neue Redaktion der Gesetzsammlung Leovigilds vorgenommen habe, wird durch das unsichere Zeugnis des Lukas von Tuy nicht genügend beglaubigt. Einschneidend kann diese Redaktion Reccareds nicht gewesen sein, weil Isidor, sein Lobredner, darüber schweigt. Wahrscheinlich begnügte sich Reccared damit, seine Novellen der Sammlung Leovigilds anzuhängen. In den vier Dezennien, welche von dem Tode Reccareds bis zum Regierungsantritt des Königs Chindasuinth (641) verflossen, war die Gesetzgebung des Westgotenreiches, wie es scheint, in geringem Maſse thätig. Mit Sicherheit sind nur zwei Judengesetze des Königs Sisibut (612—620) beglaubigt 30. Diese Periode verhältnismäſsigen Stillstandes mag den Anlaſs gegeben haben, daſs man, als die Gesetzgebung seit Chindasuinth wieder in regeren Fluſs gekommen war, den Rechtsstoff, welcher in den vor dieser Zeit abgeschlossenen Sammlungen aufgehäuft war, als Leges antiquae bezeichnete.

2. Das Gesetzbuch Reckessuinths. Die Lex Wisigothorum ist uns in verschiedenen Redaktionen erhalten 31. Die älteste der uns überlieferten Formen stammt von König Reckessuinth, der 649—672 regierte. Ihrer Abfassung ging ein Umschwung in den Zielen der westgotischen Gesetzgebung und in den Rechtszuständen des Reiches voraus, der schon unter dem Vorgänger Reckessuinths, nämlich unter König Chindasuinth (641—652) eingeleitet worden war. Von Chindasuinth besitzen wir in der Lex Wisigothorum zahlreiche Gesetze. Sie erstrecken sich über das gesamte Rechtsgebiet, greifen insbesondere

30 Lex Wisig. XII 2, 13. 14. Unsicher sind die Inskriptionen Gundomar (610—612) Lex Wisig. IV 2, 19, im Codex Leg. als Antiqua, im Remig. u. Vat. auf den Namen Chindasuinths, und Suinthila (621—631) IV 3, 3 (bei Lindenbruch Ant.) und IV 4, 1 (bei Lindenbruch sine inscr.). Siehe Dahn, Studien S 48. 49.

31 Von den spanischen Handschriften der Lex Wisig. sind die von Leon (Codex Legionensis), Alcalá, S. Juan de los Reyes u. Cod. Matrit. S 170 nicht mehr aufzufinden. Die Leoner Handschrift hat der Madrider Ausgabe zur hauptsächlichen Grundlage gedient. Helfferich u. Dahn stellen den Legionensis sehr hoch. Nach Bluhme ist aber seine gröſsere Vollständigkeit nur die Frucht einer kritiklosen Kompilation verschiedener Redaktionen und erscheinen die Inskriptionen dieser Handschrift meistens als ganz gedankenlose Kombinationen. Für die älteste Gestalt der Lex kommen nach Bluhme hauptsächlich der Cod. Vatic. Christ. 1024 und Cod. Par. 4668, früher in St. Remy zu Rheims, daher auch Codex Remigianus, in Betracht, welche die Redaktion Reckessuinths enthalten. Cod. Par. 4418, wahrscheinlich in Lindenbruchs Ausgabe benutzt, bietet nach Bluhme den reinen Text eines von Erwig 682 publizierten Gesetzbuchs. Cod. Par. 4667 sei die Erwigiana in wenig erweiterter Gestalt.


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tief in das Erbrecht, in das Strafrecht und in das Prozeſsrecht ein und machen in diesen Materien den Eindruck einer planmäſsigen und systematischen Reform. Noch in anderer Beziehung trat die westgotische Gesetzgebung seit Chindasuinth in eine neue Phase ein. Früher war sie eine gesonderte gewesen, für die gotische und für die römische 32 Bevölkerung. Chindasuinths Gesetze kennen diesen Gegensatz nicht, sondern wenden sich gleichmäſsig an alle Unterthanen des Reiches 33. Wir besitzen eine Konstitution des Königs Reckessuinth, worin er befiehlt, daſs Gesetze, die sein Vater seit dem zweiten Jahre seiner Regierung erlassen habe, in cunctis personis ac gentibus des ganzen Reiches gelten sollen 34. Daraus ist zu folgern, daſs Chindasuinth seit seinem zweiten Regierungsjahre seine Gesetze als allgemeine Reichsgesetze erlassen hatte, weil anderenfalls die Geltung derselben für alle Unterthanen von Reckessuinth nicht ohne erhebliche Umarbeitung hätte vorgeschrieben werden können. Wahrscheinlich hat Chindasuinth in den Gesetzen seines ersten Regierungsjahres noch den Standpunkt der älteren westgotischen Gesetzgebung eingenommen und dann im zweiten Regierungsjahre eine gröſsere Zahl von Reformgesetzen 35 erlassen, welche ohne Rücksicht auf den Gegensatz der Stammesrechte für alle Unterthanen gelten sollten, indem er zugleich die Gesetze des ersten Jahres auſser Kraft setzte, soweit sie nicht auf Grund einer Revision in die Gesetzgebung des zweiten Jahres herübergenommen worden waren. Eine neue Redaktion der westgotischen Konstitutionensammlung hat Chindasuinth nicht vorgenommen 36, er begnügte sich vielmehr, seine Novellen der Sammlung der

32 S. unten § 50.

33 Lex Wisig. III 1, 5 nimmt Rücksicht auf das römische Dotalrecht. Vgl. etwa noch VI 5, 12.

34 Lex Wisig. II 1, 5: Quoniam novitatem legum vetustas vitiorum exigit et innovare leges veternosas peccaminum antiquitas imperavit, ideo leges in hoc libro conscriptas (Vat. constitutas) ab anno secundo domini et genitoris mei Chindasvindi regis in cunctis personis ac gentibus nostrae amplitudinis imperio subiugatis omni robore ualere decernimus ac iugi mansuras observantia consecramus: ita ut eiectis illis quas non aequitas iudicantis sed libitus impresserat potestatis, evacuatisque iudiciis et omnibus scripturis earum ordinatione confectis, hae solae valeant leges, quas ab antiquitate ius tenemus aut idem genitor noster pro aequitate iudiciorum vel pro austeritate culparum visus est non immerito condidisse, prolatis seu connexis aliis legibus, quas nostri culminis fastigium iudiciali praesidens throno … edidit et formavit ac suae gloriae titulis adnotavit …

35 Aus dem 2. Jahre Chindasuinths stammt Lex Wis. II 1, 7 quantis hactenus, wie der Inhalt in Verbindung mit der zu rektifizierenden Inskription ergiebt.

36 Die Gesetze, welche man dafür geltend macht, Lex Wis. II 1, 9 (al. 8), aliene gentis, II 1, 10, V 4, 22 tragen in den maſsgebendsten Handschriften, näm-


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älteren Königsgesetze anzuhängen 37, die er gelegentlich aufs neue, und zwar in Verbindung mit seinen eigenen Gesetzen promulgiert haben dürfte 38.

Das von Chindasuinth begonnene Werk der Herstellung eines einheitlichen Reichsrechtes hat sein Sohn Reckessuinth, der vier Jahre mit seinem Vater gemeinschaftlich regiert hatte, in der Zeit seiner Alleinherrschaft zu völligem Abschluſs gebracht. In dem Bestreben, Goten und Römer zu einem Volke zu verschmelzen, beseitigte er das zwischen ihnen bestehende Ehehindernis der nationalen Abstammung 39. Andererseits verbot er, daſs bei der Rechtsprechung römische Rechtsquellen angewendet würden, indem er damit die weitere Geltung der Lex Romana Wisigothorum auf hob 40, deren praktische Bedeutung schon durch die Gesetzgebung Chindasuinths eine wesentliche Einbuſse erfahren hatte. Bald nach dem Tode seines Vaters, wohl noch im ersten Jahre seiner Regierung 41, publizierte Reckessuinth eine Sammlung der westgotischen Königsgesetze, welche die Leges antiquae, die Gesetze Chindasuinths und seine eigenen Gesetze in gesonderten Massen enthielt 42, indem er dabei von den Gesetzen seines Vaters diejenigen ausmerzte, die ihm als unbillig und despotisch erschienen.

lich im Cod. Vat. und Remig., den Namen Reckessuinths, wie ich mich durch die Einsicht in den Apparat der Monumenta Germaniae überzeugte, die mir Waitz vor einigen Jahren gütigst gestattete. Vgl. Bouquet zu II 1, 9 Anm b.

37 Chindasuinths Gesetze bildeten neben den Leges antiquae eine gesonderte Masse. In Lex Wis. XII 2, 3 unterscheidet Chindasuinth nostrarum legum edicta und predecessorum nostrorum regum legali serie promulgatas sententias. Beide Massen hält auch die oben Anm 34 zitierte Lex quoniam auseinander.

38 In Lex Wis. V 4, 13 spricht er von der promulgata iuris antiqui sanctio.

39 Lex Wis. III 1, 1.

40 Lex Wis. II 1, 9 (über die Inskriptio Recds s. oben Anm 36): … cum sufficiat ad iustitiae plenitudinem et perscrutatio rationum et conpetentium ordo verborum, quae codicis huius series agnoscitur continere, nolumus sive Romanis legibus sive alienis institutionibus amodo amplius convexari. Gaudenzi a. O. S 59 ff. nimmt die von Daniels I 122 ausgesprochene Meinung wieder auf, daſs die Lex „alienae gentis“ (II 1, 9) nicht das Breviarium, sondern Justinians Rechtsbücher ausschlieſsen wollte. Nach ihm hat schon Reccareds Antiqua (die er von den Pariser Fragmenten unterscheidet) sowohl für die Römer als für die Goten gegolten.

41 Reckessuinth bestimmt in der Lex II 1, 13, welche seiner zweiten Sammlung angehört: illas autem causas, quae antequam istae leges a nostra gloria emendarentur, legaliter determinatae sunt, id est secundum legum modum, qui ab anno primo regni nostri in praeteritis observatus est, resuscitari nullatenus patimur. Dieser Passus ist von Reckessuinths erster Sammlung zu verstehen, welche in der Lex quoniam II 1, 5 die gemäſs Chindasuinths leges eiectae ergangenen Urteile kassiert hatte. S. oben Anm 34.

42 [zu S 329] Siehe Schmeltzer a. O. S 124 f. Das Publikationspatent der ersten Sammlung Reckessuinths ist die Lex quoniam II 1, 5.


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§ 43. Die Leges Wisigothorum.

Im weiteren Verlaufe seiner Regierung hat Reckessuinth seine erste Sammlung einer vollständigen Umarbeitung unterzogen. Ihr Ergebnis ist die Lex Wisigothorum Reccessuinthiana, ein systematisch geordnetes Gesetzbuch, welches in zwölf Bücher und weiter in Titel und Kapitel (erae) zerfällt 43. Anlage und System sind eine Nachahmung der römischen Konstitutionensammlungen, wie sie im Codex Theodosianus und im Codex Justinianus als Vorbilder vorlagen. Mit diesen hat die Lex Wisigothorum auch gemein, daſs den neueren Gesetzen die Namen der Gesetzgeber: Flavius Chindasuinthus rex, Flavius gloriosissimus Reccessuinthus rex vorangestellt sind, wogegen die älteren Stücke 44 unter der Überschrift Antiqua erscheinen. Von den etwa fünfhundert Gesetzen der Lex sind drei Fünftel den Leges antiquae entnommen; in den Rest teilen sich Chindasuinth und Reckessuinth ungefähr zu gleichen Teilen 45.

Bei hoher Geldstrafe verbot Reckessuinth, daſs eine ältere Sammlung westgotischer Königsgesetze vor Gericht produziert werde 46. Den Richtern wurde aufgetragen, in solchem Falle die vorgelegte Handschrift zu zerreiſsen. Gleichzeitig wurde der Preis des Exemplars der neuen Redaktion auf sechs solidi festgesetzt 47.

3. Das Gesetzbuch Erwigs. Eine neue Redaktion der Lex publizierte König Erwig im Jahre 682. Er nahm dabei mehrere Gesetze seines Vorgängers Wamba (672—680) und seine eigenen, darunter zahlreiche Gesetze gegen die Juden in das Gesetzbuch auf. Die Reccessuinthiana und Wambas Gesetze unterzog er einer peinlich sorgfältigen Umarbeitung, indem er an dem Wortschwall der Konstitutionen Kürzungen vornahm und andererseits durch mosaikartige Zusätze eine Menge kasuistischer Details einfügte. Ein Teil der antiquae und die Mehrzahl der neueren Gesetze ist auf diese Weise mit kleinlichen Interpolationen überladen worden 48.

43 Aus Lex Wis. II 3, 4 und VI 2, 5 glaubte man, weil darin andere Stellen der Lex nach Buch, Titel und Era zitiert sind, schlieſsen zu müssen, daſs schon Chindasuinths Sammlung diese Einteilung gehabt habe. Allein diese Zitate stammen nicht von Chindasuinth, sondern von Erwig. S. Bluhme, Textkritik S XXVI, Nachtrag zu S XII. Nach erae zitiert Form. Wisig. 40 und die Rechtsprechung Septimaniens im 9. Jh., z. B. Vaissete, Hist. de Languedoc II Nr 161 v. J. 862.

44 Abgesehen von den oben Anm 29 und 30 angeführten Ausnahmen.

45 S. die Zusammenstellung Bluhmes, Textkritik S XXVI.

46 Lex Wis. II 1, 10. Vgl. Anm 36.

47 Lex Wis. V 4, 22. Später wurde er auf 12 solidi erhöht.

48 Beispiele seiner Methode giebt Bluhme, Textkritik S 23 ff.


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§ 43. Die Leges Wisigothorum.

4. Die Lex Wisigothorum Vulgata. Unter diesem Ausdruck kann man diejenigen Formen der Lex Wisigothorum zusammenfassen, welche jünger sind wie die Erwigiana. Charakteristisch ist den Handschriften der Vulgata, daſs sie einzelne Gesetze Egicas (687—701) in die Lex aufnehmen. Egica war der letzte westgotische König, der eine Umarbeitung der Lex vornahm, wobei er einige der von Erwig ausgemerzten Gesetze restituierte 49. Unerweislich ist die Annahme, daſs schlieſslich auch noch König Witica (701—710) eine neue Redaktion des Gesetzbuches vorgenommen habe.

Nachdem das westgotische Reich von den Arabern gestürzt worden war, erhielt sich die Geltung der Lex Wisigothorum bei der westgotischen Bevölkerung in den südöstlichen Strichen des fränkischen Reiches und in den nördlichen Gebieten Spaniens. König Ferdinand III. von Kastilien und Leon (1229—1234) lieſs für Cordova, wo das alte Gesetzbuch unter der maurischen Herrschaft auſser Gebrauch gekommen war, eine Übersetzung der Vulgata in das Kastilianische veranstalten und publizierte sie als Fuero de Cordova.

Die Entwicklung, welche die westgotische Gesetzgebung vom siebenten Jahrhundert ab durchlaufen hatte, ist ein getreues Spiegelbild der allmählichen Zersetzung, der das westgotische Reich seit der Katholisierung des Volkes anheimfiel. Der steigende Einfluſs, welchen der katholische Klerus auf alle Gebiete des Staatslebens gewann, macht sich in der Berücksichtigung der Konzilienschlüsse und in dem sentenziösen Tone der Gesetze geltend. Die Einheit des Rechtes, wie sie durch die Ausdehnung der Lex auf die römische Bevölkerung hergestellt wurde, hatte eine stärkere Annäherung des Gesetzgebers an das römische Recht und die Entnationalisierung des westgotischen Rechtes zur unvermeidlichen Folge. Trotz der mehrmaligen Revision ist das westgotische Gesetzbuch im allgemeinen ein Denkmal legislativer Unfähigkeit. Sieht man von den Rechtsgedanken ab, welche aus den Leges antiquae stammen, so bleibt als das Werk der jüngeren Gesetzgebung im wesentlichen nur ein kraftloses, gekünsteltes und greisenhaftes Recht, welches aus dem endlosen Schwulst seiner legislativen Einkleidung herauszuschälen eine wenig erquickliche Aufgabe ist.

49 Z. B. Lex Wis. VI 5, 13: invenimus hanc legem iustissime editam iniuste abrasam. Et ideo ego Flavius Egica rex … illo dudum eam iterum ordine introduxi, quo dudum illam praeviam iudicii principalis auctoritas collocavit. Für eine Redaktion Egicas Helfferich und Dahn, Studien. Dagegen Bluhme, Textkritik S 16.


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§ 44. Die Lex Burgundionum.

Herausgegeben in den Mon. Germ. LL III 525 von Bluhme. Die Absicht in einer kleineren Handausgabe zu berichtigen und zu ergänzen, was er für die gröſsere, nicht fehlerfreie Ausgabe nicht zu beschaffen vermochte, hat Bluhme nicht mehr zur Ausführung gebracht. Einen auf Grundlage wichtiger, von Bluhme ungenügend verwerteter Handschriften bereinigten Text giebt Binding in den Fontes rerum Bernensium I, Bern 1880. Litteratur: Türk, Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte, 1829, II 21 ff. v. Savigny, Geschichte des röm. Rechts im Mittelalter, 2. Aufl. 1834, II 1 ff. Gaupp, Die germ. Ansiedlungen S 296 ff. Bluhme, Das westburgund. Reich und Recht, J des gem. deutschen Rechts I 48; derselbe, Der burg. Reichstag zu Ambérieux v. J. 501, a. O. V 207; derselbe, Praefatio in LL III 497 ff.; derselbe, Die neueste Ausgabe der Lex Burg., in v. Sybels hist. Z XXI 234. Binding, Das burgundisch-romanische Königreich, 1868. Hubé, Histoire de la formation de la loi bourguignonne, in der Revue hist. de droit franç. et étr. 1867. Boretius, Über Gesetz und Gesch. der Burgunder, in v. Sybels hist. Z XXI 1 ff. Jahn, Geschichte der Burgundionen, 1874, insbes. II 33 ff. 40. 62 ff. Vor Abfassung dieses Paragraphen haben mir Bindings Vorarbeiten über die Entstehungsgeschichte der Lex Burg. im Manuskripte vorgelegen.

Die Lex Burgundionum, eine amtliche Sammlung burgundischer Königsgesetze, ist zum gröſsten Teile das Werk des Königs Gundobad, welcher im burgundischen Reiche von 474 bis 516 regierte 1. Jahrhunderte hindurch haftete im Gedächtnis der Nachwelt sein Name an der Lex, die nach ihm Liber legum Gundobadi oder Lex Gundobada, Gombata 2 hieſs. Nach ihm wird in karolingischer Zeit das burgundische Recht schlechtweg als Lex Gundobada und werden die nach diesem Rechte lebenden Burgunder als Guntbadingi, Gundobadi bezeichnet 3.

Eine kurze Vorrede, welche Gundobads Namen an der Spitze trägt, berichtet, daſs dieser die Lex aus den Gesetzen seiner Vorfahren und aus seinen eigenen habe zusammenstellen lassen. Zwischen dieser Vorrede und Titel 1 findet sich ein längeres Einführungsgesetz, welches in Titel 81 als prima constitutio zitiert wird. Es enthält An-

1 König Gundobad teilte die Herrschaft anfänglich mit seinen Brüdern Hilperich und Godegisel. Als Hilperich starb, vermutlich gegen Ende der achtziger Jahre, zog Gundobad dessen Anteil an sich. Seit 500 herrschte er als Alleinkönig. Die rechtliche Stellung Gundobads zu seinen Brüdern ist streitig. Jahn will nur Godegisel „als Vasallen“ gelten lassen (I 88. 532. 545), Gaupp, Wietersheim u. Bethmann-Hollweg betrachten sie als Unterkönige. Nach Binding S 121 hätte eine mehr faktische als rechtliche Superiorität Gundobads bestanden.

2 Cap. I 170 pr. Hinkmar, De divortio, interrog. 5, Opera 1645, I 589.

3 Cap. I 58, c. 64 v. J. 789; I 77, c. 45 v. J. 794. Chartularium Langob. (11. Jh.) LL IV 595.


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§ 44. Die Lex Burgundionum.

ordnungen, die eine unparteiische und unbestechliche Rechtspflege sicherstellen wollen, und schärft die Beobachtung der in der Lex vereinigten Gesetze ein. Schlieſslich erklärt der Gesetzgeber, daſs er sein Werk durch die Unterschriften seiner Grafen habe bestätigen lassen. Es folgen denn auch auf die prima constitutio die Handzeichen und Namen von 31 burgundischen Grafen. Wenn die Erklärung so vieler gleichzeitiger Grafen Burgunds auf Schwierigkeiten stöſst, so ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daſs die Handzeichen nicht sämtlich bei der Publikation des Gesetzes, sondern zum Teil nachträglich beigefügt wurden 4, indem man später ernannte Grafen successive bei passendem Anlaſs durch ihre Unterschrift auf das Gesetzbuch verpflichtete.

Gundobads Konstitutionensammlung ist uns nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten. Sie hat durch die Novellengesetzgebung Gundobads und seiner Nachfolger Erweiterungen und tief einschneidende Änderungen erfahren, welche die alte Anlage in Unordnung und Verwirrung brachten.

Von den zwölf überlieferten Handschriften, deren keine über das neunte Jahrhundert hinaufreicht, haben fünf einen Text von 105 Titeln, die übrigen bringen nur 88 Titel oder fügen ihnen eine Anzahl von Nachträgen in verschiedenartiger Anordnung hinzu 5.

Der gesamte handschriftlich überlieferte Stoff der burgundischen Königsgesetze, welche auf die prima constitutio folgen, zerfällt in drei verschiedenartige Massen. Die erste Masse besteht, wenn wir von dem nachträglich überarbeiteten Titel 1 zunächst absehen, aus Titel

4 Wie dies mitunter bei mittelalterlichen Urkunden hinsichtlich der Zeugensigna der Fall war. S. Ficker, Neue Beiträge zur Urkundenlehre, Mitth. des Instituts für österr. Geschichtsforschung I 42.

5 Durch die Ursprünglichkeit des Textes erscheint Cod. K, Paris. 4626, als die beachtenswerteste Handschrift. Er endet hinter Titel 88 mit den Worten: explicit liber legis Salicae. Der mit K verwandte Cod. L hat zwischen Titel 88 und den Nachträgen die Worte: explicit liber legum feliciter. Amen. Cod. M hat einen Index von 88 numerierten Titeln, worauf 19 ungezählte Rubriken folgen. F G H, bei Bluhme Codices decurtati genannt, enthalten nur 88 Titel der Lex. Bluhme hat in seiner Ausgabe die Codices mit 105 Titeln A B C D E in die erste Reihe gestellt und verkennt, daſs die kürzeren Handschriften die Lex richtiger wiedergeben und daſs der „Überschuſs, welchen die reichhaltigeren Handschriften zu gewähren scheinen, zu dem allen Handschriften gemeinsamen Grundstock nicht paſst“: Boretius a. O. S 9. — Herold hat nur einen Teil der Lex (bis 19, 5) abgedruckt. Wahrscheinlich benutzte er eine von Freundes Hand verfertigte Abschrift, der die Schluſsbemerkung: hactenus quae habere potuimus angehörte. Von derselben Hand rührt wohl auch die Bemerkung über die Weglassung der Grafennamen her.


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§ 44. Die Lex Burgundionum.

2—41. Eigentümlich ist ihr die altertümliche Form der Satzung. Die meisten Titel beginnen mit si quis oder quicunque oder ähnlich. Nur selten finden sich Verweisungen auf ältere Gesetze 6 und verhältnismäſsig gering sind die Spuren nachträglicher Einschaltung und Überarbeitung 7. Einen anderen Charakter hat die zweite Masse, der die Titel 42—88 angehören. Die Sprache der Satzung ist minder knapp und liebt es, die einzuführenden Rechtssätze zu motivieren. Viele Konstitutionen, darunter gleich die erste der zweiten Masse, tragen die Datierungszeile an sich 8. Die einzelnen Gesetze geben sich sehr oft durch Wortlaut oder Inhalt als Abänderungen oder Ergänzungen älterer Konstitutionen zu erkennen 9. Die dritte Masse, Titel 89—104, ist ein buntes Gemisch verschiedenartiger Bestandteile. Einzelne Titel erweisen sich als veraltete Gesetze, welche teils Gundobads Redaktion des Corpus constitutionum, teils die Novellengesetzgebung auſser Kraft gesetzt haben mag, so die Titel 90—104 mit der altertümlichen Einkleidung si quis, quicumque. Titel 105 ist ein fremdartiges Einschiebsel. Titel 89 und 109 stammen von Sigismund, dem Sohn und Nachfolger Gundobads, Titel 106 und 108 von Gundobad. Titel 107 enthält die Beschlüsse einer Reichsversammlung, welche zu Ambérieux und zwar wahrscheinlich von Godomar, dem letzten burgundischen Könige, abgehalten worden ist 10. Der Stand der handschriftlichen Überlieferung und der Inhalt der einzelnen Stücke führen zu dem Ergebnis, daſs die Titel 89—109 der Lex niemals angehörten oder aus ihr ausgemerzt worden waren, aber von den Abschreibern in dem Bestreben, den vorhandenen Rechtsstoff möglichst vollständig zusammenzutragen, als Anhänge zugefügt wurden.

6 Tit. 4, 7 verweist auf eine Lex über entlaufene Pferde, die uns nicht mehr erhalten ist. Vermutlich ist die Konstitution gemeint, die der König in Tit. 49, 4 vor Zeiten aufgehoben zu haben erklärt.

7 Über Tit. 1 s. unt. Anm 16. In 2, 1 sind die Worte aut servum regis natione duntaxat barbarum eingeschaltet worden. Denn Tit. 50, 1 kennt für die Tötung des königl. Aktors nicht die Todesstrafe wie 11, 1, sondern ein Wergeld von 150 solidi. In Tit. 14 sind die §§ 5—7 zu Gunsten der Töchter, die den Schleier genommen haben, vermutlich von Sigismund eingefügt worden. Vgl. Bluhme, LL III 558 Anm 39. Tit. 34, 4 ist jünger wie 34, 2: Loening, Kirchenr. II 619 Anm 1; Tit. 36 jünger wie das Concil von Epao; vgl. Loening, Kirchenr. II 547. 548.

8 Datiert sind Tit. 42 vom 3. Sept. 501, Tit. 45 vom 27. Mai 501, Tit. 52 vom 29. März 517, Tit. 62 vom 10. Juni 517, Tit. 76 vom 27. Juni 513, Tit. 79 vom 1. März 515.

9 Siehe Gaupp, Ansiedlungen S 305 ff.

10 Bluhme setzt diesen Reichstag in das Jahr 501, Binding in das Jahr 524. Für Godomars Autorschaft hat sich auch Gaupp, Ansiedl. S 317 ausgesprochen.


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§ 44. Die Lex Burgundionum.

Bestätigt wird diese Ansicht durch die Vergleichung der Lex Gundobada mit der Lex Romana Burgundionum, dem für die Römer des burgundischen Reiches erlassenen Gesetzbuch. Zwischen beiden herrscht in der Anordnung des Stoffes eine weitgehende Übereinstimmung. Die Titelrubriken der Lex Romana entsprechen jenen der Gundobada häufig im Wortlaut oder dem Inhalte nach 11. Jener Parallelismus tritt nun am stärksten innerhalb der ersten, vereinzelt noch innerhalb der zweiten Masse des handschriftlich überlieferten Stoffes der Gundobada hervor. Für die dritte Masse findet sich in der Lex Romana kein Paralleltitel.

Die Zeit, in welcher Gundobad seine Konstitutionensammlung veranstaltete, läſst sich nicht mit voller Sicherheit bestimmen. Da die Zahl der von ihm selbst erlassenen Gesetze, die er darin mit denjenigen seiner Vorfahren 12 vereinigte, eine ziemlich erhebliche gewesen sein muſs — sie bilden den Kern des Gesetzbuchs —, so läſst sich nicht annehmen, daſs er schon bald nach Beginn seiner Regierung zur Redaktion der Sammlung geschritten sei. Andrerseits muſs dieselbe einige Zeit vor 501 stattgefunden haben. Denn von diesem Jahre stammen die ältesten Konstitutionen der Lex, bei welchen die Datierungszeile nicht abgeschält worden ist. Eine derselben, Titel 42, bezieht sich auf Titel 24, 1. 2 als auf priores leges, die sie korrigieren will, so daſs sie der ursprünglichen Redaktion nicht mehr angehört haben kann. Nach alledem dürfte die Ausarbeitung von Gundobads liber constitutionum nicht vor 480, aber doch noch etliche Jahre vor dem Schlusse des fünften Jahrhunderts erfolgt sein.

Auch nach Abfassung der Gundobada blieb die burgundische Gesetzgebung in lebhaftem Flusse. Gundobad selbst hatte in der prima constitutio vorgeschrieben, daſs über jeden in den Gesetzen nicht vorgesehenen Rechtsfall an ihn zu berichten sei. In Titel 50 erklärt es

11 S. die Konkordanz bei Bluhme S 579 f. und Ginoulhiac, Des recueils de droit romain dans la Gaule sous la domination des barbares, Revue hist. de droit français II, 1856.

12 Von Gundobads Vorgängern rühren wahrscheinlich her: Tit. 17, 1—3, worin Rechtsstreitigkeiten, die in die Zeit vor der pugna Mauriacensis zurückreichen, niedergeschlagen werden, und Tit. 67 über die Landteilungen. Binding a. O. S 28. Ältere Gesetze, die nicht in Gundobads Sammlung aufgenommen wurden, scheinen die Titel 90. 92. 97. 98 zu sein. Schon vor Gundobads Redaktion muſs es Handschriften gegeben haben, welche die damals vorhandenen Einzelgesetze titelweise zusammenfaſsten. Denn in Gundobads Vorrede heiſst es: cum de parentum nostrisque constitutionibus … cogitemus, quid potissimum de singulis causis et titulis … conveniret …


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§ 44. Die Lex Burgundionum.

der Gesetzgeber für seine Aufgabe, den Gesetzen die Normierung solcher Fälle hinzuzufügen, die in den vorausgegangenen Konstitutionen nicht geregelt seien 13. Und Titel 60 stellt den Grundsatz auf, daſs durch ein neues Gesetz Vorsorge getroffen werden müsse, wenn altes Gewohnheitsrecht auſser Gebrauch gekommen sei. Bei diesem Standpunkte der Gesetzgebung konnte es nicht ausbleiben, daſs das Bedürfnis nach Novellen sich bald und häufig geltend machte. Die Novellen wurden, wenn sie dauernde Geltung haben sollten, mit dem vorhandenen liber constitutionum in feste Verbindung gebracht, ihm eingefügt („adiecta“). Dabei befolgte man nicht etwa die Methode, sie dem alten Gesetzbuch in chronologischer Reihenfolge anzuhängen, sondern die Novellen wurden, so weit es anging und als passend erschien, zu bestimmten Titeln oder als bestimmte Titel der Konstitutionensammlung erlassen 14. Hob ein neues Gesetz eine ältere in der Sammlung befindliche Konstitution ganz oder teilweise auf, so wurde wohl die Novelle an Stelle des aufgehobenen Rechtssatzes eingeschoben. Die Abschreiber setzten dann in den Handschriften die Novellen an der Stelle ein, die ihnen vom Gesetzgeber angewiesen worden war, so daſs im wesentlichen gleichmäſsig angeordnete Texte zustande kamen 15. Ein deutliches Beispiel für die dargestellte Methode der Novellengesetzgebung liefert gleich der erste Titel der Lex „de libertate donandi patribus adtributa et muneribus regis“. Denn dieser Titel ist nicht etwa, wie manche annehmen 16, später eingeschoben worden,

13 Quotiens eiusmodi causae consurgunt, de quibus praecedentium constitutionum ordo non evidenter observanda decrevit, necesse est ut terminandae causationis modum instructio legibus adiecta contineat.

14 Das Verfahren war ähnlich den Adkapitulationen, welche unter Karl d. Gr. und Ludwig dem Frommen bei Abfassung der Kapitularien zur Lex Rib. v. J. 803 und zur Lex Sal. v. J. 819 vorgenommen wurden. Daſs die Novelle mit einer bestimmten Titelziffer erlassen wurde, soll nicht behauptet werden. Man mochte sich mit der Titelrubrik begnügen.

15 Die übereinstimmende Anordnung, welche die Handschriften in Tit. 1—88 aufweisen, wäre kaum zu erklären, wenn die Einfügung der Novellen dem Belieben der Abschreiber überlassen war.

16 So Gaupp a. O., nach welchem die Lex ursprünglich mit Titel 2 „de homicidiis“ begonnen hatte. Allein Gundob. 1 ist in der Lex Rom. Burg. nachgebildet, welche dem Titel 2 einen Titel 1 „de patris vel matris donatione vel munificentia dominorum“ vorausschickt. Gundob. I 3 bestimmt hinsichtlich der königl. Schenkungen: id quod ei conlatum est, etiam ex nostra largitate, ut filiis suis relinquat praesenti constitutione praestamus. In Lex Rom. Burg. 1, 3 heiſst es: de donationibus dominorum proprietas accipientium etiam circa heredes et proheredes lege firmatur. Vom Standpunkte des römischen Rechtes hätte man keinen besonderen Anlaſs gehabt, die Vererblichkeit der durch Schenkung erworbenen


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§ 44. Die Lex Burgundionum.

sondern hat, von Anfang an in der Sammlung vertreten, mindestens in Kapitel 1 eine etwas unbeholfene Umarbeitung erfahren, welche Trümmer des ursprünglichen Textes stehen lieſs 17.

Von der Novellengesetzgebung, wie sie unter Gundobad und Sigismund thätig war, wurden die Titel der ersten Masse verhältnismäſsig am wenigsten berührt. Wie viele Titel der zweiten Masse ursprünglich im Liber constitutionum standen, läſst sich nicht mit Sicherheit angeben. Nachdem die Novellengesetzgebung die Gesamtzahl der Titel auf 88 erhöht hatte, fügten einzelne Abschreiber der geschlossenen Sammlung hinter Titel 88 teils neueste, teils veraltete Gesetze hinzu.

Die herrschende Ansicht spricht sich dahin aus, daſs die Lex Burgundionum eine mehrmalige amtliche Redaktion erfahren habe. Eine zweite Redaktion soll noch König Gundobad selbst und zwar bald nach 501, eine dritte König Sigismund am 29. März 517 publiziert haben. Nur letztere sei uns überliefert. Allein die Gestalt, in der die Lex vorliegt, der Mangel an systematischer Ordnung, die Fülle von Widersprüchen, die Hinweisungen auf Gesetze, die in der Sammlung fehlen, lassen sich kaum als das Ergebnis einer einheitlichen amtlichen Umarbeitung erklären. Für eine zweite Redaktion Gundobads fehlt es an festen Anhaltspunkten 18. Und gegen Sigismunds

proprietas besonders zu betonen. Nur die Absicht, eine Parallelstelle zu Gundob. 1, 3 zu schaffen, vermag den Passus völlig zu erklären. Da man füglich nicht annehmen kann, daſs auch in die Lex Rom. Burg. Titel 1 nachträglich eingeschoben worden sei, so muſs schon Gundobads Liber constitutionum in seinem ersten Titel ein seiner jetzigen Überschrift entsprechendes Gesetz enthalten haben, von welchem u. a. 1, 3 ein Überrest ist.

17 Tit. 1, 1 ist in seiner vorliegenden Gestalt jünger wie Tit. 51 u. Tit. 24, 5. Wie wir aus Tit. 51 erfahren, bestimmte die ältere Gesetzgebung, daſs der Vater sein Vermögen mit den Söhnen zu gleichem Rechte (aequo iure) teilen solle und über die bei der Teilung ihm zugefallene portio frei verfügen könne. Tit. 1, 1 spricht aber dem Vater schon vor erfolgter Abteilung die volle Verfügungsfreiheit über sein Vermögen zu, ausgenommen die terra sortis titulo adquisita, wofür das ältere Recht, prioris legis ordo in Geltung bleiben solle. Höchst wahrscheinlich enthielt Titel 1, 1 in seiner ursprünglichen Fassung jene ältere Satzung. Als der Gesetzgeber, vermutlich Sigismund, sie änderte, lieſs er den für die Novelle durchaus unpassenden Eingang: quia nihil de praestita patribus donandi licentia vel munificentia dominantium fuerat constitutum stehen, verwies aber nichtsdestoweniger hinsichtlich der sortes auf den prior legis ordo. Tit. 24, 5 paſst nicht zur Titelrubrik und hat vielleicht früher in Tit. 1 gestanden. Vgl. Brunner, Landschenkungen, in Berliner Sitzungsber. 1885 S 1189.

18 Gregor von Tours berichtet Hist. Fr. II 33, Gundobad habe nach dem Tode seines Bruders Godegisel den Burgundern mildere Gesetze gegeben, Burgundionibus

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 22


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§ 44. Die Lex Burgundionum.

angebliche Redaktion, welche auf eine der prima constitutio vorausgehende Notiz gestützt wird 19, fällt die Thatsache ins Gewicht, daſs uns in Titel 52 der Lex ein Gesetz vom 29. März 517 erhalten ist, worin Sigismund eine Lücke der früheren Gesetzgebung ausfüllen will, indem er einem aus Anlaſs eines Rechtsfalles ausgesprochenen Urteile Gesetzeskraft beilegt, ein Vorgang, der sich schwerlich mit der Annahme vereinigen läſst, daſs Sigismund an demselben Tage eine neue Redaktion der Gesetzsammlung publiziert habe.

Die Lex Burgundionum wollte nicht bloſs für die Burgunder gelten, sondern sollte auch bei Rechtshändeln zwischen Römern und Burgundern zur Anwendung gelangen 20. Die Rechtsbeziehungen der Römer unter einander regelte die Gundobada nicht; für sie blieb das römische Recht in Geltung und wurde im burgundischen Reiche aus römischen Rechtsquellen ein besonderes Rechtsbuch, die Lex Romana Burgundionum, abgefaſst. Doch haben in die Gundobada einzelne Konstitutionen Aufnahme gefunden, welche die Burgunder und die Römer gemeinsamen Rechtssätzen unterwarfen und sonach die Bedeutung eines allgemeinen burgundischen Reichsrechtes besaſsen 21.

Obzwar zur Zeit ihrer Abfassung kaum ein halbes Jahrhundert seit der Verpflanzung der Burgunder nach Gallien verflossen war,

leges mitiores instituit, ne Romanos obpraemerent, eine Nachricht, die sehr wohl von einzelnen Novellen Gundobads verstanden werden kann. Bluhme meint, daſs Gundobads zweite Redaktion 105 Titel umfaſst habe, und schlieſst dies aus der Überschrift: sub titulo CV invenimus in libro constitutionum, die er dahin auslegt, daſs Sigismund in dem 105. Titel der Konstitutionen seines Vaters gefunden habe. Allein wie Binding S 42 seiner Ausgabe bemerkt, fehlt das Wort constitutionum in allen Handschriften und ist mit den besseren Handschriften Constantini zu lesen, auf dessen Konstitution in Cod. Theod. II 30 Bezug genommen wird. CV mit clarissimi viri (statt viri clarissimi) aufzulösen, ist bedenklich. Es mag dahingestellt bleiben, wie die Verstümmelung. entstand. Jedenfalls gehört die Stelle nicht in die Gundobada. Der Rechtssatz, daſs Pfändung von Ochsen mit Tod bestraft werde, hat für die Burgunder nie gegolten (Gund. 19) und brauchte für sie nicht aufgehoben zu werden. Vielleicht steckt in Tit. 105 eine Novelle zum Papian.

19 In Dei nomine anno secundo regni domni nostri gloriosissimi (Sigismundi) Gundobadi regis liber constitutionum de praeteritis et praesentibus atque in perpetuum conservandis legibus et datum sub die IV Kal. April. Keine Handschrift hat beide Königsnamen. Entweder fehlt Sigismundi oder Gundobadi. Binding hält (Ausgabe S 2 Anm 1) die Worte et datum sub die IV Kal. April. anno secundo regni d. gl. Sigismundi für den Zusatz eines Schreibers, der dieses Datum unter einer von Sigismund in die Sammlung eingefügten Novelle gefunden und die Schluſsworte anno secundo usw. wegen Mangels an Raum über den Anfang der Überschrift Gundobadi regis liber … legibus gesetzt habe.

20 Prima const. c. 2. Vgl. Bluhme, Jahrb. I 72 ff.

21 Titel 4, 1: tam Burgundio quam Romanus; 4, 3; 4, 4; 6, 3; 6, 9 u. öfter.


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§ 44. Die Lex Burgundionum.

zeigt die Lex doch bereits starke Einflüsse der römischen Kultur. Ihre Rechtssätze haben vielfach ein verhältnismäſsig modernes Gepräge und entbehren jener frischen germanischen Ursprünglichkeit, wie sie z. B. die um anderthalb Jahrhunderte jüngeren Gesetze der Langobarden besitzen. Manche Bestimmungen sind dem römischen Rechte entlehnt, so die Vorschriften über die Zahl der Testamentszeugen, über die Verjährungsfristen und die Anwendung der Inskriptio bei Kriminalklagen 22. Die rechtliche Behandlung der Urkunde stammt aus dem römischen Vulgarrechte. Mindestens zwei Stellen verraten die Benutzung der römischen Interpretationslitteratur des fünften Jahrhunderts 23.

Auffallend ist das Verhältnis, welches zwischen der burgundischen und westgotischen Gesetzgebung obwaltet. Eine Reihe von Rechtssätzen der Gundobada und zwar von solchen, die ihr ursprünglich angehörten, finden wir in verwandter Fassung in der Lex Wisigothorum oder in Stellen der Lex Baiuwariorum, welche der westgotischen Gesetzgebung entlehnt sind 24, während andere sich im Wortlaut mit Stellen der Lex Salica berühren, die vermutlich auf westgotischen Einfluſs zurückgehen 25. Es müssen zur Zeit, da Gundobad die betreffenden Gesetze erlieſs, Konstitutionen des Westgotenkönigs Eurich vorgelegen haben, die der burgundische Gesetzgeber zum Vorbilde nahm. Denn das Verhältnis der Parallelstellen läſst vermuten, daſs

22 Siehe Savigny a O. II 5 ff.; Stobbe a. O. S 110.

23 Vgl. Gund. 24, 1 mit Interpretatio zu C. Th. III 8 c. 2. 3. Gund. 34, 3. über die Ehescheidung geht auf Interpretatio zu C. Theod. III 16, 1 zurück. Gund. 40, 1 setzt die Kenntnis der Konstitution Konstantins, Cod. Theod. IV 10, 1 voraus, der sie derogiert. Über Tit. 68 s. Anm 24 a. E.

24 Die Parallelstellen sind: G. 4, 6 = W. VIII 4, 1. G. 4, 8 = W. VIII 4, 9 (Ant.) G. 23, 4 = W. VIII 5, 1. G. 27, 1. 2 = W. VIII 3, 7 (Ant.). G. 27, 3 = W. VIII 4, 24. 25 (Ant.) u. Lex Baiuw. X 19. 20. G. 27, 4. 5 = W. VIII 3, 10 (Ant.). G. 39, 1. 2 = W. IX 1, 3; 1, 6. G. 6, 1. 3; 20, 2 = W. IX 1, 14. G. 25, 1; 27, 7; 103, 1 = Lex Baiuw. IX 12, vgl. W. VIII 3, 2, Lex Sal. 27, 6 u. oben S 301 Anm 44. Verwandt sind, wie Gaupp, German. Abhandl. S 40 f. ausgeführt hat, G. 17, 1 und c. 277 der Pariser westgotischen Fragmente. Der Rechtssatz des Tit. 68 (vgl. Lex Rom. Burg. 25), daſs die Tötung des auf frischer That ertappten Ehebrechers durch den Ehemann buſslos sei, wenn dieser zugleich seine Frau tötete, scheint zunächst auf die westgotische Vorlage von Lex Baiuw. VIII 1 und Lex Wisig. III 4, 4 zurückzugehen. Er findet sich auch in Rothari 212 und dürfte als eine irrtümliche Anwendung des römischen Rechtsgrundsatzes (Paulus rec. sent. II 26; 1. 24 Dig. 48, 5) zu erklären sein. Vgl. Rosenthal, Rechtsfolgen des Ehebruchs S 50 ff.

25 S. oben S 300. 301.

22*


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§ 45. Die Lex Frisionum.

nicht der westgotische Gesetzgeber aus der Gundobada, sondern der burgundische aus westgotischen Vorlagen geschöpft hat 26.

Nach der Einverleibung Burgunds in das fränkische Reich blieb die Lex Burgundionum in ungebrochener Geltung. Als ein Werk des Arianers Gundobad erfuhr sie in der Regierungszeit Ludwigs des Frommen einen Angriff von kirchlicher Seite. Bischof Agobard von Lyon schrieb damals eine Streitschrift, worin er den fränkischen König aufforderte, die Lex Gundobada zu beseitigen, zumal sie in Burgund nur noch für wenige Personen gelte 27. Nichtsdestoweniger erhielt sie sich für die burgundische Bevölkerung als die Grundlage ihres persönlichen Rechtes. Da für die römischen Bewohner Burgunds römisches, für die salischen salisches Recht galt, wurde das Personalrecht der eigentlichen Burgunder, auch soweit es nicht durch Gesetz, sondern durch Gewohnheit geregelt war, als Lex Gundobada bezeichnet. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn urkundliche Zeugnisse des zehnten und elften Jahrhunderts die Anwendung der Lex Gundobada als persönlichen Rechtes erwähnen 28.

§ 45. Die Lex Frisionum.

Ausgaben: Die Lex ist uns nur aus Herolds Ausgabe der Volksrechte bekannt. Im Anschluſs an Herold hat sie zuletzt v. Richthofen in den Mon. Germ. LL III 631 ff. ediert. Einen Abdruck des Richthofenschen Textes, seiner Einleitung und Anmerkungen gab Lintelo de Geer, Leeuwarden 1866. Litteratur: v. Richthofen, Praefatio LL III a. O. De Geer, Über die Zusammensetzung der Lex Frisionum, Z f. RG VIII 134 f. und holländisch im Anhang zu seinem Textabdruck S 168 ff. Gaupp, Germanistische Abhandl. I: über das Wergeld- und Buſsensystem der alten Lex Frisionum, 1853.

26 Gaupp, Hall. allg. Litt.-Zeit. 1849 Nr 114. A. Ans. Roth, Entst. d. Lex Bai. S 30 f.; Stobbe, RQ I 90. Die westgot. Parallelstellen liegen uns nur in der umgearbeiteten Gestalt vor, die sie in der Lex Wisig. erhalten haben. Daſs ihre ursprüngliche Form der Gundobada näher stand wie der Text der Lex Wisig., zeigt die Lex Baiuw. So kennt z. B. Lex Bai. X 19 die Buſse von 12 solidi und die Unterscheidung zwischen via publica und vicinalis ebenso wie Burg. 27. Lex Burg. 4, 6: si autem impedicato caballo ingenuus pedicam tulerit, eiusdem meriti caballum se redditurum esse cognoscat, wird erst verständlich, wenn man die Parallelstelle Lex Wisig. VIII 4, 1 (vgl. Lex Sal. 27, 3) zur Ergänzung heranzieht. Der Ersatz des Pferdes ist nur zu leisten: si super hanc occasionem perierit.

27 Agobardi adversus legem Gundobadi liber in Opp. ed. Baluze I 113 ff. Die bezeichnenden Stellen hat Bluhme, LL III 504 f. abgedruckt.

28 Bernard, Recueil des chartes de Cluny I 176, Nr 189 v. J. 912: secundum lege mea Gonbada. Monum. patriae, Chart. I 584 v. J. 1055: qui professus sum ex natione mea lege vivere Gundobada.


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§ 45. Die Lex Frisionum.

Die Lex Frisionum 1 unterscheidet drei Rechtsgebiete Frieslands, nämlich Mittelfriesland von dem Flie, dem Ausfluſs der Zuidersee, bis zur Laveke, Ostfriesland von der Laveke bis zur Weser und Westfriesland vom Flie bis zum Sinkfal (Zwin) nördlich von Brügge.

Der Grundtext der Lex 2 zerfällt in zwei Hauptbestandteile, die eigentliche Lex in 22 Titeln und einen Abschnitt, der als Additio sapientum bezeichnet ist. Zu letzterem gehören auch einige Kapitel mit der Überschrift: Haec iudicia Wulemarus dictavit, welche von Herold irrtümlich als ein Bestandteil der Lex Angliorum et Werinorum abgedruckt worden sind 3. Sowohl die Lex als auch die Additio enthalten eingeschobene Stellen, die sich auf die Sonderrechte von Ost- und Westfriesland beziehen 4.

Die das Recht der beiden Seitenlande betreffenden Zusätze sind westlich von dem Flie abgefaſst, denn Westfriesland wird darin als das Land cis Fli bezeichnet. Der Grundtext und seine Titelüberschriften enthalten etwa zwanzig deutsche Wörter, darunter keines, welches auf die Mundarten Mittelfrieslands oder Ostfrieslands hinweist, wohl aber solche, die daraus nicht erklärt werden können 5, sondern jenen fränkischen Dialekten zufallen, welche uns später in Brabant, Holland und Seeland entgegentreten.

Das friesische Volksrecht hat keinen einheitlichen Charakter, sondern enthält eine Reihe der heterogensten Bestimmungen. Einerseits finden sich Rechtssätze, welche die Durchführung des Christentums voraussetzen, so das Verbot der Sonntagsarbeit, der Schutz des Kirchen-

1 Die Überschrift: Incipit lex Frisionum, scheint eine Zuthat Herolds zu sein. Die Lex sagt: Fresiones, Fresia, fresionicus. Auch Lex Rib. 36, 4 hat die Form Fresionem.

2 Handschriften der Lex sind uns nicht erhalten. Herold giebt seinen Text, der uns den Mangel an Handschriften ersetzen muſs, nicht als die vollständige Lex. Denn er fügt am Schluſs seines Textes die Worte bei: Haec hactenus. Man vergleiche die Bemerkung hinter der unvollständig abgedruckten Lex Burg. oben S 332 Anm 5.

3 Die einzige Handschrift, die wir von der Lex Angliorum besitzen, hat dieses Einschiebsel nicht.

4 Herolds Druck hat eine Reihe von Zusätzen mit kleinerer Kursivschrift und eingezogenen Zeilen. Wie De Geer a. O. S 140 mit Recht bemerkt, müssen sie sich schon in Herolds Vorlage als Marginal- oder Interlinearglossen oder sonstwie von dem Grundtexte unterschieden haben. Die von Richthofen kursiv gedruckten Sätze decken sich nicht mit den von Herold ausgezeichneten Stellen.

5 Z. B. notnumfti in Tit. 8, thiubda in Tit. 3, durslegi in 22, 3, liduwagi in 22, 35 und Add. 3, 32. Über pant in Add. 8, 2 s. Richthofens Anmerkung in LL III 694.


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§ 45. Die Lex Frisionum.

friedens, die Vornahme des Losordals in der Kirche, der Eid auf die Reliquien, das Verbot Unfreie an Heiden zu verkaufen und die Trennung unerlaubter Ehen 6. Andrerseits begegnen uns Stellen, welche eine volksrechtliche Anerkennung des Heidentums in sich schlieſsen. So sagt Titel 5, daſs der Tempelschänder von jedermann, das neugeborne Kind von der Mutter buſslos getötet werden könne. Und Titel 11 der Additio überliefert den ostfriesischen Rechtsbrauch, daſs man den Tempelräuber ans Meer führen, ihm auf dem Sande, den die Flut bespült, die Ohren schlitzen, ihn entmannen und dann den Göttern opfern solle, deren Heiligtum er verletzt habe.

Verschiedenartiger Ursprung einzelner Teile der Lex ergiebt sich aus der Mannigfaltigkeit der Münzverhältnisse 7 und aus der damit zusammenhängenden Verschiedenartigkeit der Beträge, in welchen die Wergelder der friesischen Stände angegeben sind 8.

6 Vgl. Lex Fr. 18; 17, 2; Add. 1, 1; 14, 1. 3; 17, 5; Add. 3, 77.

7 Die Lex Fr. kennt in Tit. 15 veteres denarii, bei welchen wohl an die Einteilung des vor der fränkischen Münzreform in Friesland geltenden Goldsolidus zu denken ist. Sie kennt ferner denarii novi, novae monetae, deren in Mittelfriesland drei, in Westfriesland zweieinhalb, in Ostfriesland zwei einen Solidus ausmachen. Tit. 14 setzt die fränkische Einteilung des Pfundes in zwanzig Silbersolidi voraus. Tit. 15 rechnet nach Pfunden, die in zwölf Unzen zerfallen. An Stelle des Denars erscheint in den oben S 215 Anm 13 angeführten Stellen der Tremissis. Da in der Additio auſserdem nach halben und viertel solidi gerechnet wird und gelegentlich fünf Denare genannt werden, so scheint ihr bereits die fränkische Einteilung des Solidus in zwölf Denare zu Grunde zu liegen.

8 Tit. 1, der die Überschrift trägt: haec est simpla compositio de homicidiis, nennt als Wergeld des freien Mannes den Betrag von 53⅓ solidi. v. Richthofen und mit ihm die herrschende Ansicht nehmen an, daſs in Friesland zunächst eine Verdoppelung, dann eine Verdreifachung dieses Wergeldes stattgefunden habe. Die Verdoppelung wird aus Tit. 15 gefolgert, der sich nur auf Ostfriesland bezieht. Hier ist das Wergeld des Freien auf 5½ Pfund angegeben, die in veteres denarii bezahlt werden sollen. Unter den Pfunden sind nicht Gewichts-, sondern Rechnungspfunde zu verstehen. Vgl. Wilda, Strafrecht S 334. 432. Noch die jüngeren friesischen Rechtsquellen kennen das in 12 Unzen zerfallende Pfund als eine Rechnungsmünze. v. Richthofen, WB S 982. Nach solchen Pfunden berechnet eine westerlauwersche Rechtsaufzeichnung die Wergeldbeträge. v. Richthofen, RQ S 410, Z2 f. RG III 25. Der Zusatz per veteres denarios in Tit. 15 kann kaum etwas anderes sagen wollen, als daſs so viel alte Denare auf das Pfund gezahlt werden sollen, als dieses neue Denare enthält. Siehe Gaupp, Abh. S 25. Da uns aber der Wert der alten Denare unbekannt ist, so bleiben die Wergeldsätze des Tit. 15 eine unbekannte Gröſse, und ist es noch das Wahrscheinlichste, daſs in ihnen nur eine Umrechnung der sonst genannten Wergeldsätze vorliegt. Entsprechen die Wergeldsätze des Tit. 15 der dreifachen compositio des Tit. 1, so hatte der alte Denar etwa den 1½fachen Werth des neuen. Die angebliche Verdreifachung des Wergeldes dürfte sich, wie schon oben S 225 f. bemerkt wurde, aus der


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§ 45. Die Lex Frisionum.

Nach Fassung und Inhalt stellen sich einige Stücke als Privatarbeiten, andere als Satzungen, andere als Weistümer dar. Den Charakter einer Privatarbeit hat Titel 2. Er giebt den Anstifter eines Totschlags der Fehde preis, ohne eine Buſse anzuordnen, wenn der Totschläger selbst zur Genugthuung herangezogen werden kann. Das Volksrecht bot für diesen Fall eine Lücke dar. Die fränkische Gesetzgebung würde bei der grundsätzlichen Stellung, die sie zur Fehde einnahm, diese Lücke ausgefüllt haben, während der Verfasser der Rechtsaufzeichnung sich begnügen muſste, die Konsequenz des geltenden Rechtes zu ziehen 9. Aus der Feder eines Privatmannes müssen auch Titel 5 und Add. 11 geflossen sein, weil ihr heidnischer Inhalt den christianisierenden Tendenzen der fränkischen Staatsgewalt widerspricht. Durch seine Fassung verrät sich Titel 14 als eine Aufzeichnung bestehenden Gewohnheitsrechtes 10.

Eine königliche Satzung liegt dem Titel 7 zu Grunde, wo es von der Bestrafung des Mordbrenners heiſst: haec constitutio ex edicto regio processit. Auf königliche Satzung geht wohl auch der Inhalt der Titel 17—21 zurück, von welchen 17, 18 und 19 der Lex Alamannorum 11, 20 und 21 der Lex Ribuaria nachgebildet sind 12. Die der Lex Alamannorum entsprechende Strafe des neunfachen Wergeldsimplum, welche Titel 17 auf die Tötung in curte ducis und auf die Tötung des herzoglichen Missus setzt, scheint auf eine in den Jahren 743—751 entstandene Satzung hinzuweisen. Denn da im karolingischen Friesland ein Herzog nicht mehr nachzuweisen ist 13, so erübrigt nur bei dem dux der Lex Frisionum an den dux Francorum zu denken und an die Zeit, in welcher sich die Söhne Karl Martells, Pippin und

Umrechnung ursprünglicher Goldsolidi in Silbersolidi erklären. Seit dem Übergang zum Silbersolidus hielt man die ursprüngliche Ziffer als Wergeldsimplum fest, welches in Fällen kasueller Tötung (Add. 3, 68, vgl. 69, 70) als höhere Wundbuſse (Lex Fr. 22, 57 u. 58, Add. 3, 58 a. E., vgl. oben S 225 Anm 7) oder als höheres Friedensgeld (Lex Fr. 3; 9; 10, 1; 17, 4. 5; 21 a. E.) bezahlt wurde, während der Totschlag und die ihm gleichgestellten Unthaten mit dem dreifachen Betrage gebüſst wurden.

9 S. oben S 162 Anm 33.

10 Haec lex inter Laubachi et Flehum custoditur … Inter Flehum et Sincfalam talis est consuetudo … De eadem re inter Laubachi et Wisaram fluvium talis consuetudo est. Vgl. De Geer a. O. S 144.

11 In Tit. 17: „hic bannus est“, vgl. c. 1 mit Lex Al. 26, c. 2 mit Lex Al. 29, c. 3 mit Lex Al. 30, c. 5 mit Lex Al. 37. Tit. 18 entspricht Lex Al. 38. Zu Tit. 19 vgl. Lex Al. 40.

12 Vgl. Lex Rib. 15. 16.

13 Gegen Richthofen, der sich LL III 649 auf Regino beruft, um darzuthun, daſs es unter Karl d. Gr. friesische Herzoge gab, s. Waitz, VG III 158, V 36.


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§ 45. Die Lex Frisionum.

Karlmann, nachweislich so benannten 14. Als Ergebnis volksrechtlicher Satzung stellen sich die wichtigen Titel 1 und 22 dar. Titel 1 handelt von den Wergeldern der verschiedenen Stände, Titel 22 enthält ein ausführliches Verzeichnis von Wundbuſsen. Der letztere ist jünger als der erstere. Denn während Titel 1 neben dem Solidus nur den Denar kennt und den Wergeldsätzen den Goldsolidus zu Grunde legt, nennt Titel 22 den Tremissis und baut sein Buſssystem auf den Silbersolidus 15. Die Anordnung der Buſsfälle und die Fassung einzelner Stellen des Titel 22 deuten auf Benutzung der Lex Alamannorum hin 16.

Eine Sammlung von Weistümern ist die sog. Additio sapientum. Sie enthält Rechtssätze, welche von zwei Rechtsgelehrten Namens Wulemar und Saxmund gewiesen wurden 17. Die Wundbuſsen ihrer Weistümer sind zum gröſsten Teile erheblich höher, wie die in der Lex. Einige Titel der Additio zeigen nahe Verwandtschaft mit der Lex Alamannorum 18.

Als Ganzes betrachtet hat die Aufzeichnung des friesischen Volksrechtes den Charakter einer Privatkompilation von Rechtsquellen verschiedener Entstehungsart und verschiedener Entstehungszeit. Scheinen etliche Titel noch über die Mitte des achten Jahrhunderts hinaufzureichen 19, so dürfte doch die Hauptmasse erst unter Karl dem Groſsen entstanden sein, einiges vielleicht unter dem Einfluſs der Anregungen, welche Karl zur Aufzeichnung der Volksrechte gab, etwa als Vorarbeit für eine amtliche Redaktion, die dann aus unbekannten Gründen unterblieb. Jünger wie die Lex ist die Additio sapientum und sind

14 Mittelfriesland wurde erst infolge des Sieges von 734 unterworfen. Von Karl Martell ist nicht bekannt, daſs er den Titel dux Francorum amtlich geführt habe. Da Tit. 17 einen fränkischen König voraussetzt, so bleibt die königlose Zeit von 737—743 auſser Betracht. Der genaue Wortlaut der königlichen Satzung ist uns in Tit. 17 ff. vermutlich ebensowenig erhalten wie in Tit. 7. Der Verfasser der Kompilation hat sie nur im wesentlichen aufgenommen und bei dieser Gelegenheit wahrscheinlich das dreifache Wergeld (wie es Lex Al. hat) durch das neunfache friesische Simplum ersetzt. Zugleich mag er die auf Ostfriesland bezügliche Stelle in Tit. 18 eingefügt haben.

15 Tit. 22, 77. Vgl. oben S 225. Den Charakter der Satzung verbürgt dem Tit. 22 die Ausdrucksweise in c. 79: si quid de brachio et de manu, ita de coxa ac pede iudicatum est.

16 Vgl. Tit. 22, 1. 3. 4. 5 mit Lex Al. 59.

17 Eines der Weistümer Wulemars ist dem Tit. 2 der Lex eingefügt unter der Überschrift: haec Wulemarus addidit.

18 Vgl. Add. 3 b mit Al. 67, Add. 4 u. 5 mit Al. 68, Add. 7 und 8 mit Al. 88. 89. Zu 3 b und 4 sind auch die Titelrubriken der Lex Al. entlehnt.

19 Tit. 1 und die oben besprochenen Stellen des Tit. 17.


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§ 46. Die Lex Saxonum.

die das Recht der beiden Seitenlande betreffenden Zusätze. Doch scheint die ganze Kompilation noch in fränkischer Zeit abgeschlossen worden zu sein 20.

§ 46. Die Lex Saxonum.

Ausgaben: Auf Grund verschollener Handschriften bei Herold und bei Du Tillet (Tilius). Leges Saxonum ed. K. v. Richthofen in Mon. Germ. LL V 1. Litteratur: K. v. Richthofen, Zur Lex Saxonum, 1868. Gaupp, Recht und Verfassung der alten Sachsen, in Verbindung mit einer kritischen Ausgabe der Lex Saxonum, 1837. Merkel, Lex Saxonum, 1853, Vorrede. Usinger, Forschungen zur Lex Saxonum, 1867. De Geer in Nieuwe Bijdragen voor Rechtsgeleerdheid NR II 3. Waitz, Verfassungsgeschichte III 157. 207 ff. Boretius in v. Sybels Hist. Z XXII 148. v. Amira in derselben Z NF IV 305 ff.

Die Lex Saxonum, deren Text uns durch zwei Handschriften 1 und durch zwei ältere Drucke 2 überliefert ist, zerfällt in 66 Kapitel. Die Kapitel 1—20 handeln von den Wundbuſsen und Wergeldern mit besonderer Rücksicht auf die Stände des Adels und der Liten. Ihr Inhalt hebt sich von dem nachfolgenden Teile der Lex dadurch ab, daſs sie altsächsisches Recht enthalten und durchaus frei sind von Spuren der fränkischen Herrschaft. Allein die Anordnung des Stoffes läſst ersehen, daſs die Lex Ribuaria zum Vorbilde diente, ja in einzelnen Stellen ist sogar deren Wortfassung benutzt 3. Die Kapitel

20 Zu scheinbar festeren Ergebnissen ist Freiherr v. Richthofen in der Vorrede zu seiner Ausgabe der Lex Frisionum gelangt. Er unterscheidet drei Bestandteile. Der erste sei nach 734 noch unter Karl Martell oder unter Pippin für Mittelfriesland aufgezeichnet worden. Um 785 (vgl. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 342) sei ein zweiter Teil für ganz Friesland hinzugekommen. Den dritten Teil, nämlich die Additio und die Zusätze zu Tit. 1, setzt er in das Jahr 802. Dagegen hat schon v. Daniels Reichs- und StRG I 262 den kompilatorischen Charakter der Lex, vielleicht in etwas zu schroffer Weise, hervorgehoben. Ihm hat sich in der Hauptsache der Holländer De Geer angeschlossen. Derselbe betrachtet die Lex (1—22) als eine im 9. oder in der ersten Hälfte des 10. Jahrh. in Mittelfriesland entstandene Kompilation, welche eine in karolingischer Zeit abgefaſste Satzung zum Kerne hatte (1; 3, 1—7; 4, 1—8; 7; 8; 9, 1—13 und wohl auch 22). Die Additio sei während des 10. oder 11. Jahrh. in Mittelfriesland geschrieben worden. Die ganze Kompilation sei dann in Westfriesland durch Randbemerkungen über Abweichungen des west- und ostfriesischen Rechtes vermehrt worden.

1 Der Codex Spangenbergianus Ende des 9. oder Anfang des 10. Jahrh. geschrieben und der Codex Corbeiensis aus dem 10. Jahrh., jetzt im Provinzialarchiv zu Münster.

2 Dem Heroldschen Drucke hat eine vortreffliche Handschrift zu Grunde gelegen. Du Tillets Druck geht auf eine Handschrift zurück, welche die jüngste Textform darstellt.

3 v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 371—376.


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§ 46. Die Lex Saxonum.

21—65 betreffen die todeswürdigen Verbrechen, das Ehe- und Erbrecht (mit gelegentlicher Unterscheidung des Rechtes der Ostfalen, Westfalen und Engern), die Haftung für Unfreie und für den Zufall und die Veräuſserungen. Das Schluſskapitel stellt Werttaxen für Buſszahlungen auf, welche in zwei Texten durch jüngere Zusätze ergänzt sind 4. Die Kapitel 51—53 schlieſsen sich in Bezug auf Inhalt und Wortlaut an einen Zusatz zur Lex Ribuaria an 5, welcher im Jahre 803 auf Wunsch der Ribuarier von Karl dem Groſsen genehmigt worden war, um die Haftung der Herren für flüchtig gewordene Knechte zu beschränken 6.

Neben der Lex Saxonum besitzen wir zwei Kapitularien, welche Karl der Groſse für Sachsen erlieſs, die Capitulatio de partibus Saxoniae und das Capitulare Saxonicum. Jene ist nicht datiert und verdankt ihre Entstehung vermutlich einer im Juli 782 unter Teilnahme von Sachsen zu Lippbrunnen abgehaltenen Reichsversammlung 7. Sie führt für die damals unterworfenen sächsischen Gebiete eine Art standrechtlichen Zustandes ein, indem sie die Annahme und die Aufrechthaltung des Christentums, die Unterdrückung des Heidentums und die fränkische Herrschaft durch Strafen grausamer Härte sicherzustellen sucht. Das Capitulare Saxonicum enthält die Beschlüsse eines 797 zu Aachen abgehaltenen Reichstages, an welchen auch Ostfalen, Westfalen und Engern teilgenommen hatten.

Ob die Lex Saxonum ein einheitliches Gesetz oder aus mehreren Satzungen zusammengesetzt sei, ist eine Streitfrage 8. De Geer will

4 In der Corveier Handschrift und bei Tilius.

5 Auf den Zusammenhang zwischen Lex Sax. 51—53 und Cap. leg. Rib. add. c. 5, I 117, hat Usinger a. O. S 59 aufmerksam gemacht.

6 [Spaltenumbruch] Lex Sax. 51: si servus scelus quodlibet nesciente domino commiserit, utputa homicidium, furtum, dominus eius iuxta qualitatem facti mulctam conponat. a. O. 52: si servus perpetrato facinore fugerit, ita ut a domino ulterius inveniri non possit, nihil solvat. c. 53: si domino factum servi inputetur quasi consentiret, sua duodecima manu iurando se purificet. [Spaltenumbruch] C. Rib. add. 5: nemini liceat servum suum propter damnum ab illo cuilibet inlatum dimittere, sed iuxta qualitatem damni dominus pro ipso respondeat vel eum in compositione aut ad poenam petitoris offerat. si autem servus perpetrato scelere fugerit, ita ut a domino penitus inveniri non possit, sacramento se dominus eius excusare studeat, quod nec suae voluntatis nec conscientiae fuisset quod servus eius tale facinus commisit.

7 Waitz a. O. S 207 f. Zweifel erhebt Boretius a. O. S 162, der sich begnügt, die Capitulatio in die Zeit zwischen 775 u. 790 zu setzen. Ebenso Cap. I 68.

8 Usingers Ansicht, daſs die Lex Sax. eine Privatarbeit sei, ist durch v. Richthofens Untersuchungen endgiltig beseitigt.


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§ 46. Die Lex Saxonum.

fünf, Merkel 9 will drei verschiedenartige Bestandteile unterscheiden. v. Richthofen verficht den einheitlichen Charakter der Lex. Boretius tritt für die Teilung derselben in zwei Satzungen ein, indem er die Kapitel 1—20 in die Zeit vor der fränkischen Herrschaft setzt. Die Gründe, die für Zusammensetzung der Lex aus mehreren Satzungen geltend gemacht werden, sind nicht durchschlagend 10. Der selbständige Inhalt der ersten 20 Kapitel mag darauf beruhen, daſs das altsächsische Kompositionenrecht etwa im Wege des Weistums festgestellt wurde, um auf Verlangen des sächsischen Adels in die Lex aufgenommen zu werden.

Die Frage nach der Entstehungszeit der Lex, die wir sonach als das Ergebnis einer einzigen Satzung betrachten, beantwortet sich durch ihr Verhältnis zum Capitulare Saxonicum von 797. v. Richthofen hält die Lex für älter und kommt zu dem Schlusse, daſs sie zwischen 777 11 und 797, vielleicht 785 abgefaſst worden sei. Dagegen hat Waitz geltend gemacht, daſs die Lex später entstanden sei als das Kapitular von 797. Entscheidend sind zu Gunsten dieser Ansicht die Rechtssätze, welche das Kapitular einerseits, die Lex andererseits über die Brandstiftung enthält 12. Das Kapitular gestattet den Hausbrand, soweit er „commune consilio“ wegen Ungehorsams gegen ein gerichtliches Urteil verhängt wird, verbietet dagegen die eigenmächtige Brandstiftung bei der Bannbuſse von 60 solidi. Die Lex Saxonum setzt auf die Brandstiftung, welche jemand eigenmächtig „suo tantum consilio“ begangen hat, die Todesstrafe. Daſs diese nachmals Rechtens geblieben ist, zeigt ein jüngerer Zusatz zum sächsischen Volksrecht, der sie durch die lex loci delicti commissi ersetzt, wenn das Verbrechen von einem Sachsen auſserhalb Sachsens verübt worden war 13. Bannbuſse und Todesstrafe schlieſsen sich

9 Lex Sax. 1—23 angeblich etwa 782, c. 24—60 nach 785 und vor 797, c. 61 bis zu Ende nach 797 entstanden. Die Absonderung des dritten Teiles fuſst auf dem hinfälligen Argumente, daſs das Inhaltsverzeichnis der Spangenbergischen Handschrift mit c. 60 abschlieſst. Vgl. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 101 f.

10 Gegen die vorfränkische Entstehung der Kapitel 1—20 spricht die Benutzung der Lex Rib. und die von Waitz erhobene Einwendung, daſs die Sachsen ihr Recht schwerlich in lateinischer, sondern wie die Angelsachsen in ihrer Muttersprache aufgezeichnet hätten. Der Eid in arma (Lex Sax. c. 8) ist kein Kennzeichen des Heidentums. Noch in christlicher Zeit findet sich der Waffeneid als ein iuramentum minus, ein minderwertiger Eid. Siehe v. Richthofen in LL V 50, Anm zu c. 8.

11 In dieses Jahr setzt er die Capitulatio de partibus Saxoniae.

12 Cap. Sax. c. 8, I 72. Lex Sax. c. 38.

13 Die Spangenbergische Handschrift fügt zu c. 38 hinzu: in qualicumque loco est secundum legem illorum. Siehe v. Richthofen, Zur Lex Saxonum S 6 f.


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§ 46. Die Lex Saxonum.

gegenseitig aus, zumal mit der letzteren die Einziehung des Vermögens verbunden war. Wenn es nun auch höchst wahrscheinlich ist, daſs das sächsische Recht schon in vorfränkischer Zeit die Brandstiftung mit dem Tode bestrafte 14, so muſs sie damals doch noch bei rechtmäſsiger Fehde erlaubt gewesen sein. Wie das Leben des Missethäters, so war nach altsächsischem Rechte auch sein Gut der Rache des Feindes ausgesetzt. Den Fall der eigenmächtigen, aber nach Volksrecht straflosen Brandstiftung wollte das Kapitular durch die Buſse treffen. Die Lex Saxonum ging noch weiter, sie gab dem Rechtssatze, welcher die Brandstiftung auch im Fall der Fehde verbot, volksrechtliche Sanktion, indem sie jegliche eigenmächtige Brandstiftung mit dem Tode bedrohte und zwar aus demselben Gesichtspunkte, aus welchem sie in c. 27 eine andere Rachethat, nämlich die Tötung des faidosus in seinem eigenen Hause, für ein todeswürdiges Verbrechen erklärte.

Sowohl das Kapitular von 797 als die Lex enthalten Werttaxen für die Zahlung von Buſsen. Während das Kapitular gleich der älteren Capitulatio nur den fränkischen Solidus zu 12 Denaren oder drei Tremissen kennt, unterscheidet die Lex von diesem Solidus den kleineren sächsischen Solidus, welcher aus acht Denaren oder zwei Tremissen bestand. Nach dem Kapitular werden sowohl ein zwölfmonatliches als auch ein sechzehnmonatliches Rind zu drei Tremissen veranschlagt 15, während die Lex das erstere zu zwei, das letztere zu drei Tremissen schätzt. Die Werttaxe der Lex muſs, weil sie genauer ist, für jünger angesehen werden, wie die des Kapitulars 16.

Gegen das höhere Alter der Lex spricht die Verwandtschaft von c. 51—53 mit c. 5 des Capitulare legi Ribuariae additum von 803. Der Rechtssatz, daſs der Herr sich mit seinem Eid entreden dürfe, wenn er den wegen einer Missethat entflohenen Knecht nicht aufzufinden vermag, kann nicht aus dem sächsischen Rechte in das ribuarische aufgenommen worden sein, denn diese Voraussetzung würde dem sonst wahrnehmbaren Verhältnis der fränkischen Rechte

14 v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 305.

15 Denn das im Sommer geborene Kalb gilt als einjährig bis zum zweiten Einwintern, das im Winter geborene bis zum zweiten Frühjahrsaustreiben. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 35. Gegen dessen Ansicht, daſs die Werttaxen des Kapitulars sich auf den Solidus zu zwei Tremissen beziehen, s. Boretius a. O. S 155.

16 Die Corveier Handschrift und Tilius haben Zusätze zu c. 66, welche v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 26 f. ausführlich bespricht. Da sie auch nach Richthofen jünger sind als die Lex und das Kapitular von 797, so kommen sie für die Abfassungszeit der Lex nicht in Betracht.


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§ 47. Die Lex Angliorum et Werinorum.

zu den Rechten der unterworfenen Stämme schlechterdings widersprechen. Da die Benutzung der Lex Ribuaria für die Abfassung des sächsischen Volksrechtes auſser Zweifel steht, ist es mehr wie wahrscheinlich, daſs man bei dieser Gelegenheit auch die Ergänzung berücksichtigte, welche das ribuarische Volksrecht durch das Kapitular von 803 erhielt. Hat sich aus den obigen Ausführungen ergeben, daſs die Lex Saxonum jedenfalls nicht vor dem Jahre 797 entstanden sei, so zeigt ihr Verhältnis zum ribuarischen Kapitulare, daſs sie nicht älter sein kann als dieses. Das von 803 datierte Kapitular zur Lex Ribuaria ist vermutlich schon auf dem im Oktober 802 zu Aachen abgehaltenen Reichstage beschlossen worden. Es ist nicht unwahrscheinlich, daſs auch die Lex Saxonum auf diesem Reichstage zustande gekommen sei 17.

§ 47. Die Lex Angliorum et Werinorum.

Von den Ausgaben kommt neben dem Heroldschen Drucke nur noch die des jüngeren v. Richthofen in Mon. Germ. LL V 103 ff. in Betracht. Litteratur: Gaupp, Das alte Gesetz der Thüringer oder die Lex Angl. et Wer. hoc est Thuringorum in ihrer Verwandtschaft mit der Lex Salica und Lex Ripuaria dargestellt, 1834. H. Müller, Der Lex Salica und der Lex Angl. et Wer. Alter und Heimat, 1840. K. v. Richthofen, Zur Lex Saxonum, Beil. 5: das sächs. Nordthüringen und die Lex Thuringorum, S 394 ff. K. F. v. Richthofen, Praef. in LL V 103 ff. v. Amira in v. Sybels Hist. Z NF IV 310 ff. R. Schröder, Zur Kunde deutscher Volksrechte, Z2 f. RG VII 19.

Von dem Volksrechte der Angeln und Warnen sind uns zwei Texte überliefert, der eine in Herolds Ausgabe der Volksrechte, der andere in einer Corveier Handschrift 1. Herold bringt es unter der Überschrift: Lex Angliorum et Werinorum hoc est Thuringorum. Als Lex Thuringorum ist es in dem Corveier Kodex überschrieben. Die Spur einer dritten Handschrift, in der das Volksrecht als Lex Werinorum

17 Diese Ansicht hat Waitz für die ganze Lex, hat Boretius für die Kapitel 21—66 verfochten. — Zwei Fragmente eines für Sachsen bestimmten Kapitulars sind uns bei Ansegisus App. II c. 34. 35 überliefert, sie betreffen eine Beweisregel und die Pfandwehrung und stammen aus den Jahren 803—814. Vgl. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 356.

1 Derselben, welche auch die Lex Saxonum enthält. S. oben S 345 Anm 1. In beiden Texten hat eine Vermengung der Lex mit anderen Rechtsquellen stattgefunden. Bei Herold ist ein Bestandteil der Lex Frisionum, das Stück mit der Überschrift: Haec iudicia Wulemarus dictavit, in die Lex Angliorum hineingeraten. S. oben S 341. Die Corveier Handschrift verbindet c. 26—61 der Lex Angl. mit der Lex Saxonum. Nur den ersten Teil des Heroldschen Textes, c. 1—25, giebt sie als Lex Thuringorum.


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§ 47. Die Lex Angliorum et Werinorum.

i. e. Thuringorum bezeichnet war, ist uns in einer anglo-normannischen Rechtsaufzeichnung erhalten, welche in England gegen Ende des elften oder im Laufe des zwölften Jahrhunderts entstanden sein dürfte 2.

Die Heimat der Lex ist jener Teil Thüringens, welcher von den Stämmen der Angeln und Warnen bewohnt war. Der Name der Angeln, die im Gebiete der Unstrut saſsen, hat sich in dem südlich der Unstrut gelegenen pagus Engili oder Engleheim erhalten, welcher uns in Urkunden des neunten und zehnten Jahrhunderts begegnet. Noch jetzt weist eine Anzahl thüringischer Ortsnamen auf die einstigen Sitze der Angeln 3. Östlich von ihnen saſsen die Warnen, nach welchen die Landschaft zwischen Saale und Elster zu Anfang des neunten Jahrhunderts als Werenofeld bezeichnet wurde 4. Zur Zeit des Ostgotenkönigs Theoderich bildeten sie ein selbständiges Königreich 5, scheinen sich aber noch vor dem Sturze des Thüringerreiches diesem angeschlossen zu haben. Von den Franken unterworfen, empörten sie sich gegen Childebert II., wurden aber durch ein fränkisches Heer besiegt und nahezu aufgerieben 6. Die Überschrift der Lex Thuringorum

2 In den Constitutiones de foresta angeblich von Knut. Schmid, Gesetze der Angels. S 321, c. 33: quod si (canes rabidi) intra septa forestae reperiantur, talis exquiratur herus et emendet secundum pretium hominis mediocris, quod secundum legem Werinorum i. e. Thuringorum est ducentorum solidorum. Nach c. 2 der Lex Angl. beträgt das Wergeld des Freien 200 solidi. Die Constitutiones de foresta sind eine in normannischer Zeit vermutlich auf Grund angelsächsischer Vorlagen verfaſste Rechtsaufzeichnung. Das Zitat aus der Lex Thuringorum entspricht der kompilierenden Methode, nach welcher man im 12. Jahrh. angelsächsische Quellen zu verarbeiten liebte. In den Leges Henrici I. (entstanden zwischen 1108 und 1118) sind die Lex Sal. und die Lex Rib. vielfach benutzt und mehrfach zitiert. Jenes Zitat aus der Lex Thur. beweist, daſs in England zu Beginn der normannischen Periode eine Handschrift der Lex mit der angegebenen Überschrift vorhanden war. Sie mag im Gefolge der Salica oder Ribuaria vielleicht durch die Normannen nach England gekommen sein. Unmöglich ist, daſs das Zitat aus Herolds Ausgabe in den Text der Const. de foresta geraten sei, wie v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 410 vermutet. Aus dem Hinweis der Const. de foresta auf die Lex Thuringorum hat man die abenteuerlichsten Folgerungen in Bezug auf das Geltungsgebiet der letzteren gezogen. Nach Zöpfl, RG I 51 ist sie bei den Dänen in Gebrauch gekommen und von diesen nach England gebracht worden. Nach v. Schulte, RG S 84 „galt sie bis nach Holstein, Dänemark und England hinein“.

3 v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 410. Schröder a. O. S 21. Arnold, Deutsche Geschichte II 64.

4 v. Richthofen a. O. S 411. Als neuen Beleg bringt Schröder a. O. den Ortsnamen Werines aus einer Urkunde von 1068 bei.

5 S. oben S 46.

6 Fredegar. Chron. c. 15. Zeuſs, Die Deutschen und die Nachbarstämme


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§ 47. Die Lex Angliorum et Werinorum.

ist das letzte Zeugnis ihrer Existenz. Im neunten Jahrhundert wurden ihre Sitze von den Sorben überflutet. Sie mögen teils in diese, teils wie die Angeln in die Thüringer aufgegangen sein 7.

Die anglo-warnische Lex ist in freier Anlehnung an die Lex Ribuaria abgefaſst worden. Die Verwandtschaft zeigt sich hauptsächlich in der Anordnung des Stoffes 8 und in der Formulierung der Thatbestände. Nicht ebenso oft in den Rechtssätzen, denn trotz der Gleichartigkeit der Vordersätze, welche den Thatbestand enthalten, sind die Nachsätze, in welchen die Buſsen festgesetzt werden, häufig verschieden. Wahrscheinlich liegen der Abfassung der Lex Angliorum Weistümer zu Grunde, welche über das anglo-warnische Recht in Anlehnung an die Stoffverteilung der Lex Ribuaria abgefragt und im Anschluſs an den Wortlaut der Ribuaria aufgezeichnet worden sind. An einzelnen Stellen wird in der Lex Angliorum auf solche Rechtweisungen ausdrücklich Bezug genommen 9. Unter den Rechtsausdrücken, welche sie mit dem ribuarischen Volksrechte gemein hat, fallen das capitale und die delatura auf, die sonst nur bei den fränkischen Stämmen zu Hause sind. In Titel 1 wird das Wergeld des Freien wie in der Lex Ribuaria mit Einrechnung des Friedensgeldes auf 200 solidi angesetzt, wogegen die Wergeldsätze des Freigelassenen und des noch nicht gebärfähigen freien Weibes in c. 45 und c. 49 ersehen lassen, daſs bei den Angeln und Warnen ebenso

S 363 denkt dabei an die Nordschwaben, Waitz, VG II 67 Anm 2 an linksrheinische Thoringer.

7 H. Müller a. O. und Jakob Grimm, Geschichte der DSpr. S 421 (606) versetzten die Heimat der Lex in die Gegenden links des Rheins. Auf toxandrischem Boden sucht sie noch Lamprecht, Z des Aachener Geschichtsvereins IV 35. Er macht dafür c. 60 (XVIII 1) geltend: qui quadrupedia alterius in sepem cuiuslibet seu fossam minaverit. Die Sitte, Felder mit Gräben statt mit Zäunen zu schlieſsen, sei in Thüringen unbekannt, dagegen in den flandrischen Kampen sehr verbreitet. Daſs die fossa statt des Zauns diente, wird in c. 60 nicht vorausgesetzt. Wir finden dieselbe Bestimmung in Lex Saxonum c. 60: qui in fossam pecus quodlibet agitaverit. Vgl. Lex Rib. 70, 2; Roth. 305.

8 Es entsprechen sich insbesondere A. 1—3 und R. 7, 8 betreffend die Wergeldsätze, A. 4—25 und R. 1—6 über Wundbuſsen. Der dem Inhalte nach selbständige Abschnitt A. 26—34 de alodibus hat sein erbrechtliches Seitenstück in R. 56 de alodibus. A. 35—37 über Herden- und Viehdiebstahl entsprechen R. 18. A. 41 betreffend den Verkauf eines freien Mannes schlieſst sich in der Wortfassung an R. 16 an. Vgl. ferner A. 43 de incendio mit R. 17, A. 46 u. 58 über Frauenraub mit R. 34, 1. 4, A. 48. 49 über Frauenwergeld mit R. 12—14, A. 50. 57 über Hausfriedensbruch und Heimsuchung mit R. 64, A. 60. 61 mit R. 70.

9 A. 36: hoc de servo, bove … iudicatum; c. 49: similiter de viduae raptu vel interfectione iudicatum est.


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§ 47. Die Lex Angliorum et Werinorum.

wie bei den Oberdeutschen das Wergeld des Freien 160 solidi betrug und daneben das Friedensgeld als ein fixer Betrag von 40 solidi entrichtet wurde 10.

Die Lex Angliorum ist auch mit der Lex Saxonum verwandt. Diese Verwandtschaft beruht zum groſsen Teile darauf, daſs die Lex Ribuaria auch bei Abfassung des sächsischen Volksrechtes zu Grunde gelegt worden ist. Es finden sich aber in der Lex Angliorum vereinzelte Anklänge an die Lex Saxonum, die nicht auf die gemeinsame Benutzung der Lex Ribuaria zurückgeführt werden können 11. Und in einigen Stellen lehnt sich die Fassung der Lex Angliorum näher an die Lex Saxonum als an die Ribuaria an 12.

Eigentümlich ist das Ständewesen bei den Anglo-Warnen geartet. Sie haben wie die Sachsen einen Adel, der den Ribuariern fehlt. Dagegen wird der bei den Sachsen und Ribuariern vorhandene Stand der Liten nirgends genannt. Im Gebiete des Erbrechts überliefert uns die Lex Angliorum das älteste sichere Zeugnis über die Rechtsinstitute, welche später unter den Namen Heergeräte und Gerade weite Verbreitung genieſsen. Von der Kirche und von kirchlichen Einrichtungen schweigt sie, enthält aber auch nichts, was dem Christentum zuwiderliefe.

Neben niederdeutschen Wörtern, die sie mit der Lex Ribuaria oder Saxonum gemein hat 13, enthält die Lex Angliorum zweifellos althochdeutsche Wortformen 14, welche den Gedanken an eine niederdeutsche Heimat des Volksrechtes ausschlieſsen 15.

Die Lex stammt aus karolingischer Zeit, denn sie kennt die fränkische Bannbuſse von 60 solidi, welche Karl der Groſse bei den verschiedenen nichtfränkischen Stämmen zur Geltung brachte. Wahrscheinlich ist sie gleichzeitig mit der sächsischen, also in den Jahren 802 oder 803 entstanden. Wenigstens würde sich dadurch die Verwandtschaft der beiden Leges, soweit sie über die gemeinschaftliche Benutzung der Lex Ribuaria hinausgeht, am einfachsten erklären.

10 Vgl. oben S 226 Anm 11.

11 Den Ausdruck wlitiwam (Antlitzverletzung) hat Lex Angl. c. 23 mit Lex Sax. c. 5 gemein. Die Rib. kennt ihn nicht.

12 Vgl. A. 16 mit Sax. 11 u. R. 6; A. 60 mit Sax. 60 u. R. 70, 5. — A. 57 stimmt in der Fassung des Thatbestandes auffallend mit Lex Fris. 17, 4 überein.

13 Z. B. sonesti für Herde, parricum, wlitiwam.

14 Adaling für nobilis und nusca, Nusche, Spange.

15 Darauf hat Schröder a. O. S 15 hingewiesen.


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§ 48. Die Ewa Chamavorum.

Herausgegeben als Lex Francorum Chamavorum von R. Sohm in Mon. Germ. LL V 269 und in dessen Handausgabe der Lex Rib. S 111 ff. Litteratur: Pertz, Über das Xantener Recht, Abhandl. der Berliner Akademie 1846 S 411 ff. Gaupp, Lex Francorum Chamavorum oder das vermeintliche Xantener Gaurecht, 1855. Zöpfl, Die Ewa Chamavorum, ein Beitrag zur Kritik und Erläuterung ihres Textes, 1856. R. Schröder, Untersuchungen zu den fränk. Volksrechten, Festschrift für Thöl 1879; in Picks Monatsschrift für die Geschichte Westdeutschlands 1880, VI 492 und Z2 f. RG II 47. Sohm, LL V praef. S 269.

Eine Rechtsaufzeichnung, die uns in 48 knapp gefaſsten Kapiteln überliefert ist 1, trägt die Überschrift: Notitia vel Commemoratio de illa ewa, quae se ad Amorem habet. In den Kapiteln 26 und 28 wird von Diebstählen gehandelt, welche in Amore begangen worden sind. Gemeint ist damit das Gebiet der chamavischen Franken. Nach ihnen heiſst im neunten Jahrhundert das am Niederrhein und an der Yssel gelegene Hamaland. Die Ewa setzt voraus, daſs ihr Geltungsgebiet in mehrere Grafschaften und Gaue zerfiel. Sachsen und Friesen erscheinen darin als Nachbarn der Chamaven. Sie kann daher nicht auf den pagus Hamaland im engeren Sinne beschränkt gewesen sein, sondern hat ihre Herrschaft auf die westlich gelegenen Gaue Felwe und Flethetti, vielleicht auch auf die Landschaften Twente und Drente erstreckt 2.

Die Bewohner des Amorelandes rechnen sich zu den Franken 3 und zwar müssen sie ribuarische Franken gewesen sein, denn eine Urkunde des Jahres 855 bezeugt, daſs im Hamalande ribuarisches Recht gegolten hat 4.

Die Notitia de ewa Chamavorum ist nicht eine Satzung, sondern die Aufzeichnung eines Weistums, welches auf Anfrage königlicher Missi über das Sonderrecht der chamavischen Franken abgegeben worden ist. Die Fassung einzelner Kapitel läſst Frage und Antwort deutlich erkennen 5.

Die den Königsbann betreffende Anfrage in c. 2 und der königliche missus qui in missatico directus fuerit in c. 8 stellen es auſser

1 In zwei Pariser Handschriften. Eine dritte kommt als bloſse Abschrift nicht in Betracht.

2 Siehe Schröder, Untersuchungen S 20.

3 In primo capitulo de causis ecclesiae et de illis servis Dei, qui ibidem deserviunt, sic habemus, quomodo et alii Franci habent.

4 Lacomblet, UB. zur Gesch. des Niederrheins I Nr 65. Eine im Hamalande vollzogene Übereignung erfolgt secundum legem Ribuariam.

5 Sohm, Praef. LL V 270.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 23


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§ 49. Die Lex Romana Burgundionum.

Zweifel, daſs die Lex in karolingischer Zeit entstanden sei. Wahrscheinlich hängt die über das Chamavenrecht vorgenommene Inquisitio mit der legislativen Thätigkeit zusammen, welche Karl der Groſse in den Jahren 802 und 803 entfaltete, so daſs die Ewa Chamavorum um dieselbe Zeit wie die Lex Saxonum und die Lex Angliorum aufgezeichnet worden sein dürfte 6.

§ 49. Die Lex Romana Burgundionum.

Herausgegeben als Papiani liber responsorum im Anschluſs an den Codex Theodosianus vermutlich nach einer Handschrift P. Pithous von Cujacius 1566, als Lex Romana Burgundionum mit reichhaltigem Kommentar, aber nur nach den älteren Drucken von Barkow 1826, als Lex Romana Burgundionum, Papianus vulgo dictus auf Grund umfassender Vergleichung der Handschriften von Bluhme, Mon. Germ. LL III 579 ff. Litteratur: Die Vorreden Barkows und Bluhmes in ihren Ausgaben. v. Savigny, Gesch. des römischen Rechts II 9, VII 30. Bluhme, Über den burgundischen Papianus, im J des gemeinen deutschen Rechts II 197 ff. Reich an treffenden Bemerkungen ist Ginoulhiac, Des recueils de droit romain dans la Gaule u. s. w., in der Revue historique de droit français et étr. II 1856 S 539 ff. Karlowa, Römische Rechtsgeschichte I 983.

Als König Gundobad die Lex Burgundionum publizierte, verhieſs er in der prima constitutio dieses Gesetzbuchs den Römern ein besonderes Rechtsbuch, eine „forma et expositio legum conscripta“. Die Lex Romana Burgundionum, welche in Erfüllung dieses Versprechens verfaſst wurde, stellt sich, wie schon oben S 335 bemerkt worden ist, äuſserlich als eine Nachbildung der Lex Gundobada dar. Sie ist augenscheinlich in der Weise ausgearbeitet worden, daſs man zu dem Inhalte der Gundobada passende Parallelstellen aus römischen Rechtsquellen suchte. Die in der Gundobada für die Burgunder geregelten Rechtsfälle sollten in der Lex Romana für die Römer geregelt werden, indem man der Gundobada einen Auszug aus den römischen Rechtsquellen an die Seite stellte. Von den 47 Titeln der Lex Romana stellen sich die meisten als Paralleltitel der Gundobada dar. Von Titel 37 ab hat die Lex Romana sieben selbständige Titel 1. Dagegen sind zahlreiche Titel der Gundobada in der Lex Romana nicht vertreten, entweder weil sie Konstitutionen enthalten, die von

6 Pertz erklärte die Notitia fälschlich für ein Xantener Gaurecht, eine Ansicht, die nunmehr mit Recht allgemein verworfen wird, ebenso wie die ältere Meinung von Baluze, der sie für ein Kapitular Karls d. Gr. hielt und in seiner Kapitularienausgabe als drittes Kapitular des Jahres 813 abdruckte.

1 Titel 37. 38. 40. 41. 42. 46. 47.


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§ 49. Die Lex Romana Burgundionum.

vorneherein auch für die Römer erlassen wurden 2, oder weil ein ihnen entsprechender Rechtssatz in den römischen Quellen nicht vorlag 3, oder weil der betreffende Titel zur Zeit der Abfassung der Lex Romana in der Gundobada noch nicht vorhanden war, sondern erst durch die jüngere Novellengesetzgebung in dieselbe eingefügt worden ist.

Die Lex Romana hat nicht sowohl den Charakter eines Gesetzbuchs als den einer Instruktion; sie führt nicht neue Rechtssätze ein, sondern stellt nur bereits geltende Rechtssätze zusammen; sie ist mehr in belehrendem als in befehlendem Tone gehalten 4. Der König tritt darin nirgends als selbstredend auf 5.

Der römisch-rechtliche Apparat, den die Redaktoren exzerpierten, bestand aus dem Codex Theodosianus, aus posttheodosianschen Novellen, aus dem Codex Gregorianus und Hermogenianus, aus Paulus’ Sententiae, aus der Interpretationslitteratur zum Codex Theodosianus und zu Paulus und aus einer der Schriften des Gaius 6. Die Rechtssätze, welche den genannten Vorlagen nicht entlehnt sind, gehen entweder auf römisches Vulgarrecht 7 oder auf burgundische Königsgesetze zurück, welche in der Lex Gundobada enthalten sind und von vorneherein sowohl für die Burgunder als auch für die Römer bestimmt waren 8. Auf ein bloſs für die Römer erlassenes Königsgesetz bezieht sich Titel 2 hinsichtlich des Wergeldes der freien Römer. Da das römische Recht, so heiſst es daselbst, nichts bestimmt habe de pretiis occisorum, so habe der König festgesetzt, daſs der Totschläger, der das kirchliche

2 So Titel 38 der Gundobada.

3 Ginoulhiac a. O. S 547.

4 Man beachte die Wendungen: custodiant iudicantes in Tit. 31 1, sciendum etiam in Tit. 35, 5, de servitutibus vero superiori titulo comprehensum est, quid iudices debeant observare in Tit. 31, 3.

5 In dritter Person wird er angeführt 2, 5: dominus noster statuit observare, 2, 6: hoc ex praecepto regis convenit observari, 30, 2: ad praeceptionem domni regis.

6 In zwei Stellen 5, 1; 10, 1 wird auf eine regula Gaii, in einer Stelle (12, 2) auf eine species Gaii verwiesen. Es ist streitig, ob dabei an die Institutionen oder an eine andere Schrift des Gaius zu denken sei. Vergleiche über diese Streitfrage Bluhme, Z f. RG III 453, Huschke, Z f. RG VII 161 und Karlowa, Römische Rechtsgeschichte I 984.

7 Z. B. Tit. 35, 2. Vgl. oben S 201 Anm 34. Tit. 22, 7. Vgl. Brunner, RG der Urkunde I 129.

8 Eine Aufzählung der Stellen, deren Inhalt oder Fassung auf die Gundobada zurückführt, bei Bluhme, J des gemeinen deutschen Rechts II 200.

23*


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§ 49. Die Lex Romana Burgundionum.

Asyl gewonnen, mit der Hälfte seines Vermögens den Erben des Erschlagenen zugesprochen werde 9.

Die Lex Romana Burgundionum ist unter der Regierung des Königs Gundobad abgefaſst worden. In Titel 2 werden die Buſsen für Tötung von Unfreien auf ein „praeceptum domini regis“ zurückgeführt. Der König, von dem es herrührt, kann, wie sich aus Gundobada Titel 10 und 50 ergiebt, nur Gundobad gewesen sein. Die burgundische Lex Romana ist wahrscheinlich älter als die westgotische, weil eine Benutzung der letzteren nicht stattgefunden hat 10. Sie ist jünger als die Gundobada, nach deren Vorbild sie abgefaſst wurde. Daſs sie nach ihrer ursprünglichen Abfassung revidiert worden sei, läſst sich nicht nachweisen 11. Die Verfasser der Lex sind uns unbekannt 12.

Ihr juristischer Wert darf nicht unterschätzt werden. Als Seitenstück zur Gundobada ist sie nicht ohne Geschick angelegt. Eine erschöpfende Darstellung des römischen Rechtes zu bieten, war nicht ihre Absicht. Sie wollte nicht, wie die Lex Romana Wisigothorum, die Anwendung der römischen Rechtsquellen entbehrlich machen, sondern für die dringendsten Bedürfnisse des Rechtslebens einen kurz gefaſsten Leitfaden abgeben.

So lange das westgotische Breviarium in Burgund nicht bekannt war, muſste man für das neben der Lex Romana geltende römische Recht auf die Sammlungen der römischen Konstitutionen und auf die juristische Litteratur zurückgehen 13. Dieser Mühe enthob man sich,

9 Es liegt kein Grund vor, diese Stelle mit Ginoulhiac a. O. S 575, Bluhme a. O. S 209 und Stobbe S 116 für ein späteres Einschiebsel zu erklären. Der vorausgehende Satz: de ingenuo vero homicida intra ecclesiam posito de interempti precio principis est expectanda sententia, soll darthun, daſs das Gesetz Gundobads den Grundsätzen des römischen Rechts entspreche, welches das pretium in das Ermessen des princeps stelle. Auf Grund dieser Befugnis habe dann — das ist der Zusammenhang — der König eine Lücke des römischen Rechts durch die nachfolgende Satzung ausgefüllt, welche sich gewissermaſsen als Ersatz der sententia darstellt, die nach römischem Rechte von Fall zu Fall einzuholen ist.

10 Die Lex Rom. Burg. hat Konstitutionen und Stellen des Paulus exzerpiert, die uns in der Lex Rom. Wisig. nicht erhalten sind. Über das Alter der sog. westgotischen Interpretatio s. unten S 259. 260.

11 Ginoulhiac glaubt a. O. S 540 f. 569 f. drei Revisionen annehmen zu müssen. Dagegen Bluhme, J II 204 f.

12 Die Ansicht, daſs der am Schluſs der Berliner Handschrift genannte Graf Aimoin sie habe abfassen lassen, welche Bluhme J II 201 aufstellte, hat er LL III 589 als eine irrtümliche zurückgenommen.

13 Die älteste Handschrift des Papian, Vatic. Nr 5766, ist uns nur in wenigen Bruchstücken erhalten. Sie stammt aus dem 6. oder 7. Jahrh. und bildete einen


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§ 49. Die Lex Romana Burgundionum.

als die Lex Romana Wisigothorum (das sog. Breviarium) vorlag, indem man nunmehr letztere als Quelle des römischen Rechtes benutzte. Die Lex Romana Burgundionum nahm dann neben dem Breviarium dieselbe Stellung ein, die sie früher neben den reinen Quellen des römischen Rechtes eingenommen hatte. Sie wurde daher in den Handschriften dem Breviarium häufig als Anhang hinzugefügt. Dieser Verbindung verdankt sie die miſsverständliche Bezeichnung „Papianus“. Das Breviarium schlieſst mit einer kurzen Stelle aus Papinian, welche überschrieben ist: Incipit Papiniani liber I. responsorum. Man bezog die Überschrift auch auf die handschriftlich unmittelbar nachfolgende Lex Romana Burgundionum und nannte sie Papianus 14. Der Irrtum ist uralt, denn jene Bezeichnung findet sich schon in Handschriften des neunten Jahrhunderts, die von einander unabhängig sind 15.

In den von den Ostgoten erworbenen Gebieten der burgundischen Provence wurde das Edikt des Ostgotenkönigs Theoderich eingeführt, von welchem in § 52 die Rede sein wird. Hier hat man, wie es scheint, mit dem Edictum die das Wergeld der Römer betreffende Satzung Gundobads in handschriftliche Verbindung gebracht, jene Satzung, welche im zweiten Titel der Lex Romana Burgundionum enthalten ist 16. Daraus mag der Irrtum hervorgegangen sein, daſs jene Satzung von König Theoderich herrühre. Denn später haftet an ihr der Name Theoderichs. Eine Handschrift der Lex Romana Wisigothorum, welche den Titel 2 des Papianus hinter der Interpretatio zu einer Novelle Valentinians III. einschob 17, nennt als Verfasser den dominus noster Theodericus, bezeichnet diesen aber als

Teil eines Kodex, dem auch die Fragmenta Vaticana und der Codex Theod. angehörten, ein Beweis, daſs man neben dem Papian die älteren Quellen benutzte.

14 So schrieb man statt Papinianus.

15 So ist wohl auch der Papianus in Urk. Beyer Nr 42 v. J. 804 zu deuten.

16 Die editio princeps des Edictum Theoderici bringt hinter der Lobrede des Ennodius ein Bruchstück aus der Lex Rom. Burg., nämlich c. 5 u. 6 des Titels 2, mit dem Vermerk Pithous, daſs diese Stellen nicht dem ostgotischen, sondern dem fränkischen Theoderich angehören. Wenn auch Pithou diese Korrektur aus Sichards Ausgabe der Lex Rom. Wisig. (s. unten Anm 16) geschöpft haben mag, so kann doch, wie die Vergleichung des Wortlauts ergiebt, der abgedruckte Passus nicht daher entlehnt sein. Er muſs in einer der beiden Handschriften des Edictum gestanden haben, welche Pithou dem Buchhändler Nivellius zum Abdruck überlieſs. Siehe Gaudenzi in der Z2 f. RG VII 45 Anm 3.

17 Hinter Interpr. zu Nov. Valentinians III. Tit. 3 de homicidiis in Cod. Basil. C. III 1. Siehe Haenel, Lex Rom. Visig. S XLVI. XLVII. Ebenso in Sichards Ausgabe der Lex Romana Wisigothorum. Vgl. Bluhme, LL III 596 Anm 8, V 168.


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§ 50. Die Lex Romana Wisigothorum.

rex Francorum, vermutlich weil die Einschiebung in der Zeit der fränkischen Herrschaft erfolgte, unter welcher die Beziehung auf den ostgotischen Theoderich unverständlich geworden war.

§ 50. Die Lex Romana Wisigothorum.

Herausgegeben von G. Haenel, Lex Romana Visigothorum, 1849. Zur Litteratur: Haenels Prolegomena. v. Savigny, Gesch. des röm. Rechts II 37 ff. Karlowa, Röm. Rechtsgesch. I 976. Fitting, Über einige Rechtsquellen der vorjustinianischen spätern Kaiserzeit, Z f. RG X 317, XI 222.

Im westgotischen Reiche lebten bis zur Mitte des siebenten Jahrhunderts die Westgoten nach gotischem, die Römer nach römischem Rechte. Nachdem Eurich den Goten ein Gesetzbuch gegeben, lieſs sein Nachfolger Alarich II., der mit Rücksicht auf den drohenden Angriff der Franken 1 ein Interesse hatte, den römischen Provinzialen entgegenzukommen, für diese eine umfassende Rechtssammlung herstellen. Nachrichten über die Ausführung dieses Unternehmens enthält ein königliches Dekret, mit welchem die vollendete Lex Romana an die einzelnen Grafen des Reiches versendet wurde 2. Aus demselben geht hervor, daſs Alarich eine Kommission von Rechtsverständigen einsetzte, welche durch Exzerpierung und Erläuterung römischer Rechtsquellen ein Rechtsbuch herstellen sollte. Nachdem dieselbe ihr Werk im Jahre 506 zu Aire in der Gascogne vollendet hatte, wurde es einer Versammlung von Bischöfen und Provinzialen zur Zustimmung vorgelegt und von ihr genehmigt. Von dem im königlichen Schatz aufbewahrten Original lieſs man Abschriften nehmen, welche mit der Beglaubigung des königlichen Referendars

1 Daſs dem Kriege Jahre feindseliger Spannung vorausgingen, bezeugen die diplomatischen Verhandlungen Theoderichs d. Gr. Richter, Annalen des fränk. Reichs I 38.

2 Es bezeichnet sich als auctoritas Alarici regis und wurde in die einzelnen offiziellen Abschriften der Lex eingetragen mit folgender Inskriptio, welche den Namen des Adressaten enthielt: In hoc corpore continentur leges sive species iuris de Theodosiano et diversis libris electae et sicut praeceptum est explanatae anno XXII regnante domino Alarico rege. Ordinante viro illustri Goiarico comite exemplar auctoritatis commonitorium (Timotheo v. s. comiti). Aus den Worten ordinante viro illustri Goiarico comite hat man gefolgert, daſs Gojarich den Vorsitz in der Redaktionskommission oder die Leitung der Redaktionsarbeit gehabt habe. Allein sie sind nicht auf die Abfassung der Lex, sondern auf das folgende zu beziehen. Gojarich hatte für die Verbreitung der Lex zu sorgen und bestimmte die Adressen, an die sie versendet werden sollte. Das exemplar auctoritatis wurde ordinante Goiarico dem einzelnen als commonitorium zugeschickt. Erst durch die Benennung des Adressaten wurde es zum commonitorium, welches begrifflich einen solchen voraussetzt.


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§ 50. Die Lex Romana Wisigothorum.

Anianus versehen, nach Anordnung des Grafen Gojarich an die richterlichen Beamten verschickt wurden. Das königliche Dekret, welches vom Jahre 506 aus Toulouse datiert ist, gebietet, daſs nur nach diesem Rechtsbuche und nicht nach anderen römischen Rechtsquellen geurteilt werden dürfe.

Alarichs Rechtsbuch hat keine offizielle Bezeichnung. Die beglaubigende Unterschrift des Referendars Anianus nennt es Codex de Theodosiani legibus atque sententiis iuris vel diversis libris electus. In den Handschriften heiſst es Liber legum (Romanarum), Lex Romana, Lex Theodosii, Corpus legum. Seit dem sechzehnten Jahrhundert ist dafür die Bezeichnung Breviarium üblich geworden.

Die Redaktoren des Breviars, sicherlich Römer, befolgten eine exzerpierende und kompilierende Methode, welche einigermaſsen mit derjenigen verwandt ist, die später Justinian bei Abfassung der Pandekten und des Kodex anwenden lieſs. Der römische Rechtsstoff zerfiel zur Zeit der Entstehung des Breviars in zwei Hauptmassen, nämlich in ius und leges, ein Gegensatz, der etwa dem des englischen common law und statute law entspricht 3. Das ius bestand in den Schriften der römischen Juristen und in den älteren Konstitutionensammlungen; als leges faſste man die Konstitutionen des Codex Theodosianus und die posttheodosianischen Novellen zusammen. Die Redaktoren des Breviars stellten an die Spitze ihres Werkes eine Auswahl von Konstitutionen des Codex Theodosianus, dessen 16 Bücher ungefähr auf ein Sechstel ihres Umfanges reduziert wurden. Es folgen Novellen von Theodosius II., Valentinian III., Marcian, Majorian und Severus. Die jüngste stammt vom Jahre 463 4. Das ius ist viel spärlicher vertreten, nämlich durch den Liber Gaii, eine um die Wende des vierten und fünften Jahrhunderts vermutlich in Rom entstandene Bearbeitung des Gaius, welche die noch praktisch geltenden Sätze mit Ausscheidung alles Historischen zusammenstellte, ferner durch die Sententiae des Paulus, durch 22 Konstitutionen aus dem Codex Gregorianus, zwei Konstitutionen aus dem Codex Hermogenianus und endlich durch eine kleine Stelle aus den Responsen Papinians.

Abgesehen vom Liber Gaii ist die ganze Kompilation mit einer fortlaufenden Glosse versehen, die sich als interpretatio bezeichnet.

3 Zum common law wurden auch die älteren Königsgesetze gezählt. Siehe Holtzendorff, Rechtsencyklopädie I4 307.

4 Die noch jüngeren Novellen des Anthemius, Haenel, Novellae constit. col. 341, fallen bereits in die Regierungszeit des Königs Eurich (466—484) und kamen nicht in Betracht, weil Eurich die Oberhoheit des Kaisertums und damit dessen Gesetzgebung nicht mehr anerkannt hatte.


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§ 50. Die Lex Romana Wisigothorum.

Die Erläuterungen zu den Konstitutionen sind in der Hauptsache Inhaltsangaben. Die Interpretation der Sententiae des Paulus hat den Charakter einer Paraphrase. Bis vor kurzem war man der Ansicht, daſs die Interpretatio von den Redaktoren des Breviars verfaſst worden sei, und man hat sie wegen dieser wohlgelungenen Arbeit mit reichlichen Lobsprüchen bedacht. Allein die Wagschale ihres Verdienstes ist durch die neuesten Untersuchungen 5 erheblich leichter geworden; denn es ist nunmehr anzunehmen, daſs die Redaktoren des Breviars die Interpretatio zum gröſsten Teile nicht selbst ausgearbeitet, sondern bereits vorgefunden haben und zwar in Schriften, welche im Laufe des fünften Jahrhunderts zum Zwecke des juristischen Unterrichts verfaſst worden waren.

Die Kompilatoren lieſsen sich bei der Zusammenstellung des Breviars von wesentlich praktischen Gesichtspunkten leiten. Da die Sammlung für die römische Bevölkerung des westgotischen Reiches bestimmt war, muſsten zahlreiche Stellen der benutzten Vorlagen als unpassend übergangen werden. So ist z. B. aus dem Codex Theodosianus eine Reihe von Titeln, die das römische Ämterwesen betreffen, ist mit Rücksicht auf den Arianismus der Westgoten der Titel de fide catholica und der Titel de haereticis nicht aufgenommen worden. Änderungen in der Reihenfolge der Rechtssätze unterlieſs man, indem man auf eine systematische Anordnung der Exzerpte schlechtweg verzichtete.

Im westgotischen Reiche wurde das Breviarium von König Reckessuinth zu Gunsten der Rechtseinheit auſser Kraft gesetzt 6. Allein es erhielt sich nicht nur als Quelle des römischen Rechtes in einstmals westgotischen Bestandteilen des fränkischen Reiches 7, sondern es wurde dank seiner Brauchbarkeit in der fränkischen Monarchie mit Ausnahme Italiens allenthalben von der römischen Bevölkerung und von der Kirche als römisches Rechtsbuch schlechtweg benutzt. Soweit in Gesetzen, Sammlungen und juristischen Schriften Frankreichs, Deutschlands und Englands römisches Recht benutzt worden ist, liegt bis in das zwölfte Jahrhundert hinein regelmäſsig das Breviarium zu Grunde. Erst seit dem zwölften Jahrhundert beginnen es hier die Rechtsbücher Justinians zu verdrängen.

Auf Grundlage des Beviariums entstand eine juristische Litteratur, welche sich bestrebte, den darin enthaltenen Stoff in eine knappere

5 Die Litteratur und den Stand der Frage bespricht Karlowa a. O. S 977.

6 S. oben S 329.

7 In Septimanien ist das Verbot der Anwendung des Breviariums unter fränkischer Herrschaft auſser Kraft getreten.


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§ 51. Die Lex Rom. Cur. und die Cap. Remedii.

Form zu gieſsen und den für die Praxis unbequemen Dualismus von Text und Interpretatio zu beseitigen. Unter diesem Gesichtspunkte wurden zahlreiche Auszüge aus dem Breviarium verfaſst. Solcher Auszüge, die sich zumeist der Interpretatio anschlieſsen, sind uns aus dem achten und neunten Jahrhundert sechs erhalten. Die meiste Verbreitung scheint die Epitome Aegidii genossen zu haben 8. Sie muſs schon um die Mitte des achten Jahrhunderts vorhanden gewesen sein, weil sie in einigen Formeln der Formelsammlung von Tours benutzt worden ist 9. Bei der Art, wie sie ihre Vorlage wiedergeben, sind die Auszüge aus dem Breviar eine beachtenswerte Quelle für die Erkenntnis des römischen Vulgarrechtes.

§ 51. Die Lex Romana Curiensis und die Capitual Remedii.

Ausgaben: Nach der Handschrift von Udine (jetzt Univ.-Bibl. zu Leipzig, Cod. 3493) bei Canciani, Barbarorum Leges IV 461, nach diesem bei Walter, Corpus iur. germ. III 691. Nach den zwei schweizerischen Handschriften bei Haenel, Lex Romana Visigothorum, neben dem Breviar und dessen epitomae und bei Planta, Das alte Rätien, 1872, S 452. Eine kritische Ausgabe wird für die Mon. Germ. von K. Zeumer vorbereitet. Cap. Remedii hg. von Haenel, LL V 180. Litteratur: Savigny, Gesch. d. röm. Rechts I 426 f., VII 26. Haenel, Lex Rom. Visig. proleg. S XXXI. LXXXIII. Bethmann-Hollweg, Ursprung d. lomb. Städtefreiheit, 1846, S 28. Hegel, Gesch. d. Städteverfassung v. Italien, 1847, II 104 f. Stobbe, De lege Romana Utinensi, 1853. Francesco Schupfer, La Legge Romana Udinese, 1881 Atti della reale Ac. dei Lincei ser. 3, mem. della classe di scienze morali vol. VII; derselbe, Nuovi studi sulla legge Rom. Udinese, 1882 a. O. vol. X. R. Wagner, Zur Frage nach der Entstehung und dem Geltungsgebiet der Lex Rom. Ut., in Z2 f. RG IV 54. Brunner ebendaselbst S 263 f. v. Salis, Lex Romana Curiensis, in Z2 f. RG VI 141.

Die Lex Romana Curiensis stellt sich äuſserlich als ein Auszug aus der Lex Romana Wisigothorum dar, welcher den gesamten Stoff derselben in 27 Bücher verteilt. Sachlich hat sie aber den Charakter eines selbständigen Rechtsbuches, denn sie enthält nicht bloſs Abänderungen ihrer Vorlage, sondern auch Rechtssätze, die von derselben völlig unabhängig sind. Die Abweichungen von der Lex Romana Wisigothorum beruhen zum Teil auf römischem Vulgarrecht, zum Teil führen sie auf deutsches, insbesondere auf fränkisches Recht zurück. Die Sprache der Lex wimmelt von Germanismen und ist

8 So genannt nach ihrem ersten Herausgeber, Peter Aegidius aus Antwerpen.

9 Form. Turon. 11, Zeumer S 141, zitiert ex corpore Theodosiani libri quinti eine Stelle, deren Wortlaut sich in der Ep. Aeg. V 8 findet. Ein Zitat aus Ep. Aeg. Paulus II 20, 2 eröffnet die Form. 16, Zeumer S 143.


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§ 51. Die Lex Romana Curiensis

nicht frei von Ausdrücken, welche der fränkischen Rechtsterminologie angehören.

Streitig ist das Geltungsgebiet, streitig der Entstehungsort und die Entstehungszeit der Lex.

Der Verfasser, vermutlich ein Geistlicher, will wie die Epitomatoren des Breviars römisches Recht überhaupt darstellen, sind es doch vorzugsweise Konstitutionen römischer Kaiser, die er exzerpiert. Soweit er vom Breviarium abweicht, faſst er das zu seiner Zeit praktisch geltende römische Recht ins Auge. Wo er örtliche Rechtssätze oder Rechtsausdrücke aufnimmt, bringt er sich nicht zum Bewuſstsein, daſs sie nicht allgemein anwendbar seien, wo römisches Recht gilt.

Auſser Zweifel steht, daſs die Lex in Churrätien praktisch angewendet worden ist. Von den drei überlieferten Handschriften stammen zwei aus der Ostschweiz. Eine Urkunde aus Rankweil im heutigen Vorarlberg enthält eine Bezugnahme auf die Lex 1. Nicht unwahrscheinlich ist, daſs sie in dem gesamten rätisch-romanischen Gebiete und darüber hinaus bis nach Istrien zur Geltung gelangte. Denn die dritte Handschrift, die wir von ihr besitzen, hat sich einst zu Aquileja befunden.

Den Entstehungsort der Lex hat man in Istrien 2, in Oberitalien 3 und in Churrätien 4 gesucht. Für ihre rätische Herkunft sprechen durchschlagende Gründe. Die Lex enthält Wörter, welche wir, wie atto und atta für avus und ava, hornungus 5 für filius naturalis, weder in Istrien, noch in Italien, wohl aber auf rätisch-alamannischem Boden nachweisen können. Nur in Rätien finden wir die der Lex eigentümliche Form des Wortes Falsicia für Falcidia und die technische Anwendung dieses Ausdruckes für quarta pars, die im Anschluſs an den Wortlaut der Lex entstanden ist 6. Gegen Istrien spricht die Ämterverfassung der Lex, gegen Istrien und gegen Oberitalien der starke Einfluſs des fränkischen Rechtes.

Die Abfassungszeit pflegte man früher in das achte Jahrhundert zu setzen. Allein die Rechte, welche die principes als groſse Kronvasallen ausüben, die Behandlung der Knechte nach den Grundsätzen des Immobiliarrechtes und die vorgeschrittene Entwicklung des Lehn-

1 Wartmann, UB. von St. Gallen II Nr 421.

2 Bethmann-Hollweg und Wagner.

3 Savigny und neuerdings Schupfer. Man stützt sich dafür auf den Fundort der Handschrift von Aquileja-Udine, allein ihr Text steht nach Zeumer dem der St. Galler so nahe, daſs eine gemeinsame Vorlage anzunehmen ist.

4 Hegel, Haenel, Stobbe, Pertile und v. Salis.

5 Z2 f. RG IV 266.

6 Z2 f. RG IV 265, VI 156.


(0381 : 363)

und die Capitula Remedii.

wesens entscheiden gegen so hohes Alter der Lex. Diese kann nicht jünger sein wie das neunte Jahrhundert, dem die überlieferten Handschriften angehören. Sie muſs spätestens im Jahre 859 in Unterrätien vorhanden gewesen sein. Denn eine Urkunde 7, welche in den Jahren 852 oder 859 zu Rankweil ausgestellt worden ist 8, beruft sich mit den Worten: sicut lex continet, auf eine Stelle der Lex Romana Curiensis. Da an verschiedenen Stellen vom König, nirgends vom Kaiser die Rede ist, dürfte die Lex zu einer Zeit abgefaſst worden sein, als Rätien nicht unter einem Kaiser, sondern nur unter einem König stand. Denn es ist unwahrscheinlich, daſs gerade eine römische Rechtsaufzeichnung, eine Paraphrase römischer Kaiserkonstitutionen ohne zwingenden Grund den Ausdruck rex gewählt hätte. Rätien hatte im neunten Jahrhundert bis 840, oder wenn man erwägt, daſs Lothar seine Ansprüche auf Rätien erst im Vertrage von Verdun endgiltig aufgab, bis 843 einen Kaiser als Staatsoberhaupt. Die Lex wird also wegen der Erwähnung des Königs als jünger anzusehen sein. Da eine rätische Schenkungsurkunde von 844 9 noch frei ist von einem Vorbehalte, der in der Lex Curiensis bei Schenkungen vorgeschrieben ist und seit 852 oder 859 regelmäſsig in den rätischen Urkunden erscheint, so wird man der Wahrheit am nächsten kommen, wenn man die Mitte des neunten Jahrhunderts als Entstehungszeit der Lex Curiensis betrachtet.

Vom Standpunkte des heutigen Romanisten beurteilt, ist die Lex Curiensis eine herzlich schlechte Arbeit. Der Verfasser war ein schwacher Jurist und hat seine Quellen vielfach miſsverstanden. Dafür liefert er aber von dem Zustande des römischen Rechtes, wie es damals im Rechtsleben geübt wurde, ein treueres Bild wie irgend eine andere der in den germanischen Reichen entstandenen Quellen des römischen Rechtes. Für das römische Vulgarrecht ist die Lex Curiensis die wichtigste Fundgrube.

Aus Churrätien stammt noch eine andere merkwürdige Rechtsquelle, eine Satzung von zwölf Kapiteln, die man als Capitula Remedii bezeichnet 10. Remedius, seit 800 Bischof von Chur, wird darin zwei-

7 Wartmann Nr 421.

8 Vgl. über die Datierung der rätisch-alamannischen Urkunden aus der Zeit Ludwigs des Deutschen Wartmann, UB. der Abtei St. Gallen I zu Nr 353. Die Epoche von 843, welche v. Salis in Betracht zieht, wird man, als Ludwig der Deutsche in Rätien unbestritten regierte, schwerlich angewendet haben.

9 Wartmann Nr 391. Siehe Brunner, Z2 f. RG IV 265.

10 Wyſs im Archiv f. schweizerische Geschichte VII 1851 S 212. Stobbe, De lege Utinensi S 24. Planta, Das alte Rätien, 1872, S 309 ff.


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§ 51. Die Lex Rom. Cur. und die Cap. Remedii.

mal und zwar in dritter Person genannt und für den Kreis der Personen, den die Satzung angeht, als der dominus schlechtweg erwähnt. Von Remedius rührt die Satzung nicht her, sondern sie scheint von einer Versammlung der geistlichen und weltlichen Beamten, sowie der Vasallen und Hintersassen des Bischofs beschlossen worden zu sein. Die Personen, für welche die Satzung gelten soll, befinden sich in dienstlicher oder grundherrlicher Abhängigkeit vom Bischof. Es ist die Rede von den Romani homines, qui ad domnum Remedium episcopum pertinent, Ehen sind nur mit homines des Bischofs gestattet 11. Die Satzung ist hauptsächlich strafrechtlicher Natur, doch werden zwar verstümmelnde Leibesstrafen, wie der Verlust der Augen und der Hand, angedroht, aber nirgends wird die Todesstrafe ausgesprochen. Vielmehr heiſst es in einem Falle, wo man sie erwarten sollte, von dem Verbrecher: in potestate stet iudicum et laicorum, eine Wendung, die noch einigemale wiederkehrt. Kirchlichen Einfluſs verrät die Steigerung der Strafen bei Rückfällen, wie sie der kirchlichen Buſspraxis eigentümlich war. Der Diebstahl soll gesühnt werden, wie es in nostra lege scriptum est, worunter nur die Lex Romana Wisigothorum, Paulus II 32 verstanden werden kann 12. Das Schluſskapitel ordnet an, daſs jeder Priester die Satzung dem Volke monatlich zweimal vorlesen solle.

Die sogenannten Capitula Remedii finden ihre Erklärung in einer weitgehenden Immunitätsgerichtsbarkeit des Bischofs von Chur und sind für die Immunitätsleute desselben bestimmt. Auf Grund königlicher Privilegien hatte das Bistum Chur die Sonderstellung eines halbsuveränen Kirchenstaates erhalten. Karl der Groſse und nachmals Ludwig und Lothar 13 hatten die Bischöfe von Chur und den populus Curiensis in ihren besonderen Schutz genommen und ihnen gestattet, nach eigenen Gesetzen und Gewohnheiten zu leben. Damit scheint ein weitgehendes Recht autonomer Gerichtsbarkeit verbunden gewesen zu sein. Ein Seitenstück zu der Sonderstellung der Churwelschen bilden die Vorrechte der in der septimanischen Mark leben-

11 Nur so kann das „nubat cui vult tantum in domno“ in c. 5 erklärt werden.

12 Keine direkte Beziehung auf eine bestimmte Stelle der Lex Romana finde ich in c. 10: si quis falsum testimonium dixerit, quia omnes fratres sumus in Christo, fiat secundum legem nostram condemnatus, sicut fieri debuit illi, quem nocere voluit. Das falsche Zeugnis soll mit der Strafe belegt werden, welche die Lex Rom. für die bezeugte Handlung ausspricht. Andernfalls hätte die biblische Motivierung keinen Sinn. Schupfer sieht in der lex nostra die Bibel.

13 Mühlbacher, Regesten Nr 155. 1062. Sickel, Beiträge zur Diplomatik III, Wiener Sitzungsber. XLVII 192. 259.


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§ 52. Die ostgotischen Edikte.

den Spanier. Diese erhielten 815 das Recht zugesichert, causae minores nach hergebrachter Sitte unter sich abzumachen 14. Ein Privileg Karls des Kahlen von 844 nimmt von der autonomen Gerichtsbarkeit der Spanier nur die drei Verbrechen des Totschlags, des raptus und der Brandstiftung aus 15. Etwas anders war die vorbehaltene Jurisdiktion für die Immunitätsleute des Bischofs von Chur abgegrenzt. Sie wird durch das Strafmaſs in der Weise bestimmt, daſs die Verhängung der härteren Strafen, insbesondere der Todesstrafe über ihren Rahmen hinausfällt. So gehört z. B. der Totschlag noch zur Jurisdiktion des Bischofs, solange der Verbrecher nicht den dritten Totschlag begangen hat.

Die Entstehung der Satzung fällt in die Zeit, da Remedius das Bistum Chur verwaltete, also in den Anfang des neunten Jahrhunderts.

§ 52. Die ostgotischen Edikte.

Ausgaben: Die editio princeps des Edictum Theoderici besorgte der Buchhändler Nivellius nach zwei Handschriften, welche ihm P. Pithou zum Abdruck überlassen hatte. Es ist im Anschluſs an Cassiodors Varien etc. aber mit besonderer Paginierung abgedruckt: M. Aurelii Cassiodori Senatoris Variarum libri XII … Edictum Theoderici regis Italiae … Paris. apud Sebastianum Nivellium 1579. Auf diese Ausgabe gehen alle folgenden zurück. Mit einem Kommentar edierte es Rhon, Commentatio ad edictum Theoderici, 1816. Die neueste Ausgabe besorgte Bluhme in Mon. Germ. LL V 145 ff. — Athalarichs Edikte finden sich in Cassiodors Varien, das wichtigste bei Manso, Gesch. des ostgothischen Reiches, 1824, Beil. 13, S 405 ff., bei Gretschel, Ad edictum Athalarici regis Ostrogoth. commentatio, 1828, und bei Padeletti, Fontes iur. ital. medii aevi, 1877, S 23. Litteratur: Savigny, Gesch. des röm. Rechts im Mittelalter II 172. Iwan v. Glöden, Das röm. Recht im ostgoth. Reiche, 1843. Haenel, Lex Rom. Visig. praef. S XCI. Dahn, Könige der Germanen IV. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 268. Gaudenzi, Gli editti di Teoderico e di Atalarico e il diritto romano nel regno degli Ostrogoti, 1884; derselbe, Die Entstehungszeit des Edictum Theoderici, Z2 f. RG VII 29.

Anders wie bei den Burgundern und bei den Westgoten war im ostgotischen Reiche die Gesetzgebung von vorneherein eine gemeinsame für die germanische und für die römische Bevölkerung. Wahrscheinlich in den Jahren 511—515 1 erlieſs der Ostgotenkönig Theoderich ein Edikt, von welchem uns keine Handschrift, sondern nur der Text der editio princeps erhalten ist. In der Einleitung sagt

14 Boretius, Cap. I 262, c. 2.

15 Vaissete II Nr 119 c. 3.

1 Gaudenzi, Z2 f. RG VII 46 f.


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§ 52. Die ostgotischen Edikte.

Theoderich, daſs er zur Aufrechthaltung von Ruhe und Ordnung befohlen habe das Edikt auszuhängen, damit sowohl die Barbaren als auch die Römer daraus ersehen könnten, was sie in den darin behandelten Punkten zu befolgen hätten. Theoderichs Edikt will nur die am häufigsten vorkommenden Rechtsverletzungen ins Auge fassen und über dieselben der Rechtspraxis des täglichen Lebens eine Reihe kurz gefaſster Rechtssätze an die Hand geben. Im übrigen sollte für die Goten das gotische, für die Römer das römische Recht zur Anwendung gelangen 2. Drum sind jene Rechtssätze des Edikts, welche der Verschiedenheit der Geburtsstandsrechte einen gewissen Spielraum offen halten wollten, ziemlich allgemein gefaſst. Die Mehrzahl der Vorschriften bezweckt eine schneidigere Verfolgung und Bestrafung von Verbrechen. Während einerseits vorwiegend germanische Unthaten, z. B. Frauenraub und Heimsuchung verpönt werden, eifert das Edikt andrerseits gegen Übelstände, welche wie die Angeberei (die execranda pernicies delatorum), die Urkunden-, Akten- und Metallfälschung, die Zession von Klagen und Schuldtiteln an mächtige Personen bei der römischen Bevölkerung eingewurzelt und schon durch die römische Kaisergesetzgebung auf das schärfste bekämpft worden waren.

Von den 155 Kapiteln des Edikts, die ohne systematische Ordnung zusammengestellt sind, haben die meisten ihren Inhalt römischen Rechtsquellen entlehnt. Benutzt sind insbesondere die drei vorjustinianischen Codices, zumal der Codex Theodosianus, die posttheodosianischen Novellen, die Sententiae des Paulus, Ulpians De officio proconsulis und die römische Interpretationslitteratur des fünften Jahrhunderts 3, dieselbe welche auch in den römischen Leges der Burgunder und Westgoten verwertet worden ist 4. Die vom römischen Rechte unabhängigen Rechtssätze sind hauptsächlich strafrechtlicher Natur. Eine dem

2 Aus Cassiodor. Var. 7, 3 ergiebt sich, daſs Streitigkeiten zwischen Goten und Römern von dem gotischen comes entschieden wurden adhibito sibi prudente Romano. Da in Prozessen zwischen zwei Goten ein solcher Beirat nicht zugezogen wurde, jenes Erfordernis eines Beirats aber den Mangel genügender Kenntnis des römischen Rechts bei dem gotischen comes voraussetzt, so müssen die internen Rechtshändel der Goten, soweit nicht das Edictum platzgriff, nach gotischem, nicht nach römischem Rechte entschieden worden sein. Die Ansicht, daſs die Goten ausnahmslos dem römischen Rechte unterworfen worden seien, hat neuerdings Gaudenzi, Gli Editti di Teodorico S 60 ff. gegen die herrschende Meinung wieder aufgenommen.

3 Die römischen Rechtsquellen, denen die einzelnen Stellen des Edikts entlehnt sind, verzeichnet der index locorum in LL V 176.

4 Daher die Erscheinung, daſs nicht weniger wie 11 Stellen des Edikts der westgotischen Interpretatio entsprechen. S. oben S 360.


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§ 52. Die ostgotischen Edikte.

römischen Vulgarrecht entstammende Vorschrift ist das Erfordernis der Schrift bei Schenkungen von Immobilien 5.

Von Theoderich besitzen wir noch ein kurzes an Papst Symmachus gerichtetes Edikt vom Jahre 508, welches die Veräuſserung von Kirchengütern verbietet 6.

Theoderichs Enkel und Nachfolger Athalarich (526—534) erlieſs eine Anzahl von Edikten, welche der quaestor sacri palatii Cassiodorius Senator 7 verfaſste und in seine Varien, eine Sammlung der aus seiner Feder geflossenen Aktenstücke der königlichen Kanzlei, aufnahm 8. Das bedeutendste derselben, welches Athalarich gelegentlich als programma edictale bezeichnet 9, ist das edictum contra eos qui praedia urbana vi occupabant et contra fornicarios atque concubinarios, welches in seinem Schluſskapitel die sämtlichen älteren Edikte aus der Zeit Theoderichs und Athalarichs bestätigt.

Theoderichs Edikt trat nicht bloſs in Italien, sondern auch in den zum ostgotischen Reiche gehörigen Teilen Galliens und Pannoniens in Geltung, insbesondere auch in den Gebieten, welche die Ostgoten in den Jahren 510 und 523 den Burgundern entrissen hatten 10. Schon oben Seite 357 ist bemerkt worden, daſs eine der verlorenen Handschriften des Edikts, welche vermutlich aus der Provence stammte, mit demselben eine Stelle des burgundischen Papianus verbunden habe. In der Provence scheint auch jene kürzlich von Gaudenzi entdeckte Rechtsaufzeichnung 11 entstanden zu sein, welche neben den Leges Eurici das Edikt Theoderichs und burgundisches Recht berücksichtigt 12.

In Italien traten nach dem Sturze des ostgotischen Reiches die Edikte der ostgotischen Könige auſser Geltung. In der kurzen Spanne Zeit, da er Italien beherrschte, führte Justinian daselbst seine Rechts-

5 Brunner, Zur Rechtsgeschichte der Urkunde I 129.

6 LL V 169.

7 Über seine Wirksamkeit Gaudenzi, L’opera di Cassiodorio a Ravenna, Atti e Memorie della r. deputazione di Storia patria per le provincie di Romagna, Modena 1885. 1887.

8 Die Varien sind u. a. bei Migne, Patrologia lat. Bd LXIX abgedruckt. Eine kritische Ausgabe ist in den Mon. Germ. zu erwarten.

9 Var. IX 19 a: necessaria quaedam romanae quieti edictali programmate duodecim capitibus … in aevum servanda conscripsimus. Gaudenzi, Editti S 60.

10 Binding, Das burg.-rom. Königreich S 213. 265.

11 S. oben S 325.

12 Ein Beweis, daſs das Edictum Theoderichs das geltende Recht unrömischen Ursprungs nicht beseitigen, sondern ergänzen wollte.


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§ 53. Edictus Langobardorum.

bücher ein 13 und ebenso die Novellen, von welchen bald nach 554 jene lateinische Übersetzung verfaſst wurde, die man nachmals als Liber Authenticorum bezeichnete 14.

§ 53. Edictus Langobardorum.

Ausgaben: Edictus Langobardorum ed. Bluhme in Mon. Germ. LL IV 1 ff. Einen Textabdruck gab Bluhme in einer Oktavausgabe 1869 u. d. T.: Edictus ceteraeque Langobardorum Leges. — Edicta regum Langobardorum ed. Baudi a Vesme 1855, abgedruckt von Neigebauer (8°) 1855. Auf der Ausgabe Bluhmes fuſst der Text bei Padeletti, Fontes iuris italici medii aevi, 1877. Litteratur: Savigny, Gesch. des röm. Rechts im Mittelalter II 209 ff. Türk, Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte, Heft 4 S 167 ff. 1835. Merkel, Gesch. des Langobardenrechts, 1850. Bluhme, Praef. in LL IV. BethmannHollweg, Civilprozeſs IV 321 ff. Pertile, Storia del diritto ital. I 110 f. Pasquale del Giudice, Le tracce di diritto romano nelle leggi longobarde, fascicolo I. Editto di Rotari, 1886.

Klarer als die Entstehungsgeschichte aller anderen germanischen Volksrechte liegt die des langobardischen Ediktes vor unseren Augen. Fünfundsiebenzig Jahre waren seit der Ankunft des Volkes in Italien verflossen, als die Langobarden zu ihrem ältesten geschriebenen Rechte gelangten. Sie verdankten es ihrem König Rothari, welcher im Jahre 643 eine umfassende Satzung und Aufzeichnung ihres Rechtes veranstaltete, die sich als Edictus bezeichnet, unter welchem Namen einst auch die ostgotischen Könige ihre Gesetze erlassen hatten. In einem Prolog, welcher einer Novelle Justinians nachgebildet ist, faſst Rothari sein Werk als eine Reform des geltenden Rechtes auf 1. Im Epilog nennt er das althergebrachte, bislang ungeschriebene Recht der Vorfahren als die Quelle seiner Gesetzgebung. Nachdem der Edictus

13 S. die sog. Sanctio pragmatica Justinians c. 11: Bluhme, LL V 172. Haenel hat Juliani Epitome, 1873, S XLVII u. 185 den Nachweis geführt, daſs die sog. Sanctio pragmatica ein Auszug aus sieben oder mehr Gesetzen Justinians de reformando statu Italiae sei.

14 Zachariae v. Lingenthal, Zur Geschichte des Authenticum, in den Sitzungsber. der Berliner Akad. 1882 17. Nov. S 993 ff. Das Authenticum wird bereits in Briefen Gregors d. Gr. und im Edictus Rotharis benutzt.

1 Die Worte des Prologs: necessarium esse prospeximus presentem corregere legem, quae priores omnes renovet et emendet et quod deest adiciat et quod superfluum est abscidat, stammen, wie Pasquale del Giudice a. O. zuerst bemerkt hat, zum Teil aus Novelle 7 praef., wo es heiſst: … una complecti lege, quae priores omnes et renovet et emendet et quod deest adiciat et quod superfluum est abscidat. Auf römisches Vorbild, vermutlich auf Nov. 8 praef. und auf das angehängte Edikt (Schöll S 89) gehen auch die „subtilis inquisitio“ und der „exercitus noster felicissimus“ des Epilogs c. 386 zurück.


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§ 53. Edictus Langobardorum.

mit Rat und Zustimmung der Groſsen und des Volkes zustande gekommen war, lieſs er ihn gemäſs langobardischer Rechtssitte durch den Akt des „gairethinx“ bekräftigen 2.

Rotharis Edikt ist mit Recht als die hervorragendste legislative Schöpfung aus der Zeit der Volksrechte bezeichnet worden. Ein Werk aus einem Gusse ist das Edikt frei von dem kompilatorischen Charakter der meisten Volksrechte. Die Rechtssätze sind knapp und scharf formuliert. Der Stoff ist nach bestimmtem Plane verteilt 3. In dem Texte des Ediktes, der im Vulgarlatein seiner Zeit geschrieben ist, finden sich zahlreiche technische Ausdrücke, wie sie der Rechtssprache der Langobarden eigentümlich waren. Die meisten sind nachweisbar deutsch und zwar hochdeutsch 4, andere trotzen bislang jeder sprachlichen Erklärung 5. Vereinzelte Anklänge an die Lex Wisigothorum 6 scheinen eine freie Benutzung der Gesetze Eurichs vorauszusetzen. Daſs den Verfassern des Edikts die römischen Rechtsquellen nicht unbekannt waren, zeigt die schon erwähnte Benutzung der Novellen Justinians, die ihnen bereits in der als Authenticum bekannten Sammlung vorgelegen haben. Um so mehr muſs es — namentlich im Verhältnis zur Gesetzgebung der Ostgoten, der Westgoten und der Burgunder — betont werden, daſs der Edictus in seinen Rechtssätzen dem römischen Rechte gegenüber eine weitgehende Selbständigkeit bewahrt hat. Fehlt es zwar nicht an Wendungen der römischen Rechtsterminologie, so ist doch die Zahl der dem römischen Rechte entlehnten Rechtssätze eine verschwindende. Mit Sicherheit können

2 S. oben S 131. Pappenheim, Launegild u. Garethinx, in Gierkes Untersuchungen XIV 28 und Schröder, Z2 f. RG VII 59.

3 Der erste Teil c. 1—152 behandelt die Verbrechen gegen König und Staat und die an der Person begangenen Unthaten, darunter in c. 45—128 die Wundbuſsen und zwar in drei gesonderten Abschnitten die Verwundungen von Freien, von Hörigen und Ministerialen und von servi rusticani. Der zweite Teil (c. 153 bis 226) ist dem Erbrechte, dem Familienrechte und der Freilassung gewidmet. Die Kapitel 227—368, welche Sachen- und Schuldrecht, Verbrechen gegen das Vermögen und beweisrechtliche Grundsätze betreffen, lassen sich als ein dritter Teil zusammenfassen. Von da ab folgt eine Nachlese vereinzelter Vorschriften, von welchen eine (c. 387) erst nach Vollendung des Edikts zwischen die Schluſskapitel desselben eingeschoben wurde, die sich als Epilog des ganzen Werkes darstellen.

4 Bluhme, Die gens Langobardorum, 2. Heft 1874. C. Meyer, Sprache und Sprachdenkmäler der Langobarden, 1877, ein Werk, das hinsichtlich der Quellen reiche Nachlese übrig läſst.

5 S. oben S 55.

6 S. oben S 300 f. Anm 44, S 339 Anm 24. Auf diese Verwandtschaft hat mich Herr Dr. Karl Zeumer aufmerksam gemacht.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 24


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§ 53. Edictus Langobardorum.

nur die Enterbungsgründe7, die zweijährige Frist zur Vollziehung einer Verlobung8 und die Verwendung des Verjährungsbegriffes9 auf römisches Recht zurückgeführt werden. Kirchliche Verhältnisse10 hat Rothari wenig berücksichtigt, eine kirchliche Art der Freilassung nicht anerkannt. Die herrschende Form des Christentums war damals bei den Langobarden noch der Arianismus. Der Römer wird in dem Edikte nicht besonders gedacht. Nur an einer Stelle ist von einer ancilla romana die Rede11. Allem Anscheine nach war die römische Bevölkerung in Sachen des öffentlichen Rechtes und im Rechtsverkehr mit den Langobarden den Vorschriften des Edikts unterworfen und wurde nur in den gegenseitigen Rechtsbeziehungen der Römer die Anwendung des römischen Rechtes geduldet12.

Von Rotharis Edikt sind uns zwei Auszüge in griechischer Sprache erhalten, welche im Fürstentum Benevent für den Gebrauch der daselbst lebenden Griechen verfaſst worden sind13.

Die von den Nachfolgern Rotharis erlassenen Gesetze stellen sich als Nachträge zu dem Edikt ihres Vorgängers dar, so daſs man nicht von mehreren Edikten der langobardischen Könige, sondern nur von einem Edictus Langobardorum zu sprechen berechtigt ist.

Im Jahre 668 fügte Grimoald auf Wunsch der langobardischen Richter dem Edictus neun Kapitel hinzu, um gewisse Härten des älteren Rechtes zu mildern. Sie beschränken die Haftung des Herrn für seine Eigenleute, gewähren den Enkeln ein Erbrecht in Konkurrenz mit den Söhnen des Erblassers; der dreiſsigjährige Besitzstand wird geschützt oder doch beweisrechtlich begünstigt, die rechtliche Stellung der Ehefrau verbessert.

Weit umfangreicher und einschneidender war die legislative Thätigkeit, welche König Liutprand in den Jahren 713—735 entfaltete. Seine zahlreichen Gesetze bilden nicht wie das Werk Rotharis eine planmäſsig geordnete und in sich abgeschlossene Satzung, sondern wurden zur Ergänzung des Ediktes in fünfzehn verschiedenen Regierungsjahren erlassen14 und sind demgemäſs in fünfzehn Massen,

7 Rothari 169. Vgl. Nov. 115 c. 3 § 1. 5. 6.

8 Roth. 178. Vgl. Codex Just. V 1, 2.

9 Roth. 227. 228.

10 Roth. 272 regelt das Asylrecht, Roth. 35 bestraft das scandalum in ecclesia. Roth. 343 kennt eine Verlautbarung vor der Kirchenthüre.

11 Roth. 194.

12 Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs IV 332 ff.

13 Bluhme hat sie als graeci interpretis eclogae edicti Langobardorum LL IV 225 ff. abgedruckt. Vgl. a. O. praef. S XLV.

14 Auszuscheiden ist c. 29, welches nicht von Liutprand stammt, sondern sich


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§ 53. Edictus Langobardorum.

„volumina“15, eingeteilt. Sie können sich in Bezug auf Durchsichtigkeit und Anschaulichkeit zwar nicht mit Rotharis Gesetzen messen, sind aber gleich diesen noch ein Zeugnis von der hervorragenden juristischen Begabung des langobardischen Stammes. Die Sprache der Gesetzgebung wird unter Liutprand allmählich ausführlicher. Die Satzungen werden bereits durch allgemeine Erwägungen oder durch den Hinweis auf Rechtsfälle, die sie veranlaſsten, motiviert. Der Einfluſs des Katholizismus, der seit Grimoald bei den Langobarden durchgedrungen war, beginnt sich in der Gesetzgebung fühlbar zu machen. Liutprands Prologe nehmen Bibelsprüche und fromme Äuſserungen in sich auf. Nicht eigene Weisheit, sondern göttliche Inspiration hat nach dem Prolog des ersten Volumens dem katholischen König die neuen Gesetze diktiert. Zu den hergebrachten Freilassungsarten tritt als eine privilegierte Form die Freilassung in der Kirche hinzu. Heidnische Bräuche und heidnischer Aberglaube werden verfolgt und bestraft, die Verfügungen zum Heile der Seele begünstigt. Die Ehe mit der Witwe des Vetters wird verboten, weil der Papst es verlangt habe, qui in omni mundo caput ecclesiarum Dei et sacerdotum est16. Entlehnungen aus dem römischen Rechte sind auch bei Liutprand selten. Nur in Materien, die mit dem Urkundenwesen zusammenhängen, gewinnt es steigende Bedeutung. So stellt es Liutprand in die Wahl der Kontrahenten, ob sie ihre Geschäftsurkunden nach römischem oder nach langobardischem Rechte ausstellen wollen17. So ist der Rechtssatz, daſs Schuldurkunden nach fünf Jahren ihre Giltigkeit verlieren, wenn sie nicht erneuert worden sind, auf eine verwandte Bestimmung des Kaisers Honorius von 421 zurückzuführen18. Bemerkenswert sind in Liutprands Gesetzen die Anfänge einer mit dem Wortlaut des älteren Edikts operierenden Jurisprudenz. Der gesetzlichen Regelung neuer Rechtsfälle wird mitunter die Erörterung vorausgeschickt, daſs und warum sie sich nicht unter ältere Gesetze subsumieren lassen19.

als eine im Fürstentum Benevent entstandene Rechtsaufzeichnung darstellt. Vgl. LL V 121 Anm 11 und Rosin, Die Formvorschriften für die Veräuſserungsgeschäfte der Frauen nach langob. Recht, bei Gierke, Untersuchungen VIII 24 ff.

15 Liu. prol. vor c. 30 ff.: quoniam quidem superius in hoc edicti corpore ea quae nobis et nostris iudicibus vel caeteris Langobardis congrua paruerunt, in quatuor uoluminibus adiungere curauimus. Vgl. prol. vor c. 54 und 70.

16 Liu. c. 33.

17 Liu. 91. Vgl. Brunner, RG d. U. I 7 Anm 1.

18 Liu. 16 vgl. mit Cod. Theod. II 27 l. un. Vgl. Bethmann-Hollweg, Civilprozeſs III 287, IV 384.

19 Liu. 141 setzt die Strafe zu Haut und Haar auf collectio mulierum; denn

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§ 53. Edictus Langobardorum.

Neue Zusätze erhielt der Edictus unter König Ratchis, welcher im Jahre 746 acht Kapitel hinzufügte, und unter König Aistulf, welcher als der letzte einheimische Gesetzgeber des Langobardenreiches im Jahre 755 noch dreizehn Kapitel anhängte.

Dem Körper des Edikts wurden nur solche Gesetze einverleibt, welche auf den langobardischen Reichstagen mit Beirat der Beamten und unter Zustimmung des Volkes beschlossen worden waren. Auſserdem haben aber die langobardischen Könige Verordnungen und interimistische Gesetze erlassen, die von vorneherein nicht dazu bestimmt waren in das Edikt aufgenommen zu werden. Diesen Charakter haben ein Reglement Liutprands für die königlichen Gutsvögte, notitia de actoribus betitelt, und zwei Kapitel des Königs Ratchis, welche den Paſszwang für Romfahrer und die königlichen Gasinden betreffen und von welchen Racthis selbst bemerkt, daſs sie nicht in das Edikt eingefügt werden sollen. Von Ratchis besitzen wir noch vier andere Kapitel, welche im Jahre 745 oder 746 nur mit Beirat der iudices zustande kamen und nicht zur Einverleibung in das Edikt bestimmt waren20. Dasselbe gilt von einem interimistischen Gesetze Aistulfs von 750, dessen Inhalt hauptsächlich für einen Krieg mit den Römern berechnet ist21. Weder Gesetz noch Verordnung ist das in Grimoalds oder Liutprands Zeit entstandene Memoratorium de mercedes Comacinorum, eine Aufzeichnung über das Recht der Zimmer- und Bauleute22, welche ohne Grund einem jener beiden Könige zugeschrieben wird.

Seit der Unterwerfung des Langobardenreiches unter die fränkische Herrschaft machte das langobardische Recht in den unteritalischen Sitzen der Langobarden insofern eine selbständige Entwicklung durch,

der Fall könne weder unten den Begriff des ariscild noch unter den der seditio rusticanorum gebracht werden, quia istas causas uiri faciunt, nam non mulieres. In Liu. 134 wird die Zusammenrottung der Gemeindegenossen zur Austreibung eines miſsliebigen Dorfbewohners mit der Strafe von 20 solidi bedroht. Denn dieses Verbrechen könne weder als ariscild (Roth. 19), noch als consilium rusticanorum (Roth. 279), noch als seditio rusticanorum (Roth. 280) aufgefaſst werden. Et plus congruum nobis paruit esse de consilium malum, id est de consilio mortis (Roth. 11) .... ideo adsimilavimus causam istam ad consilium mortis … In Liu. 78 wird die von Grimoald c. 4 eingeführte Verjährungsfrist von 30 Jahren für Fiskalgüter verdoppelt, weil Roth. 369 bei causae regales doppelte compositio anordnet.

20 Ihr Inhalt wird in Aistulfs Gesetzen von 746 teilweise wiederholt, teilweise abgeändert. Boretius, Capitularien im Langobardenreich S 14.

21 Boretius a. O. S 12. 13.

22 Comacini hieſsen sie nach ihrem Hauptwohnsitz in der Gegend von Como.


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§ 53. Edictus Langobardorum.

als es sich frei von Einflüssen des fränkischen Rechtes auf rein nationalen Grundlagen fortzubilden vermochte. Hier hat auch der Edictus noch weitere Zusätze erhalten, welche die Fürsten von Benevent, Aregis und Adelchis, nach Art der langobardischen Könige hinzufügten23. Auſserdem besitzen wir noch Verträge beneventanischer Fürsten mit den Neapolitanern und einen Vertrag über die Teilung des Herzogtums Benevent von 851. welche für die Erkenntnis des altlangobardischen Rechtes von nicht unerheblicher Bedeutung sind.

Eigentümlich ist die Stellung, die das langobardische Volksrecht zu den übrigen germanischen Rechten einnimmt. Nicht die oberdeutschen Rechte und nicht die fränkischen Rechte stehen ihm am nächsten, sondern es bildet innerhalb des Kreises der deutschen Volksrechte mit den Rechten der Altsachsen und der Angelsachsen eine engere Gruppe. Charakteristische Rechtssätze und Rechtsausdrücke sind den Langobarden mit den Sachsen und mit den Angelsachsen gemein24. Nicht minder merkwürdig ist die Übereinstimmung, die in

23 Adelchis bezeichnet sowohl die Gesetze seines Vorgängers, des Herzogs Aregis, als auch diejenigen, die er selbst im J. 866 erlieſs, als Teile des Edikts. Von Aregis heiſst es: sequens uestigia regum … quaedam capitula … statuere curauit … quae inserta in edicti corpore retinentur. Von den eigenen Gesetzen sagt Adelchis: in edicti paginis inserere praecepimus perpetuo iure retinenda.

24 Auf diesen Punkt hat schon Biener, Comm. I § 47 S 141 hingewiesen. Näheres hat Gaupp, Thüringer S 20. 68 und Sachsen passim beigebracht. S. noch Stobbe, RQ I 127; Hammerstein-Loxten, Der Bardengau, 1869, S 59 ff. Als Beispiele der Verwandtschaft seien hervorgehoben: 1. die Stellung des Gewährsmanns bei der Anefangsklage. Der Kläger wird bei Langobarden und Sachsen in die Wohnung des Gewährsmanns geführt, während nach fränkischem Recht der Besitzer den Auktor vor Gericht stellen muſs. Roth. 231 und Ssp Ldr. II 36, 5. Eine Kombination beider Methoden kennt das angelsächsische Recht; Aethelred II 9. 2. Die vollständige Ausschlieſsung der Töchter durch Söhne im Erbrecht. Miller, Z f. RG XIII 53 und Lex Sax. 41. 3. Die Zählung der Verwandtschaft usque in septimum geniculum und die sieben Sippezahlen des Sachsenspiegels. 4. Das sächsische Verbot der Veräuſserung auf dem Siechbette galt ursprünglich auch im langob. Recht, arg. Liu. 6. 5. Der ältere langob. Mündigkeitstermin von 12 Jahren (Roth. 155) stimmt mit dem sächsischen überein. 6. Das Recht der Blutsverwandten die Witwe zu verloben, wenn der Mage des verstorbenen Mannes als Vormund die Verlobung verweigert. Roth. 182 u. Lex Sax. 43. 7. Die auf Tötung des dominus gesetzte Todesstrafe in Roth. 13 u. Lex Sax. 25. 8. Wer einen Baum anzündet, haftet 24 Stunden für den daraus entstehenden Schaden. Roth. 148 u. Lex Sax. 55. 9. Die Folgen der wissentlichen Bearbeitung fremden Landes in Roth. 354 u. Ssp Ldr. II 46, 1. 10. Die Unterscheidung groſsen und kleinen Diebstahls in Roth. 253 u. Lex Sax. 36. 11. Der langobardische dux und der angelsächsische ealdorman. Weiteres s. bei Stobbe a. O. S 127 Anm 17. Von Rechtsausdrücken sind neben einander zu stellen der fulcfree in Roth. 224 und der folcfrŷ in Wihträd 8 und


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§ 54. Königsrecht und Kapitularien.

manchen Beziehungen zwischen dem langobardischen Rechte und den skandinavischen Rechten obwaltet25. Findet die Verwandtschaft mit dem Sachsenrechte ihre naheliegende Erklärung in den ursprünglichen Sitzen der Langobarden an der Niederelbe und in den Beziehungen, die sie zu den Sachsen noch nach ihrer Auswanderung festhielten, so können die Analogien mit den skandinavischen Rechten auf uralte Verwandtschaft zurückgeführt werden, welche einst zwischen den Rechten der niederelbischen und der skandinavischen Völkerschaften bestand. Jedenfalls sind die nach dem Norden weisenden Zusammenhänge ein Beweis der auffallenden Zähigkeit, mit welcher die Langobarden an ihrem hergebrachten Rechte hingen, jener Zähigkeit, welche auch in der Widerstandskraft zum Ausdruck kommt, die das langobardische Recht Jahrhunderte hindurch dem römischen Rechte gegenüber trotz enger örtlicher Berührung bewährt hat.

§ 54. Königsrecht und Kapitularien.

Ausgaben: Die fränkischen Kapitularien sind herausgegeben von Baluzius, Capitularia regum Francorum, 1677. 1780, in den Mon. Germaniae von Pertz, LL I. II, die Kapitularien bis 827 in verbesserter Ausgabe von Boretius in Legum sectio II tom. I, 1883. Litteratur: Eichhorn § 149. 150. v. Daniels § 85—95. Boretius, Die Capitularien im Langobardenreich, 1864; derselbe, Beiträge zur Capitularienkritik, 1874; derselbe, Selbstanzeige in den Göttingischen gel. Anzeigen 1882 Nr 3. 4 und 1884 Nr 18. Beseler, Über die Gesetzeskraft der Capitularien, 1871 Festgaben für Homeyer. M. Thévenin, Lex et Capitula, 1878 aus den Mélanges publiés par l’école des hautes études. E. Loening, Kirchenrecht II 20 f. Waitz, VG III 599 ff. und Anm 1 über sog. Cap. missorum III 482 und in den Götting. gel. Anzeigen 1885 Nr 8.

Hinsichtlich der Rechtserzeugung war die Machtstellung des fränkischen Königs eine verschiedene im Verhältnis zu den einzelnen

Knut II 45, 3; fulborn in Roth. 154 und im ags. Fragment Schmid, Anh. 15; der langob. waregangus und der angels. værgenga, s. oben S 274; der langob. gasindio und der angels. gesith; selpmundia in Roth. 204 und selfmundich in sächsischen Rechtsquellen oben S 77 Anm 46.

25 U. a. kommen in Betracht die Rechtsstellung der filii naturales, Wilda, Z f. DR XV 282 ff; die Behandlung des Mundiums, Maurer, KrV IV 424; die Halbteilung der Buſsen zwischen dem König und dem Verletzten, Wilda, Strafrecht S 107; die übereinstimmende Bedeutung von langob. ariscild (Liu. 134) und nord. herskjöldr, Miller a. O. Nr 136; die Gegengabe (das Lohnen der Gabe, löna giæf) des schwedischen und das Launegild des langobardischen Rechtes, v. Amira, Obligationenrecht S 509; das Recht des Vaters, der Söhne hat, über einen Kopfteil seines Vermögens zu verfügen im langob. Recht und nach schwedischen Rechten, Pappenheim, Launegild S 61; die Anwendung der Friedlosigkeit oben S 172.


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§ 54. Königsrecht und Kapitularien.

unter seiner Herrschaft vereinigten Stämmen. Bei den römischen Unterthanen war er zwar in die absolute Gesetzgebungsgewalt eingetreten; allein das fränkische Königtum hielt sich im allgemeinen fern von legislativen Eingriffen in das römische Privatrecht und behandelte dieses mit jener scheuen Hochachtung, die man vor Dingen zu haben pflegt, die man nicht übersehen kann1. Bei den germanischen Stämmen hatte sich die Ausbildung des Königsrechtes mit der im Volksbewuſstsein eingewurzelten Überzeugung abzufinden, daſs Volksrecht nur durch das Volk und nicht einseitig vom König geschaffen werden könne. Hier war der springende Punkt in der Geschichte des Königsrechtes das Verhältnis des Königs zu den Organen der Rechtsprechung. Wo diese vom Königtum unabhängig waren, reichte die Macht des Königs nicht aus, um zu bestimmen, was in den Gerichten Rechtens sein solle. Nur daraus läſst es sich erklären, daſs bei den Franken der Unterschied zwischen Königsrecht und Volksrecht bis zum Ausgang der karolingischen Periode lebendig blieb. Wo dagegen die Rechtsprechung dem richterlichen Beamtentum anheimfiel und die aktive Teilnahme der Gerichtsgemeinden verschwunden war, wie dies bei den Langobarden geschah, vermochte der König Änderungen des Volksrechtes ohne Zustimmung des Volkes durchzuführen.

Während bei den Nordgermanen, namentlich bei den Schweden, ein Königsrecht sich verhältnismäſsig spät entwickelte, beginnt im fränkischen Reiche der König schon sehr früh in die Rechtsbildung einzugreifen. Sein Anteil an der Erzeugung neuen Rechtes reicht so weit, wie sein Einfluſs auf die Handhabung des Rechtes. Er schafft Recht, einseitig oder doch nur unter Mitwirkung des auf den Reichstagen vertretenen Beamtentums, so weit er mit Hilfe des Beamtentums das neue Recht durchzusetzen in der Lage ist, also namentlich im Gebiete der Verwaltungssachen. Vermag er die Rechtsprechung nicht einseitig zu binden, so kann doch andrerseits die Satzung neuen Volksrechtes nicht ohne seine Mitwirkung vor sich gehen, seit der Mallus unter dem Vorsitz des königlichen Grafen oder seines Vertreters tagt und das Urteil in dem Rechtsgebot der königlichen Beamten seine Ergänzung finden muſs. Geht die Satzung vom König

1 In dem Edictum Pistense v. J. 864 c. 20 sagt Karl der Kahle: super illam (Romanam) legem vel contra ipsam legem nec antecessores nostri quodcunque capitulum statuerunt nec nos aliquid constituimus. In der Responsa misso cuidam data Cap. I 145, c. 2 antwortet der König auf eine Anfrage über die Urkundungsgebühren der Gerichtspersonen: lege Romanam legem et sicut ibi inveneris exinde facias.


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§ 54. Königsrecht und Kapitularien.

aus, so bedarf es der Zustimmung des Volkes, damit sie volksrechtliche Kraft erlange.

Als solche mit dem Volke vereinbarte Satzungen stellen sich verschiedene Zusätze zur Lex Salica dar. So ist das Edikt König Chilperichs, dessen einzelne Sätze sich mit convenit, placuit et convenit einführen, unter Zustimmung der Optimaten, Antrustionen und des ganzen Volkes beschlossen worden2. Daſs auch der Pactus pro tenore pacis von Childebert I. und Chlothar I. auf ähnliche Weise zustande kam, beweist der Name pactus, den er mit verschiedenen Volksrechten teilt3, und beweisen die auf ihn bezüglichen Nachrichten der Epiloge zur Lex Salica4. Die in dem Pactus zur Wahrung und Verbesserung des Landfriedens angeordneten Einrichtungen beanspruchen territoriale Geltung. Ein Landes- und nicht bloſs ein Stammesgesetz scheint auch ein Dekret Childeberts II. von 596 für Austrasien gewesen zu sein. Es veröffentlicht eine Reihe von Beschlüssen, die auf den Märzfeldern von Andernach, Maestricht und Köln gefaſst worden waren5.

Das Edikt Chlothars II. von 614 ist eine carta libertatis, welche der König auf Grund eines mit den fränkischen Groſsen eingegangenen Kompromisses gewährt. Es enthält keine Abänderung des Volksrechtes, sondern stellt sich als ein Reichsschluſs dar, durch welchen der König gewisse Konzessionen gewährleistet und die Abstellung von Miſsbräuchen verspricht. Eine an die Beamten gerichtete Verordnung ist die „praeceptio“ Chlothars II., deren Bestimmungen zum groſsen Teile den Versprechungen des Edikts korrespondieren. Der Inhalt schlieſst sich zumeist an das römische Recht an, dessen Beobachtung der römischen Bevölkerung zugesichert wird6.

2 Cap. I 8.

3 Pactus nennt sich die Decretio Childeberts I. (Cap. I 4). Das Wort kann hier nicht etwa auf eine Vereinbarung zwischen Chlothar I. und Childebert I. bezogen werden. Dann wird man aber auch der Überschrift des Ganzen „pactus pro tenore pacis“ etc. keinen anderen Sinn beilegen dürfen.

4 Es heiſst hier von Childebert I.: pertractavit, quod ibi cum suis Francis addere deberet, von Chlothar: cum rignum sum pertractavit ut quid addere debirit ibidem. Hessels, Lex Sal. col. 423. Im Texte des Pactus wird allerdings eine Mitwirkung des Volkes nicht erwähnt, ausgenommen die Leydener Handschrift, nach welcher der pactus Childeberti apud nos maioresque natus Francorum palacii procerum beschlossen worden ist.

5 Cap. I 15.

6 Fahlbeck, Royauté S 323—337. — Auſser den angeführten Stücken haben wir aus merowingischer Zeit noch das oben S 189 erwähnte Schreiben Chlodovechs, eine Verordnung Childeberts I. gegen das Heidentum, ein an die Geistlichkeit und


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§ 54. Königsrecht und Kapitularien.

Seit Karl Martell haben die Hausmeier, wie früher die Könige, allgemeine Verordnungen erlassen7. Es sind uns drei Dekrete Karlmanns und Pippins aus den Jahren 742—744 erhalten. Sie sind mit Zustimmung der geistlichen und weltlichen Amtsaristokratie zustande gekommen.

Die Satzungen der merowingischen Zeit führen, ob sie nun volksrechtlichen oder administrativen Inhalt haben, gleichartige Benennungen. Sie hieſsen entweder, wie die Königsurkunde überhaupt, auctoritas oder edictum, praeceptio, decretum, decretio. Dagegen wurde in karolingischer Zeit der Ausdruck „capitulare“ technische Bezeichnung der königlichen Satzungen. Er begegnet uns im fränkischen Reiche zuerst für eine Verordnung Karls von 7798. Schon 750 findet er sich bei den Langobarden, nämlich in einer Verordnung Aistulfs, wo er vermutlich im Gegensatz zum Edictus als der Quelle des Volksrechtes gebraucht wird9. Capitulare heiſst bei den Franken der einzelne Abschnitt der Satzungsurkunde10. Die Gesamtheit der in einer Urkunde zusammengetragenen, weil gleichzeitig entstandenen Kapitel wird capitulare oder capitulatio genannt oder durch den Plural capitula bezeichnet.

Die karolingischen Kapitularien zerfallen in verschiedene Gruppen. Jenachdem ihr Inhalt geistliche oder weltliche Angelegenheiten betrifft, sind capitularia ecclesiastica und mundana zu unterscheiden. Doch besteht keine scharfe Trennung der beiden Gruppen, da manche Kapitularien zugleich weltliche und kirchliche Materien regeln. Bedeutsamer ist eine Einteilung der weltlichen Kapitularien, wie sie am

sämtliche iudices gerichtetes Edikt Guntrams von 585 und den zwischen Guntram und Childebert II. 587 zu Andelot abgeschlossenen Staatsvertrag.

7 Auf eine Satzung Karl Martells bezieht sich Karlmanni Cap. Liptinense, Cap. I 28, c. 4: decrevimus quoque, quod et pater meus ante praecipiebat, ut qui paganas observationes in aliqua re fecerit, multetur et damnetur XV solidis.

8 Cap. I 47.

9 Paruit in eius (edicti) volumine adaugeri et in capitulare affigere. Boretius, Cap. im Langobardenreich S 12; derselbe, Beiträge S 27.

10 Conc. Vern. v. J. 755, Cap. I 33, pr. i. f.: ipsarum enim rerum, quae pro nostra emendatione commune sunt prolata, per distincta capitula subter tenentur inserta. Der Sprachgebrauch ist alt. Cod. Theod. IX 21 l. 4 a. E. v. J. 329: in omnibus capitulis lex pridem lata servabitur. Übrigens bedeutet capitulum in der fränkischen Rechtssprache manchmal auch den einzelnen Rechtssatz. So im Capitulare Saxonicum von 797 c. 1: ut de illis capitulis pro quibus Franci, si regis bannum transgressi sunt, solidos 60 conponunt, similiter Saxones solvent. Das Cap. zur Lex Baiuw. Cap. I 157 bringt in drei Kapiteln die bekannten acht Bannfälle und sagt zum Schluſs des 3. Kapitels: haec octo capitula in assiduitate.


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§ 54. Königsrecht und Kapitularien.

klarsten in den 818 und 819 auf einem Aachener Reichstag zustande gekommenen Satzungen Ludwigs I. zu Tage tritt. Es werden hier drei Arten von Kapitularien unterschieden, nämlich capitula legibus addenda, capitula per se scribenda und capitula missorum11. Wenn diese Einteilung auch für all die Aktenstücke, die man als Kapitularien zusammenzufassen und abzudrucken pflegt, nicht erschöpfend ist, so stellt sie doch drei scharf ausgeprägte Typen von Kapitularien neben einander, Typen, welche ebensowohl vor wie nach 819 vorhanden waren und einer näheren Erörterung bedürfen.

1. Die Capitula legibus addenda sind die Kapitularien, welche die Volksrechte ergänzen, gleich diesen gesetzliche Kraft haben sollen. Sie wurden entweder zu einzelnen Stammesrechten hinzugefügt, wie das Kapitular zur Lex Ribuaria von 803, das zur Lex Baiuwariorum aus den Jahren 801—813, das zur Lex Salica von 819 oder bald darnach12. Oder sie beanspruchten neben den sämtlichen Leges des Reiches oder eines bestimmten Reichsteiles zu gelten, wie z. B. das Kapitular Karls von 803 (I 111), die Aachener und die Wormser Gesetze Ludwigs I. von 818—19 und 829 und mehrere Capitula italica13. Die Kapitularien der erstgedachten Art hatten nur die Geltung des Stammesrechts, das sie ergänzen sollten, nicht territoriale Geltung. Die Capitula legibus addenda der zweiten Gruppe stellen sich zwar gleichfalls nicht als ein von den Stammesrechten unabhängiges Reichsrecht dar, haben aber, weil sie neben allen Stammesrechten berücksichtigt werden wollen, thatsächlich die Bedeutung eines territorialen Rechtes.

Die Capitula legibus addenda wollen Rechtssätze schaffen, welche bei der Rechtsprechung der Gerichte zur unmittelbaren Anwendung gelangen. Um ihnen die Kraft des eigentlichen Volksrechtes zu geben genügt es nicht, daſs sie der König mit den Groſsen des Reiches berät, sondern bedarf es grundsätzlich auch der Zustimmung des Volkes. Am lebendigsten hat sich der Gedanke, daſs der König das Volksrecht

11 Die Vorrede zur Aachener Gesetzgebung (Cap. I 275) unterscheidet quid canonicis quidve monachis observanda (Cap. ecclesiastica), quid etiam in legibus mundanis addenda (Cap. legib. add.), quid quoque in capitulis inserenda forent. Die Cap. leg. add. nennen sich I 281 capitula quae legibus addenda sunt, quae et missi et comites habere et ceteris nota facere debent. Die Cap. per se scr. haben I 287 die Überschrift: item incipiunt alia capitula, quae per se scribenda et ab omnibus observanda sunt. Die Cap. miss. werden I 289 eingeführt als capitula praecipue ad legationem missorum nostrorum ob memoriae causam pertinentia, de quibus videlicet causis ipsi agere debeant.

12 S. oben S 308. 319. 303.

13 S. unten § 56 S 388.


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§ 54. Königsrecht und Kapitularien.

nicht einseitig abändern könne, bei den Franken erhalten. Lex und Capitulum werden bei ihnen grundsätzlich unterschieden. In Bezug auf das oben erwähnte Kapitular zur Lex Salica, welches die Form eines Weistums trägt, haben wir eine Verfügung Ludwigs I., daſs die Kapitel, die er im vergangenen Jahre mit allgemeiner Zustimmung dem salischen Volksrechte hinzugefügt habe, fürderhin nicht mehr Capitula, sondern Lex genannt werden und als solche beachtet werden sollen14. Eine Verordnung Karls von 803 bestimmt, daſs ein Kapitular dieses Jahres dem Volke zur Annahme vorgelegt und nachdem es die Zustimmung erlangt habe von den einzelnen unterschrieben oder signiert werden solle15. Über die Ausführung dieser Maſsregel ist uns die vereinzelte Nachricht überliefert, daſs jenes Kapitular im Gau von Paris auf öffentlichem Mallus vor den Schöffen verlesen, angenommen16 und dann von ihnen, von den Bischöfen, Äbten und Grafen unterzeichnet wurde17. In helles Licht setzt uns die Voraussetzungen und die Schwierigkeiten, mit welchen eine wirksame Abänderung des Volksrechtes sich abzufinden hatte, eine Stelle aus einem Gesetze Karls des Kahlen von 86418. Nach geltendem Rechte konnte der Beklagte nicht in den Vorbann gelegt, konnten seine Güter nicht gefront werden, ehe er nicht secundum legem vorgeladen worden war. Und zwar verlangte die Lex Salica, daſs die Vorladung ad domum geschehen solle. Nun gab es aber damals in den durch die Nor-

14 Cap. I 295, c. 5: ut capitula, que preterito anno legis Salicae per omnium consensum addenda esse censuimus, iam non ulterius capitula sed tantum lex dicantur, immo pro lege teneantur.

15 Cap. I 116, c. 19.

16 Cap. I 112: et omnes in uno consenserunt, quod ipsi voluissent omni tempore observare usque in posterum.

17 Die Bekräftigung durch Unterschrift findet sich öfter. In Cap. I 170 haben wir vermutlich den Schluſs eines verlorenen Kapitulars, von dem es heiſst, daſs Karl es mit Rat und Zustimmung der Groſsen und aller Getreuen constituit ex lege Salica, Romana atque Gombata. Qui et ipse manu propria firmavit capitula ista, ut omnes fideles manu roborare studuissent. Boretius hat den Passus gemäſs der handschriftlichen Überlieferung als Eingang eines Kapitulars abgedruckt. Allein die Ankündigung der Subskriptio läſst vermuten, daſs wir es nicht sowohl mit einem Protokoll, sondern mit einem Eschatokoll (im Sinne der Diplomatik) zu thun haben. Auch paſst der Inhalt des I 170 ff. abgedruckten Kapitulars, wie schon Boretius, Beiträge S 47 bemerkt, weder zu einem Capitulare legibus add., noch steht es zum salischen, römischen und burgundischen Rechte in irgend welcher Beziehung. Es scheint sonach ein alter handschriftlicher Irrtum vorzuliegen. — Conv. Col. v. J. 843 Pertz, LL I 376: capitula … quae etiam subscriptione eiusdem principis et episcoporum ac caeterorum fidelium Dei confirmata fuerant.

18 Pertz, LL I 489 c. 6.


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§ 54. Königsrecht und Kapitularien.

mannen heimgesuchten Gauen Grundbesitzer, denen ihre Häuser verbrannt worden waren. Solche Leute glaubten einen Freibrief für Übelthaten zu haben, weil man sie, die im Rechtssinne für ansässige Leute galten, nicht rechtmäſsig, das heiſst ad domum vorladen könne. Ihre Verurteilung konnte nur erfolgen, wenn vorher der eidliche Beweis erbracht wurde, daſs sie „legibus“ vorgeladen worden seien. Solchen Eid konnte mit Rücksicht auf den Wortlaut der Lex Salica niemand auf sein Gewissen nehmen. Daher ordnete Karl der Kahle mit Zustimmung seiner Getreuen an, daſs der Graf in solchem Falle seinen Boten auf das Grundstück sende, wo früher das Haus des Beklagten gestanden hatte, um daselbst eine Scheinladung vorzunehmen. Daraufhin dürften die Franken getrost schwören, daſs der Beklagte dem königlichen Befehl gemäſs „legibus“ vorgeladen sei, „quoniam lex consensu populi fit et constitutione regis“.

Die volkstümliche Kraft der Capitula legibus addenda äuſsert sich, wenn ihre Aufhebung in Frage kommt. Sie können nur in derselben Weise auſser Kraft gesetzt werden, in der sie zur Geltung gelangt sind.

2. Die Capitula per se scribenda19 sind die eigentlichen königlichen Verordnungen und bilden das geschriebene Königsrecht im engeren Sinne. Dem Inhalte nach sind sie entweder Anordnungen über die Verwaltung der königlichen Güter, oder transitorische Verfügungen, oder Verordnungen welche dauernde Beachtung beanspruchen. Ihre Tragweite reicht soweit, wie die verfassungsmäſsige Gewalt des Königs und seines Beamtentums. Sie haben territoriale Geltung und finden ihre Sanktion in der Banngewalt des Königs und seiner Beamten, in der Treue, welche der König auf Grund des Fidelitätseides von den Unterthanen verlangt, den Vassallen und Beamten gegenüber auch in dem Rechte des Königs, Lehen und Amt zu entziehen20. Die meisten betreffen Gegenstände der Verwaltung, die Stellung der Beamten, die Verhältnisse der Kirche im Rahmen des weltlichen Rechtes, die Aufrechthaltung des Landfriedens und der öffentlichen Ordnung, Zoll, Münze und Verkehrswesen21. Vielfach handelt es sich um die Ausführung und Einschärfung geltenden Rechtes, wie z. B. in den Anordnungen über das Heerwesen. Manche Verordnungen schaffen

19 Der Ausdruck ist nur für die Aachener Kapitel von 818—19, Cap. I 285 überliefert.

20 Manche Kapitel sind nicht Rechtsvorschriften, sondern bloſse Ermahnungen, wie das Gebot in Cap. I 59, c. 69, daſs die Kinder ihre Eltern ehren sollen.

21 Boretius, Beiträge S 52. 64.


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§ 54. Königsrecht und Kapitularien.

aber auf dem Gebiete des Privat-, Prozeſs- und Strafrechtes ein neues in das Volksrecht einschneidendes Recht22. Es ist dies die Kategorie, in welcher der rechtsgeschichtliche Schwerpunkt der Kapitularien beruht.

Wie der König bei der Ausübung seiner Banngewalt nicht an die Zustimmung des Volkes oder der Reichsversammlung gebunden ist, so kann er auch die Capitula per se scribenda einseitig erlassen. Doch kamen sie regelmäſsig auf den Reichsversammlungen nach einer Beratung mit den Groſsen des Reiches zustande und wird häufig nicht bloſs der Beirat (consilium), sondern auch die Zustimmung (consensus) der versammelten Amtsaristokratie und der fideles überhaupt hervorgehoben23. Mitunter verschiebt der König die Erledigung von Anfragen und projektierte Neuerungen auf einen bevorstehenden Reichstag24. Als unter Ludwig I. und seinen Nachfolgern der Einfluſs und die Bedeutung der Reichsversammlungen zusehends stieg, nahm deren Teilnahme an der Abfassung der Kapitularien mehr und mehr den Charakter einer verfassungsmäſsigen Beschränkung des Königtums an.

Die Capitula per se scribenda können vom König der sie erlassen hat oder von seinen Nachfolgern einseitig aufgehoben werden. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daſs der Erlaſs des Kapitulars dauernde Geltung desselben in Aussicht nimmt. Und keineswegs läſst sich behaupten, daſs das Kapitular mit dem Tode des Königs, dem es seine Entstehung verdankte, ipso iure erloschen sei25.

3. Die Capitula missorum, Kapitularien, welche an die königlichen Missi gerichtet sind und ihnen regelmäſsig aus Anlaſs der Entsendung

22 Vgl. oben S 279 ff.

23 S. die Zitate bei Waitz, VG III 603 Anm 5. 604 Anm 1.

24 Die oben S 375 Anm 1 a. E. zitierte Stelle fährt fort: si autem ad Salicam pertinet legem et ibi minime repereris, quid exinde facere debeas, ad placitum nostrum generale exinde interrogare facias. Auf eine uns unbekannte Anfrage antwortet Ludwig I. Cap. I 297, c. 4: de quarto capitulo expectandum censuimus, donec cum plurioribus fidelibus nostris inde consideramus. In dem Cap. miss. Pertz, LL I 354, c. 1 instruiert Ludwig I. die Missi, daſs die Kirchengüter in beweisrechtlicher Beziehung gleich den Fiskalgütern behandelt werden sollen: usque dum nos ad generale placitum nostrum cum fidelibus nostris invenerimus et constituerimus, qualiter in futurum de his fieri debeat. Der Wormser Reichstagsbeschluſs, LL I 351, c. 10 von 829 statuiert jene Gleichstellung nur für Güter, die sich in dreiſsigjährigem Besitze der Kirchen befanden. Offenbar lieſs sich das vom Kaiser provisorisch bewilligte Vorrecht der Kirchen auf dem Reichstage nicht in vollem Umfang durchsetzen. Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis S 102.

25 Gegen eine derartige Miſsdeutung seiner Ansicht verwahrt sich Boretius, Beiträge S 62.


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§ 55. Die Kapitulariensammlungen.

in ihre missatischen Sprengel mitgegeben werden. In Gegensatz zu den Capitula per se scribenda stellen sich unter ihnen dem Inhalte nach nur diejenigen, welche bloſse Instruktionen für die Missi enthalten. Diese sind oft nichts anderes wie schriftliche Notizen zur Fixierung mündlicher Instruktionen 26 und enthalten manchmal nur ein dürres Verzeichnis der Punkte, auf welche der Missus bei Bereisung des Sprengels sein Augenmerk zu richten hatte. Daneben finden sich Kapitularien, die sich zwar an die Missi wenden, aber nicht bloſs für sie berechnet sind, sondern von ihnen verkündigt werden sollen, um allgemeine Beachtung zu finden, oder ihnen als Vollmacht dienen sollen für die Maſsregeln, deren Durchführung ihnen aufgetragen wurde.

Die verschiedenen Arten von Kapitularien stehen in engem Zusammenhang mit der Thätigkeit der Reichsversammlungen. Hier wurden sie häufig angeregt und regelmäſsig beraten. Der Konsens der auf dem Reichstage versammelten Menge wurde zur Not wohl auch als Ersatz der bei den Capitula legibus addenda grundsätzlich erforderlichen Mitwirkung des Volkes angesehen. Im Anschluſs an die Reichsversammlungen sind die Kapitularien mindestens gelegentlich auch publiziert worden 27, so daſs die dem deutschen Reichsrechte eigentümliche Einrichtung der Reichstagsabschiede schon in fränkischer Zeit ein Vorbild hatte. Einzelne Stücke haben geradezu den Charakter von Reichstagsakten, sie erweisen sich als Aufzeichnungen über Gegenstände, welche auf Reichstagen verhandelt werden sollten oder verhandelt worden sind 28.

§ 55. Die Kapitulariensammlungen.

Die Collectio Ansegisi bei Baluze, Capitularia I 693; Pertz, LL I 271; in der Kapitularienausg. von Boretius I 394. Die Sammlung Benedikts bei Baluze I 801; Pertz, LL II 2 S 39. Litteratur: Boretius in Cap. I 382—393. Stobbe, RQ I 231. Knust, De Benedicti levitae collectione capitularium, 1836, und bei Pertz, LL II 2 S 19—39.

26 In Cap. I 145 beantwortet der König eine Anzahl von Anfragen eines Missus. Eine dieser Anfragen bezieht sich auf Brückengelder und Zölle. Der König verweist auf seinen Befehl, daſs der Zoll dort, wo es alte Gewohnheit sei, erhoben werden solle. Nam et hoc, heiſst es dann, antea vobis ore proprio iniunximus et nequaquam intellexistis.

27 Die Collectio s. Dionysii, Zeumer, Formulae S 509, enthält den Brief eines Missus an einen Amtsvorgänger, worin er ihn bittet, ihm unter anderem zu senden: illam paginam, que coram domino imperatore et nobis omnibus lecta est, cum universis generaliter data fuit licentia eundi palatio.

28 Waitz, VG III 486. 487.


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§ 55. Die Kapitulariensammlungen.

Hinschius, De collectione decretalium et canonum Isidori Merc. § 17. 20 in dessen Ausgabe der Decretales Pseudo-Isidorianae, 1863, S CXLIII. CLXXXIII. Weizsäcker, Die pseudoisidorische Frage, in v. Sybels Hist. Z 1860 III 42 ff.; derselbe, Der Kampf gegen den Chorepiscopat des fränk. Reichs im 9. Jahrh., 1859. P. Roth, Z f. RG V 14 ff. Gengler, Rechtsdenkmäler S 59.

Die Kapitularien wurden regelmäſsig in mehreren Exemplaren ausgefertigt. Eines kam in das königliche Archiv. Besondere Ausfertigungen bekamen die königlichen Beamten, insbesondere die Missi 1. Dagegen fehlte es für die Kapitularien an Registerbüchern nach Art der Commentarii der römischen Kaiser, in welche die Abschriften der einzelnen Stücke eingetragen worden wären. Da die einzelnen im Archiv aufbewahrten Exemplare nicht leicht in Ordnung zu halten waren und zum Teil wohl auch in Verlust gerieten, so sah sich der Hof schon unter Ludwig dem Frommen veranlaſst, bei Hinweisungen auf ältere Kapitularien eine Privatsammlung zu zitieren.

Eine solche veranstaltete der Abt Ansegis von S. Wandrille (Fontanella) in der Diözese Rouen, der aus vornehmer fränkischer Familie stammte und in nahen Beziehungen zum königlichen Hofe stand 2. Um die Kapitularien Karls, Ludwigs und Lothars der Vergessenheit zu entreiſsen, so sagt er in der Vorrede seines Werkes, habe er diejenigen, die er auftreiben konnte, zusammengestellt. Er vollendete die Sammlung im Jahre 827. Den gesammelten Stoff teilte er in vier Bücher, von welchen das erste die geistlichen Kapitularien Karls, das zweite die geistlichen Kapitularien Ludwigs 3, das dritte die weltlichen Kapitularien Karls, das vierte die weltlichen Kapitularien Ludwigs enthält. Innerhalb jedes Buches ist die chronologische Anordnung der Kapitularien beabsichtigt, aber nicht strenge durchgeführt. Den vier Büchern fügte Ansegis drei Anhänge hinzu, welche capitula missorum und einige Nachträge enthalten. Es ist eine verhältnismäſsig bescheidene Zahl von Kapitularien, welche er in seiner Sammlung vereinigte. Trotz der hervorragenden Stellung, die er im fränkischen Reiche einnahm, war es ihm nur möglich, im ganzen etwa 29 Kapitularien zu verwerten, eine auffällig geringe Summe, wenn man erwägt, daſs die neueste Ausgabe der Kapitularien für die Zeit vom Regierungsantritt Karls bis zum Jahre 827 nicht weniger wie

1 S. die Stellen bei Waitz, VG III 621 Anm 2. 3.

2 Die Nachrichten über seine Persönlichkeit stellt Boretius, Cap. I 382 f. in gedrängter Kürze zusammen.

3 Infolge eines Versehens stellte er das Cap. eccles. von 818—19, welches Ludwig I. angehört, nicht in das 2., sondern in das 1. Buch. Boretius a. O. S 387. Mühlbacher, Mitth. des Instituts f. österr. Geschichtsforschung I 608 ff.


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§ 55. Die Kapitulariensammlungen.

124 Nummern verzeichnet, und ein Beweis, wie schlimm es mit der Zugänglichkeit des Kapitularienstoffes schon in den Tagen des Ansegisus bestellt war. Ansegis bemühte sich, in seiner Sammlung den echten Text der ihm zugänglichen Kapitularien zu geben und vermied willkürliche Änderungen des Sinnes. Die Überschriften, welche er den einzelnen Kapiteln voranstellte, sind in der Mehrzahl aus seiner Feder geflossen. Sein Werk wurde im fränkischen Reiche — mit Ausnahme Italiens — viel benutzt und handschriftlich stark verbreitet 4. Obzwar Privatarbeit, erlangte es binnen kurzer Zeit das Ansehen einer amtlichen Sammlung. Schon 829 zitiert Ludwig seines Vaters und seine eigenen Kapitularien nach Ansegis 5. Unter Karl dem Kahlen wurde die königliche Kanzlei angewiesen, den Missi, welchen gewisse Kapitularien Karls des Groſsen und Ludwigs I. nicht zur Hand seien, Abschriften aus der Sammlung des Ansegis zuzustellen 6.

In schroffem Gegensatz zur Collectio Ansegisi steht eine angebliche Kapitulariensammlung, welche um die Mitte des neunten Jahrhunderts in Westfrancien entstand 7. Sie giebt sich für eine Ergänzung des Ansegisus aus, erweist sich aber zum gröſsten Teile als eine absichtliche Fälschung. Die Hauptmasse des Stoffes stammt nicht aus wirklichen Kapitularien fränkischer Könige, sondern ist teils römischen Rechtsquellen, dem Codex Theodosianus, dem Breviarium Alaricianum, dem Novellenauszug Julians, den Sententiae des Paulus, teils dem bairischen und dem westgotischen Volksrechte, teils kirchenrechtlichen Quellen, Sammlungen von Canones und Dekretalen, Beichtbüchern, Kirchenvätern und der Bibel entlehnt. Soweit der Verfasser echte Kapitularien benutzte, zog er manche Stücke heran, die Ansegis nicht kannte, gab aber, wo es ihm paſste, nicht den wörtlichen, sondern einen umgestalteten Text. Ebenso verfuhr er mit den übrigen Vorlagen in willkürlicher Weise.

Dem Machwerk gehen voraus: 1) ein kurzer Prolog in sieben Distichen, worin sich ein angeblicher Benedictus levita als Verfasser einführt und erklärt, daſs er die Sammlung auf Befehl Otgars, der damals den Mainzer Stuhl innehatte, dem Ansegis hinzugefügt habe 8;

4 Es sind uns etwa 50 Handschriften erhalten.

5 Pertz, LL I 350, c. 5.

6 Cap. v. J. 853 c. 11 vgl. mit c. 6, Pertz, LL I 425.

7 Sie enthält drei Bücher, welche mit Ansegis vereinigt als 5., 6. u. 7. Buch der Kapitularien gezählt wurden; auſserdem drei, in manchen Handschriften vier Anhänge.

8 … Autcario demum, quem tunc Mogontia summum Pontificem tenuit, praecipiente pio, Post Benedictus ego ternos levita libellos Adnexi, legis quis recitatur opus.


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§ 55. Die Kapitulariensammlungen.

2) eine in Prosa abgefaſste „praefatio“, nach welcher der Verfasser aus Liebe zu Gott und zum Frommen der Kirche, ihrer Diener und des ganzen Volkes die Sammlung des Ansegisus durch drei weitere Bücher ergänzt habe auf Grund von Vorlagen, die er an verschiedenen Orten, namentlich in dem Archiv der Mainzer Kirche fand; 3) ein lateinisches Gedicht auf die Karolinger von Pippin und Karlmann bis zu den Söhnen Ludwigs I., Lothar, Ludwig und Karl. Der metrische Prolog verweist auf die praefatio 9, diese auf das Lobgedicht 10. Die praefatio ist wohl erheblich später wie die Sammlung entstanden. Denn in den Akten der Synode von Kiersy von 858, welche die erste sichere Spur ihrer Benutzung enthalten, werden über die Synode von Lestines irrtümliche Angaben gemacht, die der praefatio widersprechen, so daſs diese damals mit der Sammlung noch nicht verbunden gewesen sein kann 11. Dasselbe muſs von dem metrischen Prologe gelten, da dieser auf die praefatio verweist.

Die Beziehungen der Sammlung zum Erzbistum Mainz sind erdichtet. Sie ist nicht in Mainz entstanden. Eine Reihe von Indizien verrät westfränkischen Ursprung. So die feindselige Stellung, welche Benedictus zu den Chorbischöfen einnimmt, die in Westfrancien lebhaft bekämpft wurden, dagegen in Mainz unangefochtenes Ansehen genossen, ferner die Benutzung und Verbreitung der Sammlung im westfränkischen Reiche, während Rabanus, Otgars Nachfolger in Mainz, dieselbe nicht kennt. Man hat diese Thatsachen mit den Angaben des Prologs und der Vorrede durch die Annahme zu vereinigen gesucht, daſs die Sammlung zwar in Mainz begonnen, aber im westfränkischen Reiche zum Abschluſs gebracht worden sei 12. Allein der Prolog und die Vorrede teilen den Charakter der Sammlung, sie sind auf Täuschung berechnet und verweisen auf Mainz, um von der Spur des Fälschers abzulenken. Den Dolus verrät ein Passus des Lobgedichtes. Es sagt von Ludwig dem Deutschen: fluvii cis litora Reni imperat. Ludwigs Herrschaft lag bekanntlich in der Hauptsache rechts des Rheins, links des Rheins hatte er nur einige Gaue 13, darunter den von Mainz. Ein in Mainz lebender Verfasser konnte unmöglich

9 Die oben Anm 8 angeführte Stelle fährt fort: quos patet inventos, praefatio pandit ut ipsa, …

10 Primo igitur in loco posuimus nonnullos versiculos in laudem praedictorum principum metrice compositos.

11 Hervorgehoben und näher begründet von Roth, Z f. RG V 17 f.

12 Hinschius a. O. S CLXXXVI. Richter-Dove, KR § 36.

13 Hier sind die „gentes ferae“, die Ludwig regiert, sicher nicht zu suchen.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 25


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§ 55. Die Kapitulariensammlungen.

Ludwig dem Deutschen im Gegensatz zu seinen Brüdern die Herrschaft cis litora Reni zuschreiben. Dagegen ist bei einem westfränkischen Fälscher, der den Glauben erwecken will, daſs die Sammlung in Mainz entstanden sei, sehr wohl der Irrtum denkbar, daſs Mainz rechts des Rheins liege. Vermutlich haben die irreführenden Angaben des Prologs und der praefatio mit der Thatsache gerechnet, daſs von Mainz aus die unter Teilnahme des Bonifazius abgehaltenen Synoden Karlmanns bekannt geworden sind und diese Ergänzung des Ansegisus in kirchlichen Kreisen des fränkischen Reiches einiges Aufsehen erregt hatte. Das auf Mainz hinweisende Material war an die Spitze der Fälschung gestellt worden. Die angeblichen Originale der falsa in möglichst weite Ferne zu verlegen, lag im Interesse derjenigen, welche eine Entlarvung des Betrugs zu besorgen hatten.

Eine bewuſste Fälschung beging der Verfasser der Sammlung, insofern er Rechtssätze erdichtete, die er in keiner der benutzten Quellen vorfand 14, und insofern er Rechtssätze, die im weltlichen Rechte keine oder doch nur örtlich beschränkte Geltung hatten, für Rechtssätze des fränkischen Reiches ausgab. Die Tendenz des Werkes ging dahin, die kirchlichen Gewalten durch Erhebung über die weltliche Macht von der letzteren unabhängig zu machen. Die Pseudokapitularien haben ein Seitenstück in den um dieselbe Zeit, vermutlich bald nach ihnen entstandenen Pseudodekretalen, einer gleichfalls in Westfrancien entstandenen Fälschung, welche verwandte Zwecke verfolgt. Das treibende Motiv der damals in den kirchlichen Kreisen auftretenden Fälschungsepidemie lag in den politischen Verhältnissen der Zeit. Durch Pippin und Karl war die fränkische Kirche in engere Beziehung zum Papsttum gesetzt worden. Seit der Wiederherstellung des Kaisertums trat sie mit Rücksicht auf die religiösen Grundlagen der Kaiseridee für die Einheit des Reiches ein. Aber schon unter Ludwig I. sehen wir auf Synoden und Reichstagen die Bischöfe eine Fülle von Forderungen erheben, welchen sich die weltliche Amtsaristokratie entgegenstemmte. Als die Reichseinheit in Trümmer gegangen war, stieg der Einfluſs des Laienadels und war keine Hoffnung mehr vorhanden, die steigenden kirchlichen Ansprüche auf dem Wege der weltlichen Gesetzgebung durchzusetzen. Man griff daher zu dem Auskunftsmittel, die kirchlichen Wünsche auf dem Wege der Fälschung zur Geltung zu bringen, indem man die entsprechenden Rechtssätze als Kapitularien einschmuggelte. Hand in Hand ging damit das Bestreben, den Halt, welchen die Kirche bei der Auflösung der Universal-

14 Vgl. die Konkordanzen bei Hinschius a. O. S CLXX ff.


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§ 56. Langob. Recht d. fränk. u. nachfränk. Zeit.

monarchie eingebüſst hatte, durch die Erhöhung des päpstlichen Einflusses zu ersetzen 15.

Die auf den Namen Benedictus in Kurs gesetzte Fälschung wurde für echt gehalten. Karl der Kahle zitierte sie arglos als Sammlung von Kapitularien seiner Vorgänger. Ihr hauptsächliches Ansehen hatte sie im westfränkischen Reiche 16.

§ 56. Das langobardische Recht der fränkischen und der nachfränkischen Zeit.

Ausgaben: Concordia ed. Bluhme in LL IV 235. Der Liber legis Langobardorum Papiensis und dessen Expositio, hg. von Boretius, LL IV 595. Die editio princeps der Lombarda hat Nic. Boherius u. d. Tit.: Leges Langobardorum seu Capitulare divi … Caroli Magni imperatoris … 1512 zu Lyon publiziert. Die älteste glossierte Ausgabe der Lombarda erschien u. d. Tit.: Leges Langobardorum cum argutissimis glosis D. Caroli de Tocco … Venetiis 1537. Weitere Ausgaben verzeichnet Savigny, Gesch. des röm. Rechts V 179. 180. Die Lombarda steht auch bei Goldast, Collectio consuetudinum et legum imper., 1613, III 11 und bei Lindenbrog, Codex leg. antiqu. S 509. 1337. Die Rubriken der Lombarda Casinensis und der Lombarda vulgata verzeichnet Bluhme, LL IV 607 ff. Über Handschriften s. Anschütz im Arch. XI 219. Die sog. Lombardakommentare des Ariprand und Albertus edierte ders. 1855. Summa legis Longobardorum, Longob. Rechtsbuch aus dem 12. Jahrh., hg. von dems. 1870. Zur Litteratur: Merkel, Gesch. des Langobardenrechts, 1850, in erweiterter ital. Übersetzung von Bollati in den Memorie e Documenti inediti spettanti alla storia del diritto italiano del medio aevo, Turin 1857. Boretius, Praefatio in LL IV 46 ff. und Bluhme, Über die Lombarda a. O. S 98. Savigny, Gesch. des röm. Rechts II 209. Stobbe, RQ I 594. Siegel, Die Lombarda-Commentare, Sitz.-Ber. der Wiener Akademie XL, 1862. J. Ficker, Forschungen zur Reichs- u. Rechtsgeschichte Italiens III 44 ff. Gengler, Rechtsdenkmäler S 162 ff. Pertile, Storia del dir. ital. § 13. 44. 64.

Der Edictus Langobardorum blieb im Langobardenreiche nach der fränkischen Eroberung in ungebrochener Geltung. In den Jahren 829—832 lieſs der Herzog und Markgraf Eberhard von Rätien und Friaul aus dem Edictus Langobardorum ein Rechtsbuch ausarbeiten, welches sich Concordia de singulis causis oder Capitula legis regum Langobardorum nennt und den Inhalt des Edictus systematisch anordnet, indem es die denselben Gegenstand betreffenden Gesetze der einzelnen Könige zusammenstellt.

Die fränkische Herrschaft zog Italien in den Bannkreis des Königsrechtes. Die allgemeinen Kapitularien, welche Karl der Groſse

15 Vgl. Nitzsch, Geschichte des deutschen Volkes I 246 f.

16 Knust in LL II 2 S 34 f.

25*


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§ 56. Das langobardische Recht

und seine Nachfolger für das fränkische Reich erlieſsen, wurden, soweit es als passend erschien, auch in Italien promulgiert, auſserdem einzelne Kapitularien speziell für Italien abgefaſst (Capitula italica). Ebenso haben die Karolinger, welche Italien als Unterkönige regierten, wie Pippin und Lothar, durch italische Kapitularien die Rechtszustände des Landes geordnet. Das fränkische Königsrecht, welches auf diese Weise in Italien eingeführt wurde, beanspruchte im allgemeinen territoriale Geltung, es wollte nicht bloſs für die Langobarden, sondern auch für die Römer und sonstige italische Unterthanen gelten. Doch stellen sich einzelne Kapitularien als Capitula legi Langobardorum addenda, also als Ergänzungen des langobardischen Stammesrechtes dar, ohne territoriale Geltung zu beanspruchen 1. Von einer Mitwirkung des langobardischen Volkes und der langobardischen Groſsen ist bei den im fränkischen Reiche entstandenen Kapitularien unter Karl dem Groſsen und Ludwig I. keine Rede, mag es sich nun um allgemeine oder um speziell italische Kapitularien handeln 2. Wohl aber haben sich die italischen Könige Pippin, Lothar und Ludwig II. bei ihren Gesetzen des Beirates der italischen Groſsen bedient 3. Das fränkische Königsrecht schnitt nicht selten schroff in das hergebrachte Langobardenrecht ein. Man fragte im fränkischen Reiche nicht darnach, ob auch jeder Rechtssatz der Kapitularien in das System des langobardischen Rechtes passe, sondern dekretierte ohne Bedenken Rechtssätze aus dem Geiste des fränkischen Rechtes heraus, indem es der Praxis und der Jurisprudenz Italiens überlassen blieb, sie mit dem geltenden Rechte in Einklang zu setzen.

Zu dem Rechtsstoff des Ediktes traten im Langobardenreich als eine in Form und Inhalt anders geartete Masse von Rechtsquellen seit dem Beginn der fränkischen Herrschaft bis zum Ausgang des neunten Jahrhunderts die Kapitularien Karls des Groſsen, seines

1 Z. B. das Cap. ital. v. J. 801, I 204.

2 In Italien stieſsen einzelne Kapitel des Cap. legg. add. v. J. 803, I 113, darunter, wie es scheint, das in c. 1 daselbst normierte Wergeld der Geistlichkeit, auf Widerstand. Aus diesem Anlaſs schrieb Karl 806—10 an seinen Sohn Pippin (Cap. I 211): audivimus etiam, quod quedam capitula, quae in lege scribi iussimus, per aliqua loca aliqui ex nostris ac vestris dicunt, quod nos nequaquam illis hanc causam ad notitiam per nosmetipsos condictam habeamus, et ideo nolunt ea oboedire nec consentire neque pro lege tenere. Karl fordert daher seinen Sohn auf, sie allenthalben bekannt zu machen, indem er zugleich das in Cap. I 113, c. 1 normierte Wergeld des presbyter von 600 solidi auf das dreifache Wergeld seiner Geburt herabsetzt. Der Konsens der Langobarden wird nicht als erforderlich erachtet, sondern nur auf die Publikation Gewicht gelegt.

3 Boretius, Beiträge S 55.


(0407 : 389)

der fränkischen und der nachfränkischen Zeit.

Sohnes Pippin, Ludwigs I., Lothars, Ludwigs II., Karls des Kahlen, Widos und Lamberts hinzu. Nachdem Otto I. Italien in das Verhältnis der Realunion mit dem deutschen Reiche gebracht hatte, haben von den deutschen Königen Otto I., Otto III., Heinrich II., Konrad II. und Heinrich III. einzelne Gesetze für Italien erlassen 4.

Die Kapitularien, die in Italien in Geltung traten, wurden nicht etwa von Amts wegen mit dem Körper des langobardischen Ediktes verbunden, sondern es war der Privatthätigkeit anheimgegeben, sie zu sammeln. Die im fränkischen Reiche entstandenen Kapitulariensammlungen des Ansegisus und Benedictus kamen in Italien nicht in Gebrauch, sie konnten hier nicht benutzt werden, weil sie sich nicht auf den für Italien berechneten Teil der Kapitularien beschränkten. Vielmehr wurde in Italien eine selbständige Sammlung der daselbst geltenden Kapitularien veranstaltet 5, welche uns zuerst in einer Urkunde von 988 6 als Capitulare Langobardorum, später auch unter dem Namen Capitulare schlechtweg genannt wird. Vermutlich war schon vor 891 in der Lombardei eine Sammlung fränkischer Kapitularien vorhanden, welche man in der Zeit von 996 bis 1019 durch ein Kapitular Widos von 891 und durch die Gesetze der Ottonen 7 ergänzte, während die der beiden Heinriche und Konrads später gelegentlich nachgetragen wurden.

Auf Grund des Ediktes und des Kapitulars entwickelte sich in Italien und zwar zunächst in der Lombardei eine rege juristische Thätigkeit 8, welche in der Entstehung lombardischer Rechtsschulen ihren Ausgangspunkt hatte. Den gröſsten Ruhm erwarb die besonders in der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts blühende Rechtsschule von Pavia, deren Häupter als königliche Pfalzrichter auch in der Rechtspraxis weit verbreitetes Ansehen genossen. In der späteren langobardischen Rechtslitteratur werden die älteren Juristen, auf die sie sich beruft, unter dem Ausdruck antiqui iudices, causidici oder

4 Die einzelnen Kapitularien u. Königsgesetze Italiens verzeichnet Boretius, LL IV praef. S 47—49.

5 Boretius, Praef. § 24 und dazu die Ergänzungen von Ficker, Über die Zeit und den Ort der Entstehung des Brachylogus, Wiener Sitz.-Ber. LXVII 635 ff. und Forschungen III b 462, Nachtr. zu § 479.

6 Bei Ficker, Forschungen IV 49 Z. 2 v. u.

7 Mit Ottos III. Kapitular schloſs ursprünglich die älteste uns bekannte Handschrift der Sammlung.

8 Grundlegend sind für die Geschichte und Litteratur des langobardischen Rechtes die mustergiltigen Ausführungen von Boretius in der Vorrede zu seiner Ausgabe des Liber legis Langobardorum. Vgl. das Urteil Fickers, Forschungen III 56 Anm 4.


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§ 56. Das langobardische Recht

antiqui schlechtweg zusammengefaſst. Von den Autoritäten, die sie mit Namen nennt, sind die Papienser Bonifilius und Lanfrancus, Häupter zweier Rechtsschulen, ferner Wilhelmus und dessen Sohn Hugo hervorzuheben; auſser ihnen der oft genannte Walcausus 9, von dem es ungewiſs ist, ob er der Schule von Pavia angehörte 10.

Die Thätigkeit der älteren langobardischen Jurisprudenz wendete sich in erster Linie den Quellen zu. Sie hat den Edictus und das Capitulare zu einem geschlossenen Rechtsbuch, dem Liber legis Langobardorum (Liber Papiensis) verbunden. Für die Zwecke des Rechtsunterrichts entstand in den Jahren 1019—1037 eine Sammlung, welche dem Texte der Gesetze nicht nur Gerichtsformeln hinzufügte, sondern ihn auch glossierte 11, eine Methode, in welcher die langobardische Jurisprudenz Vorläuferin und Lehrmeisterin der romanistischen Glossatorenschule war. Als litterarische Produkte der Papienser sind uns ferner mehrere kleine Traktate erhalten, darunter die sogenannten Quaestiones et Monita 12 aus dem Anfange des elften Jahrhunderts, vermischte Ausführungen über langobardisches, salisches und römisches Recht, worin unter anderem das Erbrecht, der gerichtliche Zweikampf und das Lebensalter behandelt werden 13. Für die Notariatspraxis wurde vor 1070, wahrscheinlich noch in der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts das Cartularium Langobardicum zusammengestellt, eine Sammlung von Formeln für die mündlichen Erklärungen und formellen Handlungen, welche bei der Übergabe von Geschäftsurkunden (cartae) und bei der Erwirkung von gerichtlichen notitiae zu beobachten waren.

Auf das römische Recht haben schon die älteren langobardischen Juristen in ihren Arbeiten vielfach Rücksicht genommen, wobei sie namentlich die Institutionen benutzten und zur Erläuterung des langobardischen Rechtes verwendeten. Der Einfluſs des römischen Rechtes stieg in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts. Bald nach 1070 wurde zum Liber legis Langobardorum ein umfangreicher Kommentar verfaſst, der sich als Expositio bezeichnet. Darin wird das römische Recht bereits als eine Lex omnium generalis 14

9 Typisch gewordener Schulwitz hat die Siglen a. für antiqui und Val. für Valcausus in asini, amentes, valentes aufgelöst.

10 Ficker, Forschungen III § 456 f. weist ihn einer Veroneser Rechtsschule zu.

11 Man hat die glossierte Form des Liber Papiensis dem Walcausus zugeschrieben. S. darüber Boretius, Praef. § 47—62.

12 LL IV 590 ff. Nahe verwandt mit Quaest. et Monita § 31 ist der Traktat über die langob. Intestaterbfolge LL IV 605.

13 Savigny, Gesch. d. röm. Rechts II 244.

14 Expos. § 5 zu Roth. 221.


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der fränkischen und der nachfränkischen Zeit.

angesehen und in häufigen Zitaten nicht nur aus den Institutionen, sondern auch aus den neun ersten Büchern des Kodex, aus Julians Novellenauszug und aus den Digesten verwertet. Die für die spätere Ausgestaltung des langobardischen und für die Geschichte des römischen Rechtes unschätzbare Arbeit war nicht sowohl für den Unterricht als für den Gebrauch der richterlichen Praxis bestimmt.

Noch vor Beginn des zwölften Jahrhunderts wurde der Liber legis Langobardorum umgearbeitet, indem man von der chronologischen Anordnung der einzelnen Gesetze abging und den gesamten Stoff in systematisch geordnete Titel verteilte 15. Dieses Rechtsbuch, welches ursprünglich in drei, später in vier Bücher zerfiel, wurde von der Bologneser Rechtsschule rezipiert und als Lombarda von dem Liber Papiensis unterschieden 16, den es schlieſslich völlig verdrängte. Die Lombarda liegt uns in zwei Hauptformen vor. Die ältere, dem Liber Papiensis näherstehende wird durch eine Handschrift des Klosters Monte Cassino vertreten und daher als Lombarda Casinensis bezeichnet. Die jüngere, handschriftlich viel mehr verbreitete Form nennt man Lombarda vulgata. Auf die Lombarda wurde die zum Liber Papiensis verfaſste Expositio übertragen. Auſserdem versah man sie mit einem reichhaltigen Apparate von Glossen, der zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts durch Carolus de Tocco 17, den Accursius der langobardischen Jurisprudenz, seine abschlieſsende Form erhielt. Auf Grundlage der Lombarda wurden an der Rechtsschule von Bologna Vorlesungen über lombardisches Recht gehalten. Aus solchen Vorlesungen gingen im zwölften Jahrhundert die sogenannten Lombardakommentare hervor, nachgeschriebene Hefte von Scholaren. Auf Grund eines Miſsverständnisses hat man sie für litterarische Arbeiten der Juristen Ariprand und Albertus angesehen, die darin gelegentlich als Autoritäten zitiert werden 18. Zur Einführung in das Studium der Lombarda wurde im zwölften Jahrhundert (wahrscheinlich in der zweiten Hälfte desselben) von einem unbekannten Autor eine knapp gefaſste Summa ausgearbeitet 19.

15 Bluhme, Praefatio in LL IV 98 ff.

16 Bis in die Mitte des 12. Jahrh. werden beide Sammlungen noch als Lombarda bezeichnet. Die systematische wird auch Liber legis Langobardorum genannt.

17 Über ihn s. Savigny, Gesch. des röm. Rechts V 174—183.

18 Siegel, Die Lombardakommentare S 4 ff.

19 Hg. von Anschütz 1870. — Die Geschichte des langob. Rechts ist hier nur so weit über die Grenzen der fränkischen Zeit hinaus verfolgt worden, als es zum Verständnis der Zitate nötig ist, zu welchen die Verwertung der langob. Quellen für die deutsche Rechtsgeschichte schon innerhalb der fränk. Periode Anlaſs giebt.


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§ 57. Die Urkunden.

Theodor Sickel, Lehre von den Urkunden der ersten Karolinger (751—840), als erster Teil der Acta regum et imperatorum Karolinorum 1867, wo S 34 ff. die ältere Litteratur der Diplomatik besprochen wird. Mühlbacher, Die Urkunden Karls III., Wiener Sitz.-Ber. 1878, XCII. Stumpf, Die Reichskanzler vornehmlich des 10., 11. u. 12. Jahrh. nebst einem Rückblicke auf die Merowinger- und Karolinger-Urkunden I, 1865; derselbe, Über die Merowinger-Diplome, in v. Sybels Hist. Z XXIX 343. Jul. Ficker, Beiträge zur Urkundenlehre, 2 Bde 1877. 1878. Brunner, Zur Rechtsgesch. der röm. und germ. Urkunde I, 1880; derselbe, Das Gerichtszeugnis und die fränk. Königsurkunde, 1873 (Festgaben für Heffter, S 133); derselbe, Carta und Notitia, 1877 (Commentationes philologae in honorem Th. Mommseni S 570). Zeumer, Cartam levare in St. Galler Urkunden, in Z 2 f. RG IV 113. H. Breſslau, Urkundenbeweis u. Urkundenschreiber im älteren deutschen Recht, Forschungen zur deutschen Gesch. XXVI 1. O. Redlich, Über bairische Traditionsbücher und Traditionen, in den Mitth. des österr. Instituts V 1—82.

Das germanische Urkundenwesen ging aus dem spätrömischen hervor. Als die Germanen anfingen, die Urkunde nach römischem Vorbilde in der Verwaltung und im Rechtsleben anzuwenden, bedienten sie sich römischer Urkundenschreiber oder solcher Stammesgenossen, welche bei diesen in die Schule gegangen waren. Die älteste germanische Königsurkunde, ein Schenkungsbrief Odovakers von 489, ist noch ganz in den Formen des römisch-italischen Urkundentypus abgefaſst 1. Bei den Franken hat das Urkundenwesen allerdings schon frühzeitig selbständige Entwicklungswege eingeschlagen. Dennoch zeigen zahlreiche fränkische Urkundenformulare noch deutlich das spätrömische Gepräge 2 und hat in einzelnen Gegenden des Reiches sich der spezifisch römische Urkundentypus bis in das neunte Jahrhundert hinein erhalten 3.

Das Wort Urkunde ist in der Bedeutung eines schriftlichen Zeugnisses über rechtliche Akte verhältnismäſsig jung 4. Die fränkische

1 Marini, Papiri diplomatici S 128 ff. Nr 82. 83. Spangenberg, Juris romani tabulae negotiorum, 1822, S 164.

2 Das römische Testamentsformular hat in seinen wesentlichen Bestandteilen bis in die karolingische Zeit hinein und zwar fast gänzlich auſserhalb der Formelsammlungen fortgelebt (eine freundliche Bemerkung Zeumers). Man hatte wohl in kirchlichen Kreisen keinen Anlaſs und kein Interesse, es allgemein zugänglich zu machen.

3 Besonders in Rätien. Brunner, Zur RG der Urk. I 245.

4 „Urkunde“ wurde im Mittelalter u. a. als Bezeichnung des Gerichtszeugnisses (Haltaus, Gloss. col. 2005) und dann zunächst für das schriftliche Gerichtszeugnis verwendet. Ältestes Beispiel für die Bedeutung Dokument ist nach einer Mitteilung Breſslaus: Boos, UB. der Landschaft Basel II 73, Nr 627 v. J. 1422: han ich der obgen. schultheis … die urkund mit einem angehenkten insigel geben.


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§ 57. Die Urkunden.

Zeit hat es in diesem Sinne noch nicht angewendet. Vielmehr bedeutet ahd. urchundo, alts. urcundëo den Zeugen, urchundî das Zeugnis. Gemeingermanischer Ausdruck für das, was wir jetzt Urkunde nennen, war Buch, ein Wort, welches ursprünglich im Singular den Buchstaben, im Plural das Geschriebene bezeichnete und aus dem Einritzen der Runen auf Buchenstäbe erklärt wird 5. Boka, bokos 6 verwendet schon das Gotische für Urkunde 7. Den Friesen und Angelsachsen ist bôcland, boklond bis in das zwölfte Jahrhundert das durch Urkunde erworbene Land 8. Althochdeutsche Glossen und Urkunden geben carta, cartula, epistola, litterae durch puoh, buoch 9.

Die Urkunden sind in Königsurkunden und in Privaturkunden zu scheiden. Bei den Franken hat nur die Königsurkunde den Charakter der wahren öffentlichen Urkunde, während in Italien ihn auch die Gerichtsurkunde besitzt. Rechtlich zeichnet sich die Königsurkunde vor der Privaturkunde dadurch aus, daſs sie die Zeugen entbehren kann und regelmäſsig entbehrt, während die Privaturkunde die Namen von Zeugen nennen muſs 10. Die Königsurkunde bedarf der Zeugen nicht, weil sie nicht angefochten werden kann. Dagegen ist die Privaturkunde im Wege der Urkundenschelte anfechtbar und müssen im Falle der Anfechtung die Zeugen für die Wahrheit des Urkundeninhaltes eintreten.

Bis in den Ausgang des 14. Jahrh. reicht die Formel brief und urkund hinauf. Sickel, UL S 2 Anm 3. Von Brief und Urkund sprechen noch die Kammergerichtsordnung § 5 und der Landfriede § 6 von 1495. Urkunde für Brief, carta taucht vereinzelt erst im 16. Jahrh. auf. Sickel a. O. Die Karolina spricht (Art. 112) bei der Urkundenfälschung noch nicht von Urkunden, sondern von brieff und instrument. „Briefliche Urkunden“ hat das steir. Ldr. von 1574 in A. 80, „schriftliche Urkunden“ die böhmische Landesordnung von 1627 C 7.

5 Grimm, WB II 467. Kluge, Etym. WB S 41.

6 Plural von boka.

7 Frabauhtaboka, Verkaufsurkunde bei Bernhardt, Die gotische Bibel des Vulfila nebst … den Urkunden, 1884, S 218. Auſserdem bei Ulfilas vadjabokos, Pfandbrief, Schuldschein, afstassais bokos Scheidebrief.

8 Brunner, Zur RG der Urk. S 151. 300.

9 Wartmann, St. Gall. UB. II Nr 621 v. J. 882: placuit inter nos cartam pacationis ex utraque parte allevari, quod tiutiscae suonbuoch nominamus. Widembuoch für Witthumsbrief in der schwäb. Trauungsformel, Müllenhoff u. Scherer, Denkmäler, 1873, S 246. Zuirslahtbuoch libellum repudii, Steinmeyer, Ahd. Glossen I 367, 40. Ebendaselbst II 425, 51: cartulas puoh; II 100, 13: canonicas epistulas rehtlicho urloup poh; I 751, 41: littere puoh. Carta, ein bůch oder zedell noch in einem Vokabular von 1440 nach Diefenbach, Gloss. latino-germanicum S 103.

10 Lex Rib. 59, 1. Lex Burg. 43. 60. Lex Al. 1, 1. Lex Baiuw. I 1. Ratchis 8. Extr. B zur Lex Sal. c. 4. Westgot. Rechtsaufzeichnung (oben S 325) c. 15.


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§ 57. Die Urkunden.

Unter den Königsurkunden 11 lassen sich, soweit ihr Inhalt rechtlich von Belang ist, diplomata, placita, indiculi und capitularia unterscheiden. Das Diplom ist die feierlichste Form der Königsurkunde. Es ist dispositive Urkunde, indem es Rechtsverhältnisse begründet oder bestätigt, Vorrechte verleiht oder bekräftigt. Minder wichtige Verfügungen werden nicht in der Form des Diploms getroffen 12. Als placita bezeichnete man die königlichen Urkunden, welche über Verhandlungen des Königsgerichtes ausgestellt wurden. Sie sind im Tone eines vom König selbst erstatteten Berichtes über die gerichtliche Verhandlung gehalten, an welchen sich das dem Urteil entsprechende Rechtsgebot (praeceptum) des Königs anzuschlieſsen pflegt 13. In merowingischer Zeit ist die Ausfertigung der placita ebenso wie der Diplome und sonstigen königlichen Schriftstücke Sache der königlichen Kanzlei, in karolingischer Zeit ist die Ausfertigung der placita der Kanzlei entzogen und dem Pfalzgrafen überwiesen, welchem zu diesem Zwecke besondere Gerichtsschreiber untergeben sind. Während die placita in diplomatischer Beziehung wenigstens hinsichtlich des Protokolls noch als eine Unterart der Diplome erscheinen, sind die indiculi, kurrente Stücke der Rechtspflege und der

11 Die merow. Königsurkunden sind von Karl Pertz in den Mon. Germ. Dipl. I 1872, nebst den Privaturkunden der merow. Zeit von Pardessus, Diplomata, chartae … in 2 Bdn 1843—49 ediert worden. Beide Ausgaben sind ungenügend. Die Texte erhaltener Originale besser bei Tardif, Monuments historiques, 1863. Über Regesten s. oben S 9 Anm 5. Dazu Th. Sickel, Acta II.

12 Die Diplomatiker unterscheiden den Text der Urkunde und das Protokoll, d. h. gewisse typische Eingangs- und Schluſsformeln, von welchen erstere als Protokoll im e. S., letztere als Eschatokoll oder Schluſsprotokoll bezeichnet werden. Der Text der Diplome enthält auſser einer Einleitung regelmäſsig drei Bestandteile: die narratio, die dispositio und die corroboratio. Zur Einleitung gehört neben Adresse und Promulgationsformel (notum sit omnibus …) bei wichtigeren Stücken ein rhetorischer Prolog, Arenga. Narratio ist die Darlegung des Sachverhalts, welcher die Verfügung des Königs veranlaſst, dispositio diese Verfügung selbst, der eigentliche Rechtsinhalt des Diploms. Corroboratio ist die Ankündigung von Unterschrift und Siegel. Die subscriptio wird von den merowingischen Königen in der Regel eigenhändig geschrieben. Die Karolinger beschränken sich auf einen Vollziehungsstrich, ein Handmal, wodurch sie den Namenszug, das Monogramm oder Kreuz ergänzen, das der Urkundenschreiber vorher bis auf einen kleinen Teil fertig gestellt hatte. Sickel, UL S 213.

13 Die placita sind in merowingischer Zeit niemals, in karolingischer nur ausnahmsweise vom König unterzeichnet. Stumpf, Hist. Z XXIX 353 Anm 2. Sickel, UL S 363 u. Anm 11. In merowingischer Zeit rekognosziert sie der Referendar, in karolingischer ein pfalzgräflicher Notar. Sickel S 359. Brunner, Gerichtsz. S 168. Über die Gerichtsurkunden Karls III. Mühlbacher a. O. S 142 (470) f. Vgl. Sickel, Beitr. zur Diplomatik VI 64.


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§ 57. Die Urkunden.

Verwaltung, minder förmlich und in der Regel kürzer gefaſst 14. Die gerichtlichen indiculi werden unter den Karolingern in der pfalzgräflichen Gerichtsschreiberei ausgestellt. Die Parteien, für die sie bestimmt sind, erhalten sie aus der Hand des Pfalzgrafen 15. Von den Kapitularien, deren Ausfertigung dem karolingischen Kanzler oblag 16, ist schon oben § 54 die Rede gewesen.

Die Privaturkunden zerfallen in Bezug auf ihre Form und ihre rechtliche Bedeutung in zwei Gruppen, nämlich in Geschäftsurkunden und in schlichte Beweisurkunden. Letztere sind diejenigen, welche nur ein schriftliches Zeugnis über eine an sich rechtswirksame Handlung schaffen wollen. Dagegen soll durch die Geschäftsurkunde das beurkundete Rechtsgeschäft nicht bloſs bewiesen, sondern begründet, zu privatrechtlicher Existenz gebracht werden. Weil der Aussteller vermittelst der Geschäftsurkunde eine rechtliche Disposition trifft, nennt man sie auch dispositive Urkunde. Die Terminologie der fränkischen Zeit bezeichnet die Beweisurkunde als notitia, breve, breve commemoratorium, memoratorium, die Geschäftsurkunde als carta, cartula, epistola, testamentum, häufig auch nach dem Namen des Geschäftes, das durch sie zustande gekommen ist, so daſs z. B. die Verkaufsurkunde venditio, die Schenkungsurkunde donatio, die Freilassungsurkunde ingenuitas heiſst. Den Baiern ist die Geschäftsurkunde epistola, während carta als weiterer Begriff die epistola und die notitia in sich faſst. Doch wird auch in anderen Teilen des fränkischen Reiches das Wort carta, namentlich seit dem neunten Jahrhundert, gelegentlich zur Bezeichnung der notitia verwendet, wogegen Italien den genauen Sprachgebrauch länger festhielt.

Die carta setzt begrifflich einen Urkundungsakt zwischen mindestens zwei Personen voraus, nämlich zwischen dem Aussteller, das heiſst demjenigen, der die Urkunde schreibt oder — in der fränkischen Zeit fast ausnahmslose Regel — schreiben läſst, und dem Destinatär, demjenigen, der die Urkunde erhalten und behalten soll. Der Aussteller wird häufig in der Subskriptions- oder Signationsformel als derjenige genannt, qui cartam fieri rogavit, oder wird sonst durch den

14 Sie entbehren die königliche Unterschrift, auch ist ihnen die Unterschrift von Kanzleipersonen und die Datierung nicht wesentlich. Neben den Diplomen wurde nicht selten ein auf deren Ausführung bezügliches Mandat an die königlichen Vollzugsorgane in der Form eines indiculus ausgestellt. Sickel, UL S 397.

15 Cap. I 298, c. 6: ut comites palatini omnem diligentiam adhibeant, ut clamatores, postquam indiculum ab eis acceperint, in palatio non remaneant.

16 Nach Cap. I 307, c. 26 (von 823—25) sollen die Bischöfe und Grafen sie vom Kanzler in Empfang nehmen.


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Tenor der carta als solcher gekennzeichnet. Wesentlich ist der carta eine Handlung des Ausstellers, welche firmatio genannt wird und darin besteht, daſs er die Urkunde unterschreibt oder mit seinem Handzeichen (signum) versieht oder wenigstens durch Handauflegung berührt 17. Zur firmatio des Ausstellers tritt dann die firmatio der Zeugen hinzu, welche gleichfalls durch Unterschreiben, Signieren oder Berühren der carta geschieht 18. Weil sie die Hand auf die Urkunde legen, heiſsen die Zeugen gelegentlich manumissores. Öfter werden sie firmatores genannt, ein Ausdruck, der auch den Aussteller in sich begreifen kann. Die firmatio des Ausstellers oder der Zeugen oder beider wird nicht selten am Schluſs des Urkundentextes durch die Klausel stipulatione, adstipulatione subnixa oder interposita angekündigt oder konstatiert. Das Wort stipulatio ist in dieser Anwendung gleichbedeutend mit den gelegentlich dafür eintretenden Ausdrücken firmatio, affirmatio, roboratio 19. Althochdeutsch heiſst die stipulatio im gedachten Sinne fastî oder festî oder fastinôd 20. Für adstipulatio begegnet uns auch ahd. urchundî 21, ags. cyđnes 22 (Zeugnis). Althochdeutsche Glossen geben subscribere, signare und tangere mit fastinôn 23. Von der manufirmatio, der mittels der Hand erfolgenden

17 Brunner, RG der Urk. I 220. Zur Ergänzung sei auf die Urk. Bernard, Chartes de Cluny I 46, Nr 39 v. J. 889 verwiesen, betr. die Veräuſserung eines Grundstücks durch Abraam, dessen Frau Leosberga und deren drei Kinder Wanerich, Amandus und Teotberga. Das Eschatokoll der Urkunde verzeichnet die signa aller fünf Veräuſserer als derjenigen, qui fieri et firmare rogaverunt. Die carta ist aber nur von Amandus und Teotberga firmiert und Amandus verspricht, daſs auch die drei übrigen Veräuſserer die carta firmieren würden, widrigenfalls er dem Käufer den Kaufpreis zurückerstatten werde. Offenbar hatte der Schreiber schon vor dem Urkundungsakte sämtliche signa samt den dazu gehörigen Namen der Aussteller in die carta eingetragen, während bei der Begebung nur Amandus und Teotberga zugegen waren. Da die von fremder Hand eingetragenen signa nicht genügten, muſste die nachträgliche firmatio des Abraam, der Leosberga und des Wanerich durch „fides facta“ versprochen werden.

18 Das Unterschreiben ist die seltene Ausnahme. In der Regel werden die nomina testium, welche die carta enthalten muſs, vom Urkundenschreiber eingetragen.

19 Brunner, RG der Urk. I 221 ff. Schröder in Hist. Z NF XII 507.

20 Fastî für stipulatio und chirographum bei Graff, Sprachschatz III 716. Adstipulatione: festî bei Steinmeyer, Ahd. Glossen II 117, 24. Adstipulatione: fastinode a. O. I 10, 23. Vgl. Graff III 723.

21 Graff, Sprachschatz IV 427.

22 Wright u. Wülcker, Anglosaxon Vocabularies I 343, 30. Vgl. 164, 40 gecyđnes testimonium.

23 Subscripserunt: giuestinotun bei Steinmeyer, Ahd. Glossen II 108, 47. Fastinôn für signare und tangere bei Graff III 720. 722. Soweit noch ein Zweifel


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§ 57. Die Urkunden.

festî hat sich zur Bezeichnung der carta selbst der Ausdruck hantfestî, Handfeste gebildet 24.

Der Vertragsschluſs mittels carta ist nach den deutschen Rechten fränkischer Zeit ein rechtsförmlicher Akt. Er erfordert die Gegenwart des Ausstellers, des Destinatärs und der Zeugen. Der Aussteller giebt eine mündliche Erklärung ab, welche dem Tenor der carta entspricht. Dann folgt als der wichtigste Teil des Urkundungsaktes die traditio cartae, darin bestehend, daſs der Aussteller die Urkunde dem Destinatär in rechtsförmlicher Weise übergiebt oder zuwirft. Nach den deutschen Stammesrechten wurde die carta zunächst auf den Erdboden gelegt, mit den nach Lage des Geschäfts erforderlichen Symbolen vom Aussteller aufgenommen und so dem Destinatär dargereicht 25. Das hieſs levare, allevare cartam. Der Rechtsbrauch die Urkunden von der Erde „aufzunehmen“ ist uns für die verschiedenen in Italien vertretenen deutschen Stämme durch die italienische Notariatspraxis und auſserdem durch fränkische, alamannische und burgundische Urkunden vom 9. bis 11. Jahrhundert bezeugt 26. Gegenstand der levatio ist nicht die vollendete carta; tradiert wird im Rechtssinne nur das Urkundenmaterial, das Pergament, welches den Inhalt der carta aufnehmen soll. Erst anläſslich der levatio wird der Schreiber gebeten die Urkunde zu schreiben; erst nach der levatio findet die Handfestung von Seite des Ausstellers und der Zeugen statt. Da die carta das durch die Begebung perfizierte Rechtsgeschäft beweisen soll, müssen die Akte, welche aus dem Perfektionsmittel des Vertrags ein Beweisdokument schaffen, der Begebung des Pergamentes nachfolgen 27. Doch stand nichts im Wege, die carta soweit vor-

über die Bedeutung von stipulatio und adstipulatio im germanischen Urkundenwesen bestanden haben könnte, wird er durch die in Anm 20—23 angeführten Glossen beseitigt.

24 Hantfestî für emunitas (regis) in der Glosse zu Lex Rib. 65, 3. Hantfestî für testamentum, cautio, chirographum, privilegium bei Graff III 718.

25 Anders bei den Langobarden und Römern, welchen eine formlose Tradition genügte.

26 Brunner, RG der Urk. I 303 ff. Beispiele bieten für Lothringen u. a. (Tabouillot,) Histoire de Metz III, preuves S 53 v. J. 910: signum Altmanni … qui hanc cartam a terra levavit et fieri ac firmari rogavit. Für Schwaben Wartmann I Nr 376 v. J. 838: fuit carta levata publice. Weitere Beispiele bei Zeumer, Z2 f. RG IV 113 ff.; v. Wyss, Gesch. d. Abtei Zürich Nr 37 v. J. 1037: hanc kartam concambii levavi et scribere rogavi; Breſslau a. O. S 49 Anm 1. Für Burgund Loersch und Schröder, Urkunden, 2. Aufl., Nr. 82 Lausanne v. J. 1025: qui hanc cartam de terra levavit et scribi et firmari rogavit. Für Italien Cartularium Langob. Nr 1 ff. und zahllose Urkunden.

27 Breſslau hat a. O. S 54 auf St. Galler Originalen Dorsualnotizen nach-


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§ 57. Die Urkunden.

zubereiten, daſs der Schreiber nach der levatio und firmatio nur noch das Eschatokoll zu schreiben oder zu ergänzen brauchte, indem er die signa der Zeugen, regelmäſsig auch seine subscriptio 28 und das Datum eintrug. Das die Datierungszeile eröffnende datum oder data ist seinem Wortsinne gemäſs auf die Aushändigung der Urkunde zu beziehen. Gewöhnlich ist damit die Übergabe der vollzogenen Urkunde durch die Hand des Schreibers, manchmal aber die eigentliche traditio cartae, die Begebung durch die Hand des Ausstellers gemeint 29.

Notitiae sind Referate über gerichtliche oder auſsergerichtliche Akte, die ohne urkundliche Vollziehung bereits zu rechtlicher Wirksamkeit gelangt sind. Bei dem Zustandekommen der notitia, die nur ein schriftliches Zeugnis sein will, findet eine der traditio cartae entsprechende Handlung nicht statt. Am schärfsten prägt den Unterschied zwischen carta und notitia das italienische Urkundenwesen aus. Mit Ausnahme der Gerichtsurkunde stellt sich die italienische notitia (memoratorium) als eine vom Destinatär selbst ausgestellte Urkunde dar. Sie ist unfähig signum oder Unterschrift des Ausstellers aufzunehmen, da ja dieser zugleich Destinatär der Urkunde ist und die eigene firmatio für ihn keine Bedeutung haben kann. Ihr Beweiswert liegt in den Zeugen. Als Aussteller der gerichtlichen notitia erscheint in Italien der Richter, beziehungsweise das Gericht, denn sie wird auf Grund eines gerichtlichen Urkundungsbefehls geschrieben. Dem fränkischen und überhaupt dem auſseritalischen Urkundenwesen ist der sachliche Unterschied gerichtlicher und auſsergerichtlicher notitiae fremd; dagegen kennt es den Unterschied zwischen notitiae, die der Destinatär, und solchen, die der Vertragsgegner desselben ausstellt. Diese haben gewisse formelle Merkmale, nämlich die Ausstellungsklauseln mit der carta gemeinsam. Jene, die ihren Aussteller häufig gar nicht nennen, sind mitunter von seinem Vertragsgegner signiert. Eigentliche Gerichtsurkunden stellt nach fränkischem Rechte nur das Königsgericht aus. Die notitiae, wie sie sonst

gewiesen, in welchen der Schreiber zunächst die Namen der Aussteller, der Zeugen und den wesentlichen Inhalt des Rechtsgeschäftes vermerkte, um aus ihnen nach der levatio die Reinschrift auf der dazu bestimmten Seite des Pergamentes herzustellen.

28 Er unterschreibt seinen Namen mit scripsi oder scripsi et subscripsi oder mit anderen Subskriptionsformeln, deren die uns erhaltenen Urkunden eine kaum erschöpfliche Fülle darbieten. Fremd ist den Urkunden diesseits der Alpen die in Italien übliche, auf Justinians Gesetzgebung zurückführende Vollziehungsformel complevi et absolvi, complevi et dedi u. dgl.

29 Brunner, RG der Urk. I 262 und Z f. HR XXII 541.


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§ 57. Die Urkunden.

über gerichtliche Urteile oder Handlungen abgefaſst wurden, sind nicht vom Gericht, sondern vom Destinatär, also von der obsiegenden Prozeſspartei oder von dem, der durch das gerichtliche Rechtsgeschäft ein Recht erworben hat, und zwar mit gerichtlicher Erlaubnis ausgestellt 30, welche in Form eines Urteils gewährt werden kann. Der Aussteller darf sich des Gerichtsschreibers bedienen und die firmatio des Richters und der Urteilfinder verlangen, die ihm nicht verweigert werden kann.

Seit der Auflösung der fränkischen Monarchie beginnen in Deutschland die cartae seltener zu werden. In nachfränkischer Zeit ist die carta zuerst in Baiern, dann auch in Franken und Schwaben durch die notitia oder durch völlig unbeglaubigte Privatakte fast vollständig verdrängt worden 31, bis seit dem zwölften Jahrhundert das Urkundensiegel eine Umwälzung im Privaturkundenwesen hervorbrachte.

Weitaus die Mehrzahl der überlieferten Urkunden betrifft das Rechtsleben der Kirchen. Im Geschäftsverkehr der Laien hat man — namentlich in den ostrheinischen Gebieten des Frankenreiches — weniger Gewicht auf die Beurkundung gelegt als in kirchlichen Kreisen. Dazu kommt, daſs die in Laienhänden befindlichen Urkunden die Stürme der Zeiten weit seltener überdauerten, als diejenigen, welche in den kirchlichen Archiven eine schützende Stätte fanden. Nur ein Teil der uns bekannten Urkunden ist im Original erhalten. Manche Stücke haben wir in Einzelkopien; aber wohl die Mehrzahl der vorhandenen Urkundentexte verdanken wir kirchlichen Sammlungen des Urkundenstoffes. Im Laufe der Zeit schwoll nämlich der Urkundenbestand einzelner Kirchen so sehr an, daſs es schwierig oder unmöglich wurde aus ihm eine Übersicht über die Besitztümer und Rechte der Kirche zu gewinnen. Man sah sich daher veranlaſst, zusammenfassende Aufzeichnungen der vorhandenen Rechtstitel anzufertigen. Unter den Arbeiten dieser Art können wir zwei Hauptgruppen unterscheiden, nämlich Chartularien oder Kopialbücher einerseits, Register oder Polyptycha andererseits. Bei der Anlage der ersteren trug man Abschriften der Originale oder der Einzelkopien in ein Buch ein, in-

30 Brunner, RG der Urk. I 240 ff. In Bernard, Cluny I 242, Nr 251 v. J. 925 hat eine von G. ad vicem cancellarii geschriebene Notitia die Dorsualbemerkung: Notitia quam domnus Berno abba (der Sieger im Rechtsstreit) de alodo S. (über das Streitobjekt) fieri iussit.

31 Für die Freisinger Urkunden schildert den Übergang zur Vorherrschaft der Notitia O. Redlich a. O. S 12 ff. Siehe Ficker, Beiträge I 83; Breſslau a. O. S 59 ff.


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§ 57. Die Urkunden.

dem die einzelnen Rechtstitel entweder nach Gauen und Ortschaften 32 oder chronologisch oder wenigstens nach den Bischöfen und Äbten, unter welchen sie erworben worden waren 33, oder ohne ersichtlichen Plan 34 zusammengestellt wurden. Dabei nahmen die Kopisten ihre Vorlagen nicht immer vollständig auf, sondern unterdrückten die Angaben, welche zur Zeit der Abfassung des Kopialbuchs unmittelbaren praktischen Wert nicht mehr hatten, wie die Namen der Schreiber 35 und längst verstorbener Zeugen 36, oder sie beschränkten sich etwa auf kurz gefaſste Urkundenexzerpte. Wo das Kopialbuch von vorneherein darauf angelegt war, zu etwaigen Beweiszwecken die Zeugennamen zu überliefern, hat es im Laufe der Zeit hie und da den Charakter des Kopialbuches abgestreift und wurde zu einem gleichzeitig und unmittelbar geführten Protokoll über die Rechtsgeschäfte der Kirche, indem man die Aufnahme von Erwerbsurkunden durch Eintragung in den Sammelkodex ersetzte 37.

Nur zu Verwaltungszwecken, um die Rechte der Kirche in Evidenz zu halten, wurden Register 38 angelegt, die sich als Güterver-

32 Nach lokalen Gesichtspunkten sind z. B. geordnet: die Weiſsenburger Traditionen, Traditiones possessionesque Wizenburgenses ed. Zeuſs 1842, der nach der Mitte des 9. Jahrh. zusammengestellte Mondseeer Traditionskodex, UB. des Landes ob der Enns I, und der Passauer Codex traditionum antiquissimus, Monum. Boica XXVIII b.

33 So der Freisinger Traditionskodex, der auf Veranlassung Bischofs Hitto von Freising (811—835) von dem Diakon Cozroh begonnen, dann unter Bischof Erchanbert (836—854) von ihm und anderen fortgesetzt worden ist. Die Freisinger Urkunden stehen bei Meichelbeck, Historia Frisingensis. Wichtige Ergänzungen bietet Graf Hundt in d. Abh. der bair. Akademie XII 1, XIII 1 und im oberbair. Archiv XXXIV.

34 So die von dem Diakon Anamot 890 angelegte Sammlung der Traditionsund Tauschurkunden von S. Emmeram in Regensburg: Pez, Thesaurus anecdotorum, 1721, I, 3.

35 So z. B. im Traditionskodex des Klosters Lorsch, Cod. Laureshamensis dipl. 1768. Vgl. Breſslau a. O. S 32 f.

36 So in den Traditiones Lunaelacenses. S. oben Anm 32.

37 Redlich a. O. Nach H. Dürre, Über die angebliche Ordnungslosigkeit und Lückenhaftigkeit der Traditiones Corbeienses, Z f. vaterl. Gesch. u. Altertumskunde Westfalens XXXVI b hatte der Traditionskodex von Corvey von vorneherein nicht den Charakter eines Kopialbuches, sondern den eines Traditionsverzeichnisses. Er enthält eine vollständige und wohlgeordnete Reihe aller dem Kloster von 822 bis 1037 von nicht fürstlichen Personen übergebenen Güter, über deren Erwerb keine Urkunde aufgenommen war. Wigand, Traditiones Corbeienses, 1843. Vgl. Breſslau a. O. S 59.

38 Registrum wird auch zur Bezeichnung von Kopialbüchern verwendet. So wird z. B. die von dem Mönch und Archivar Gregor von Catino 1092—1099 an-


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§ 58. Die Formelsammlungen.

zeichnisse und Zinsbücher darstellen. So entstanden in Salzburg gegen Ausgang des 8. Jahrhunderts die sog. Breves notitiae, kurze Auszüge aus den vorhandenen Traditionsurkunden, welche eine nach der Lage der Grundstücke geordnete Übersicht des kirchlichen Besitzstandes darbieten wollen 39. Eine der wichtigsten derartigen Arbeiten ist das in der Zeit Karls d. Gr. angelegte Verzeichnis der Güter, Hintersassen und Hebungen von St. Germain des Prés 40.

§ 58. Die Formelsammlungen.

Eine abschlieſsende Ausgabe der Formelsammlungen lieferte K. Zeumer in Mon. Germ. LL sectio 5, Formulae Merowingici et Karolini aevi, 1886. Eine ältere systematisch angelegte Ausgabe der einzelnen Formeln ist E. de Rozière, Recueil général des formules usitées dans l’empire des Francs du Ve au Xe siècle, 3 vol. 1859—1871. Ein systematisches Verzeichnis steht bei Zeumer S IX—XVII. Über die älteren Gesamtausgaben der Formeln von Bignon, Lindenbruch, Baluze, Canciani und Walter s. Zeumer, NA VI 98—115. Zur Litteratur: J. A. L. Seidensticker, Commentatio de Marculfinis similibusque formulis, 1815. K. Zeumer, Über die älteren fränkischen Formelsammlungen, NA VI 1—115; derselbe, Über die alamannischen Formelsammlungen, NA VIII 475; derselbe in den Göttingischen gelehrten Anzeigen 1882 Nr 44. 45, S 1389—1415; derselbe, Neue Erörterungen über ältere fränk. Formelsammlungen, NA XI 313; derselbe in den Einleitungen zu den einzelnen Formelsammlungen und S 726 seiner Ausgabe. R. Schröder, Über die fränk. Formelsammlungen, Z2 f. RG IV 75. Biedenweg, Commentatio ad formulas Visigothicas, 1856.

Im fränkischen Reiche fehlte ein zünftiger und erblicher Schreiberstand, der die hergebrachte Technik des Urkundenwesens durch handwerksmäſsige Einschulung von Lehrlingen fortgepflanzt hätte. Es ergab sich daher, als und soweit die trotzdem fortlebende Tradition der römischen Urkundenpraxis nicht mehr ausreichte 1, für die Herstellung

gelegte Sammlung der rechtsgeschichtlich hochbedeutsamen Urkunden des Klosters Farfa in der Sabina von den Neueren als Registrum bezeichnet. Georgie Balzani, Regesto di Farfa II. III, 1879. 1883. Vgl. Mittheil. des Inst. f. österr. Geschichtsforschung II 1 ff.

39 Keinz, Indiculus Arnonis und Breves Notitiae Salzburgenses, 1869. Der Ind. Arn. ist eine bald nach 788 von Erzbischof Arno bewerkstelligte Zusammenstellung mündlicher und schriftlicher Zeugnisse über den von den Agilolfingern herstammenden Kirchenbesitz, welcher nach diesem Verzeichnis von Karl d. Gr. bestätigt wurde.

40 B. Guérard, Polyptyque de l’abbé Irminon ou dénombrement des manses, des serfs et des revenus de l’abbaye de St. Germain-des-Prés, 2 Bde 1844. Bd 1 enthält die Prolegomena, Bd 2 giebt die Texte.

1 S. oben S 392 Anm 2.

Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 26


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§ 58. Die Formelsammlungen.

von Urkunden das Bedürfnis nach Formelsammlungen, deren uns eine beträchtliche Anzahl erhalten ist. Doch scheinen selbst die ältesten um mehr wie ein volles Jahrhundert später als die ersten Aufzeichnungen der Volksrechte entstanden zu sein. Die meisten Sammlungen stammen aus Neustrien, wo bei der Verquickung römischen und fränkischen Rechtes die Abfassung neuer, die Umwandlung der hergebrachten Formulare auf das dringendste nötig wurde. Die alamannischen und bairischen Sammlungen entstanden unter fränkischem Einfluſs. Eine der ältesten Sammlungen hat das westgotische Reich aufzuweisen, keine dagegen Italien, weil sich hier ein gewerbsmäſsiges Notariat ausgebildet hatte und jeder Notar in seinen Notariatsakten eine Auswahl von Mustern besaſs, deren Kenntnis er auf seinen Nachfolger vererbte, wie er sie von seinem Vorgänger erworben hatte. Die Verfasser der Formelsammlungen beschränkten sich in der Regel auf eine vorzugsweise kompilierende Thätigkeit, indem sie die Muster, die sie zusammenstellten, nicht erfanden, sondern, wie wir dies an einzelnen Stücken bestimmt nachweisen können, vorhandenen Urkunden mit gröſserer oder geringerer Freiheit nachbildeten oder geradezu entlehnten, wobei die Namen des Ausstellers und des Destinatärs, die sonstigen individuellen Beziehungen der Vorlage, oft auch das Protokoll und das Eschatokoll getilgt wurden. Die rechtsgeschichtlich wichtigsten Formelsammlungen sind — nach Rechtsgebieten 2 und soweit es angeht innerhalb derselben chronologisch geordnet — die folgenden:

I. Die Formulae Wisigothicae 3, eine leider nicht vollständig überlieferte Sammlung, von welcher uns 46 zum Teil verstümmelte Formeln erhalten sind. Sie zeigen unter allen uns erhaltenen Sammlungen den engsten Anschluſs an das spätrömische Urkundenwesen. Einzelne Formeln sind für die Goten, andere auch für die Römer berechnet. Der Verfasser war vermutlich ein Notar aus Cordova 4. Die Lex Romana Wisigothorum wird mehrfach allegiert 5. Formel 20, eine in Hexametern abgefaſste Dotationsurkunde, stammt, wie der Schluſs ersehen läſst, aus dem zweiten Jahre König Sisibuts (615—16). Kann daraus nicht mit voller Sicherheit gefolgert werden, daſs die ganze Sammlung noch vor dem Tode Sisibuts (620) angelegt wurde, so

2 Römisches, salisches und burgundisches Recht können bei der Gruppierung der Formelsammlungen füglich nicht geschieden werden.

3 Zeumer S 575.

4 Arg. F. 25.

5 In F. 1. 13. 32. 35.


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§ 58. Die Formelsammlungen.

muſs sie doch noch vor der Mitte des siebenten Jahrhunderts entstanden sein. Denn die Allegate aus der Lex Romana weisen auf die Zeit hin, ehe Reckessuinth die gerichtliche Anwendung derselben verboten hatte 6. In Formel 20 bestellt der Mann die Hälfte seines Vermögens als dos, während schon ein Gesetz Chindasuinths von 645 nur noch den zehnten Teil als dos zu verschreiben gestattete 7. Die ursprüngliche Sammlung scheint in der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts durch Zufügung einiger Stücke vermehrt worden zu sein. Denn Formel 40 markiert ein Zitat aus der Lex Wisigothorum nach Büchern, Titeln und Ären (erae), setzt also die Reccessuinthiana voraus 8.

II. Westfränkische und burgundische Sammlungen.

1. Die Formulae Andegavenses 9, 60 Formeln, die uns in einer aus dem Anfang des achten Jahrhunderts stammenden Fuldaer Handschrift überliefert sind. Die Sammlung wurde zu Angers wahrscheinlich von einem Schreiber der städtischen Kurie oder von einem Gerichtsschreiber abgefaſst. Der Inhalt der Formeln zeigt eine eigentümliche Mischung römischen und fränkischen Rechtes. Mehrfach wird auf das römische Recht als die Lex Romana Bezug genommen 10. Römisch sind die dem fränkischen Rechte durchaus unbekannten Stellvertretungsmandate. Veräuſserungsurkunden werden vor der Kurie (apud gesta municipalia) verlautbart. Anschluſs an römische Einrichtungen verraten die Erbpachtverhältnisse und verrät die Kompetenz der Kirchen in Sachen der Gerichtsbarkeit 11. Daneben begegnen uns zahlreiche fränkische Rechtsausdrücke und Rechtseinrichtungen, wie mallare, admallare 12, solsadia, alodis, texaca (F. 15), revestire (47), der Name der Rachineburgen (50 a), der Eid mit Eidhelfern, das ehefräuliche Errungenschaftsdrittel (59). Das Wort dos hat nicht die römische Bedeutung der Mitgift, sondern die germanische des Wittums. Der Ersatz verlorener Urkunden ist nicht nach dem römischen Verfahren, sondern nach der fränkischen Fortbildung desselben geregelt 13. Die Entstehungszeit der Sammlung ist streitig. Die For-

6 S. oben S 329.

7 Lex Wis. III 1, 5.

8 S. oben S 330.

9 Zeumer S 4.

10 F. 40: secundum lege Romana sponsata; 46. 54. 58: lex Romana edocet.

11 Brunner, Die Erbpacht der Formelsammlungen von Angers und Tours, Z2 f. RG V 69.

12 In F. 5 u. 52, einem Vertretungsmandat.

13 Zeumer, Über den Ersatz verlorener Urkunden, in Z2 f. RG I 100.

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§ 58. Die Formelsammlungen.

meln 1—57 sind jedenfalls nicht nach 678 entstanden; denn hinter F. 57 findet sich eine auf dieses Jahr hinweisende chronologische Angabe. Die letzten drei Formeln sind erst nach 678 hinzugefügt worden. Vergleicht man die Sammlung mit den noch im siebenten Jahrhundert entstandenen Formeln Marculfs, so wird man geneigt sein, die Entstehung des Hauptteiles erheblich früher wie 678, etwa zu Anfang des siebenten Jahrhunderts anzusetzen14.

2. Die Formulae Marculfi15, so genannt nach ihrem Verfasser, einem Mönch Marculf, welcher die Sammlung im Alter von etwa 70 Jahren zum Zwecke des Unterrichts (ad exercenda initia puerorum) und zum praktischen Gebrauche (als exemplaria) auf Geheiſs eines Bischofs Landerich anlegte. Die Sammlung zerfällt in zwei Bücher, von welchen das erste mit 40 Formeln dem königlichen Kanzleiwesen (den cartae regales) gewidmet ist16, während das zweite 52 Formeln für Privaturkunden (cartae pagenses) enthält. Für das Gebiet der cartae übertrifft Marculf an Reichhaltigkeit alle übrigen Formelsammlungen. Notitiae scheint er grundsätzlich ausgeschlossen zu haben. Den Formeln liegt im allgemeinen salisches Recht zu Grunde. Doch wird in einzelnen Stücken auf die lex oder consuetudo Romana Be-

14 Formel 1 und 34, beide die Bestellung einer dos betreffend, sind vom vierten Jahre eines Königs Childebert datiert. Man bezog dies früher auf Childebert I. und setzte die Entstehungszeit der Formeln 1—34 demgemäſs in die Jahre 514 u. 515. Es ist aber unwahrscheinlich, daſs zu Angers das fränkische Recht schon damals so starken Einfluſs gewonnen, sich mit dem römischen Rechte so enge verbunden habe. Auch finden sich Ausdrücke und Wendungen, die sich erst im 7. Jahrh. nachweisen lassen. Zeumer, NA XI 331 f. macht in dieser Beziehung manso in 25 (vgl. oben S 198 Anm 17), mansello in 37 und die Datierungsform quod fecit minsus illi dies tantus in 1. 14. 15 geltend. Gegen die Zeit Childeberts II., für welche Krusch (im Anschluſs an Longnon, Géographie de la Gaule S 301 Anm 1) in v. Sybels Hist. Z NF XV 513 eingetreten ist, entscheidet die Thatsache, daſs er jedenfalls im vierten Jahre seiner Regierung Angers nicht besaſs (siehe Zeumer a. O. S 318 ff.). Das vierte Jahr Childeberts III. (698) würde uns über das als terminus ad quem gewonnene Jahr 678 hinausführen. Es erübrigt daher nur die Annahme, daſs entweder der Redaktor der Sammlung jene zwei datierten Stücke als aus der Zeit Childeberts I. herrührend etwa in dem Archiv der städtischen Kurie vorgefunden und ohne Änderung des Datums in die Sammlung aufgenommen oder daſs ein Abschreiber der Sammlung, der seine Abschrift im vierten Jahre Childeberts III. herstellte, dieses Jahr etwa an Stelle anderer Daten in F. 1 u. 34 eingesetzt habe. Wie dem auch sei, jedenfalls geben jene Daten keinen festen Anhaltspunkt zur Datierung der ganzen Sammlung.

15 Zeumer S 36.

16 Das erste Buch enthält drei Formeln (1. 7. 34), die nicht auf den König als Aussteller lauten, aber als Vorurkunden für königliche Diplome unter die cartae regales eingereiht sind.


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dacht genommen. Die Privilegienformel (I 2) ist nach dem Muster einer Urkunde Dagoberts I. von 635 für Resbach (Rebais) in der Diözese Meaux ausgearbeitet, woraus man schlieſsen kann, daſs Marculf diesem Kloster angehört habe. Unter dem Bischof Landerich, der den Anstoſs zur Abfassung der Formelsammlung gab und an welchen auch Marculfs Vorrede gerichtet ist, hat man früher fast allgemein den von Paris (etwa 650—656) verstanden. Wahrscheinlich ist aber ein Bischof Landerich von Meaux gemeint17 und Marculfs Werk nicht schon um die Mitte, sondern erst gegen Ende des siebenten Jahrhunderts abgefaſst worden. Es gelangte zu hohem Ansehen und wurde im achten Jahrhundert, namentlich in den Kanzleien der ersten Karolinger, wie eine offizielle Sammlung benutzt. Zur Ausfüllung einiger Lücken wurde dem Marculf um die Mitte des siebenten Jahrhunderts eine kleine Sammlung von 6 Formeln hinzugefügt18. Eine Umarbeitung und Ergänzung Marculfscher Formeln, welche Briefmuster und Formulare für Königsurkunden zusammenstellt, entstand in der Zeit Karls des Groſsen vor dem Jahre 80019.

3. Die Formulae Bituricenses20, 19 Formeln, welche aus Bourges stammen und nicht in einer geschlossenen Sammlung überliefert sind, sondern sich auf drei verschiedene Handschriften verteilen. Die ersten fünf, in einem Handschriftenfragmente des achten Jahrhunderts enthalten, sind ein Bruchstück einer alten Formelsammlung, welche vor dem Jahre 721 entstanden ist21. Sie haben in Form und Inhalt römischrechtliches Gepräge22. Demselben Fragmente gehört

17 Für Landerich von Paris ist gegen Zeumer A. Tardif in der Bibliothèque de l’école des chartes XLIV 353 ff., in der Nouvelle Revue historique de droit français et étr. VIII 557, IX 368 eingetreten. S. dagegen Zeumer im NA X 383 ff., XI 338 ff.

18 Bei Zeumer als Supplementum formularum Marculfi S 107—109 abgedruckt. Als Additamenta e codicibus Marculfi stehen bei Zeumer S 110—112 Zusätze einer Handschrift und zwei karolingische Formeln (Mundbrief und Zollprivileg), durch welche in der Collectio Flaviniacensis (s. unten Nr 11) Marc. I 24 und Suppl. Marc. 1 ersetzt sind.

19 Als Formulae Marculfinae aevi Karolini bei Zeumer S 115 ff. Mit Einschluſs einer Zusatzformel enthalten sie zehn selbständige Stücke. Wo Marculf den maior domus nennt, ist senior oder princeps eingesetzt.

20 Zeumer S 169.

21 Nach Krusch a. O. S 516 enthält der Kodex eine im Jahre 720 zusammengestellte Ostertafel und eine verstümmelte Notiz de anno quarto regni, die auf das vierte Jahr Chilperichs II. zu beziehen ist. Vgl. Zeumer, NA XI 314.

22 Man beachte den sacratissimus fiscus in 4, das ingressus egressusque tradere in 1 wie in Bruns, Fontes, 4. Aufl. 1879, S. 202. 208.


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die daselbst nachträglich angefügte sechste Formel an, deren Datierung23 auf das Jahr 734 oder 764—65 hinzuweisen scheint. Altertümlich und jedenfalls noch merowingisch ist Formel 7, den Ersatz verlorener Urkunden betreffend. Bedeutend jünger sind dagegen die übrigen zwölf Formeln, eine ziemlich planlose, meist aus Briefmustern bestehende Kompilation, deren einzelne Stücke in der Zeit Karls des Groſsen teils vor, teils nach dessen Kaiserkrönung abgefaſst worden sind.

4. Die Formulae Arvernenses24, eine aus der Auvergne stammende Formelsammlung, von der wir nur ein Bruchstück (acht Formeln, 1 und 8 verstümmelt) besitzen. Die ersten vier Formeln beziehen sich auf das Verfahren zum Ersatz verlorener Urkunden, welches nach römischer Weise und zwar unter Bezugnahme auf eine uns unbekannte Konstitution des Honorius und Theodosius geregelt ist25. Als Ursache des Urkundenverlustes wird in Formel 1 die hostilitas Francorum angegeben. Die Entstehungszeit ist unsicher. Jedenfalls muſs ihr eine Periode vorausgegangen sein, in der die Auvergne fränkisch war, weil sich fränkische Rechtsausdrücke wie alodis, litimonium finden. Andrerseits scheint die Erwähnung der hostilitas Francorum in dem Formular eines öffentlich auszuhängenden Schriftstückes eine Entstehungszeit auszuschlieſsen, in welcher die Auvergne unter unmittelbarer fränkischer Herrschaft stand. Die Abfassung der Sammlung dürfte daher noch vor der Eroberung Clermonts durch Pippin (761), in die Zeit der Selbständigkeit des aquitanischen Herzogtums zu setzen sein26.

5. Die Formulae Turonenses27, früher Sirmondicae28 genannt. Den ursprünglichen Kern der Sammlung, welche zu Tours

23 Anno 14 regni domni ill. regis gloriosissimi. Vermutlich ist Theuderich IV. oder Pippin gemeint. Zeumer, NA XI 314.

24 Zeumer S 28.

25 Zeumer, Z2 f. RG I 99 hat die ansprechende Vermutung aufgestellt, daſs Honorius für Gallien, das damals von germanischen Völkerschaften überschwemmt worden war, ein Notgesetz über die Sicherstellung der Rechtstitel im Falle des Urkundenverlustes erlassen habe.

26 Zeumer, Formulae S 726 und NA XI 334 ff. ist geneigt die Entstehung der Arvernenses in das 8. Jahrh. zu setzen und die hostilitas Francorum auf die Feldzüge Pippins von 760 und 761 zu deuten.

27 Zeumer S 135.

28 Jak. Sirmond hatte sie dem ersten Herausgeber Bignon mitgeteilt. Zur Litteratur Roth, Beneficialwesen S 379 Anm 51; Ehrenberg, Commendation und Huldigung S 136; Zeumer, NA VI 50 ff. und Formulae S 128 f.


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§ 58. Die Formelsammlungen.

entstanden ist, bilden die Formeln 1—33. Für die Bedürfnisse von Laien berechnet, mit Ausnahme von zwei Stücken (27. 33) nur Muster für Privaturkunden enthaltend, sind sie wahrscheinlich von einem Gerichtsschreiber zusammengestellt worden. Mehr in der Form als im Inhalte römisch, prunken sie mit gelehrten Zitaten aus der Lex Romana Wisigothorum oder aus einem ihrer Auszüge29. Da einige Formeln dem Marculf nachgebildet sind, muſs die Sammlung jünger sein wie dieser. Wahrscheinlich entstand sie um die Mitte des achten Jahrhunderts30. Die Formeln 34—45 sind zur Ergänzung später hinzugefügt worden31.

6. Die Formulae Senonenses32, zwei Formelsammlungen verschiedener Entstehungszeit, welche beide aus Sens stammen und früher miſsbräuchlich als Appendix Marculfi bezeichnet worden sind33. Die ältere Sammlung, 51 Formeln, teils cartae, teils notitiae enthaltend, trägt die Überschrift Cartae Senicae (Senonicae) und ist, wie aus dem Protokoll ihrer cartae regales erschlossen werden kann, in den Jahren 768—775 und zwar wahrscheinlich von einem Schreiber des Grafen von Sens abgefaſst worden34. Einen Anhang der Cartae Senonicae bilden sechs ältere noch aus der merowingischen Zeit herrührende Formeln. Die jüngere Sammlung (Formulae Senonenses recentiores) ist erst unter Ludwig I. angelegt worden. Doch reicht das Alter einzelner Stücke noch in die Zeit Karls des Groſsen hinauf35.

7. Die Formulae Salicae Bignonianae36, nach ihrem ersten Herausgeber Bignon benannt. Die Sammlung hat die Überschrift: In-

29 S. oben S 361 Anm 9.

30 F. 33, im übrigen Marculf 37 nachgebildet, zeigt (wie Suppl. Marc. 2) den Übergang von der merowingischen zur karolingischen Form der königlichen placita.

31 Andere Ergänzungsstücke einzelner Handschriften, sowie Bearbeitungen einzelner Formeln, wie sie die Collectio Flaviniacensis (s. u. Nr 11) enthält, sind bei Zeumer S 159 als Additamenta abgedruckt. Die vier Formeln des Anhangs, Zeumer S 163 ff., gehören dem 9. Jahrh. an.

32 Zeumer S 182.

33 Weil sie Bignon im Anschluſs an Marculf abgedruckt hatte.

34 Darauf scheinen die prozeſsrechtlichen Formeln hinzuweisen.

35 Die ersten sieben Formeln sind notitiae über gräfliche und missatische Gerichtsverhandlungen. F. 12 ist von 808, F. 14 und 15, zwei an den Erzbischof Magnus von Sens gerichtete Briefe, sind von 810 datiert. Die neunte Formel enthält einen Passus, der sich auf ein Kapitular Ludwigs I. von 818—19 (Cap. I 276, c. 6) bezieht. Magnus († 818) kann daher die Zusammenstellung der Form. Sen. rec. nicht mehr selbst veranlaſst haben. Zu dieser Sammlung gehören noch zwei in tironischen Noten geschriebene Formeln, bei Zeumer als Nachtrag S 723 f.

36 Zeumer S 228.


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cipiunt cartas regales sive pagensales, enthält aber nur eine carta regalis, im übrigen Formeln für Rechtsgeschäfte, gerichtliche notitiae und Briefmuster. Formel 16 ist ein Empfehlungsschreiben, welches ein Majordomus einem Rompilger ausstellte. Dagegen deuten die Gerichtsurkunden, insbesondere die Erwähnung der Schöffen (F. 7), auf karolingische Entstehungszeit. Die Sammlung ist jedenfalls vor der Unterwerfung des Langobardenreiches, also nicht nach 774, wahrscheinlich in den ersten Regierungsjahren Karls des Groſsen angelegt worden. Die Hinweise auf die Lex Salica (F. 1. 6) und die spezifisch salischen Rechtsausdrücke ergeben, daſs sie in einem Gebiete salischen Rechtes entstanden sei.

8. Die Formulae Salicae Merkelianae37. Die in einer vatikanischen Handschrift überlieferte und nach ihrem ersten Herausgeber Joh. Merkel benannte Sammlung zerfällt in drei Bestandteile. Den ursprünglichen Kern bildet eine systematisch geordnete Sammlung von dreiſsig Formeln, welche Rechtsgeschäfte und Gerichtsverhandlungen vor missus, comes und vicarius betreffen. Der Verfasser hat Marculf und die Formulae Turonenses benutzt. Sein Werk kann also nicht vor der Mitte des achten Jahrhunderts entstanden sein, ist aber jedenfalls älter wie der zweite Bestandteil, Formel 3138—45, von welchen vier der Bignonschen Sammlung entlehnt sind. Das Protokoll der zwei cartae regales F. 40. 41 bietet den Königstitel: rex Francorum et Langobardorum vir inlustris, der die Unterwerfung des Langobardenreiches (im Juli 774) voraussetzt, während der Zusatz vir inlustris seit 776 verschwand. Der zweite Teil der Merkelschen Formeln dürfte also in den Jahren 774 und 775 entstanden sein, mit Ausnahme der drei letzten Formeln, von welchen F. 44 aus der Kanzlei Ludwigs des Frommen stammt. Den dritten Bestandteil bildet eine Sammlung von Briefmustern (F. 46—66), die vor der Kaiserkrönung Karls des Groſsen abgefaſst worden ist. Die Merkelschen Formeln sind in einer westfränkischen Abtei und zwar, wie aus dem ausgeprägt salischen Charakter der Sammlung gefolgert werden muſs, in einer Gegend mit dichter salischer Bevölkerung entstanden39.

9. Die Formulae Salicae Lindenbrogianae40, nach Linden-

37 Zeumer S 241.

38 Vielleicht ist erst F. 32 als der Anfang des zweiten Teiles anzusehen.

39 Wegen des Ausdruckes: cum appendiciis vel exitis, ist Schröder a. O. S 93 geneigt, sie dem nördlichen Burgund zuzuweisen. S. aber F. Bitur. 1 und oben Anm 22.

40 Zeumer S 266.


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§ 58. Die Formelsammlungen.

bruch benannt, der die Mehrzahl dieser Formeln zuerst abgedruckt hat, unstreitig salischer Herkunft, wie die salischen Rechtssätze und die ausdrücklichen Beziehungen auf salisches Recht ergeben. Die Sammlung enthält nur Privaturkunden41. Ihre Heimat dürfte in den Gebieten an der Maas und Schelde zu suchen sein. Sie muſs vor den letzten Jahren des achten Jahrhunderts entstanden sein, da sie um diese Zeit bereits in bairischen Urkunden benutzt wird42. Wahrscheinlich ist die Sammlung, eine der wichtigsten, weil sie die einzige ist, von der wir mit Sicherheit sagen können, daſs sie auf altsalischem Boden entstand, durch den Salzburger Erzbischof Arno aus dem Kloster St. Amand im Hennegau, dessen Abt er war, nach Baiern gebracht worden, wo sie in ein Salzburger Formelbuch und in eine Emmeramer Formelsammlung aufgenommen wurde43.

10. Die Pithousche Sammlung44, nur fragmentarisch in den Zitaten überliefert, welche Du Cange aus einer dem Franz oder Peter Pithou45 gehörigen Handschrift in sein Glossar aufnahm. Die Formeln stammen aus einer Gegend salischen Rechtes und gehören wahrscheinlich noch dem achten Jahrhundert an.

11. Die Collectio Flaviniacensis46, eine noch im achten Jahrhundert zu Flavigny in Burgund abgefaſste, umfangreiche Sammlung, welche sich zum gröſsten Teile als eine Bearbeitung des Marculf und der Turonischen Formeln darstellt, aber auch einige selbständige Stücke enthält.

12. Die Formulae imperiales47, 55 Formeln für Kaiserurkunden, die in der Kanzlei Ludwigs I. von einem Beamten derselben um das Jahr 830 (jedenfalls 828—840) zusammengestellt wurden48. Zur Grundlage dienten Urkunden Ludwigs des Frommen,

41 Eigentümlich ist ihnen in der Aufzählung der Pertinenzen von Grundstücken der Ausdruck „cum wadriscapis“ (Wasserläufe, nach Schröder Wasserleitungen), der uns urkundlich vorzugsweise in Toxandrien begegnet.

42 UB. des Landes ob der Enns I 454 Nr 27.

43 Zeumer in den Götting. gel. Anz. a. O. S 1407; Schröder, Z2 f. RG IV 94—111 verlegt die Entstehung der Lindenbruchschen Formeln nach St. Amand und schlägt vor, sie wegen des Anteils, den Arno daran genommen, als Arnonis formulae S. Amandi oder als Formulae Elnonenses Arnonis archiepiscopi zu bezeichnen.

44 Zeumer S 596.

45 Wahrscheinlich Franz, weil dieser c. 75 der Sammlung, wie Zeumer S 598 bemerkt, im Glossarium ad legem Salicam herausgegeben hat.

46 Zeumer S 469.

47 Zeumer S 288.

48 Sickel, Urkundenlehre S 116 ff.


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§ 58. Die Formelsammlungen.

aus welchen der Verfasser die individuellen Beziehungen nicht durchgängig tilgte. Die Sammlung ist uns in einer vermutlich aus Tours stammenden Handschrift überliefert, und zwar ist sie in der Schnellschrift des Altertums, in tironischen Noten geschrieben49.

III. Alamannische Formelsammlungen.

Wie uns die Vorschriften der Lex Alamannorum und zahlreiche Urkunden des achten Jahrhunderts beweisen, hatte Schwaben ein früh entwickeltes Urkundenwesen. Doch fehlt es an Formelsammlungen aus älterer Zeit. Die Urkunden wurden hier bis ins neunte Jahrhundert vorzugsweise von den Gerichtsschreibern abgefaſst, deren Formelbücher uns nicht erhalten sind. Erst seit dem neunten Jahrhundert, als die Klöster anfingen die Geschäftsurkunden durch ihre eigenen officiales schreiben zu lassen, entstand in kirchlichen Kreisen ein lebhafteres Bedürfnis nach Anlegung von Formelsammlungen50. Hervorzuheben sind

1. Die Formulae Morbacenses51, eine in dem elsässischen Kloster Murbach entstandene Sammlung von indiculi und epistolae, deren Kern (1—26) den Jahren 774—791 angehört.

2. Die Formulae Augienses52, drei im Kloster Reichenau entstandene Sammlungen verschiedener Entstehungszeit. Collectio A, hauptsächlich Eingangs- und Schluſsformeln für Urkunden enthaltend, ist mit Benutzung Marculfs wahrscheinlich gegen Ende des achten Jahrhunderts abgefaſst worden. Gröſsere rechtsgeschichtliche Ausbeute gewährt Collectio B, deren Grundstock, eine Sammlung von Mustern für Traditionsurkunden und Prekarien (1—12), dem achten Jahrhundert angehört. Die übrigen Stücke (13—43) sind in der Zeit vom Ausgang des achten bis zur Mitte des neunten Jahrhunderts hinzugefügt worden53. Collectio C ist eine Sammlung von Reichenauer Briefformeln aus den Jahren 823—844.

49 Sie wurde zuerst von Carpentier herausgegeben und daher auch als Sammlung der Carpentierschen Formeln bezeichnet. Auf Grund sorgfältiger Entzifferung der Handschrift durch W. Schmitz hat sie Zeumer a. O. aufs neue ediert. Ungefähr gleichzeitig erschien ein Faksimiledruck, Monumenta tachygraphica codicis Parisiensis latini 2718 transcripsit, adnotavit, edidit Guil. Schmitz, fasciculus prior formulas et capitulare Ludovici Pii Aquisgranense continens; adiectae sunt XXII tabulae phototypae notarum Tironianarum simulacra exhibentes, 1882.

50 Zeumer, Archiv VIII 475. Breſslau, Forschungen XXVI 40 ff.

51 Zeumer S 330.

52 Zeumer S 342.

53 Die Formeln 44—46 sind Zusatzformeln einer erst neuerdings aufgefundenen Handschrift und bei Zeumer S 724 als Nachtrag abgedruckt.


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§ 58. Die Formelsammlungen.

3. Die Formulae Sangallenses miscellaneae54, 23 verschiedenartige Formeln, die uns in verschiedenen Handschriften erhalten sind. Die meisten stammen aus dem letzten Viertel des neunten Jahrhunderts. Die Formeln 19—23, früher mit Unrecht dem St. Galler Mönche Iso († 872) zugeschrieben, sind erst gegen Ausgang des neunten Jahrhunderts, jedenfalls nicht vor Karls III. Kaiserkrönung (881) entstanden.

4. Das sogenannte Formelbuch Salomos III. von Konstanz55, eine Kompilation, welche in Sankt Gallen von dem Mönche Notker dem Stammler († 912)56 angelegt worden ist. Den rechtsgeschichtlich wertvollsten Teil bildet eine darin enthaltene Sammlung von rechtsgeschäftlichen Formeln, welche um 870 begonnen wurde (F. 6—21). Die ersten fünf Nummern, Formeln für Königsurkunden, sind freie und fehlerhafte Erfindungen des Verfassers. Als eine besondere Gruppe hebt sich eine Briefsammlung der Brüder Waldo und Salomo (später Bischöfe von Freiburg und Konstanz) heraus. Daſs Bischof Salomo (890—920) die Herstellung der Kompilation veranlaſst habe, läſst sich nicht erweisen.

IV. Bairische Formelsammlungen.

1. Die Formulae Salzburgenses57, Briefformeln, die sich in einer Münchner Handschrift hinter den Lindenbruchschen Formeln und dem karolingischen Marculf finden58, darunter zahlreiche Briefe Alkuins. Die Sammlung entstand zu Salzburg in den ersten Jahren des neunten Jahrhunderts.

2. Die Collectio Pataviensis59, eine kleine Sammlung von 7 Formeln, in der Zeit Ludwigs des Deutschen zu Passau entstanden.

3. Die St. Emmeramer Fragmente60, Überreste einer dem Salzburger Formelbuche verwandten aber rechtsgeschichtlich bedeutsameren Kompilation. Sie zerfiel in drei Sammlungen. Die erste, von welcher uns

54 Zeumer S 380.

55 U. d. T. herausgeg. von Dümmler 1857. Bei Zeumer S 395 als Collectio Sangallensis Salomonis III. tempore conscripta.

56 Nach Zeumer, Aufsätze für Waitz S 97 Verfasser der bekannten Erzählungen des „monachus Sangallensis“.

57 Zeumer S 439.

58 Die ganze Kompilation hat Rockinger als Salzburgisches Formelbuch aus des Erzbischofs Arno Zeit in den Quellen und Erörterungen zur bairischen und deutschen Geschichte 1858 VII 127 ff. veröffentlicht.

59 Zeumer S 457.

60 Zeumer S 463; derselbe, NA VIII 601 ff.


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§ 58. Die Formelsammlungen.

nur 9 Formeln überliefert sind61, entstand in Baiern zwischen 817 und 840. Die zweite enthielt die Lindenbruchschen Formeln. Von der dritten ist uns nur ein Teil des Kapitelverzeichnisses erhalten. Es läſst sich daraus ersehen, daſs sie Formeln des karolingischen Marculf aufgenommen hatte. Der Kodex, dem die erhaltenen Fragmente angehörten, stammte aus St. Emmeram in Regensburg62.

61 Darunter einige mit den Formeln von Sens übereinstimmende Stücke.

62 Vereinzelt überlieferte Formeln hat Zeumers Ausgabe S 533 als Extravagantes zusammengestellt. Die erste Abteilung, Formulae negotiorum civilium, enthält mehrere rechtsgeschichtlich wichtige Stücke. Solche finden sich auch noch in der Collectio S. Dionysii, Zeumer S 494, in den Formulae des Codex Laudunensis, Zeumer S 513, und in den kleineren Sammlungen von Briefformeln, Zeumer S 521.


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Verlag von DUNCKER & HUMBLOT in Leipzig.

Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft.

Unter Mitwirkung der Professoren Dr. H. Brunner in Berlin, Dr. E. Brunnenmeister in Halle, Dr. O. Bülow in Leipzig, Dr. H. Degenkolb in Tübingen, Dr. V. Ehrenberg in Rostock, Dr. A. Franken in Jena, des General-Procurator Dr. J. Glaser in Wien, der Professoren Dr. A. Grawein in Czernowitz, Dr. A. Haenel in Kiel, Dr. R. Heinze in Heidelberg, Dr. A. Heusler in Basel, Dr. R. v. Jhering in Göttingen, Dr. P. Krüger in Königsberg, Dr. P. Laband in Strassburg, Dr. F. v. Martitz in Tübingen, des Curator Dr. Ernst Meier in Marburg, der Professoren Dr. Th. Mommsen in Berlin, Dr. F. Oetker in Bonn, des Dr. M. Pappenheim in Breslau, der Professoren Dr. F. Regelsberger in Göttingen, Dr. W. v. Rohland in Dorpat, Dr. A. Schmidt in Leipzig, Dr. R. Sohm in Strassburg, Dr. A. Wach in Leipzig, Dr. R. Wagner in Leipzig, Dr. B. Windscheid in Leipzig herausgegeben von Dr. Karl Binding, Professor in Leipzig.

Der Grundgedanke des Werkes ist einem Wunsche entsprungen, in welchem Herausgeber und Verleger sich zusammenfanden. Es sollte der deutschen Rechtswissenschaft die Anregung gegeben werden zu thun, was noch keine Rechtswissenschaft gethan: in geschlossenen Darstellungen ihrer sämmtlichen Disciplinen den Bestand ihrer Forschung zum ersten Male übersichtlich zusammenzufassen. Ein solches Werk, wenn es gelang, war geeignet, die starken Ungleichheiten in der Bearbeitung der einzelnen Zweige unserer juristischen Theorie auszuebnen, und somit eine Quelle allseitigster Belehrung zu werden. In solchem Werke that aber die deutsche Rechtswissenschaft auf ihrem ganzen grossen Gebiet gleichzeitig einen bedeutenden Schritt vorwärts und gab neuer wissenschaftlicher Arbeit kräftigen Anstoss.

Dieser Grundgedanke bestimmte den Plan. Weit über die Kräfte auch des bedeutendsten Mannes hinausreichend bedurfte das Werk der Theilung. Aber nur soweit als unbedingt nöthig, war der Einheit Abbruch zu thun: eine Zersplitterung des Stoffs machte von vornherein das Ziel unerreichbar. Jede Disciplin musste deshalb ganz und ungetheilt einem einzigen Bearbeiter anvertraut werden. So ist das Handbuch eine Sammlung juristischer Werke, aber kein Sammelwerk. Die Einheit des Ganzen liegt in der Einheit des Gegenstandes, ausserdem aber in der gemeinsamen Anschauungsweise der Verfasser, der sie sich als Genossen einer und derselben wissenschaftlichen Periode nicht entziehen können.


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Um der Vergangenheit wie der Gegenwart gleichermassen gerecht zu werden, insbesondere um die Rechtsgeschichte zu retten vor der Zersplitterung in eine Anzahl historischer Einleitungen zu dogmatischen Werken, andererseits um diese soweit möglich ihrer Aufgabe für das geltende Recht zu erhalten, waren neben den dogmatischen umfassende rechtsgeschichtliche Werke in Aussicht zu nehmen. Wie der Stoff vertheilt und die Theile zum Ganzen gefügt sind, zeigt der nebenstehende Anlageplan.

Den einzelnen Darstellungen aber war nicht der Charakter des Lehrbuchs, sondern der des Handbuchs zu geben. Der Autor sollte nicht nur Raum haben, seine Ansicht zu sagen, sondern auch sie eingehend zu begründen.

Die Ausführung des Plans bedurfte vor Allem der berufenen Männer. Ob diese schwierigste Aufgabe der Wahl glücklich gelöst ist, das kündet das Verzeichniss unserer Mitarbeiter, das wird nach unserer Ueberzeugung der Fortgang des Werkes bestätigen. Sehr erleichtert wurde uns dieselbe durch die überraschend günstige Aufnahme, die der Plan bei denen fand, deren Hülfe zu seiner Ausführung erbeten wurde.

In der dankenswerthesten Weise ward uns von massgebender Seite fördernder Beistand so reichlich zu Theil, dass nur wenige Wochen nach Anregung des Plans das Kollegium unserer Mitarbeiter fast vollständig gebildet war und dass wir den raschen und ungestörten Fortgang des Handbuchs in sichere Aussicht stellen können.

Prof. Dr. Karl Binding als Herausgeber. Duncker & Humblot als Verleger.

Zu dem nebenstehenden Anlageplan des Handbuchs der Deutschen Rechtswissenschaft gestattet sich die Verlagshandlung erläuternd zu bemerken, dass die Ausgabe nur in abgeschlossenen Bänden, nicht in Halbbänden oder Lieferungen erfolgen wird. Jeder Band ist einzeln käuflich und es werden Subscriptionen auf das ganze Unternehmen sowie Bestellungen auf einzelne Abtheilungen und Werke von jeder Buchhandlung entgegengenommen.

Der Preis der Bände wird sich nach dem Grundsatz regeln, dass der Bogen Lexikon-8° durchschnittlich mit 35 Pf. angesetzt wird. Neben der gehefteten Ausgabe liefern wir eine solche in gutem Halbsaffianband. Der Preis des gebundenen Bandes wird sich um 2 Mark 50 Pf. erhöhen.

Bis jetzt sind ausgegeben worden: Deutsche Rechtsgeschichte. Von Prof. Dr. Heinrich Brunner. Erster Band. XII, 412 S. 1887. Preis 9 M. 60 Pf.; geb. 12 M. 10 Pf. Institutionen des Deutschen Privatrechts. Von Prof. Dr. Andreas Heusler. Erster Band. XI, 396 S. 1885. Preis 8 M. 80 Pf.; geb. 11 M. 30 Pf. — Zweiter (Schluss)-Band. XII, 670 S. 1886. Preis 12 M.; geb. 14 M. 50 Pf. Handbuch des Seerechts. Von Prof. Dr. Rudolf Wagner. Erster Band. XI, 456 S. 1884. Preis 10 M.; geb. 12 M. 50 Pf. Handbuch des Strafrechts. Von Prof. Dr. Karl Binding. Erster Band. XXII, 927 S. 1885. Preis 20 M.; geb. 22 M. 50 Pf. Handbuch des Deutschen Civilprozessrechts. Von Prof. Dr. Adolf Wach. Erster Band. XVI, 690 S. 1885. Preis 15 M. 60 Pf.; geb. 18 M. 10 Pf. Handbuch des Strafprozesses. Von General-Procurator Dr. Julius Glaser. Erster Band. XVI, 756 S. 1883. Preis 16 M.; geb. 18 M. 50 Pf. — Zweiter Band. XII, 602 S. 1885. Preis 13 M. 60 Pf.; geb. 16 M. 10 Pf.

Leipzig, im April 1887. Duncker & Humblot.


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Anlageplan.

I. Römisches Recht.

1. Allgemeine Römische Rechtsgeschichte. 1 Band. Prof. Dr. v. Jhering. 2. Geschichte der Römischen Rechtsquellen. 1 Band. Prof. Dr. Krüger. 3. Geschichte des Römischen Staatsrechts. 1 Band. Prof. Dr. Mommsen. 4. Geschichte des Römischen Strafrechts und Strafprozesses. 1 Band. Prof. Dr. Brunnenmeister. 5. Geschichte des Römischen Civilprozesses. 1 Band. Prof. Dr. Schmidt. 6. Institutionen des Römischen Privatrechts. 2 Bände. Prof. Dr. Degenkolb. 7. Pandekten. 3 Bände. Prof. Dr. Regelsberger.

II. Deutsches Recht.

1. Deutsche Rechtsgeschichte. 3 Bände. Prof. Dr. Brunner. 2. Institutionen des Deutschen Privatrechts. 2 Bände. Prof. Dr. Heusler. 3. Deutsches Privatrecht. 2 Bände. Prof. Dr. Franken.

III. Handels-, Wechsel-, See- und Versicherungsrecht.

1. Handelsrecht. 2 Bände. Prof. Dr. Laband. 2. Wechselrecht. 1 Band. Prof. Dr. Grawein. 3. Seerecht. 2 Bände. Prof. Dr. Wagner und Dr. Pappenheim. 4. Versicherungsrecht. 2 Bände. Prof. Dr. Ehrenberg.

IV. Völkerrecht.

1 Band. Prof. Dr. v. Martitz.

V. Staatsrecht (Reichs- und Staaten-Staatsrecht).

2 Bände. Prof. Dr. Haenel.

VI. Verwaltungsrecht (incl. Verwaltungsgerichtsbarkeit).

2 Bände. Curator Dr. Meier.

VII. Strafrecht.

1. Gemeines Strafrecht, ausschliesslich des Militärstrafrechts. 3 Bände. Prof. Dr. Binding. 2. Militärstrafrecht. 1 Band. Prof. Dr. v. Rohland.

VIII. Kirchenrecht.

2 Bände. Prof. Dr. Sohm.

IX. Gerichtsverfassung und Prozess.

1. Verfassung der Civil- und Strafgerichte. 1 Band. Prof. Dr. Heinze. 2. Civilprozess (ordentl. und summar. Verfahren). 2 Bände. Prof. Dr. Wach. 3. Conkursrecht und Conkursprozess. 1 Band. Prof. Dr. Bülow. 4. Strafprozess. 3 Bände. Generalprocurator Dr. Glaser und Prof. Dr. Oetker.

X. Allgemeiner Theil der Rechtswissenschaft.

2 Bände. Prof. Dr. Binding.

XI. System des deutschen Civilrechts.

3 Bände. Prof. Dr. Windscheid.